Lobet und preiset die Herrn

Dienstag, 31. März 2009

Es lohnt sich kaum, über den Abgang einer Charaktermaske des herrschenden Klüngels zu diskutieren. Was sich aber lohnt, was durchaus einmal aufs Tableau der öffentlichen Diskussion gehörte, wenn sie denn öffentlich wäre und nicht in der Hand desselben Klüngels, das wäre der Umstand, wie diese Charaktermasken miteinander umgehen, konkreter: wie sie vor Publikum miteinander umgehen. Denn was Masken wie Merkel und Mehdorn sich unter vier Augen zu sagen hätten oder in einer illustren Runde von Kastenangehörigen, das mag ganz anders klingen, als jenes, was Merkel publikumswirksam an die Medien weiterreichte. Gelobt hat sie ihn, ihren Respekt hat sie ihm ausgesprochen, erfolgreich sei er gewesen und dergleichen Lobhudelei mehr.

Das Lob ist ein Hohn für diejenigen, die nun mit Mehdorns Mitwissen ausspioniert wurden, die jahrelang immer wieder um höhere Löhne stritten, während die Mehdorn-Junta sich fröhlich die Bezüge erhöhte; ein Hohn auch für die Bahnkunden, die heute miesere Fahrpläne und schlechteren Service ertragen müssen, von den oft phantastischen Preiserhöhungen gar nicht erst zu sprechen; und es ist ein Verhöhnen all derer, die ihre dann irgendwann doch erhöhten Löhne erhielten, dafür öffentlich in die Pfanne gehaut wurden und als Hauptgrund gigantischer Ticketpreiserhöhungen herhalten mußten - gerade so, als wären Personalkosten der einzige Faktor für den Verkaufspreis einer Ware oder Dienstleistung.

Man darf sich fast des Umstandes sicher sein, dass auch eine Merkel weiß, wen sie da den Bauch gepinselt hat. In dieser Republik ist nur wenigen Menschen entgangen, dass Mehdorn eine wandelnde Verhöhnung derjenigen ist, die in ihrem Unternehmen die wahre Leistung erbringen, die produktiv diesem mobilen Dienstleister die Treue hielten. Freilich wandelt Mehdorn nicht alleine als Hohnmeister durch die Lande, das besorgen viele, viel zu viele Angehörige seiner Kaste ebenso, nur soviel Kritik wie er, vereinte kaum jemand auf sich. Kaum jemand hat sich auch so arrogant aufgeführt (andere taten und tun es mehr hinter vorgehaltener Hand), hat streikende Mitarbeiter wie Kriminelle behandelt und sich mit aufschneiderischer Chuzpe nebenbei selbst halbkriminell bereichert. All das weiß Merkel, sofern sie nur einen Funken von Wahrnehmung hat und nicht vollends in die Fäden verheddert ist, an denen sie hängt - und genau daher muß die Charaktermaske aus der Politik jene aus der Wirtschaft loben, muß sie respektvoll psalmodieren.

Dieses Prinzip ist kein neuer Schrei auf dem Jahrmarkt der elitären Eitelkeiten. Aber interessant ist es immer wieder, wenn man dabei zuhören muß, wie noch der argste Stümper, wie selbst ein fadenscheiniger Charakter mit halbkriminellem Potenzial, behandelt wird, wenn er nur zur eigenen Gattung Mensch gehört. Man erkennt auch in den oberen Kreisen, wess' Geistes Kind ein solcher Klein-Mielke ist, aber man stört sich nicht daran, solange die Öffentlichkeit nicht die ganze Kaste angreift. Tut sie es doch, wie in diesen Tagen, in der die Stimmen immer lauter werden, wonach "wir nicht für eure Krise bezahlen" wollen, so heißt es Attacke. Statt Einsicht deckt man sich selbst, verniedlicht sich, streicht die Vorzüge des Mittäters heraus, küßt ihm symbolisch, aber liebevoll die Lippen, deutet auf Leistungen, versteckt Mißerfolge und Machenschaften, sichert ihm den Respekt und damit die Solidarität der ganzen Kaste zu. Und gerade für diese Kaste ist Mehdorn schlichtweg schuldig, denn er hat sich erwischen lassen - man würde ihn eigentlich lieber öffentlich geißeln dafür, aber dann wären auch andere fällig, dann könnte sich die freche Öffentlichkeit tatsächlich fragen, warum viele andere Charaktermasken noch in Amt und Würden herumlaufen dürfen; dann könnte sie sich fragen wollen, warum ein Professor Sinn nach tausendfacher Falschdeutung immer noch predigen, ein Steinbrück nach fehlerhaftem Sparzwang - Andeutung eines analen Charakters laut Reich! - immer noch ministeriell herumwursteln darf, oder weshalb eine vor Expansionsgier blind gewordene Schaeffler immer noch von den Medien hofiert wird. Aber das will man eben nicht, daher lobt man den Abspringenden, denn damit lobt man sich selbst.

Freilich gibt es auch innerhalb jener Kaste, die den Staat bedeutet, einige Nestbeschmutzer, die Mehdorns Abgang optimistisch feiern, fast so, als wäre der Abgang einer Charaktermaske nicht flugs mit der Installation einer anderen dieser Sorte behoben. Aber diese Freude, die auch einen Funken Kritik in sich birgt, ist ein Feigenblatt. Wenn die hellgrüne Roth meint, eine gute Unternehmensbilanz sei kein Garant dafür, Mitarbeiter ausspionieren zu lassen, dann plappert sie die gleichen Thesen von der anderen Seite nach: nämlich, dass Mehdorn einen tollen Job gemacht hätte. Nebenbei nennt sie das Kind nicht beim Namen, denn wer seine Mitarbeiter in dieser dreisten Art aushorcht, wer ein ganzes Abhörnetz einrichtet, der muß sich den Vergleich mit der Stasi gefallen lassen - und wenn die Medien heute von der Stasi berichten, dann sprechen sie im gleichem Atemzug von Kriminalität. Wer also sowas inszeniert, der hat durchaus kriminelle Energie bewiesen. Nur gehört das auch unverblümt gesagt, nur keine falsche Zurückhaltung - wenn man es verschweigt, dann kann man dahinter durchaus eine Art negativer Bauchpinselei wittern, eine Art negativen Merkelismus.

Da hackt keine Krähe der anderen ein Auge aus. Pension für Mehdorn und neue Marionette installiert und das Geschäft läuft unter neuem Namen weiter. Diese Eliten loben sich gegenseitig zu Tode... hoffentlich.

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Facie prima

Samstag, 28. März 2009

Ein kurzes Geleitwort: Von Menschen, die in der Öffentlichkeit behandelt werden, kann man nicht nur lesen, man kann sie auch sehen. Die Visualisierung der Person, vielmehr des Images, das einer Person anhaftet oder angeheftet wird, ist ein wesentlicher Bestandteil der Berichterstattung der Massenmedien. Daher sagt ein Bild mehr als tausend Worte, es erläutert bereits mit einem flüchtigen Blick, wess' Geistes Kind derjenige sein soll, über den gerade aktuell berichtet wird. Facie prima (lat. auf den ersten Blick) soll als neue unregelmäßige Kategorie bei ad sinistram eingeführt werden. Diese soll sich mit solchen konditionierenden Visualisierungen von Personen auseinandersetzen, in ein Paar Worten erklären, welche Image-Maske man dem jeweiligen Akteur aufgesetzt hat. An dieser Stelle sei auch an das kleine Latinum erinnert, welches fortan in der Kopfzeile nachschlagbar ist. Darin soll kurz und bündig erklärt werden, was sich hinter den latinisierten Kategorien ad sinistrams verbirgt.

Heute: Der Macher, Peer Steinbrück

Grüblerisch schaut er drein, geistesabwesend wirkt er, in tiefer Reflexion versunken. Egal welche größere Tageszeitung man auch aufschlägt oder im Internet anklickt, der philosophische Steinbrück, die personifizierte Denkerstirn, begegnet dem Leser regelmäßig in diesen Tagen der Krise. Eine Krise, wie man uns versichert, die in den Händen unserer politischen Eliten, in den Händen Steinbrücks, sicher verwaltet würde. Und wer möchte dem widersprechen beim Anblick des denkenden Peer? Denn genau darum geht es, der ansonsten stets dümmlich dreinblickende Steinbrück ist der Sieger der Krise, vielleicht nicht materiell, darüber läßt sich derzeit nicht berichten, aber doch ideel. Seitdem dieses Land einen fachlich einwandfreien Finanzminister braucht, ist er zu einem drapiert worden. Weil Krise ist, schweift der Blick Steinbrücks in die Ferne, läßt man ihn bildlich den Visionär mimen, der sein Geschau gen Horizont richtet, den er mittels diffiziler und profunder Denkarbeit zu erreichen gedenkt.

Doch nun hat er ausgedacht, fertigüberlegt, Erkenntnisse erzielt. Jetzt schwingt er mahnend und oberlehrerhaft den Zeigefinger, deutet uns, so scheint es fast, den Weg seiner Reflexionen, wirkt wie der erklärende Geistesriese, der uns Zwergen seine Weisheit darlegt. Dabei hat er das Kinn nach vorne geschoben, was wohl als energisches Unterstreichen seiner Erleuchtung anzusehen ist. Man zeigt uns Steinbrück als Denker in Hemdsärmeln, der sich nicht still in seinen Elfenbeinturm zurückzieht, sondern mahnt, erklärt, anpackt. Er wird als der platonische Typus des Herrschers präsentiert, als Philosophenkönig, als Denker und Verbesserer in einer Person, entgegen der oftmaligen Trennung dieser beiden Pole. Der Betrachter soll ins Unterbewußtsein geimpft bekommen, dass er hier auf einen Zeitgenossen stößt, der vita contemplativa mit vita activa zu vereinen weiß. Ein geistiger Handwerker, der erst tiefgründig in Geisteswelten entschwindet, um dann sein Umfeld zu belehren.

Final dann packt Steinbrück richtig zu, aus dem Denker und Lehrer wird ein regelrechter Kämpfer und Arbeiter. Beide Fäuste symbolisieren Kampfeshaltung, der aufgerissene Mund zeigt Engagement, ist Schrei- und Drohgebärde. Wer soll einem Minister, der so engagiert wirkt, nicht sein ganzes Vertrauen schenken wollen? Einem solchen Mann, der verschiedenste Qualitäten in sich vereint, Mann des Wortes ebenso ist, wie Mann der Tat. Muß man einem solchen nicht einfach blindlings folgen? Kompetenz strahlt zwar der visualisierte Steinbrück nie aus, weil sie nur schwer bildlich zu erfassen ist. Aber das muß er auch nicht. Es reicht, wenn er den starken Mann darstellt, hinter dem man sich schutzsuchend stellen mag, auf den man vertraut und baut. So wie man uns den Finanzminister seit Wochen in die Stuben schickt, glaubt man sich bei aller Angst um die Zukunft, doch wenigstens ein Stückchen beschützt. Er soll jenen Typus Politiker abgeben, auf den ein angstvolles Volk bauen kann, getreu dem Motto: Peer befiehl uns und wir folgen dir.

Der visualisierte Steinbrück ist ein Macher. Aus der dümmlichen Grinsekatze, die immer irgendwie fehl am Platze wirkte, ist ein Tatmensch geworden, ein Anpacker und Kämpfer, nebenbei ein tiefgründiger Philosoph, mit dem Blick eines Visionärs. Die Wirtschaftskrise kann also für einige auch als Gewinnsituation bewertet werden. Was dem einen jetzt und in den nächsten Monaten im Geldbeutel fehlt, wird dem anderen jetzt und in den nächsten Monaten an Führungsqualität und Charisma gutgeschrieben.

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Berufung

Freitag, 27. März 2009

Ich mache nur meinen Job, meint der verhartze Büttel und verordnet dem Kunden betitelten Bedürftigen einen drei Monate dauernden Notstandsspeiseplan.
Ich befolge nur Anweisungen, erklärt der Angestellte des Energieriesen und eröffnet einer verarmten Familie per Leitungsabklemmung ein Leben in der elektritzitätsbefreiten Steinzeit.
Ich tue nur meine Arbeit, rechtfertigt sich der Bedienstete einer Krankenkasse und verwährt einem leidenden Patienten die nicht im Leistungskatalog stehende, doch wirkungsvolle Behandlung.
Ich folge nur den vorgeschriebenen Prinzipien meiner Stellung, sagt der Personalchef und entkettet an einem Vormittag fünf Familienväter, schenkt ihnen die Freiheit der Arbeitsagentur.
Ich richte mich nur nach Anordnungen, entschuldigt sich die vermenschlichte Wanze und späht weiterhin im Namen ihrer Firma Mitarbeiter aus.
Aber ich handle nur nach Stadtverordnung, behauptet der Polizist und führt den bettelnden Obdachlosen mit kühler Miene ab.
Befehl ist Befehl, salutiert der Soldat und schießt präventiv auf alles, was sich bewegt, auch auf zivile Moorhühner.
Befehl ist Befehl, salutierten einst Soldaten mit Runenzeichen auf der Mütze und schossen Internierten in den Schädel.

