Den Vorhang zu und alle Fragen offen

Montag, 23. Dezember 2013

Ich dürfte gar nicht pausieren. Denn es gibt so viele Themen und so viele Texte, die nie geschrieben werden von mir. Über die Ehre des Ehrenmannes Blatter, die keine Karikaturen zulasse, während ein Prophet dargestellt als Mörder nichts Ehrenrühriges hat. Darüber, dass ich erst neulich erfuhr, dass Bohlen schon im September in den österreichischen Wahlkampf zog, dort den Todesstrafenbefürworter Stronach unterstützte. Warum liest man darüber so wenig in Deutschland? Nach welchen Kriterien entsteht denn eigentlich die Weltkarte der Pressefreiheit? Und warum landet da Deutschland vorne, obwohl so viele Menschen, die ich kenne, das Gefühl haben, gar nicht richtig informiert zu sein? Und nochmals Blatter. Der will die Weltmeisterschaft in Katar in den Winter verlegen, damit die armen Profis nicht so in der Hitze verenden, wie jene Sklavenarbeiter, die die Stadien bauen müssen. Dass ein Sonnenkönig etwas in der Art fordert, ist ganz normal. Dass die Journaille nicht kritischer in Relation setzt, ist es mittlerweile auch.

Weiterer Pausenvermieser: Ist der Oligarch gut und der Präsident schlecht? Warum kann man derlei Konstellationen innerhalb der Politik und der Wirtschaft medial nicht weniger manichäistisch thematisieren? Immer diese beschissene Gegenüberstellung von Licht und Finsternis wo es gar kein Fenster zum Belichten gibt. Und wenn ich dann sehe und lese, wie Marieluise Beck, grünes Urgestein, den Oligarchen bei Facebook herzt, auf einem Bild in die Arme schließt und schreibt, der Typ sei ein "gereifter, kluger, von Verantwortung geprägter Mensch und Freund", dann müsste ich eigentlich einen ellenlangen Text schreiben. Eigentlich. Nur so viel: Ein Land, dass sich Freunde von Steuerbetrügern und Wirtschaftskriminellen in der Opposition leisten kann, ist demokratisch gesehen am Ende.

Na ja, ich stehe selbst enttäuscht und seh betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen. Das Motto, wie so oft, wenn man in Opposition zum Zeitgeist denkt. Viel geschrieben, viel Stoff gehabt dieses Jahr. Die Welt wurde dadurch aber auch kein besserer Ort. Ich beende jedenfalls für dieses Jahr diese Sinnlosigkeit.

Ja, ich weiß doch: Ich sollte nicht pausieren. Es gibt zu viel Dinge, die kommentiert werden wollen. Gönnt es mir trotzdem. Zumal ich es doch versprochen habe. Meiner Frau, meinem Kind - und mir. Meinen Nerven. Meinem Darm. Ich habe mir geschworen, nicht mal zu reagieren, wenn in Berlin geputscht wird. Ich will das alles gar nicht wissen.

Hey Leute, laßt uns einen Deal machen. Wenn sich die Welt bis ... sagen wir bis zum 4. Januar nicht verbessert hat, dann - und nur dann - packe ich wieder an. So gesehen mache ich keine Pause, sondern gebe dieser Wirklichkeit nur eine Schonzeit, eine Frist, in der sie sich bessern kann. Das liest sich doch gleich anders. Oder nicht?

Macht das Beste aus den kommenden Tagen. Nee, keine schöne Weihnachten als frommen Gruß an euch. Denn dazu fehlt mir der Glaube. An dieses konsumfördernde Baby in der Krippe zu Bethlehem glaube ich nicht. Aber daran, dass eine Phase der kontemplativen Ruhe uns allen Kraft schenkt, glaube ich schon eher. Deshalb: Esst einfach gut, sauft was, macht euch übereinander her. Schaltet ab, wenn man diese Realität schon nicht per Knopfdruck abschalten kann. Macht das Beste aus dem Schlechten. Und bis zum 4. Januar ...


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Ursula vor den Leiden

Samstag, 21. Dezember 2013

Nee, in Schutz will ich die Frau nicht nehmen. Aber nur, weil sie nicht gedient hat, ist sie noch lange nicht ohne Kompetenz für die Stelle als Militärministerin. Als Landwirtschaftsminister muss man ja auch kein Bauer sein. Und seien wir mal ehrlich, sie hat doch gedient. Dem Kapital. Über Jahre hinweg.

Sie hat den Kompetenzcheck bestanden. Seit Jahren stellt sich Ursula vor die Leiden, kaschiert sie, überspielt sie mit einem Lächeln, weicht mit langer Rede kurzer Sinn aus, vernebelt und verwischt. Was, das Elterngeld ist ein Umverteilungskonzept von unten nach oben? - Sie stellt sich hin und trägt Tünche auf, redet herum, behauptet das Gegenteil, fabuliert von neuen Anreizen Kinder zu kriegen und stellt sich vor die Leiden. Wie, die Sanktionspraxis gegenüber Arbeitslosen ist zu hart? - Aberaber, sagt sie und spricht ganz lang und breit, überklebt die Kritik mit mütterlicher Miene, legt den Mantel des beredten Schweigens darüber und stellt sich erneut vor die Leiden.

Das Totsparen am sozialen Ausgleich und an der Partizipation hat sie stets bedeckt. Ging in Talkshows und hat dort freundlich dreingeschaut und so getan, als seien die Vorwürfe aller Kritiker nur Bosheit und sie rücke es nun wieder zurecht. Es ist ja nicht das, wonach es aussieht. Alles ganz anders.

Wer sonst, wenn nicht sie? Seit Jahren steht Ursula vor den Leiden. Nicht vor den Leidenden, um Worte an sie zu richten. Nein, sie stellte sich stets vor die Leiden, die die herrschende Ökonomie fabriziert hat, machte die PR-Mamsell für eine Sozial- und Arbeitsmarktpolitik auf neoliberaler Grundlage und verlieh dem ganzen Übelstand das betörende Antlitz einer in die Jahre gekommenen Glucke.

Sie hat gedient - sich nach oben gedient. Erst stand sie verdeckend vor den Leiden von Eltern mit geringen Einkommen, die mit der Wandlung vom Erziehungs- zum Elterngeld draufzahlten, dann vor den Leiden von Arbeitslosen, die teilweise totalsanktioniert wurden und in die Obdachlosigkeit glitten - und nun darf sie vor die ganz großen Leiden treten. Vor zerfetzte Leiber, organischen Kollateralschäden und Pfützen aus Blut. Ja, sie hat sich bewiesen, sie kann das, ist qualifiziert dazu. Hierfür muss man kein Mann sein. Nicht den Wehrdienst absolviert haben. Man muss einfach nur gut die grausige Realität konjugieren können. Damit auch morgen noch Deutschlands Interessen in der Welt als ehrenvolle Aufgabe an der Menschheit in die Geschichtsbücher diktiert werden können.


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Typen, die dir beim Busfahren im Nacken sitzen

Freitag, 20. Dezember 2013

oder Wir wählen die Diktatur!

Dass die Große Koalition der Kleinen Opposition nur widerwillig Sprechzeit erteilte oder lieber gleich gar nicht auf sie zugehen wollte, ist die eine bittere Geschichte, die ein wenig über den Charakter der "Volksparteien" aussagt. Dass dieser Umstand kaum jemanden aufregte, ist die weitaus tragischere Geschichte dahinter, die etwas über den Charakter der deutschen Öffentlichkeit sagt.

Ich saß neulich im Bus. Hinter mir zwei abgehalfterte Kerle. Zwei von der Sorte halbtoter Typen, die jeden Tag mit dem öffentlichen Verkehrsmittel zu ihrem nett dotierten miesen Job bei einer Versicherung anreisen und gemeinhin als Leistungsträger bezeichnet werden, während sie in ihrer rissigen Aktenledertasche nach einem alten Leberwurstbrot kramen. Jedenfalls hörte ich ihnen beim Gespräch zu. Der eine motzte heftig, weil Grüne und die Kommunisten im neuen Bundestag nun mehr Redezeit erpressen wollten. Das sei nicht richtig und auch nicht demokratisch, denn der Wähler habe diese zwei schwachen Opponenten exakt so gewollt. An den Urnen sei beschlossen worden, die beiden Parteien weitestgehend zum Dekor im Reichstag zu machen. Diesem Willen sollten sie sich beugen. Der andere bejahte nur immer, machte Mhm! und Genau! und aus dem Augenwinkel sah ich, dass er eifrig mit dem Kopf wackelte.

Leck mich am Arsch, wo ham sie euch denn rausgelassen, sagte ich irgendwann laut, stand auf und stieg aus. Die beiden starrten mich erst doof an, machten dann aber weiter mit ihrem totalitär angehauchten Gequatsche.

Am selben Tag: Nach der Erwerbsschinderei blätterte ich die Seiten diverser Online-Zeitungen durch. Und es war mir plötzlich, als hätten die beiden Typen bei Spiegel Online ihre Kommentare abgesondert. Ich las beispielsweise, dass "die Wahl ein eindeutiges Ergebnis erbracht" habe und es wohl nicht sein könne, dass "Parteien mehr Gewicht haben als vom Wähler zugedacht". Sollte sich die Große Koalition dazu hinreißen lassen, der Opposition mehr Spielraum zu geben, wäre das eine undemokratische "Dominanz der Minderheit". Ein anderer schrieb, dass das Volk entschieden habe und der Spruch wäre doch eindeutig: "Man will nicht mehr, dass Linke und Grüne einen Einfluss auf die Bundespolitik haben." Beide Parteien wollten jetzt den Wähler austricksen und man kann nur hoffen, dass die GroKo den Willen des Volkes verteidige.