Oh ja, wir leben in einer Welt der beruflichen Versessenheit. Trefflich ist es da, Gesetze, Anordnungen und Befehle zu haben, um seinen räudigen Beruf, seinen Dienst an der Verunmenschlichung, wenigstens in den schönsten Farben zu malen. Versessen sind sie auf Hehres wie Gesetz und Befehl, die ihr eigenes Gewissen betäuben, die eichmanniarisch wohlig schlafen lassen, mit dem zufriedenen Gefühl des ungebremsten Diensteifers im Traume. Bloß nicht Mensch bleiben, bloß nicht Mitleid oder Verständnis empfinden. Dafür sind Gesetze nicht gemacht. Maske auf und kalt sein, kalt wirken, Kälte fabrizieren, Eiszeit in die Gesellschaftsadern spritzen. Das Menschliche taub stellen, mit einem Eisspray betäuben, mit dem Eisspray der eigenen Herzenskälte, versteckt hinter Paragraphen und Anordnungsschreiben.

Ich aber, ein in ethischen Kategorien denkender Mensch; ich aber, Schreiber dieser bescheidenen Trauerrede, will diese Eiseskälte, will die Erbarmungslosigkeit der Berufsritter, den Frost ihres Tuns benennen. Ich aber, der über diese Gesellschaft schreibt, über die verlorene Menschlichkeit, über das Versteckspiel hinter Berufsmasken, bin moralisch dazu verpflichtet, diese verstümmelten Charaktere immer wieder anzumahnen, sie als Eichmänner im Kleinen zu demaskieren. Sie, lieber Leser, müssen schon verzeihen. Schließlich ist das mein Beruf, meine Berufung, sagt der Vater dieser Zeilen und legt den Finger in jene klaffenden Wunden, die die gesellschaftsimmanente Unmenschlichkeit bestialisch reißt.

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Freiheit für Vorfahrt!

Donnerstag, 26. März 2009

Was für ein Chaos. Stünde ich nicht selbst auf dieser Kreuzung, ich würde die folgende Szene nicht für möglich halten. Naja, ich stehe hier nicht, jedenfalls nicht im Sinne dieses Wortes. Vielmehr, und ich spüre es mittlerweile auch als stechenden Schmerz vorallem im unteren Rückenbereich, bin ich zwischen zwei Fahrzeugen eingeklemmt. Vor mir ein deutsches Fabrikat, auf dessen Dach ich blicke, hinter mir ein unaussprechlicher Koreaner, dessen holpriger Namenschnörkel sich unförmig in die Haut meiner Heckseite presst. Sie werden sich fragen, wie ich in eine solch unpässliche Lage geraten konnte; das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen ausführlich erzählen werde, da die beiden Autohalter nicht gewillt sind, ihre Fahrzeuge zu entfernen. Das heißt, gewillt wären sie sicherlich, aber können können sie nicht. Zwar sehe ich bereits den Krankenwagen, den ich telefonisch bestellt habe, aber zwischen uns stehen noch sieben Autos, zwei Radfahrer mitsamt ihrer Drahtesel und ein verwaister Rollstuhl. Ich werde also ausreichend Zeit haben, meine Situation zu erläutern.

An die Zeiten, in denen es noch sowas wie einen Verhaltenskodex für den Straßenverkehr gab, erinnere ich mich nurmehr vage. Zugegeben, diese Zeiten sind kalendarisch gesehen, noch nicht solange her, aber im Gewimmel des heutigen Verkehrs vergißt man schnell, wie es einst war, als die Welt noch besser schien. Vormachen darf man sich aber nichts, obwohl es Regeln gab, obwohl man sich an Lichtsignale und bunt bemalte Metallteller auszurichten hatte, war die damalige Ordnung auch kein Zuckerschlecken. Es gab böse Unfälle, Verletzte und Tote, und ich erinnere mich, wie meine Eltern über den damaligen Straßenverkehr klagten. Als man aber dazu überging zunächst den Schilderwald zu fällen, ich erinnere mich gut, wie damals führende Politiker von einer großen Deregulierung des ausufernden Verkehrsgeschehens sprachen, da nahm das Unheil seinen Lauf. Die Unfälle häuften sich, was statistische Erhebungen auch belegten. Aber die Medien sprachen lediglich von einer Anhäufung an Blechschäden, Kollateralschäden, die eine Deregulierung mit sich bringe, die man ertragen müsse, wenn man das ganze System leistungsfähiger machen wolle. In jener Zeit starb mein Vater, er wurde überfahren; ebenso machten zwei Nachbarn und ein ehemaliger Schulfreund physische Bekanntschaft mit Blechschäden.

Sie werden sich fragen, was das mit meiner derzeitigen Situation zu tun hat, aber gedulden Sie sich. Noch haben wir genügend Zeit, der von mir bestellte Rettungsdienst hat zwar Boden gutgemacht, steht aber derzeit mit dem rechten Vorderreifen auf der Hand des Rollstuhlfahrers, der urplötzlich robbend unter einem Fahrzeug hervorschoss. Sobald sich die Herren vom Rettungsdienst einige Zentimeter fortbewegen können, werden sie sich erstmal um den armen Kriechenden kümmern, mir damit mehr Zeit gewähren, die ich erzählend zu verbringen gedenke. Also, ich sage es gerne nochmal, nur Geduld, auch wenn Sie es für Geplänkel halten, das bereits Erzählte hat mit meiner jetzigen Situation zu tun, damit auch mit dem Rückenschmerz, der mir gerade schwer zusetzt. Wo waren wir stehengeblieben? Ah ja, beim abgebauten Schilderwald und den Blechschäden, die manchen Knochenbruch zur Folge hatten. Diese erste Phase der Deregulierung schien erfolgreich, nun ging man daran, sämtliche Ampeln zu entfernen, die auf keiner großen, das heißt zweispurigen Hauptstraße standen. Angeblich, so wurde berichtet, hätten sich nun die Blechschäden sogar reduziert, die Abkehr von der Regulierung hätte den Wettbewerb zwischen den Verkehrsteilnehmern dahingehend getrieben, dass nun alle dazu gezwungen seien, umsichtiger und vorausschauender zu agieren.

Der freie Verkehr, so verkündete der damalige Verkehrsminister, der mittlerweile friedlich entschlummert ist, nach einem Parteitreffen von einem rasenden Schwertransporter erfaßt und dreihundert Meter mitgeschleift wurde, der freie Verkehr also, würde die Vorzüge im Verkehrsteilnehmer zum Vorschein bringen. Die frühere Regulierung des Verkehrs hätte zu einem falschen Verhalten geführt, einer Art Anspruchsdenken an den Staat, der aus unerfindlichen Gründen irgendwann dazu übergegangen sei, den Verkehr nach seinem Gusto zu steuern. Aber der Staat sei kein guter Schutzmann, daher müssen die freien Kräfte des Verkehrs losgelassen werden, um den Straßenverkehr den ihm immanenten Selbstheilungskräften zu unterziehen. Es gäbe zwar Unfälle, ich erinnere mich, wie das der selige Minister zugab, aber diese Unfälle seien notwendig, denn Selbstheilung bedeute eben auch Ausmerzung derer, die nicht leistungsfähig genug seien, den neuen Ansprüchen des Verkehrs Rechnung zu tragen. Freilich würde der Staat sich nicht vollkommen zurückziehen, er würde auch weiterhin für die Verstümmelten sorgen, die man zwischen Blechtrümmern herauszerren kann, aber dort auch nur um diejenigen, die auch wirklich bedürftig sind. Rahmenbedingungen würde der Staat auch in Zukunft schaffen, das sei nämlich seine wahre Aufgabe; Rahmenbedingungen, wie den Bettrahmen eines Krankenbettes auf der Sterbestation.

Freilich war da das Ende vom Lied noch nicht erreicht. Das konnte man damals aber auch noch nicht wissen. Ich möchte Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich das Erzähltempo verschärfen werde, eben hat der Rettungswagen drei Wagenlängen gutgemacht. Zwei im Weg stehende Wagen konnten meine heraneilenden Schmerzbekämpfer selbst zur Seite rammen, ein weiterer Wagen wurde von zwei Fahrradfahrern mit vereinten Kräften in ein Straßencafé geschoben, woraufhin der Wagenbesitzer zornig ausstieg und über den Rollstuhlfahrer, der nun mit verbundener Hand gen Rollstuhl weiterkriecht, stolperte. Wir sollten also flott fortfahren: Nach dem Lichten des Schilderwaldes und der Deinstallation von unnützen Ampeln traten allerlei Chefideologen auf, die sich für eine schnelle und unbürokratische Deregulierung des Verkehrs aussprachen. Einer von denen, mittlerweile ist auch er eine Symbiose mit dem Straßenasphalt eingegangen, forderte die vollkommene Befreiung von Schildern und Lichtsignalen, um als nächsten Schritt die Aufhebung sämtlicher Geschwindigkeitsbegrenzungen zu postulieren. Nur wenn die Geschwindigkeit freie Option des Verkehrsteilnehmers sei, wenn diese nicht mehr am Regelwerk orientiert fahren könnten, sondern wie es die jeweilige Situation erfordert, könne der Verkehr sachgerecht stattfinden, nur dann könnten sich Selbstheilungskräfte entfalten. Die Hinweise dieses Ideologen, dieses mittlerweile entschlummerten Professors, wurden auch schnell in die Realität befördert.

Seither findet der total entfesselte Verkehr statt. Man erklärte uns anfangs in Funk und Presse, dass nun die besten Voraussetzungen geschaffen seien, einen reibungslosen Verkehrsablauf zu gewährleisten. Wenn es hier und dort aber noch Probleme gäbe, so fuhr man fort, liege das an den Teilnehmern selbst, die sich auf die neue Situation noch nicht eingestellt hätten. Mir scheint, es hätten sich heute, Jahre nach der Einführung des entfesselten Freiverkehrs, immer noch viele nicht darauf eingestellt; ja, sofern Sie sich einen Moment meiner im wahrsten Sinne des Wortes beklemmenden Lage gegenwärtig werden, müßte man vermuten, ich selbst wäre nicht eingestellt auf das, was auf unseren Straßen vor sich geht. Man leugnet öffentlich zwar nicht, dass es gelegentlich zu Behinderungen käme, Unfälle nennt man das schon lange nicht mehr und die Todesopfer, die sich täglich meterhoch stapeln ließen, werden erst gar nicht erwähnt, aber diese Behinderungen seien zu erdulden, im Namen der Freiheit und der Vorfahrt. Wobei diese ja nicht einmal mehr mit „rechts vor links“ gewährleistet ist; heute müssen sich Verkehrsteilnehmer einigen, müssen der Situation gerecht auswerten, wer wohl zuerst fahren dürfe. Darauf war der damalige Verkehrsminister, der diese Reform erließ, Nachfolger desjenigen, der den Schwertransporter küsste, sehr stolz. Oder er wäre stolz gewesen, wäre er nicht kurz vor der Verabschiedung seines Lebenswerkes, mit seinem Dienstwagen, dortmals platt wie eine Flunder, zwangsvereinigt worden.

Ich glaube, Sie können sich nun vorstellen, wie ich in diese missliche Lage geriet. Sie sehen ja selbst, wohin dieser falsch verstandene Freiheitseifer geführt hat. Die ganze Kreuzung ist mit Autos übersät, nicht alle nehmen am Verkehr teil, einige parken auch, wie beispielsweise dieses französische Fabrikat, das auf der Linksabbiegerspur steht. Der „Deregulierungsreform zum freien Parken“ sei Dank. Radfahrer schlängeln sich irgendwie zwischendurch, werden eingequetscht, überfahren, mitgeschleift. Fußgänger wagen es immer wieder, sich in dieses Meer aus Blei und Blut zu werfen. Ich nurmehr selten, ich bin ja nicht verrückt. Achso, Sie meinen, ich wäre hier fußgehenderweise in meinen Mißstand geraten? Nein, so war es beileibe nicht, ich wollte nur zum Postkasten gehen, drei Schritte vom Eingang der Mietskaserne entfernt, in der ich den Verkehrslärm zu ertragen habe. Da standen meine beiden Peiniger schon bereit, beide dort, wo einstmals der Fußgängerbereich war. Ich wollte den engen Abstand zwischen beiden nutzen, drückte mich durch die Enge dieser hohlen Gasse, der Koreaner fühlte sich bedrängt, schlug das Lenkrad dezent ein und hier bin ich also, einige Meter von meinem Postkasten entfernt, der noch nicht einmal gefüllt ist, denn den Postboten sehe ich soeben auf einer Motorhaube liegend, drei Häuserblocks entfernt.

Blicken Sie nur um sich, lassen Sie es auf sich wirken; zugegeben, der heutige Tag ist ja noch relativ idyllisch. Gestern hätten Sie hier sein sollen. Das war regelrecht ein Auszug aus Dante Alighieris Hölle. Das obligatorische Automeer, über diverse Motorhauben Radfahrer verstreut, manche reglos. Immer wenn der Korso die Möglichkeit hatte, einige Meter zu gewinnen, wurde wie wild auf das Gaspedal gedrückt, was als kausalen Zusammenhang verstreute Motorhaubengäste aufweisen konnte. Hupen, Schimpfen, Wehgeschrei, leise knackende Knochen, quietschende Reifen, Auspuffwolken und Benzingeruch. Ein Krankenwagen verlud in diesem Trubel einen ehemaligen Patienten in den Wagen eines Bestattungsunternehmers, nahm sich stattdessen neuer Patienten an, an deren Anzahl es wahrlich nicht mangelte. Ein Bürschchen, keine fünfzehn Jahre alt, stieg panikartig auf das Gas, rumpelte mit einem unbändigen Schlag gegen einen Bus. Ja, Sie haben schon richtig gehört, der Wagenlenker war ein Junge. Wundern Sie sich nicht, irgendwann meinten Soziologen, es sei sinnvoll, schon junge Menschen am Freiverkehr teilnehmen zu lassen, damit sie später Vorteile im Verkehrsleben hätten. Man könne gar nicht früh genug damit anfangen, sich im Verkehr zurechtzufinden und die besten Jugendlichen würden sich auch ihren Weg bahnen. Eine Fahrlizenz, so wie früher, gibt es nicht mehr.