Das ist natürlich ein Witz. Die Anzahl der Wähler, die als ihren Willen an der Urne verbuchten, die Große Koalition zu verwirklichen, dürfte relativ gering gewesen sein. Wer so argumentiert, erfasst die Wählerschaft als einen geschlossenen Organismus und nicht als eine Gruppe, die soziologisch betrachtet völlig willkürlich zusammengesetzt ist und daher aus Interessenskonflikten heraus gar nicht gemeinsam agieren kann.

Noch etwas scheinen viele Leute nicht zu verstehen. Die Demokratie ist nicht als Unterdrückungsinstrument vorgesehen. Selbst eine absolute Mehrheit, wie die, die wir in diesem Lande jetzt haben, darf theoretisch nicht dazu benutzt werden, der Opposition den Garaus zu machen. Sie braucht Kontrolle und Überwachung. Es geht dabei auch gar nicht um die Verhältnisse, die die Wähler "geschaffen" haben. Geht es ohnehin nie, denn jede bisherige Konstellation im Bundestag war niemals ein Abbild des allgemeinen Wahlverhaltens (nicht berücksichtige Nichtwähler, Wähler von Splitterparteien, Ausgleichsmandate etc.). Eine wehrhafte Demokratie braucht den Ausgleich über das Wahlresultat hinaus. Wer etwas anderes für richtig erachtet, der vertritt wohl auch die Ansicht, dass es sowas wie eine legitime Diktatur geben darf und sollte, wenn sie nur aus freien Wahlen hervorgegangen ist.

Aber das passt zum Demokratieverständnis vieler Deutscher. Sie wollen eine straffe Demokratie, eine, die nicht erst viel plaudert und abklärt, sondern gleich agieren kann (Schlagzeile nach der Regierungsbildung: "Und jetzt regiert los!"), weil sie die Potenz dazu hat. Das was vielen Leuten offenbar vorschwebt, ist so ein Zwischending zwischen demokratischen Anstrich und softer Diktatur auf Grundlage wirtschaftlicher Interessen. Crouch hat das Postdemokratie genannt, wobei da das diktatorische Ungestüm leider nicht terminologisch durchschlägt. Die Postdemokratie ist jedoch eine Praediktatur. Bei einem Demokratieverständnis, nach dem man die Opposition quasi mundtot machen darf, wenn sie nur klein genug ist gegenüber der Regierung, gilt das sowieso.

Wir wählen die Freiheit, hat Adenauer damals gesagt, als er sich nach Westen orientierte. Heute lungert mancher Bürger am westlichen Ende seiner Couch herum und ruft: Wir können auch die Diktatur wählen, wenn uns danach ist. Dann legt er sich lang, guckt in die Fernsehzeitung und freut sich auf die Doku über die Machtergreifung, die gleich beginnt. Klar, das passiert uns nicht mehr. Kein Fackelmarsch durchs Brandenburger Tor mehr. Keine danach folgenden Wahlen, die die Ergreifung legitmieren. Das haben wir erledigt. Nur die Dummköpfe, die im Bus hinter dir sitzen und dieselbe Tendenz wie damals in neue Worte hüllen, die haben wir immer noch nicht erledigt.


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Ihr seid nicht APO!

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Das Handelsblatt wartet mit einer neuen Kolumne auf. "Die außerparlamentarische Opposition" heißt sie. Darin sollen FDP, Alternative für Deutschland und die Piraten zu Wort kommen. Oliver Stock, der Chefredakteur sieht das so: "Die Deutschen haben mehrheitlich bürgerlich gewählt, doch im Parlament sitzt eine linke Mehrheit. Sieben Millionen Wählerstimmen sind nicht im Bundestag vertreten. Denen wollen wir eine Plattform bieten." Kann er ja machen. So wie er auch glauben darf, es gäbe eine linke Mehrheit im Bundestag. Aber eine APO im ursprünglichen Sinne des Kürzels ist das nicht.

Und sie wird auch nicht ursprünglicher, nur weil die "überparteiliche" Bildzeitung mit aufspringt, zum "Teil der Bewegung" wird und Diekmann obendrein verkündet: "Wir sind APO!" Er schaue jetzt der Regierung außerparlamentarisch auf die Finger, weil das Parlament zu schwach, seine Opposition zu klein und zu links ist. Na dann...

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Brandgefährlich

Mittwoch, 18. Dezember 2013

Heute wäre der, dessen Namen hier nur angedeutet wird, 100 Jahre alt geworden.

Auferstanden aus dem Reich der Toten, trat er vor jene Parteizentrale, die seit geraumer Zeit seinen Namen trug. Behutsam tastete er sich Richtung Eingang, betrat das Atrium und verharrte einen Augenblick vor einer Skulptur, die einen zerknautschten, verknitterten Greis wiedergab. Sie trug zu seiner Überraschung seinen Namen auf dem Sockel. Zur Begutachtung abgestandener Kunst ward er jedoch nicht erneuert, weswegen er schnell weiterstrebte, weiter nach oben, dorthin wo die parteiliche Macht gärte, wo Entscheidungsträger ihre Hintern in weiche Ledersessel pflanzten, wo er mit solchen sprechen konnte, die nun seinen Posten, sein ehemaliges Amt innehatten. Aber just in jenem Moment, da er die Anmeldung passierte, faßte man ihn am Arm, forderte ihn auf anzuhalten, sprach ihn sofort mit seinem bürgerlichen Namen an, jenem Decknamen, den er sich in Exiljahren aneignete und unter dem er zu Amt, Würden und Auszeichnungen kam.

Halt, verweilen Sie bitteschön, hieß ihn ein junger Mann. Ihr Kommen wurde mir angekündigt, man hat mich an jenem Tage, da ich diese Stelle antrat, vor Ihrer Wiederkunft gewarnt; man warnte mich, noch bevor ich in die Funktion der Telefonanlage eingeweiht wurde, bereits beim Einstellungsgespräch kam man schon auf Sie zu sprechen. Halten Sie ihn auf, wenn es je dazu kommt, dass dieser Herr dieses Haus betritt, belehrte man mich. Halten Sie ihn davon ab, uns hier droben aufzusuchen, damit er uns aus seinem angesäuerten, verdrossenen Gesicht heraus zürnt. Ich fragte, mich etwas dumm stellend: aber das ist doch der, na, wie hieß er noch?... und sie sagten mir: ja, das ist er! Keine Fragen dazu, schnitt man mich ab. Wir ahnen, dass er zurückkommt, wir glauben, dass er keinen ruhigen Schlaf finden wird - wenn es so kommt, junger Mann, dann sind Sie unser Bollwerk. Löschen Sie den Brand, bevor er überhaupt erst anfacht.

Ihre eigentliche Aufgabe, teilte man mir damals mit, ist dann gekommen, wenn er zurückkehrt, wenn er zu den Liften strebt, wenn er uns an den Kragen will, von uns wissen will, warum alles so anders kam, so viel weniger demokratiewagend, so viel weniger teilhabend - Telefonanlagen, sagte man mir, sind ja keine berufliche Erfüllung; auf die Rückkehr eines Messias zu warten, wenn nötig Jahre, Jahrzehnte, sich dann in den Weg zu stellen, ihn abzuschütteln, fernzuhalten: das ist wichtig, erfüllend, sinnstiftend, das ist eine tatsächliche, eine richtige Aufgabe. Bleiben Sie also unten, streben Sie nicht hinauf, riet man mir. Und ich rate es Ihnen ebenso: bleiben Sie unten, gehen Sie nicht hinauf. Ich bitte Sie inständig! Sehen Sie ein, dass Ihre Zeit vorbei ist, dass die Zeiten einer Partei, die wenigstens so tut, als würde sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen, grundlegend vorbei sind. Erkennen Sie bitte, dass Sie nicht mehr gebraucht werden!

Das heißt, Sie werden schon gebraucht. Dringlich gebraucht! Als überhöhtes Bild, als Konterfei nicht nur im Atrium, auch in der Parteihistorie, in der Ahnengalerie. Sagen zu können, wir sind die politischen, parteilichen Kinder dieses Mannes, seine politischen Erben, seine Enkel und Urenkel, "von seinem Geist, durch ihn geschweißt" - all das behaupten zu können, das ist märchenhaft für ein parteiliches Image. Auch dann, wenn die aktuelle Partei mit Ihnen, dem Heiland, wenig bis gar nichts mehr gemein hat. Das sagen nicht die hohen Herren - das sage ich. Wenn man Jahre Zeit zum Nachdenken hat, weil man auf seinen Godot wartet, der möglicherweise genauso zuverlässig ist wie Becketts Entwurf, wenn man als Lohnabhängiger in die Rolle eines Estragon gerückt wird, dann denkt man automatisch über das Warum nach - was treibt diese alten Pfennigfuchser dazu, jemanden wie mich hier entgeltlich warten und beobachten zu lassen? Die Angst, sage ich Ihnen - die Angst! Sie ist es, die mir großzügige Monatslöhne überweist!