Die Politik hat aber durchaus erkannt, dass die derzeitigen Zustände auf den Straßen nicht länger tragbar sind. Eine Kommission hat aufgearbeitet, wo die Wurzeln dieses Mißstandes liegen. An der Deregulierung liegt es jedenfalls nicht, man glaubt eher, man habe nicht ausreichend dereguliert. Eine weitere Kommission hat nun zu entscheiden, welcher Art neue Verkehrsreformen sein müssen, welche Straßenbürokratien weiter abzubauen seien, damit das Chaos gebändigt werden kann. Außerdem wird man einen Leitfaden herausgeben, in dem eröffnet wird, wie sich ein Verkehrsteilnehmer zu verhalten hat, damit reibungslose Selbstheilungskräfte entstehen können. Denn noch etwas hat die Kommission festgestellt: das falsche Verhalten der Menschen, falsche Erwartungshaltungen und Zügellosigkeit habe das Reformwerk quasi boykottiert. Die Reformen waren gut, nur der Mensch ist schlecht. Wenn die Menschen erst einmal auf den Freiverkehr eingeschworen sind, dann geht es aufwärts. Seit Jahren habe man zwar diese neuen Strukturen, mache ja im Großen und Ganzen positive Erfahrungen damit, abgesehen von den üblichen Blechschäden, den kollateralen Nebenprodukten, aber man habe es den Menschen bislang nicht einimpfen können. Das größte Problem, so meint die Politik, sei letztlich die Vermittlung, weshalb nicht die Deregulierung der Straßen fehlerhaft sei, sondern ein plumpes Vermittlungsproblem dazu führe, dass es auf unseren Straßen zuginge wie in den engen Gassen des antiken Rom.

Gleich werde ich mich verabschieden müssen, meine Retter nahen. Sie stehen nun unmittelbar an jenem koreanischen Modell, welches sich in meinen Rücken drückt, sind bereits ausgestiegen, drängen den Fahrzeugführer dazu, einige Zentimeter zu meiner Errettung preiszugeben und werden, sofern er nicht pariert, ihm einige ordentliche Ohrfeigen verpassen. Pragmatische Hilfe eben. Man wird mich fitspritzen, ich werde schnell in meine Wohnung stürmen, mich aus dem Schlafanzug pellen, Hemd und Jeans anziehen, in die Tiefgarage eilen, mich hinter mein Steuer klemmen und zur Arbeit fahren. Gleich wird es Mittag schlagen, ich habe um halb neun abends die Nachtschicht anzutreten. Ich befürchte fast, heute wird die Pünktlichkeit leiden...

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Untragbare Verhältnisse

Mittwoch, 25. März 2009

Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.
Dieser Annahme sind solche Menschen, die ein oder zwei Häuser im ländlicher Gegend haben – oder mehrere.
Solche, die sich dazu noch eine städtische Eigentumswohnung leisten – oder mehrere.
Solche, die einer Familie angehören, in der jedes Familienmitglied ein eigenes Auto fährt – oder mehrere.
Solche, die jährlich zwei Kurzurlaube in Europa und einen in weiten Fernen verbringen – oder mehrere.
Solche, die zweimal in der Woche in mittelmäßigen Tavernen und zweimal in sündteueren Restaurants speisen – oder noch öfter.
Solche, die Maßanzüge anfertigen lassen, die Abendroben bestellen, die Nobelmarken in den Schrank packen – oder packen lassen.
Solche, die einkaufen, erziehen, putzen lassen – und noch Weiteres veranlassen.
Solche, deren Kinder in eine Universität hineingekauft wurden – auch mit weniger: weniger Intelligenz.

Solche behaupten, wie lebten über unsere Verhältnisse, weil sich ein in Agonie liegendes Land keine Versorgung derer mehr leisten sollte, die so anders sind wie sie.

Solche Menschen meinen damit die Anderen, die nur eine kleine Wohnung mieten können – oder noch kleiner.
Solche, die nur ein enges Zimmerchen ihr Heim nennen können – oder den Himmel ihr Dach nennen.
Solche, die Urlaube bestenfalls aus ihrer Vergangenheit kennen – wenn überhaupt.
Solche, die einmal im Jahr außer Hauses essen und dabei noch auf jeden Cent schauen müssen – und dann doch lieber daheim bleiben.
Solche, die seit Jahren die gleiche Kleidung tragen müssen, billig und von der Stange – oder aus einer Kleidersammlung.
Solche, die für geringes Minijob-Taschengeld einkaufen und putzen geschickt werden – und sich von den Herrschaften herumkommandieren lassen müssen.
Solche, deren Kinder an der Hauptschule festkleben – auch mit mehr: mehr Intelligenz.

Oh ja, wir leben über unsere Verhältnisse. Wir können uns die erste Sorte Mensch gar nicht leisten, wenn wir jemals eine lebenswerte Gesellschaft werden wollen. Wir lebten über unsere Verhältnisse, verkündete Deutschlands oberster Herr. Man darf annehmen, für ihn sei die zweite Sorte Mensch hauptsächlich verantwortlich, die notorischen Habenichtse und Leistungsverweigerer. Solange wir so einen obersten Herrn haben, leben wir wahrlich über unsere Verhältnisse. Mäßigung wäre angesagt, Rückführung in Verhältnisse, die wir uns leisten können. Wenn wir schon Herren brauchen, dann sollten es wenigstens solche sein, die wir uns leisten können – und wollen!

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Nomen non est omen

Heute: "sozial"
"Sozial ist, was Arbeit schafft – diese Maxime ist oberste Richtschnur unseres Handelns."
- gemeinsamer Beschluss der Präsidien von CDU und CSU vom 4. Mai 2003 -

"Die üblen Tricks der Hartz IV-Schmarotzer."
- Aufmacher der BILD-Zeitung, von BILDblog analysiert -

Sozial bedeutet im eigentlichen Sinne des Wortes das Wohl anderer im Auge zu behalten und steht im Gegensatz zum Egoismus. Fürsorglichkeit, Altruismus und Hilfsbereitschaft kennzeichnen eine soziale Einstellung. Das kleine Adjektiv "sozial" wird im heutigen politischen Sprachgebrauch in vielerlei Hinsicht sprachlich normiert, um eigene Ziele und Interessen durchzusetzen. Die vielseitige Sprachmanipulation des Begriffes offenbart eine mehrdimensionale Zielsetzung.

Mindestens drei Methoden sind hierbei offensichtlich:

1.) Umdeutung: Der Slogan "Sozial ist, was Arbeit schafft" beinhaltet den Versuch den Begriff "sozial" umzudeuten, sodass alles als sozial gelte, was Arbeit bringe, unabhängig davon, ob die Tat selbst sozial oder ethisch vertretbar ist. Die Formulierung der "sozial schwachen" Menschen beinhaltet ebenfalls den Versuch der Umdeutung, schließlich werden bei dieser Wortkonstruktion finanziell schwachen Menschen mangelnde soziale Fertigkeiten zugeschrieben, was jedoch keine zwingende Kausalität ist.

2.) Euphemismus: Die "soziale Marktwirtschaft" soll suggerieren, dass der Kapitalismus gezähmt werden könne und beschönigt eindeutige Ausbeutungsverhältnisse. Auch "sozial verträglicher" Stellenabbau ist eine Verharmlosung für die eben gekündigten Menschen, die dann ohne eigenes Einkommen dastehen.

3.) Verunglimpfung: Da die neoliberale Ideologie den Sozialstaat am liebsten abschaffen will, um eine marktradikale Ordnung etablieren zu können sowie zur Legitimation von Ungleichheit, werden soziale Leistungen und der Sozialstaat selbst, seit längerer Zeit systematisch verunglimpft. Sei es "die soziale Hängematte", "Sozialschmarotzer", "Sozialneid", "der Sozialmissbrauch" oder "der ausufernde Sozialstaat" – staatliche Solidarität wird bekämpft und als Grundübel betrachtet. Der tatsächliche Missbrauch sozialer Leistungen ist jedoch minimal. Steuerhinterziehung hingegen kostet den Staat zweistellige Milliardenbeträge.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Die SPD ist high

Montag, 23. März 2009

So titelt heute der Stern in seiner Online-Ausgabe. Und man möchte ihm zurufen: Nicht nur die SPD! Auch deine Journalisten! Und wie! Die sind mal so richtig benebelt, vollkommen breit. Wie anders soll man es auch auslegen, wenn sich ein Journalist einen Partei-Aufschwung aus den Fingern saugt, den bis dato niemand, wirklich niemand, wahrscheinlich auch kein halbwegs fanatisierter Sozialdemokrat, bemerkt hat? Was Sebastian Christ - so der Name des Benebelten - zusammentrug, um den Leser über Entwicklungen zu informieren, die er exklusiv im Stern - und nur dort! - nachlesen kann, ist ein derart verqueres Aneinanderreihen von Banalitäten, dass es kaum der Rede wert wäre. Aber reden wir dennoch darüber.

Er versteift sich, so könnte man es deuten, auf Hubertus Heils Mimik, die irgendwie wie die Mimik eines Gewinners aussehen soll, weil man sich in der SPD ja für eine finanzielle Unterstützung von Opel ausspricht. Aus irgendeinem Grunde kommt Christ damit auf die Idee, die Sozialdemokratie hätte damit Profil erhalten, weil sie mal wieder so tut, als sei sie der Anwalt des kleinen Mannes, zumindest aber der Anwalt des Opelaners. Und nach der schlimmsten SPD-Krise seit langem, die sich am Namen Kurt Beck festmacht, würde Heil nun Selbstvertrauen ausstrahlen. Verstanden? Nein? Macht nichts, muß man wahrscheinlich auch nicht. Denn um ehrlich zu sein, der gesamte Text des Benebelten gibt wenig Sinn, er ist nicht schlüssig und wirkt zusammengeschustert, als hätte der Autor in verschiedenen Texten zur SPD gefischt, um sich einen neuen Text zusammenzustellen - Artikel Marke Baukastensystem. Mittendrin fällt ihm aber dann doch noch ein, dass die highe SPD bei der Sonntagsfrage keinen Boden gutgemacht hat - braucht sie auch nicht, denn Hubertus Heil wirkt so selbstbewußt und stark, wer braucht da schon Wahlumfragen?

Sebastian Christ ist kein bekannter Name innerhalb seines Berufstandes. Es wundert einen ob dieser Qualität an Nicht-Qualität auch nicht. Was er aber verdeutlicht ist die allgemeine Qualität des deutschen Journalismus, treffender ausgedrückt: die fehlende Qualität. Es wird wie wild darauf losgeschrieben, ohne Inspiration, ohne Ideen. Die groteskesten Einfälle werden zu Leitartikeln aufgebauscht, irre Deutungen, analysiert von Wolkenkuckucksheim aus, biegen sich eine Welt zurecht, die eigentlich kaum ein Leser jemals so wahrgenommen hat. High sind vorallem die Journalisten, die einen solchen Stoff ersinnen - ein ganzer Berufsstand auf Drogen?

Was für ein Mangel an Qualität! Da fürchten sich Menschen um ihre Zukunft, haben Angst bald Bestandteil jener Armenverwaltung zu werden, die eben jene Sozialdemokratie mit Hilfe der grünen Vasallen, installiert hat; da bangen viele, viele Menschen um ihre Lebenspläne, sorgen sich um ihre Kinder, die in eine immer kältere Welt hineingeboren werden; glauben nicht mehr an Gerechtigkeit, weil plötzlich Milliardensummen für Banken und Unternehmen da sind, während vorher keine Millionen für Soziales in der Kasse zu sein schienen; Menschen sorgen sich um die Demokratie, weil elitäre Zirkel das Wahlrecht für Rentner oder Arbeitslose abschaffen wollen und dergleichen faschistoides Antidemokratentum mehr; und nicht wenige sehen in der Wirtschaftskrise, verbunden mit der deutschen Geltungssucht in der Welt einen neuen Antrieb zu ganz neuen großen Plänen - aber was macht der deutsche Journalismus? Er schwelgt in Nebensächlichkeiten, betreibt qualitativ minderwertige Parteienwerbung, die noch nicht einmal einen Hauch von Realität besitzt. Er tut so, als sei zwischen der Union und der Sozialdemokratie ein nennenswerter Unterschied feststellbar, den man unbedingt den Leser ans Herz schreiben will.

Die SPD ist high? Kann sein, der Genosse Heil muß ja irgendein Motiv für seine Überheblichkeit haben. Aber mit der SPD sind wahrscheinlich sämtliche Journalisten bekifft. Ja, sehen wir der Tatsache doch ins Gesicht: Unsere Eliten sind immer noch, selbst jetzt in Zeiten der von ihnen erwirkten Krise, bis in die Haarspitzen hinein mit Räuschen erfüllt. Sie schweben immer noch da oben, alle zusammen, Politik, Wirtschaft und Presse Hand in Hand, und schreiben und phantasieren sich eine Welt zusammen, die es wahrscheinlich so nie gab. Unsere Eliten sind high, komplett stoned, vielleicht für diese, für unsere, für die Welt der kleinen Leute, gar nicht mehr reanimierbar. Eine Zwangstherapie hätten diese Herrschaften schon lange nötig...