Sie fürchten sich vor Ihnen. So sehr, dass sie Sie nicht mal vor Augen bekommen wollen. Dort wo Sie waren, dort waren Sie denen gerade richtig. Sie hatten ihren Laden im Griff, konnten Sozialabbau betreiben, gegen die eigene Parteibasis angehen, haben beschissene Wahlergebnisse überlebt - und dann kommen Sie, in dessen Tradition sie sich wähnen, sich darstellen. Dann stehen Sie plötzlich da, jemand der Freiheit postulierte - eine Freiheit, die die Klientel dieser Partei gar nicht mehr kennt, vielleicht gar nicht mehr will. Die Köpfe der Partei wollen diese Freiheit natürlich schon - für sich selbst. Ihre Rückkehr nährt Hoffnungen, verstehen Sie? Die Menschen würden wieder anfangen an Freiheit zu glauben, auch wenn Sie Entscheidungen mitgetragen haben, die Ihrem Motto, Ihrer damaligen Brandrede, nicht gerecht wurden. Dabei hat diese Partei es so weit gebracht, den Menschen diesen freiheitlichen Irrsinn aus den Kopf zu blasen. All das geschah auch in Ihrem Namen; Ihre politischen Enkel beschmutzten Ihren Namen - man erzählte den Menschen, man hüte Ihr Vermächtnis, jedenfalls so gut es gehe. Sie geben eine tolle Statuette ab, einen feinen historischen Namen, mit Ihnen schmückt man sich gerne - der Emigrant, der Sie waren, das uneheliche Kind, als das man Sie damals verunglimpft hat: das ist alles vorbei. Heute sind Sie ein Markenname, eine schwelgerische Erinnerung, die gute alte Zeit von früher. Aber nur leblos nutzen sie denen, nur schweigend, nur... sagen wir es doch offen: nur tot.

Was soll ich ihm denn sagen, wenn er wirklich je zur Türe reinmarschiert, habe ich meine Arbeitgeber gefragt. Er wäre ja ein alter Mann, auch nach so einer Rückkehr, die so weit ich es überblicken kann, bisher nur einem Messias vor ihm gelang, wird er vermutlich in einem greisen Körper daherkommen. Fragen Sie ihn, meinten Sie darauf, wie er es nur wagen konnte, einfach so ins Leben zurückzukehren - fragen Sie ihn, ob er sich nicht schämt. Fragen Sie ihn, ob ihm die Sentenz von Jefferson bekannt ist, wonach jede Generation ihre eigene Gegenwart gestalten, ihre eigene Politik betreiben müsse! Denn das sei es, weshalb Sie sie nicht mehr hier haben wollen - jetzt seien die Nachfolgegenerationen dran. Und wenn diese nicht mehr Demokratie oder mehr Freiheit wagen wollten, dann sei das rechtens. Erinnerungen seien eine Voraussetzung für die Zukunft, haben sie gesagt. Nichts für einen Chefsessel in höheren Stockwerken. Wie ich Ihnen ja erläuterte, man liebt die Erinnerung an Sie, man nimmt sie mit in die Zukunft - doch sie verblaßen, bleichen aus. Später weiß man oft nicht mehr, was wahr, was ersponnen ist. Man hat Sie gerne als Übermenschen im Kopf, nicht als Menschen aus Fleisch und Blut, der Sie ja waren. Ein Mensch mit Schwächen, Frauen liebend, an Depressionen leidend - das leugnet man heute nicht, das gehört heute zu Ihrem posthumen Markenzeichen, womit auch diese Menschlichkeit-Allzumenschlichkeit zum übermenschlichen Attribut wird. Ihre Fleischwerdung ist ja ein weltliches Ding, denn Sie sind da, wieder in der Welt - man liebt aber den himmlischen Klimbim, die vergeistigte Fleischwerdung eines Heiligen. Keine Partei kann vom Fleisch leben, jede lebt vom Image, vom Ruf, von der Tradition und den Köpfen, die die Partei formten.

Steigen Sie nicht in den Lift! Seien Sie vernünftig. Lassen Sie dieser Generation ihre Politik - wobei diese Generation gar keine Politik hat: sie hat nur Politiker, die wiederum Politik für eine Handvoll Ganoven betreibt. Sagen wir es also anders: Lassen Sie dieser Generation das Desinteresse an Politik, die Verdrossenheit, das Leck-mich-am-Arsch-Gefühl, lassen Sie uns unseren unpolitischen Anstrich, der hernach immer in politischen Katastrophen endet. Steigen Sie nicht ein, drehen Sie um - gehen Sie bitte zurück, dorthin, wo Sie dieser Partei, meinem Brotgeber am nützlichsten sind. Ein guter Parteisoldat würde nun folgen, würde sich ins kühle Grab legen und seine Rolle ausfüllen - zum Wohle der Partei! Nicht in den Lift, ich bitte Sie. Sie würden ja ohnehin nichts bewirken, man würde Sie ausschimpfen, Sie verbal an die Wand stellen, wenn man es nicht schon vorher physisch tut, dort im Lift beispielsweise. Ruinieren Sie dieser Partei doch nicht ihr schönstes Kapitel, diese schöne morsche Erinnerung an bessere Tage; nehmen Sie ihr doch nicht diese blendende Hoffnung, dass es irgendwann mal wieder so kommen könnte - tot sind Sie zu gebrauchen, lebend als Oppositioneller des heutigen Parteigeistes, entweihen Sie sich, ziehen Sie sich Argwohn zu, sind Sie zum Abschuss freigegeben. Auf wen sollen sich die heutigen Parteiführer denn berufen, wenn nicht mehr auf Sie? Sie nehmen den Leuten ja ihre politische Identität - solchen Leuten, die wegen Ihnen ein Parteibuch ergatterten und nachher erst zu den Schweinen wurden, die sie heute sind. Bleiben Sie also, trinken Sie noch einen Kaffee, er geht aufs Haus - aber nicht in den Lift steigen!

Schweigend schlurfte der Wiedergekehrte gen Aufzugsbereich, drückte den Knopf, wartete, blickte zurück zum jungen Mann an der Telefonanlage, vernahm ein Klingeln und stand einer Fahrkabine gegenüber, die schon von zwei jungen Männern belegt war, in der er aber noch Platz fand. Die Schiebetüre schloss sich, die beiden Männer nestelten an seinem Körper, an seinem Hals, wurden grober und es ward ihm plötzlich wieder so dunkel vor Augen wie damals, als er schon einmal starb...

Dieser Text erschien bereits im September 2010 bei ad sinistram.


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Zu Ohren gekommen

Dienstag, 17. Dezember 2013

SpOn schrieb von einem "geglückten Mitgliederentscheid". Der Stern nannte es ein "erfolgreiches Votum der SPD-Basis". Und in allerlei Nachrichtenformaten konnte man hören, dass der Entscheid ein "voller Erfolg" war. Diese Ausdrucksweise macht ein eklatantes basisdemokratisches Defizit kenntlich.

Denn der Erfolg einer Befragung wird nicht am erwünschten Resultat wirksam, sondern daran, dass möglichst viele Menschen ihre Ansicht äußern dürfen. Das heißt, der Mitgliederentscheid war insofern schon erfolgreich, als er - noch ohne Auszählung - absolviert war. Ganz unabhängig vom Ergebnis. Wäre ein Nein zur Großen Koalition herausgekommen, hätte man nicht vom "nicht geglückten Votum" oder von einer "erfolglosen Befragung" sprechen können. Wäre das Nein die Meinung der Mehrheit gewesen, wäre das ganz sicher nicht erfolglos oder glücklos, sondern lediglich das andere Szenario, das in der Konstellation des SPD-Mitgliederentscheids schlummerte - viel zu tief schlummerte freilich, aber theoretisch doch denkbar gewesen wäre.

Man könnte es als die verunglückte Sprache diverser Journalisten abtun, die manchmal in Eile und Hektik kaum noch wissen, was sie schreiben. Könnte man. Man könnte sich aber auch vorstellen, dass hier die Parteilichkeit, die Verachtung einer Einrichtung wie dieser Befragung durchschimmert. Wenn man den Zirkus der letzten Tage beobachtet und von geglückt nur spricht, weil ein bestimmtes Ergebnis das Licht der Welt erblickte, dann ist das nicht mehr nur ein sprachlicher Missgriff, sondern schon eine Wertung, eine Aussage voller Parteilichkeit.

Es macht Sorgen, dass die Gilde der Journalisten mehrheitlich nur wenig Ahnung vom Wesen eines Votums hat. Dass man dort annimt, es gehe darin erstinstanzlich um die Umsetzung des zur Frage gestellten Anliegens und nicht einfach nur um den Abruf der Massenmeinung, die ja auch gegenteilig ausfallen könnte. Man belegt damit, dass man nur noch nach erwünschten Resultaten bewertet und das Zustandekommen, den Weg zur Umsetzung verächtlich in die Ecke stellt. Es ist die Sprache eines dumpfen Funktionalismus, der nur als erfolgreich deklariert, was so funktioniert, wie man es sich vorstellte.


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Verpiss dich, wenn du mir so kommst!

Montag, 16. Dezember 2013

Besonders ein Punkt zeigt anschaulich, wie verquer die Große Koalition den Arbeitsmarkt wahrnimmt. Wenn sie in der Koalitionsvereinbarung ankündigt, dass sie "dafür sorgen [wird], dass geringfügige Beschäftigte besser über ihre Rechte informiert werden", dann sagt sie damit auch aus, dass der Missbrauch von Mini-Jobs einfach nur ein Produkt von Unwissenheit ist. Vom ausweichenden Charakter der Aussage wollen wir erst gar nicht erst sprechen.