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Ein Brief an eine Redaktion

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute wende ich mich an Sie, weil ich es nicht mehr ertragen kann. Das heißt, ich kann Sie, Ihr Radiokonzept, diese Masche der Anbiederung nicht mehr ertragen. Sicherlich werden Sie sich bereits nach diesen zwei Sätzen fragen, warum ich nicht einfach einen anderen Sender wähle, Ihren Sender nicht einfach verstummen lasse. Legitime Frage, ein Totschlagargument zwar, aber durchaus logische Fragestellung. Antwort: Was kann denn die von Ihnen gesendete Musik, die mir weitestgehend zuspricht, dafür? Sie kann doch nichts für die Dürftigkeit zwischendrin, zwischen den einzelnen Musikstücken. Und Sie werden hoffentlich in der Folge verzeihen, wenn ich mich einer direkten Wortwahl bemächtige, nicht herumlaviere und floskeliere, sondern gleich in medias res gehe. Mag sein, dass Sie diese Direktheit als unsachliche Herangehensweise betrachten, aber genau besehen, geht man damit der Sache gründlicher auf die Spur als durch nett stilisierte Phrasen, die so oder anders deutbar wären, und die der Sache niemals auf den Grund gehen können, weil sie sich in ihrer eigenen Vornehmheit selbst behindern; ich bin also folgend sachlich, was als unsachlich mißverstanden werden mag – die jeweilige Sichtweise steht Ihnen frei.

Was regt mich also auf? Was macht es mir mehr und mehr unerträglich, Ihren Radiosender zu hören? Nein, lassen Sie mich zunächst einmal lobend vorgehen. Die Musik, für die Sie nichts können, doch für deren Auswahl Sie verantwortlich sind (auch das erkenne ich als Leistung an), ist in großen Teilen angenehm, manchmal sogar hervorragend. Außerdem höre ich gerne die Kultursendung, die zwar freilich oft ein Who is Who Ingolstädter Spießbürgerlichkeit ist, aber dennoch ein hohes Maß an intellektuellem Anspruch zeitigt. Ebenso die Kirchensendung – Radio K1 -, die selbst ich, als Atheist, hervorragend und herausfordernd empfinde. Hier wird trefflich über Religiöses und Philosophisches berichtet, zudem kommen die Diskutanten dort nicht mit jenem Löffel daher, von dessen Weisheit sie gefressen zu haben behaupten – im Zweifelsfall lassen sie es offen, animieren den Hörer selbst zum Nachdenken. Und weiter? An dieser Briefstelle sitze ich bereits zwölf Minuten, beinahe dreizehn und es werden vielleicht sogar noch einige Minütchen mehr. Ich denke darüber nach, was ich Ihnen noch lobend bescheinigen kann. War das schon alles? Musik, Kultur und Religion? Es muß doch noch was geben, ich bin bester Absicht die Auflistung zu erweitern. Aber alleine mir fehlt eine Idee, daher lassen Sie uns weiterschreiten. Zum Stein des Anstosses also...

Direktheit wurde angekündigt, daher bediene ich mich dieser nun und benenne die Sache: Ihre Arschkriecherei, nicht Ihre persönliche, die Ihres Senders, die der Redaktionsmaxime, Ihre Arschkriecherei also, ist unerträglich geworden. Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, ob sie es geworden ist oder immer schon war. Möglicherweise bin ich es, der sich verändert hat, aber das sei an dieser Stelle nicht von Belang. Nachdem ich mich nun schon mehrmals darüber ärgern mußte, wie Sie die Zahlen der örtlichen Arbeitsagentur aufbereiten, wie sie hinter jeder noch so fadenscheinigen Zahl einen locker-flockigen Optimismus stellen, der leider viel zu selten kritisch begutachtet wird, kann ich Ihren Sender als nichts anderes als ein „Verlautbarungsorgan herrschender Zustände“ bezeichnen. So auch Anfang März, als Sie das riesige Heer von Kurzarbeitern als positives Zeichen werteten, dabei noch ganz werbetechnisch von einem „Service“ sprachen, den Menschen „in Anspruch nähmen“, gerade so, als wollten sie das großartige Servicepotenzial dieser Behörde recht in Szene setzen – von den Gängelungen, den Repressionsmaßnahmen und dergleichen Schweinereien mehr, die man natürlich nur erfährt, wenn man gelegentlich auf einem Behördenflur sitzen muß, sprechen Sie nicht; das käme besagter Serviceagentur freilich ganz ungelegen. Und dass ein Heer von mehreren Zehntausend Kurzarbeitern auch derart zu deuten wäre, dass im Falle nicht eintretender Aufträge aus diesen Kurzarbeitenden Erwerbslose würden, wollten Sie netterweise verdrängen – gute Laune ist um jeden Preis Maxime, scheint es. Überhaupt durchziehen solche „wirtschaftlichen“ Themen das Programm auch außerhalb der Nachrichten; scheinbar fühlt sich jeder Moderator dazu animiert, zu solchen Themen seinen vergorenen Senf dazuzugeben.

Und dann kürzlich, Sie berichteten von den Eichstätter Diensten, dies nicht zu knapp – welche Kriecherei, welch Werbeträgerschaft von Seiten Ihres Senders! Ich werde an dieser Stelle nicht mutmaßen, ob für eine so wohlwollende Berichterstattung bezahlt werden muß oder ob Sie vorauseilend eifrig am Werk sind, aber wundern würde mich die finanzielle Verbrüderung freilich nicht – Sie wären darin auch kein Einzelfall, jedes größere Medium arbeitet mittlerweile abhängig von Wirtschaftsinteressen. Jedenfalls sprachen Sie da ganz offen aus, was den dortig eingegliederten Ein-Euro-Arbeitskräften geboten wird: nämlich eine „sinnvolle Beschäftigung“ – als ob man ohne dieser Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (so heißen diese Ausgeburten schikanösen Ausbeutungsdranges nämlich offiziell) nicht sinnvoll beschäftigt sein könnte; als habe ein Leben erst Sinn, wenn man für windige Mehraufwandsentschädigungen „lohn“-arbeiten darf. Zudem würde ich Ihnen einmal empfehlen das SGB II durchzublättern, vielleicht nebenbei auch ein wenig darin zu lesen. Den Paragraphen 16d lege ich Ihnen ans Herz, vielleicht als kurze Nachtlektüre. Darin heißt es, dass diese Form der Arbeitgelegenheit „kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeitsrechts“ ist, was wiederum soviel heißt wie: Ein-Euro-Jobber haben kaum Rechte, viele Pflichten und können sich aus dieser miesen Situation nicht aus eigener Kraft herauswinden, sofern sie finanziell nicht dafür bluten wollen. Ein-Euro-Jobber, schon diese Bezeichnung ist irreführend, weil es sich eben gerade nicht um einen Job handelt, stehen außerhalb arbeitsrechtlicher Standards. Sie sind deshalb nicht „sinnvoll beschäftigt“, sondern ausgebeutet und aus der Statistik entfernt. Überallem haben Sie natürlich auch nicht vergessen, den heiligen Eifer der Eichstätter Dienste zu loben, die scheinbar alles aus reiner Selbstlosigkeit ins Leben gerufen haben.

Wissen Sie, ich will an dieser Stelle nicht zu sehr ausufern, die Blödeleien der Moderatoren sind zwar auch schwer zu ertragen, aber man kann darüber hinwegsehen, solange sie einigermaßen neutral sind. Ebenso Ihre spontanen (?) Aktion, den Dienst als Oberbürgermeister reinzuwaschen, als man einen Tag das Amt tauschte, den Redaktionsleiter zum OB, den OB zum Redaktionsleiter machte. Vom „Beruf“ des Oberbürgermeisters sprachen Sie da – alleine daran erkennt man ja die Plattheit. Wo lernt man denn den Beruf des Oberbürgermeisters? Wielange dauert die Lehrzeit? Aber darüber kann man hinwegsehen, denn ein halbwegs vernunftvoller Mensch erkennt die Masche dahinter, erkennt das Anbiedern an Macht (auch wenn es nur eine regionale Macht ist) und Institutionen, sieht sehr wohl, dass es eine reine Eine-Hand-wäscht-die-andere-Aktion war. Aber wie Sie sich den wirtschaftlichen und behördlichen Aspekten an den Hals schmeißen, wie Sie irgendwelche Meldungen nachbeten, die Sie dann auch noch so hinstellen, als seien wir der allgemeinen Sorglosigkeit verfallen, dies darf nicht unkommentiert bleiben. An dieser Stelle könnten Sie jetzt einwenden, dass es Ihnen als Medium nicht zusteht, beispielsweise Ein-Euro-Arbeitsgelegenheiten zu kritisieren, weil Sie ja nicht Politik machen, sondern ein Radioprogramm, daher neutral sein müssen. Ich würde Ihnen da nicht uneingeschränkt beipflichten, weil stillschweigende Toleranz (als Auswuchs des Neutralismus) gegen das Falsche, Inhumane, Entwürdigende immer den repressiven Mißstand stillschweigend gutheißt, eben zur „repressiven Toleranz“ (um den Begriff Herbert Marcuses zu bemühen) wird. Aber das lassen wir hier beiseite. Wichtig wäre nur: Wenn Sie neutral sein wollen, müssen Sie es beidseitig sein. Neutralität ist nicht, wenn Sie redaktionell aufbereiten, was Behörden oder Unternehmen Ihnen vor die Füße werfen, um dann eine Art berichterstattende Hymne auf den Informationsgeber und sein glorreiches Tun zu singen – denn damit rechtfertigen Sie Mißstände und unterdrücken den kritischen Geist in dieser Region. Sie tun dabei so, als würden Sie Berichterstattung betreiben, aber ich sage es Ihnen ganz offen, Sie betreiben ein gutes Stück Volksverdummung, Sie halten die Massen bei notwendiger Laune, statt sie nach besten Wissen und Gewissen zu informieren.

Sicher, so fair muß man schon sein, dieser Krankheit sind nicht Sie alleine verfallen. Viele Radiosender, gerade auch kleine Radiosender, betreiben ein ganz ähnliches Geschäft. Von den Zunftriesen ganz zu schweigen, die ja mit Meinungsmachern verbandelt sind, so wie beispielsweise Antenne Bayern, an dem der Axel Springer-Konzern beteiligt ist. Oder fragen wir doch mal ganz offen, nicht rhetorisch sondern neugierig: Ist Radio IN auch irgendwie mit solchen wie Springer verquickt? Wissen Sie, es wird heute immer schwieriger zu überblicken, wer mit wem und wann und wieso, daher sollte man schon einmal nachfragen.
Medien werden gerne als die vierte Macht im Staate bezeichnet. Das stößt mir übel auf, weil es etwas Legitimierendes hat, wenn man dies so ausdeutet. Medien dürften im Optimalfall keine direkte Macht sein, ihre Macht müßte sich darauf beschränken, den Menschen, den Zusehern, Zuhörern und Lesern objektives Wissen zu vermitteln, damit diese dann zur Macht innerhalb des Staates werden können. Aufklärung als Machtsäule, nicht der Berufstand des (Kampagnen-)Journalismus. Sie, Ihr Sender, hier stellvertretend für eine Schafherde, deren Schafe vornehmlich schwarz sind, betreiben aber ein Geschäft der Machtlegitimierung. Weil Sie unkritisch berichten, weil Sie aufgehört haben zu hinterfragen, weil Sie den herrschenden Zuständen nicht trotzig-frech, sondern devot-nachäffend entgegentreten, sind Sie zur Säule geworden und erlauben es, wenn auch zunächst nur regional begrenzt, dass sich allerlei Gestalten aus der regionalen Politik und Wirtschaft, ungehemmt und ohne Angst vor Mediendruck durch die Lande bewegen, ihre kruden Geschäftchen betreiben können. Das Treiben der Granden unserer Region wird durch die Kritiklosigkeit der hier ansässigen Medien – auch z.B. der Donaukurier leidet unter diesem Virus - abgesegnet, wird also legitimiert. Seien wir direkter: Diese Arschkriecherei, wie wir sie nun täglich aus dem Äther vernehmen, ist nicht neutral und informierend, sie ist parteiisch (nicht im Sinne von Parteipolitik) und konditionierend. Sie schärfen nicht den kritischen Geist Ihrer Zuhörer, Sie untertreiben jegliche Kritik, weil Sie alles so darstellen, als gäbe es keine Kritik auszuüben – es wäre wahrscheinlich nicht einmal Ihre Aufgabe, Ihre Hörer zu kritischen Denkern zu erziehen, aber es wäre Ihre Aufgabe im mindersten Falle wenigstens neutral zu berichten. Oder gar nicht, wenn Sie nicht dazu fähig sind, beide Seiten zu beleuchten.

Wie gesagt, ich könnte umschalten, könnte mir den gleichen Mist auf einer anderen Frequenz anhören. Aber ich glaube, man muß solche Entwicklungen verfolgen, muß auf dem neuesten Stand der Verdummung und Meinungsmache sein, darf also nicht wegsehen oder –hören. Daher werde ich gelegentlich weiterhin reinhören und Sie werden, so hoffe ich inständig, überhäuft mit Schreiben anderer Menschen, die Ihre Medienarbeit genauso kritisch sehen und Sie das auch in aller Direktheit wissen lassen. So jedenfalls, in dieser Aufmachung, sind Sie nichts weiter als das regionale Zentralorgan der herrschenden Kaste. Ein Sprachrohr für die Granden, dessen Aufgabe es ist, die Weisheiten und Lumpereien von „denen da oben“ so aufzubereiten, dass es „die da unten“ auch schlucken. Und schmecken soll ihnen dieses Geschluckte natürlich auch noch – freiheitliche Berichterstattung sähe anders aus, bloß, wie mir scheint, weiß man davon in Ihrer Redaktion wenig.

Viele Grüße,
...

Dieser Brief ging postalisch an die betreffende Redaktion. Die unterlegte Verlinkungen wurden natürlich nachträglich angebracht. Noch eine Anmerkung: Radio Galaxy Ingolstadt, im gleichen Hause wie Radio IN untergebracht, auch vom gleichen Geschäftsführer geleitet, ist via Mantelprogramm tatsächlich mit Springer verquickt. Es dürfte also nicht wundern, wenn da die Springeritis ins bürgerliche Programmkonzept rübergeschwappt ist.

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Ridendo dicere verum

Sonntag, 22. März 2009

"Prolet vor Gericht

Stehst du in dem Menschenschranke?
Die da wolln dich strafen.
Du bist müde, bleich und krank;
die sind voller Tatendrang,
satt und ausgeschlafen.
Zum Juristenwerk, wohl vertraut,
wird man sich vereinen...
Junge! Wehr dich deiner Haut!
Dreie gegen einen!

Der Direktor, fein mit Ei,
hackt mit kurzen Fragen.
Auf die schlimmste Pflaumerei
darfst du gar nichts sagen.
Spitzel kann mit Vorbehalt
unter Schutz erscheinen.
Protokoll und Staatsanwalt:
Fünfe gegen einen!

Staatsanwalt und Plädoyer.
Kommst du noch nach Hause?
Antrag. Die Justiz-AG
macht erst Frühstückspause.
Vier Jahre Zuchthaus.
"Abführn den... !"
Leis zwei Frauen weinen-
Wirst du je sie wiedersehn?
Alle gegen einen!

In Zellen bricht mach euer Leben
für etwas, das ihr niemals saht:
Für Freiheit müßt ihr Tüten kleben,
ein jeglicher ein Volkssoldat.
Herauf ihr! Aus den Kohlenzechen!
Baut in Betrieben Stein auf Stein!
Es kommt der Tag, da wir uns rächen:
Da werdet ihr die Richter sein!"
- Kurt Tucholsky, "Deutschland, Deutschland über alles" -

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Das Unerträgliche

Freitag, 20. März 2009

Vor einigen Monaten mußte man sich ärgern, weil der nörgelnde Buchkritiker - jener der das deutsche Fernsehen geißelte -, bei seinem Tête-á-tête mit einem langbeinigen Fernsehmoderator, nicht den Mut oder die Eloquenz aufbrachte, die einzelnen Miseren mit Namen zu benennen. Konkret wurde er nicht, stattdessen lavierte er, deutelte mit dem Finger, lobte Shakespeare und Brecht und widmete sich nicht den Punkten, die einer Kritik bedurft hätten. Er könne es nicht ertragen: dieser Satz war die immer wieder repetierte Krone seiner Kritik. Unerträglichkeit. Aber warum, wie genau, wielange schon, all das blieb auf der Strecke, blieb beim bündlerischen Männerabend zwischen den Sitzpolstern hängen. Eine Scheindebatte wurde inszeniert, ein wenig Oppositionspielen, so tun, als sei das deutsche Fernsehen manns genug, sich einer Kritik auch offen zu stellen. Bevorzugt dann, wenn die Kritik keine Kritik, sondern ein subjektives, vages Gefühl ist, das man nur mit Unerträglichkeit zu umschreiben trachtet, nicht aber mit Fakten und Motiven unterlegen will.

Ich ertrage es nicht! Man hat an dieser Stelle Reich-Ranicki einen Vorwurf daraus gemacht, man hat ihn gescholten, weil er so schwammig blieb, die Kritik als poröses Etwas gestaltete, als etwas eigentlich nicht Faß- und Beschreibbares. Endlich trat dortmals jemand auf, mediengerecht arrangiert zwar, um die verdummendste aller Branchen zu schelten, bekommt flugs eine Plattform und läßt sie unausgefüllt vorüberziehen. Seinerzeit schien die Kritik ob dieser kritiklosen Kritik berechtigt, nun drängt sich aber der Gedanke auf, dass man damals falsch lag mit dieser Kritik an substanzloser Kritik, die ja letztendlich als nur gespielte und gemimte Schein-Opposition dem herrschenden Medienzustand eher in die Hände spielte, ihn als demokratische Institution aufwertete, als Negation des Ist-Zustandes zu sein.

Wenn man als Mensch der Opposition, als Mensch, der dem Mainstream nicht mehr folgt, weil er ihm als grundsätzlich falsch und der Wahrheit fremd begriffen hat, wenn man sich als solcher Mensch anschaut, was da tagtäglich geboten wird, dann fragt man sich stetig, wo man mit der Kritik an den Zuständen überhaupt beginnen soll. Es wird offensichtlich desinformiert, verdummt, manipuliert, aufgebauscht, runtergespielt, kleingehalten, scheindebattiert – all das zur besten Medienzeit; einige Schmuckstücke der Information, kleine Fernsehsendungen mit intellektuellem Anspruch, werden spät abends ausgestrahlt, werden mit aller Gewalt dem Massenpublikum vorenthalten. Stattdessen sitzen zur Primetime wichtigtuerische und großkotzige Politiker und Wirtschaftsgranden bei mittelmäßigen Journalisten herum, jammern und polemisieren, kaschieren ihre Weltabgewandtheit und Abgehobenheit hinter einer Maske von vermeintlicher Vernunftmenschelei und beanstanden das falsche Bewußtsein ihrer Wählerschaft, die immer noch nicht verstehen will, wie die Gesellschaft der Zukunft zu ticken habe.

Politische Berichterstattung findet entweder in dieser scheindiskutierende Form statt oder sie wird banalisiert und privatisiert. Merkels Hosenanzug, Münteferings Witwerdasein, Westerwelles Homosexualität und Trittins abrasierter Schnurbart – all das steht für politische Kultur in der heutigen Bundesrepublik. Zwischen dieser Trivialität werden offensichtlich Falschinformationen gestreut, anderes wird einfach verschwiegen. Damit die Gewährleistung gegeben ist, dass auch wirklich immer mehr Menschen sich in die Gleichgültigkeit hinüberflüchten, stattet man das Unterhaltungsmonopol dahingehend aus, wirklich bloße, plumpe, voyeuristische, an niedere Instinkte appellierende Unterhaltung zu ermöglichen. Es wird entweder bis zum Erbrechen gekocht oder gemodelt, geträllert und diverse Parksünder verfolgt. Immer die gleichen Phrasen, ständig dasselbe Repertoire an Floskeln, die da ausgestreut werden. Schubeck erzählt die immergleichen Geschichten zu Gewürzmischungen; Klum bedient sich eines Wortschatzes, der scheinbar aus sechzig bis siebzig Worten besteht; Bohlen quetscht sich ach so originelle Beleidigungen aus der Blase; allerlei Beamte stammeln ihr stetes „Sie-dürfen-da-nicht-parken“-Gemecker in die Kamera – was für ein Arsenal an Abgestumpftheit und Hirnverbrennung!

Was will man als oppositioneller Mensch da noch anderes sagen, als dass es genug ist? Man erträgt es einfach nicht mehr. So hat es Reich-Ranicki gesagt, so hat er sich gar nicht erst der Argumentation gewidmet, weil es scheinbar eine solche bedrückende Macht von aufgestauter Ohnmacht gegen das offensichtlich Dumme gibt, dass man sich gar nicht mehr mit dem ganzen Mist auseinandersetzen will. Da sitzt man dann vor dem Fernseher, darin fabuliert Heil oder Pofalla, man hört ihnen zu, nicht lange, dann reicht es schon. Und was will man ihnen zurufen? Hört auf, ich ertrage das nicht mehr! Warum? Ach kommt, hört auf, darüber will man nicht mehr reden, hört nur auf, man erträgt euch Gecken nicht mehr! Oder man betrachtet das überhebliche Gekeife des Westerwelle, wie er im Bundestag so tut, als sei er der Anwalt der Bürger, gerade jetzt in der Krise, von der er und seine Spießgesellen auch noch profitieren. Wie er arrogant auf Staatsmann macht, als wäre ein Kabinett Westerwelle die Rettung der Republik vor dem Sozialismus. Man erträgt dieses Sprücheklopferei einfach nicht mehr! Und dann die Dumpfbackiade, die alltäglich unsere Wohnzimmer erreicht, die Bohlens, Klums und Jauchens, die ihre Hohlheit und – wie im Falle Jauchs – ihren reaktionären Konservatismus medial verbreiten. Das erträgt man nicht, selbst wenn man wollte! Und wenn dann die Diekmann-Junta ihre Zeitungen in die Republik aussenden, wenn darin wieder Hetze gegen Randgruppen, gegen Ausländer, gegen Arbeitslose zu lesen ist; wenn sie Werbung für Rassisten und politische Extremisten macht und diese Leute zu vernünftigen Mitgliedern unserer Gesellschaft verklärt, dann möchte man nur noch rufen, sie mögen sofort dieses Fiasko an Intelligenz beenden, man ertrage dieses Höchstmaß an Idiotie einfach nicht mehr! Wie oft am Tage könnte man nur noch ausrufen, dass man es nicht mehr ertrage? Zehnmal? Fünfzigmal? Täglich fünfzigmal oder stündlich? Und wie oft mangelt es einem am Willen, klar darzulegen, warum man das nicht mehr erträgt? Diese Menge an Unerträglichkeit lähmt jede Argumentationslust, man will nur noch ein Ende des Unerträglichen.

Gut möglich, dass es die fundamentalste aller Kritik ist, sich der Flut des Unerträglichen gar nicht mehr argumentativ annähern zu wollen; gut möglich, dass man mit dieser Form der Kritik, mit dem bloßen Formulieren der Unerträglichkeit, der wahrhafte Kritiker ist, der sich mittlerweile zu schade wurde, um über die konkreten Mißstände zu debattieren. Der Schreiber dieser Zeilen jedenfalls, so gerne, so oft er auch argumentiert oder das tut, was er für argumentieren hält, kann heute Reich-Ranicki mehr denn ja verstehen. Er kann jetzt nachvollziehen, dass man das Unerträgliche einfach aussprechen muß, ohne eine Pflicht auf Begründung zu haben. Genug ist einfach genug. So blickt er - der Schreiber - dieser Tage um sich, sieht einen überschwappenden Pool von unerträglichen Zuständen und weiß nicht, wo er anfangen soll dagegenanzuschreiben. Aber eines kann er tun, resignativ freilich, aber auch fundamental: Er findet diese Gesellschaft mehr und mehr unerträglich, so sehr, dass ihm Schweigen goldwert wird; er ertappt sich immer öfter dabei, wie er nur noch sagt, dass ihm dies oder jenes unerträglich ist, aber warum und wieso, dazu fehlt ihm immer öfter der gute Wille. Genug ist ihm genug und mit dem Unerträglichen debattiert man nicht.

Mit kurzen Worten kann man das Unerträgliche kaum noch umschreiben; die Last dieser kaum mehr zu beschreibenden Unerträglichen läßt verstummen, zurückziehen, resignieren. Es ist ein täglicher Kampf, sich dem Unerträglichen doch noch zu stellen, ihm gezielt entgegenzutreten, die Stirn zu bieten, um letztendlich doch wieder Schläge auf dieselbige zu erhalten. Und es ist vorallem ein ständiges Bangen vor dem erdrückenden Gefühl, welches dann und wann den an Unerträglichkeit Leidenden auferlegt, diese Form der Ohnmacht, der man sich ausgeliefert fühlt.

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Wahrer Fortschritt

Donnerstag, 19. März 2009

Die Menschheit hat es weit gebracht, jedenfalls jener Teil der Aufrechtkriechenden, der in dieser, unserer Weltregion sein Dasein fristet. Was hat der Mensch dem Menschen doch quer durch die Jahrhunderte alles angetan! Aber er hat daraus gelernt und hat die Gegenwart zu einer Insel der Glückseligkeit gemacht, zu einem zivilisierten Fleckchen Zeit. Wie haben die Zeiten sich doch gewandelt!

Es gab Zeiten, da konnte man über Märkte bummeln, die bestes Menschenfleisch anboten. Von Leben erfülltes Menschenfleisch, lebende Leiber. Kräftige Burschen, flinke Mädchen, die das Geschäft potenter Herrschaften besorgen sollten. Die Krämerseelen, die die inkarnierte Ware feilboten, putzten freilich die körperlichen Vorzüge ihres wandelnden Lebensunterhaltes fein heraus, präsentierten kraftstrotzende, arbeitsame, nimmermüde Menschlein, die jeder akkordigen Herausforderung gewachsen zu sein schienen. Diese romantischen Erinnerungen sind passé, auf Sklavenmärkten treten keine in Ketten gelegte Sklaven mehr auf. Der Fleischbeschau ist aus der Öffentlichkeit verbannt, wird in stillen Hinterzimmern, in Personalbüros umgesetzt.