Vor vielen Jahren habe ich mal auf geringfügiger Basis für einen Pizza-Service gearbeitet. Ich erhielt sogar einen Arbeitsvertrag. Darin war alles geregelt, was so geregelt sein muss. Neben dem schrecklich niedrigen Stundenlohn stand da, dass ich bezahlten Urlaubsanspruch (nach dem Bundesurlaubsgesetz) und Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz) hätte. Ich habe keine drei Tage dort gearbeitet, da lauschte ich einem Gespräch zwischen der Chefin und einem Angestellten. Letzterer wäre kürzlich krank gewesen und habe daher nicht gearbeitet. Und wer die vereinbarten Stunden nicht beisammen habe, sagte sie ihm, kriege eben weniger am Monatsende überwiesen. Drei Fehltage á vier Stunden seien demnach nicht verrechnet worden. Ganz normal, oder?

Zwei Wochen später bat sie eine Kollegin um Urlaub für die kommende Woche. Klar, kannste haben, sagte die Chefin großzügig. Fang gleich mal damit an, deine Stunden reinzuarbeiten. Urlaub war demnach nichts weiter, als das Ableisten vorher erbrachter Überstunden.

Einer machte dann mal den Mund auf. Er sagte der Chefin, er hätte ein Recht auf bezahlten Urlaub. Stehe sogar in seinem Vertrag. Sie zeigte auf die Türe, schrie: Du kannst dich gleich verpissen, wenn du mir so kommst! Hier mache sie die Regeln und wem das nicht gefalle, der könne gleich seinen Kram packen und abrauschen.

Eines will ich gleich klarstellen: Der Typ, der krank war und die Tante, die Urlaub wollte, waren nicht blöde. Sie wussten sehr gut, dass sie einen rechtlichen Anspruch hatten. Ich wusste es auch, schwieg aber trotzdem. Das Jobcenter saß mir im Rücken. Ich war daher ja froh, wenigstens etwas gefunden zu haben. Besser der Mist als ein Ein-Euro-Job, dachte ich mir. Man schluckt die Kröte und hofft sich irgendwie durchzuboxen.

Was ich sagen will: Es ist ja nicht so, dass es Missbrauch bei geringfügiger Beschäftigung gibt, weil die Leute nicht wüssten, was ihnen rechtlich zusteht. Sie wissen es im Regelfall ganz genau. Aber der Druck am Arbeitsmarkt oder der Arbeitsvermittler im Nacken machen sie gefügig. Sie nehmen hin, dass sie als Arbeitnehmer zweiter Klasse behandelt werden. Die Mehrzahl dieser Arbeitsplätze sind in kleinen Unternehmen zu finden, die keinen Betriebsrat und keine Gewerkschaft im Haus haben. Berichte diverser Mini-Jobber gleichen sich in puncto Urlaub und Krankheit erstaunlich.

Geringfügig meint ja eigentlich das geringere Maß an Arbeitsstunden und überdies den Umstand, dass diese Jobs nicht sozialversicherungspflichtig sind. In der Praxis wird dieses geringfügig meist völlig anders interpretiert: Die Leute, die diese Stellen haben, werden nur geringfügig geachtet.

Wenn nun diese Regierung glaubt, sie müsse die Leute nur besser aufklären, dann verlagert sie die Verantwortung auf die Betroffenen. Nicht die angebliche Unwissenheit des Mini-Jobbers ist nämlich der Grund, dass es Missbrauch gibt - es ist der Umstand, dass man überhaupt solche Arbeitsgelegenheiten mit geringen Barrieren und Sozialstandards geschaffen hat.

Mit ein wenig Schulung ist das Problem nicht aus der Welt. Im Gegenteil, man ist noch verbitterter, weil man es nochmal offiziell gesagt bekommt, dass man ein Arbeitnehmer wie alle anderen ist, aber trotzdem seinen Mund zu halten hat, wenn man die Stelle nicht aufgeben will. Die von Rot-Grün arrangierte "Neuregelung" des Kündigungsschutzes, der erst für Betriebe ab zehn Mitarbeiter gilt (wobei Mini-Jobber nur anteilig gerechnet werden, bestenfalls nur als "halbe Mitarbeiter" gelten), hat das Schweigen der Betroffenen begünstigt.

Das passt zur Leitlinie der Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre. Arbeitslose waren demnach selbst verantwortlich für ihre Misere. Und wer zu wenig verdient, soll sich einen besser bezahlten Job suchen. Nun soll auch noch der Mini-Jobber stigmatisiert werden. Weil er nicht klug genug ist, wird er ausgebeutet. Das ist die einseitige Sicht neoliberaler Arbeitsmarktexperten einerseits und elitärer Dünkel andererseits. Denn der Pöbel, der Hilfstätigkeiten ausübt, ist ja bekanntlich ungebildet und dumm. Die Absichten der Großen Koalition bezeugen das nun auch noch offiziell.