Heute ist man ja zivilisiert. Solche schwarzen Episoden aus der menschlichen Geschichte wurden aus unser aller Leben getilgt. Lincoln sei Dank muß sich kein Versklavter mehr zur Schau stellen lassen – wenigstens nicht vor den Augen aller Welt. In unseren Tagen treten die Sklaventreiber selbst auf, besteigen einen Verkaufsstand und preisen sich selbst an. Sie seien der Rettungsanker, durch ihre Form der Sklaverei (sie nennen es anders) bekämen Menschen wieder eine Chance. Man zahlt diesen Glücksrittern, die eine Chance suchen, zwar nur gerade soviel, dass sie ihre Arbeitskraft einigermaßen erhalten können, aber eine Chance, eine „gute Option“ bliebe es dennoch, auch wenn man daran nicht reich würde. Sie sind die personifizierte Dienstleistung, lassen ihren gutaussehenden Körper bestaunen, ihre eloquenten Worte bewundern, ihr selbstsicheres Auftreten beklatschen. Als kräftige Burschen lassen sie sich feiern, denn sie sind jene Kraftpakete, die diese Gesellschaft atmen lassen. Ihre Leistungträgerschaft läßt sie zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft werden, zu Bewahrern der Gesellschaftform von heute.

Das muß man Fortschritt heißen! Einst mußte man Ketten benutzen, mußte man Zwang anwenden und zu repressiven Mitteln greifen. Aber seitdem die Sklaventreiber selbst die masochistische Bühne betreten haben, seitdem sie ihren anstatt den Körper ihrer Ware anpreisen, sind Ketten im Strudel der Historie versunken. Ihre Auftritte vor Publikum brachte ein erhöhtes Maß an Akzeptanz. Maßanzüge und wohlfeile Worte verkaufen sich besser als rostige Ketten. Das ist wahrer Fortschritt, das sind Anzeichen unserer zivilisierten Zeit. Wir nennen Sklavenmärkte Zeitarbeitsmessen, lassen die Auspeitscher nicht die Ausgepeitschten vorsprechen, bezahlen Hungerlöhne statt Naturalien und danken dabei dem Schicksal, dass wir in „besseren Zeiten“ leben dürfen.

Unverfälschter Fortschritt ist daran meßbar, dass sich der Ausbeuter nun wenigstens rechtfertigen muß für sein Tun, sich anbiedern, seine wirtschaftlich wichtige Rolle immer wieder unterstreichen muß – die Menschheit in diesem Teil der Erde hat es weit gebracht, denn auf anderen Erdteilen steht immer noch der Ausgebeutete auf den Brettern, die das Geld (für den Ausbeuter) bedeuten. Dort muß dieser arme Kerl noch den musternden Blicken standhalten – bei uns haben die Ausbeuter diese Rolle übernommen; man will die seiner Ware ja ein Mindestmaß an Respekt entgegenbringen.

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Wer arbeiten läßt, ist ein Idiot

Dienstag, 17. März 2009

Nachdem vermehrt gemeldet wird, dass es Unternehmen viel zu leicht gemacht wird, sich Kurzarbeit zu erschleichen, wird sich Wirtschaftsminister Guttenberg in leicht angetrunkener Pose zu Anne Will setzen und seine Zahlen präsentieren. Gesichert seien sie und abbringen lasse er sich auch nicht davon: 20 bis 25 Prozent der Unternehmen würden die Möglichkeit kurzarbeiten zu lassen mißbrauchen, sich mit falschen Angaben diese Leistung erschleichen. Nachfragen wird Will nicht, sie wird diese Zahlen erstmal so stehenlassen, Guttenberg wird aber auch nicht offenlegen, wie er sich diese vergleichsweise hohen Prozentzahlen errechnet hat. Studien gäbe es jedenfalls keine dazu, räumt er gegen Ende der Sendung entnervt ein.

Noch am nächsten Tag wird der Wirtschaftsminister eine Broschüre drucken lassen. Darin wird er sich gegen die untragbaren Zustände wenden, wird neben den obligatorischen Hymnen auf das Kurzarbeitergeld drastische Worte finden. Schmarotzer und Parasiten seien solche, die sich die Kurzarbeit erschleichen, Kriminelle der schlimmsten Sorte, Selbstbediener am Sozialstaat. Daher sei das Sanktionspotenzial auch so weitreichend angelegt worden... naja, wird es bald angelegt werden, man arbeite noch daran.

Nun wird die BILD-Zeitung aktiv, fragt in dicken Lettern: "Wird es den Unternehmern zu leicht gemacht?", nur um dann nach einem reißerischen Text zur Antwort zu kommen: Ja, es wird ihnen viel zu leicht gemacht! Man befragt treue BILD-Seelen, Menschen von der Straße, die sich täglich ihre Erbauungsartikelchen zu Gemüte führen, und freilich sind allesamt der Ansicht, man müsse härtere Sanktionen einführen, um das gierige Pack zu bändigen. Bereits am Folgetag läßt Diekmann eine dezente Frage im Raume stehen, natürlich als Aufmacher: "Darf man die Kurzarbeit-Schmarotzer Parasiten nennen?" Allerlei Kommentare, von Wagner bis Müller-Vogg, geben sich politisch korrekt, nehmen aber den braven Guttenberg in Schutz, er sei halt um die Gerechtigkeit bemüht, da schösse man auch mal über das Ziel hinaus. Am Sonntag drauf wird ein gewisser Hahne noch einen drauflegen, seinen moralischen Zeigefinger erheben und einige unlesbare Zeilen formulieren, im guten Gewissen, das Parasitentum zwar ausdrücklich verurteilt, aber doch wenigstens hoffähig gemacht zu haben - die wahre Kunst des Sophisten.

Nochmals einige Tage später wird die Bundesagentur Guttenbergs Zahlen aus dessen peinlichen Fernsehauftritt dementieren, wird eigene Zahlen nennen, die dann durch mehrere weitere Studien stützend flankiert werden. Der Wirtschaftsminister wird sich allerdings nicht entschuldigen, sondern weiterhin seiner Behauptung harren, ja, vielmehr habe er nun Blut geleckt, die fiesen Kurzarbeit-Abzocker niet- und nagelfest zu machen. Dafür wird Guttenberg von der Axel Springer AG geadelt, wird als unbequemer aber doch ehrlicher Politiker gefeiert und in vielerlei Artikeln lobend erwähnt. Und um seine weitere harte Gangart gegen die Schmarotzer zu unterstützen, wird BILD auch weiterhin täglich knallharten Faktenjournalismus bieten, wird beispielsweise die "Tricks der Kurzarbeit-Abzocker" entlarven. Die obligatorische BILD-Serie wird den Lesern dann klarmachen, wie untragbar die parasitäre Lebensweise der Kurzarbeit-Schnorrer geworden ist. Titel des Meisterstücks: "Wer arbeiten läßt, ist ein Idiot!"

Nachdem man nun also weiß, dass Kurzarbeit leicht erschwindelt werden kann, wird es in naher Zukunft so kommen, wie es schon einmal kam. Oder etwa nicht?

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Sit venia verbo

„Positive Kritik ist erlaubt, willkommen sogar. Sie ist systemimmanent. Um als Demokratie zu funktionieren, braucht das Regime Opposition, Kritik, Widerspruch. Aber eben: Widerspruch innerhalb des normierten Realitätsfeldes. Wer das System selbst in Frage stellt, wird pathologisiert.
Eine subtile Dialektik beherrscht das Feld. Das „normierte“ Verhalten steht nicht einfach dem „abweichenden“ gegenüber. Die „positive“ und die „negative“ Kritik stehen in einer komplexen, gegensätzlichen und stets umkehrbaren Beziehung zueinander. Der Systemgegner ist zunächst ein Störenfried, einer, der die Zelebrierung des Kultes stört; der Ungläubige zerreißt plötzlich den Vorhang und bringt eine Wirklichkeit an den Tag, die verborgen bleiben sollte. Der Gegner ist der Wiedertäufer, gleicht dem Mann im 16. Jahrhundert, der auf dem Platz von Münster den Mächtigen ins Gesicht schreit, sie seien Sünder und die Welt gehe unter.
Er wird so lange geduldet, als er zu bestimmten Stunden an dem für ihn vorgesehenen Platz erscheint, und unter der Bedingung, dass auch er rituelle Ausdrücke verwendet, die von denen, die ihm zuhören, vorgesehen sind. Doch sobald er sich anschickt, gegen die Institutionen vorzugehen, sobald er versucht, sich selbst Zugang zu den Entscheidungsinstanzen zu verschaffen, indem er ein unvorhergesehenes und der gesellschaftlichen Kontrolle sich entziehendes Projekt vorlegt, wird er ganz einfach gefährlich und wird verbrannt. Wie Thomas Müntzer.“
- Jean Ziegler, "Die Schweiz, das Gold und die Toten" -

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Unsachlich sachlich bleiben

Montag, 16. März 2009

Aberaber, Herr De Lapuente, hieß es kürzlich wieder. Auch wenn ich mich ratlos gab ob dieser Reaktion, so tat, als wisse ich nicht, was ein solches Aberaber bedeuten solle, war ich doch im Bilde. Stattgefunden hat dies vor einigen Wochen, beim Blutnehmen im Labor des Facharztes, den ich regelmäßig zum Aufsuchen gezwungen bin. Grund war die Sparpolitik Ulla Schmidts, die ja gerade Bayerns Fachärzte in die Enge treibt - so sagen jene jedenfalls - und die von mir gemachte Äußerung, wonach die gesamte Gesundheitspolitik dahingehend ausgerichtet wird, nurmehr sogenannten Leistungsträgern ein wohliges Dasein zu ermöglichen, während der ganze Rest, die menschlichen Unkostenfaktoren also, sehen soll wo er bleibt. Ja, so meinte ich weiter, sagen wir es doch in aller Direktheit: Die große Masse der Hilfebedürftigen kann, laut Weltbild dieser selbstverliebten Eliten, gut und gerne verrecken. – Aberaber, Herr De Lapuente!

Dabei pflichtete sie, die mir blutabnehmende Sprechstundenhilfe, durchaus bei, war inhaltlich gar nicht so different. Sie begründete ihr Aberaber nur spärlich, eben damit, dass ich so drastische Worte benutzte, aber freilich und ohne Umschweife natürlich vollkommen recht habe. Was ich aber dahinter vermutete war mehr, war durchaus an der Reaktion ablesbar. Ich habe vom Verrecken gesprochen, habe keine alltagsgebräuchliche Formel verwendet, nicht vom Von-dannen-Gehen in eine andere Sphäre, nicht vom Dahinscheiden oder In-eine-andere-Welt-hinübergleiten gesprochen, sondern die Realität in Worte gefaßt. Wenn man daran denkt, dass ein Patient, dessen fachgerechte Behandlung sich die Solidargemeinschaft nicht mehr leisten will, irgendwann einmal das Zeitliche segnet, dann ist es vielleicht erträglich, weil man sich einen weißen, gut gepflegten Raum vorstellt, weiße und saubere Bettlaken, eine Fachkraft, die den Leidenden pflegt; aber spricht man vom Verrecken, dann wird das ganze Elend offenbar, es wird vor dem geistigen Auge schier anfaßbar, denn man imaginiert sich einen armen Kauz, der in einer verwahrlosten Wohnung herumlungert, verschreibungsfreie Schmerzmittel schluckt, ungewaschen und stinkend vor sich hingammelt, und irgendwann, wenn er des Leides genug ausgehalten hat, aus dem Gestank seiner eigenen Unerträglichkeit in eine vielleicht andere Welt hinüberverreckt.

Ähnlich der Vorwurf heute, der wahrscheinlich weniger Vorwurf als Zurechtrückung des entstandenen Argwohns war. Besagte Fachärztin empfahl mir eine abendliche Veranstaltung zum Thema, eine Podiumsdiskussion, an der Markus Söder teilnehmen werde – ausgerechnet dieser Sozialdarwinist, meinte ich lapidar. Die gute Dame war verdutzt, meinte dann, dass er jetzt jedenfalls auf Seiten der Fachärzteschaft sei. Dafür vergißt man freilich auch, wie er einst von Ausländern und Erwerbslosen sprach, man ist selbst ja nicht betroffen gewesen, als Stoibers Wadenbeißer durch die Republik erbrach.

Nur zwei Beispiele, die symbolisieren sollen, wie mir immer wieder mein Umfeld begegnet. Man ist zwar einerseits entzückt, wenn Menschen offen sind, wenn sie durch Offenheit herzlich und freundlich sind, wenn sie aber in dergestalt offen sind, Tatbestände direkt beim Namen zu nennen, dann zieht man sich etwas irritiert zurück, versucht das Gespräch zu einem glücklichen Ende zu bringen. Natürlich ist mir bewußt, welche Absicht dahintersteckt: man möchte sachlich bleiben, möchte nicht ausfallend sein, wobei das Benennen sozialdarwinistischer Tendenzen keinen Ausfall darstellt, aber doch den Keim fehlenden Anstandes in sich trägt. Ein Anstand, der aber genau besehen, nichts als ein Bändigen freidenkerischer Denkansätze darstellt, weil er vorschreibt und unterbindet, das Selbsterdachtes zur Konfrontation führt. Wenn nun also einer in Szene rückt, der sich des allgemeinverbindlichen Anstandes befreit hat, zumindest wenn es um diese selbstverordnete politische Korrektheit geht, dann glaubt man sich auf dünnem Eise, zieht sich zurück, versucht anständig zu bleiben, nennt es euphemistisch aber „sachlich bleiben“.

Dabei ist das vermeintliche Sachlichbleiben eines jener Märchen der politischen Korrektheit, welches jeden gewinnbringenden Diskurs unterbindet. Sachlichbleiben bedeutet in den meisten Fällen eben auch, unsachlich, nicht bei der Sache zu sein. Wenn man aufgrund falscher Anstandsfloskeln einen Punkt nicht hinreichend sichtbar machen kann, wenn man beispielsweise das Dahinsiechen, das Verrecken in den eigenen Exkrementen als ein Von-uns-Gehen kennzeichnet, weil es in aller nüchterner Sachlichkeit angebracht erscheint, dann kann man den wirklichen Wesenszug der zu diskutierenden Sache gar nicht mehr erfassen. Wer die Dinge nicht mit den richtigen Worten ausstattet, der vergrößert, ganz nach dem berühmten Ausspruch Camus’, das Leiden in der Welt. Und wenn man jemanden, der jahrein, jahraus den parteisekretärlichen Sozialdarwinisten gemimt hat, nicht als solchen bezeichnen soll, weil es sich nicht schickt, dann versündigt man sich an der Wahrheit und schiebt die eigentliche Diskreditierung eines solchen madigen Charakters ins Unendliche, legitimiert sein windiges Auftreten sogar noch.

Nimmt man sich nicht in bestimmten Fällen einer direkten und unverblümten Sprache an, die die Jünger der Korrektheit als Anzeichen von Unsachlichkeit werten, so driftet man in Wahrheit selbst in die Unsachlichkeit ab. Wie kann man eine Sache beschreiben, die solcher Worte bedarf, wenn man solche Worte qua ihrem moralischen Vorbelastetsein, nicht benutzen soll? Lohnt es sich überhaupt über derlei Sachen zu diskutieren, wenn die Diskussion damit zwangsläufig immer an der Sache vorbeigehen muß? Muß man sich gar den Vorwurf gefallen lassen, man würde die Gosse in die Diskussion holen, wenn man die Dinge in aller drastischen Direktheit klassifiziert? Die Wahrheit auszusprechen, aufklärerische Gedankengänge in sein Umfeld zu tragen, darf sich nicht mit falscher Vornehmheit verquicken lassen – die Wahrheit braucht Worte, passende Worte, direkte und für jeden verständliche Worte. Wer den Kopf einzieht, weil ihm das „Verrecken“ zu derb ist, der zieht den Kopf vor der Wahrheit ein, der will nur, dass sich die Zustände ohne eigenes Zutun, vielleicht durch ein Wunder, ändern; wer einen windigen Sozialdarwinisten nicht als solchen entlarvt, vielleicht weil jener gerade der nützliche Idiot für die eigene Sache ist, der betreibt sein Demonstrationsgehabe ebenso auf falsche Prämissen bauend.

Wir sollten lernen, die Dinge wieder beim Namen zu nennen, damit wir wieder sehend werden...

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Für unerklärbar erklärt

Sonntag, 15. März 2009

Die Verwissenschaftlichung der Welt hat dazu geführt, dass wir alles von der Wurzel weg begreifen wollen. Wir forschen, messen und beobachten, um uns die Welt erklärbar zu machen. Freilich gibt es auch innerhalb eines wissenschaftlich-rationalen Weltbildes Grenzen, läßt sich zwar die "Mechanik des Lebens" beispielsweise erklären, nicht aber die Frage beantworten, was denn Leben letztendlich eigentlich sei. Diese Schwelle des Unerklärbaren, diese letzte, womöglich ewige Grenze, wird versuchsweise immer weiter nach hinten verlegt. Man gibt sich mit der Sicherung des bereits stehenden Schlagbaumes nicht zufrieden, will das bereits gesicherte Terrain erweitern, um die Grenze finaler Fragen überschaubar zu halten. Würde man sich mit der Existenz solcher jetzt unbeantwortbarer Fragen zufriedengeben, blieben sie auf immer ohne Antwort, gäbe es kein Bemühen mehr, sich dieser dann sakrosankt gewordener Bereiche anzunähern - sie wären zur unantastbaren Prämisse geworden.

Diese Gesellschaft, und das ist ein paradoxer Zustand dieser verwissenschaftlichten Gegenwart, bringt Charaktere hervor, die sich diese letzte Grenze ziemlich knapp abstecken. Sie wollen ihren Mikrokosmos überschaubar halten und zäunen sich ringsrum ab, machen das Gewußte zur raren Ware, während sie einem Heer von unbeantwortbaren Problematiken gegenüberstehen. Dieser Umstand peinigt sie auch gar nicht, denn sie zelebrieren ihn als Segen. Wenn es keine finale Antwort, zumindest aber keine möglichen Antwortmuster gibt, kann man sich eines Problemes entledigen. Über Fragen nachzudenken, deren Antwort a priori ausgeschlossen wird, erscheint sinnloser Zeitvertreib, bestenfalls als Vergnügen für theologische und metaphysische Vabanquespieler.

Ein solcher Engumgrenzter, findet sich - wieder einmal - im Wesen des Peter Hahne. Auch er will sich (und tut es auch, läßt sich nicht abhalten), großer Moralist wie er ist, zum Thema Winnenden äußern, möchte seine Sophistereien an den Mann bringen, um sich auch als einer derjenigen benennen zu können, der seinen geistigen Ramsch zu jedem medialen Großereignis herauswürgt, um die Massen damit abzustumpfen und den üblichen geistigen Abnutzungen auszusetzen. Für Hahne gibt es keinen Ansatzpunkt der diskutierbar wäre, für ihn ist es nicht von Belang, ob denn nun der Täter psychisch krank war, durch sogenannte Killerspiele geprägt oder einfach nur einer jener frustrierten Jugendlichen, die vielleicht die extremsten aller Methoden zur Aufmerksamkeitsgewinnung nutzen - er äußert sich folgendermaßen dazu: "In unserem Erklär-Eifer verlieren wir aus dem Blick, dass es Dinge gibt, die nicht in unser übliches Denkmuster passen, die nicht zu erklären, sondern nur zu ertragen sind. Fragen, vor denen wir kapitulieren müssen. Für das Unfassbare nach Erklärungen zu suchen, liegt in unserer Natur. Dabei vergessen wir, dass es das Böse gibt und dass das schlechthin Schlechte nun einmal genauso zur menschlichen Natur gehört wie das Gute und Schöne."

Für Hahne ist dies bereits eine jener Fragen, die wir unbeantwortet lassen müssen, vielleicht auch unbeantwortet lassen sollen, womöglich auch, weil es sich als bequemer für herrschende Zustände erweist. Wenn man erst gar nicht mehr nachfragen muß, ob denn womöglich Schulstress, Leistungsdruck und mangelnde Aufmerksamkeit Anteil an dem Massenmord haben könnten, stattdessen das Abstraktum des Bösen benennt, dann ist jede radikale (radikal, im Sinne von: an die Wurzel gehend) Annäherung belanglos geworden, die Gefahr einer unbequemen Erkenntnis gebannt. Vorallem dann, wenn man ausschmückend so tut, als sei das Böse Allgemeingut, als sei es durch den anderen angeblichen Bestandteil der menschlichen Natur, dem Guten und Schönen, legitimiert. Hinfort mit der Erkenntnis, dass es weder gute noch böse Keime im Menschen gibt, sondern jedes Tun Ausdruck des Bewußtseins ist, das man mittels seines Seins erlangte; hinfort auch mit der Einsicht, dass es weder Schwarz noch Weiß, weder Licht noch Finsternis (Hahne spricht in seiner spirituellen Notdurftsverrichtung von solchen Widerparten) gibt. In der Welt, wie sie uns offenbar wird, herrscht ein graues Durcheinander, Schattierungen, Grautöne allerorten, ebenso schattige Plätzchen, etwas besser beleuchtete Stellen, aber weder reines Licht, noch reine (oder unreine?) Dunkelheit; in dieser Welt gibt es vermeintlich gute Projekte, die aber zu Schlechtem mißbraucht werden, genauso wie es schlechte Absichten gibt, die nebenher Gutes abwerfen - nichts ist eindeutig kategorisierbar.

Hahne will davon nichts wissen, er unterteilt sich seine Welt in glasklare Kategorien. Das macht das Leben leichter, erspart den oft schmerzhaften Akt des Nachdenkens. Und die Aufsparung dieser Schmerzhaftigkeit, da ist er ganz Seelsorger und Wohltäter, will er auch seiner Leserschaft ersparen. Sie sollen ehrfurchtsvoll mit dem Kopfe nicken, wenn der biedere Theologe mit seinem Nichtwissen wissend glänzt, sie sollen die Zeitung zur Seite legen und einen kurzen Augenblick der Erleuchtung verspüren. Was sie aber auf keinen Fall sollen, was um jeden Preis vermieden gehört, das ist das Nachdenken, die Erkenntnis, dass selbst ein Massenmörder wie jener in Winnenden, Motive hätte, die jeder Dorftrottel nachvollziehen könnte, wenn man ihn nur nachdenken ließe. Mit der leicht gezogenen Grenze des Bösen, mit diesem Mangel an Wissens- und Erklärlust, hat man schon ganz andere Gestalten in Sphären gehoben, aus denen sie wie Fremdkörper der Historie hervorwinken, weil sie scheinbar nicht erklärbar sein sollen, sondern einfach nur ein böser Unfall der Geschichte. Hätte man das personifizierte Böse, hätte man Hitler erklärbar zu machen, müßten damalige und heutige Eliten sich erklären.

Daher sorget euch nicht, liebe Brüder im Geiste des Hahne, der Täter hatte keine Motive, keine Krankheiten, keinen Antrieb jeglicher Art, er war einfach nur vom Bösen befallen - und prompt ist die kranke Welt wieder gesund. Populärtheologie eben, oder mit den Worten des alten Geheimrats: "Was diese Wissenschaft betrifft, Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden, Es liegt in ihr so viel verborgnes Gift, Und von der Arzenei ist's kaum zu unterscheiden"

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Ein dringender Nachtrag zur "Schulkarriere"

Samstag, 14. März 2009

Jene Handvoll Zeilen, die vor einigen Stunden das Tageslicht erblickten, widmen sich einer fiktiven Schulkarriere, wie sie so fiktiv nicht ist, weil sie sich auf Erzählungen, Erlebtem und Zugetragenem gründet. Sie handeln die Pathologisierung eines Schülers ab, der aufgrund seiner Sensibilität und seines Andersseins nicht toleriert, wohl aber in die Enge einer Gummizelle getrieben wird. Auch wenn es sich um eine Erzählung handelte, blieb dieser drastische Schritt, einen Menschen, der den Druck nicht mehr ertragen kann, zum psychisch labilen Zeitgenossen zu erklären, keine bloße Phantasie. Wir erleben dies oft, manchmal nur bei banalen Dingen, und fast ist man geneigt festzustellen: wir erleben dies immer öfter.

So sei der amoklaufende Schüler aus Winnenden schon länger depressiv gewesen, war sogar in psychiatrischer Behandlung, wird berichtet. Könnte ja sein, möchte man da sagen. Aber stutzig macht es schon, dass die Eltern des Jungen das abstreiten, obwohl sie mit dieser Diagnose wenigstens eine Art der Entschuldigung vorweisen könnten - nämlich jene, dass nicht der Sohn ein bösartiger Menschenschlächter war, sondern einfach ein kranker junger Mann, der wohl nicht wußte, was er da tat. Stutzig macht auch, dass Depressionen sich nicht dahingehend auszeichnen, zu besonderem Aktionismus zu animieren. Der Depressive kann sich kaum dazu ermutigen, einen notwendigen Toilettengang zu machen, ganz davon zu schweigen, eine Waffe zu nehmen, um einen Massenmord zu begehen. Wer selbst schon einmal in die Freuden einer depressiven Episode geraten ist, weiß das nur zu gut. Bestenfalls, was hier soviel heißt wie: im schlechtersten Falle, richtet man das Messer gegen sich selbst - es ist für einen Depressiven höchst untypisch, einen Massenmord zu begehen.

Wie gesagt, die Eltern hätten da ein treffliches Entschuldigungspotenzial in der Hand, benutzen es aber nicht. Und genau darum geht es denen, die die öffentliche Meinung machen: sie wollen dieses Entschuldigungspotenzial voll ausschöpfen, um die wahren Hintergründe, die Mißstände die unsere Kinder immer mehr bedrängen und unter Druck setzen, erhalten zu wissen. Man erklärt den Täter zum depressiven Wilderer, nur um nicht darlegen zu müssen, dass da ein Gescheiterter nicht mehr weiter wußte. Wenn nämlich nach den Gründen geforscht würde, wenn wir wirklich wissen wollten, warum jemand zu so einer blutigen und unmenschlichen Tat schreitet, dann müßten wir erkennen, dass der schulische und gesellschaftliche Druck, der Umstand immer Stärke zeigen zu müssen, das Sichverleugnen und Sichnutzbarmachen, Einrichtungen wie das G8, gebündelter Nachmittagsunterricht und fehlende Freizeit, Trost nur durch Konsum etc. dazu führen, Menschen vollkommen orientierungslos werden zu lassen. Deswegen läuft nicht jeder Orientierungslose Amok, zumal viele erstmal einen Waffenhändler aufsuchen müßten, was sie wiederum aus vielerlei Gründen, aus Schüchternheit und Angst, nicht machen würden. Andere greifen zu Alkohol, bekiffen sich, leben hemmungslosen Sex aus, der sie immer nur kurz befriedigen kann, bevor die allgemeine Unzufriedenheit wieder Besitz von ihnen ergreift.

Wenn also der Attentäter nicht depressiv wäre, dann müßte der allgemeine Zustand der Gesellschaft auf den Tisch, vornehmlich hier der allgemeine Zustand der Lebenswelt unserer Kinder und Jugendlichen. Dies wollen aus nachvollziehbaren Gründen bestimmte Kreise nicht als Sujet einer öffentlichen Diskussion gestatten. Da ist es die beste aller Lösungen, wir erklären den Amokläufer zum Verrückten, machen wieder einmal einen Einzelfall aus ihm, um die vielen, vielen Einzelfälle, die da latent in der Masse gären, unsichtbar zu belassen. Es geht wieder einmal nicht um Wahrheit, nicht um die Erforschung möglicher Motive einer solchen Tat; wieder einmal will gerettet werden, was mit rationalen und humanen Gründen eigentlich nicht zu retten wäre. Bildung muß eben billig sein, muß schnell vollzogen werden, darf den Menschen nicht zu lange unproduktiv sein lassen - da kann doch nicht so ein Attentäter daherkommen und mittels seiner Untat eine Diskussion anstossen, die für die herrschenden Kreise ein Graus wäre. Die Spreu soll sich vom Weizen trennen, wer nicht stark genug ist für ein solch repressives Schulsystem, der soll eben auf der Strecke bleiben - das ist die (Selbst-)Gerechtigkeit dieser elitären Kreise. Der Amokläufer von Winnenden war ein solcher Schwächling in deren Augen, tragisch ist nur, dass er Mitmenschen aufgrund seiner Schwäche mitauslöschte - wir gedenken dieser Menschen, weil sie Menschen waren; bestimmte Kreise trauern um sie, weil mit ihnen möglicherweise fähige Arbeitskräfte verlorengingen.

Tim K. muß depressiv sein, sonst könnte es andere Motive geben. Dass freilich die Depression auch Motive hätte, die wahrscheinlich sogar diesselben wären, bleibt unbehandelt. Alleine das Wort "Depression" reicht aus, um ihn als Schwächling und Kranken zu brandmarken und das Kapitel Wenningen abzuschließen, zum traurigen Einzelfall zu stilisieren. Jetzt müssen die Eltern auf Linie gebracht werden, damit das Lügengebäude stehenbleiben kann, und wenn sie nicht spuren, werden sich sicherlich Zeitungen finden, die jeden erdenklichen Müll über die beiden auskippen, sie als Rabeneltern an den Pranger stellen, um wieder einmal ein Ablenkungsmanöver zu führen, das die wahren Motive unter den Tisch fallen läßt. Auf die Idee, dass unmenschliches Benehmen immer auch einer unmenschlichen Erfahrung im Vorfeld bedarf, kommen die Berichterstatter nicht - oder dürfen sie nicht kommen?

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Eine Schulkarriere

Damals, als ich den Sprung aufs Gymnasium geschafft habe, da sah die Welt, meine eigene Welt versteht sich, noch rosig aus. Endlich schien eine standesgemäße Bildung gesichert.Seinerzeit glaubte ich auch noch, ich würde mich in den Schulbetrieb einfinden, habe all die Geschichten, die man mir im Vorfeld über das grassierende schlechte Schulklima erzählte, einfach ausgeblendet. Aber schon nach einigen Wochen habe ich realisiert, dass es kein Zuckerschlecken würde. Als Schüler war ich zwar gar nicht so schlecht, konnte dem Lehrstoff sehr wohl folgen, aber das Umfeld, die Rahmenbedingungen machten mir schnell zu schaffen.

Häufig wechselnde Lehrer erlaubten keinen Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, zudem waren viele dieser Exemplare vollkommen unterkühlt und man merkte ihnen an, dass sie Jugendliche weder verstehen noch tolerieren wollten. Dafür erzeugten sie ordentlichen Druck, bauten einen geschickt inszenierten Wettbewerbdruck auf; hofierten die besonders tollen Schüler, die Leistung brachten und dem dazugehörigen Druck trotzten. Ich rang aber mit diesem Druck, war ihm unterlegen, konnte mich davon nicht befreien. Wie gesagt, ich konnte dem Lehrstoff folgen, der Preis war aber großer zeitlicher Aufwand, Freizeit hatte ich kaum noch und dazu lastete immer die Angst auf mir, dass selbst diese zeitliche Investition irgendwann nicht mehr ausreichen würde, um doch noch ein halbwegs passabler Schüler zu sein.

Es dauerte auch gar nicht lange, dass die Schüler untereinander auf ihre erbrachten schulischen Leistungen verwiesen. Eine Gute-Zensuren-Elite prägte sich heraus, die schonungslos aus ihren Reihen warf, wer mehrmals hintereinander etwas dürftigere Schularbeiten ablieferte. Und denen, die erst gar nicht in den Genuss dieses elitären Schulhofzirkels gerieten, machte man aufgrund dieses Druckes seitens der eigenen Mitschüler, das Leben noch einmal so schwer. Zu den unterkühlten Lehrern und den Druckmachern aus den eigenen Reihen, gesellten sich freilich auch allerhand andere Wichtigtuer. Verwandte und Bekannte erklärten, man solle schön lernen, damit aus einem mal etwas würde, gute Noten seien ja das A und O, wer da versage, habe sein Leben schon gleich zu Anfang ruiniert. Meine lieben Eltern, ansonsten verständnisvoll, gaben solchen Stimmen mit allem Nachdruck recht.

Um es kurz zu machen, ich fühlte mich schon anfangs nicht wohl, sah mich einem Druck ausgesetzt, dem ich nur schwer Herr wurde. Überall hieß es Leistung zu zeigen, Zeit zu investieren, für die Zukunft im Beruf, für die Karriere zu lernen. Ein warmes Wort, ein wenig Trost und Entlastung von diesem Gebäude aus Pression und Einschränkung, konnte ich nirgends vernehmen. Im Laufe der Zeit wurden auch meine Noten mittelmäßiger, trotz fleißigen Lernens – der Druck seitens Lehrer, Eltern und Mitschüler wurde noch einmal erhöht. Da brach ich zum erstenmal zusammen, meine Nerven hielten diesem Klima nicht mehr stand. Man ging zum Arzt, zum Psychologen und verabreichte mir kleine weiße Pillen, die mich etwas belastungsfähiger machen sollten. Dies sei übrigens, so meinten diverse Ärzte, mittlerweile Standard, viele Schüler machten sich auf dem natürlichen Wege der „medizinischen Aufwertung“ das Leben leichter.

Aber ich wollte nicht mit Medikamenten vollgestopft werden, suchte stattdessen ein Gespräch mit meinen Eltern, was mir natürlich auch gewährt wurde. Nachdem ich mein Leid geklagt hatte, zeigten sie sich zwar verständnisvoll, aber gleichzeitig rieten sie mir, endlich meine Ellenbogen einzusetzen. Als ob ich das nicht schon am Anfang des Alptraumes versucht hätte. So ein Mensch bin ich aber nicht, ich kann nicht rücksichtslos Ellenbogen einsetzen, den Druck ignorieren und dergleichen Ignoranzmethoden mehr benutzen, weil es nicht meiner Wesensart entspricht. Das ließ ich meine Eltern auch wissen, ich sagte ihnen, wenn man das von mir fordere, dann verlangt man von mir, dass ich mein ganzes Wesen verändere, dass ich zu einem anderen Menschen werden solle. Aber ich lebe nun mal in meiner Haut, nicht in der Haut eines anderen und kann daher nur glücklich werden, wenn ich Verhaltensweisen an den Tag lege, die mir gemäß sind, und nicht irgendwelche Methoden anderer darstellen. Ich wüßte zudem sehr wohl, dass ich sensibel bin, vielleicht auch zartbesaitet, aber was soll ich denn machen, ich sei nun mal der, der ich bin und daran ließe sich wahrscheinlich nichts ändern. Und überhaupt, soll es nicht verschiedene Menschentypen, verschiedene Charaktere geben?

Ich glaubte nach dieser kleinen Predigt, die ich voller Herzblut über Vater und Mutter ergossen hatte, würden sie meine Position verstehen und Mitkämpfer gegen das, was mich kaputt macht, werden. Aber ich erntete unverständige Blicke, sorgenvolle Mienen. Nun war es für sie klar, ich war psychisch labil, was prompt auch mein zu Rat gezogener Lehrer bestätigte. Man würde mit mir nun taktvoller umgehen, ließ er meine Eltern wissen, würde rücksichtsvoller sein, was er übrigens, wie er nicht müde wurde zu erwähnen, immer schon war. All das nicht etwa, weil ich eben anders sei als die Mehrzahl meiner Mitschüler, weil ich kein Ellenbogentyp, sondern weil ich psychisch labil und daher krank sei.

Aber auch im Laufe der Zeit wurde es kaum anders, zumal nun auch Nachmittagsunterricht hinzukam, um dem achtjährigem Turbogymnasium das Überleben zu sichern. Der Zeitaufwand wurde noch höher, der Druck natürlich auch, freie Zeit war ein Luxus. Ich empfand es als Frevel an der Jugend, wenn man ihr derart viel Zeit raubt, aber wem sollte ich von diesen und anderen Gedanken erzählen, ohne gleich zu einem Fall für die Irrenanstalt zu werden? Für mich war klar, dass ich für diese Welt nicht geschaffen bin, auch weil mir Bekannte erzählten, dass dieser Druck wohl nie mehr aufhöre, denn sie arbeiteten bereits und beklagten sich ständig über Mobbing, lange und noch längere Arbeitszeiten, ein Privatleben das sich nicht mit dem Arbeitsleben vereinbaren ließe. In was für eine Welt hat man mich da hineingeboren? Fühlt sich mein Ich alleine unwohl in diesen Zuständen oder empfinden all die anderen Ichs ebenso und wissen sich nur besser anzupassen? Anders gefragt: Bin ich wirklich irre oder sind es vielleicht doch die anderen und merken es nur nicht, weil sie irre gut in eine irre Welt hineinpassen?

Jedenfalls stand ich alleine, und das immer mehr. Ich verkroch mich in Isolation, ging zur Schule, danach gleich zurück ins eigene Zimmer, auf direktem Wege. Menschen wurden mir zuwider, selbst meine Eltern wollte ich nicht mehr übermäßig erblicken müssen. Ihre bedrückte Sorgenmiene ekelte mich immer mehr an, ihre mittlerweile schon aggressiv anmutenden Moralpredigten und Beschwörungen, mich doch endlich mehr anzustrengen, erzeugten nur noch Hassgefühle. Freunde hatte ich schon seit geraumer Zeit keine mehr, mir stand der Sinn nicht mehr danach, mich einem Menschen hinzugeben. Mit jemanden wie mir, mit einem psychisch labilen Nichtsnutz, der nicht in diese Welt hineinpaßt, will sowieso niemand etwas zu tun haben. Ich hatte und habe noch immer das Gefühl, dass mein Leben schon zuende ist, bevor es überhaupt so richtig anfing.

Mehr und mehr wurde aus der einst abgegebenen Labilitäts-Diagnose Wahrheit, denn ich spürte verstärkt, wie der Wankelmut und auch eine gewisse Form der Lebensmüdigkeit von mir Besitz ergriff. Gefühle, die ich vormals, bevor mir ein Experte meinen kranken Zustand beschrieb, gar nicht kannte. Und der Hass wurde zur dominanten Erscheinung meines Alltags, ich hasste von Herzen, fand keine Schönheiten des Lebens mehr. Wie mir diese Horden von Leistungsschülern, die sich gegenseitig hochschaukeln und in Wettbewerb stellen zuwider sind, wie sie mich ankotzen, diese Bagage aus Geld und Verlogenheit. Und dann diese großspurigen, ignoranten Lehrer, die in Schülern nichts anderes sehen als Gefäße, die man nur oben öffnen muß, um man darin unbegrenztes Wissen hineinzugeben. Von den windigen Verwandten und Bekannten, die heute von mir, dem Psychopathen nichts mehr wissen wollen, will ich gar nicht erst reden, sie haben mich, meine Zukunft sowieso schon abgeschrieben. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich auch meine Eltern hasse, obwohl ich das als Sünde begreife. Aber etwas mehr Verständnis, etwas mehr Wärme hätte ich mir schon manchmal gewünscht.

Wie ich das alles hasse, wie ich mein Umfeld doch hasse. Seit Jahren lebe ich in diesem Brei aus Leistungs- und Zeitdruck, Unverständnis, Gleichgültigkeit und Einsamkeit; seit Jahren weiß ich, dass ich eben nicht der Mitschwimmer sein kann, weil es meinem Wesen nicht entspricht – wielange ich das noch durchhalte? Aber zum Waffenschrank meines Vaters greife ich nicht, auch wenn so ein Hilfeschrei mit großem Knall natürlich eine Show wäre, mal aufwecken würde. Nein, dazu kann ich mich nicht durchringen, sowas finde ich verwerflich. Es ist doch keine Lösung meines Problems... oder doch? Wenn man keine Lösungen hat, dann ist vielleicht die eigene Auflösung der Existenz immer noch ein Weg. Nein, nein, dazu will ich es nicht kommen lassen, ein klein wenig Hoffnung habe ich noch immer, vielleicht finde ich ja einen Ausbildungsplatz, der nicht zu arg mit Druck verbunden ist, womöglich bringe ich mein Leben doch noch in den Griff. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber wenn diese letzte Hoffnung stirbt, wer weiß was dann geschieht. Ich will nicht daran denken, aber möglicherweise schösse ich dann wirklich...

Anmerkung: Diese Zeilen spiegeln keine Schulkarriere wider, wie sie der Autor erlebte, er kam nicht in den Genuß höherer Schulbildung. Vielmehr ist es eine fiktive Schulkarriere, wie sie so fiktiv heutzutage nicht mehr ist. Dies sei erwähnt, weil der Autor vielerorts mit dem Ich in den obigen Zeilen gleichgesetzt wurde.

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