Bei dem Pizza-Service habe ich dann nicht sehr lange gearbeitet. Als sie anfingen, die Arbeitsräume mit Kameras und Mikrofonen auszustatten und ich nicht mehr an mich halten konnte, sagte die Chefin: Verpiss dich, brauchst nicht mehr kommen. Hier bestimme ich, wie es langgeht. Aber der Rummel, der dann entstand, ist eine andere Geschichte.


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Die Klagelieder sind schon längst alle verklungen

Samstag, 14. Dezember 2013

Einige Sätze zum Resultat des SPD-Mitgliederentscheids möchte auch ich loslassen. Wenn ich aber so lese, was die Leute bei Facebook darüber alles schreiben, dann muss ich sagen, dass eigentlich alles gesagt ist. Wer sich nun nicht wiederholen will, der schweigt besser. Und über Tote sagt man ja bekanntlich nichts Schlechtes!

Was ist das eigentlich für ein Impuls, der mich als Blogger da kitzelt? Was treibt mich dazu, diese Nachricht auf sensationslüstern zu trimmen? Es ist ja nicht so, dass die Sozialdemokraten jetzt plötzlich vom Glauben abgefallen wären. Es war doch nur logisch, dass sie mit Ja stimmen. Etwas anderes war kaum vorstellbar. Mit den ins neue Kabinett berufenen Steinmeier und Maas, der früher beim Focus ein Weblog betrieb ("Maasarbeit"), in dem er sich regelmäßig als 2010er geoutet hat, als Freund der Reformen und des New Labour-Kurses, hat man keinen Bruch mit der eigenen Geschichte vollzogen, sondern nur verlässliche Kontinuität bewiesen. Warum also aufschreien?

Über die Basis einer Partei, die kaum aufstand, als ihr mit der Agenda 2010 jegliche sozialdemokratische Anschauung aus dem Parteibüchlein gestrichen wurde, kann man jetzt, da sie mitmachen will in Berlin, eigentlich nichts mehr schreiben, was irgendwie sensationell wäre. Da schreibe ich lieber was zur Landung der Alliierten in der Normandie. Das ist aktueller.

Nein, Leute, wir stehen nicht am Grab der SPD, wie ich das eben bei Facebook bei manchem las. Nein, die Sozis haben nicht ihren letzten Rest an Würde verworfen. Das haben wir doch alles schon hinter uns. Habt ihr vergessen, wie sehr es regnete, als wir irgendwann Anfang des Jahrtausends bei der Beerdigung dieser Partei waren? Und Würde? Was war denn bitteschön würdevoll, als die sieche Partei japste und winselte? Ihr stimmt alle Klagelieder an, die schon längst verklungen sind!

Also, die SPD hat dafür gestimmt. Und nun? Klar, wir haben alle diesen Reflex in uns, das als Sensation abzutun. Aber eine aus dem Kulturkampf entstandene Subkultur, eine Parallelgesellschaft quasi, ist die Partei schon lange nicht mehr. Lebte Bismarck noch, würden ihm die Sozialdemokraten heute ein Ständchen singen zu Ehren.

Und jetzt, liebe Leut', runter vom Grab. Ihr stört die Totenruhe. Und hört zu graben auf! Lasst sie ruhen! Man kann einer Leiche nicht einfach einen neuen Anzug verpassen und meinen, man hätte die gute alte Zeit wiederbelebt. Das merkt man spätestens, wenn der Kerl so vor sich hinstinkt und nichts spricht. Und verwechselt doch nicht ständig diesen "linken Flügel" der Union, der sich aus PR-Gründen SPD nennt, mit der ollen Sozialdemokatie.


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Wer die Wahlen hat, leidet doppelt Qualen

Als Deutscher ohne Migrationshintergrund ist er arm dran, der Müller-Vogg. So bejammert er sich jedenfalls selbst. Armer Kerl. Er darf nämlich nur einfach wählen in Europa. Lediglich in Deutschland eben. Ein griechischer Kollege von ihm habe es da viel besser.

Der dürfe nämlich, weil er einen deutschen und einen griechischen Pass besitze, doppelt wählen. Hüben wie drüben. Und Müller-Vogg befürchtet, dass er drüben eine Partei wählt, die die "notwendigen, aber schmerzhaften Reformen" verschmäht. Und wenn er in Deutschland auch noch eine Partei wählt, die gegen die Austeritätspolitik gerichtet ist, dann könnte der griechische Kollege ja mit seiner Wahl die Politik beeinflussen. Und das geht nun wirklich nicht. So haben wir mit der Demokratie und dem Wahlrecht aber nicht gewettet. Ändern darf sich nach einem Urnengang nichts. Das wäre gefährlich.

Dieser Langweiler mit eigener Kolumne präsentiert das irrationale Angstgespenst der deutschen Konservativen. Dass die Deutschgriechen nicht alle grundlegend gegen diese Politik des Aushungerns sind, verschweigt er. Es gibt ja dummerweise genug Griechen, die die Lügen von BusinessEurope glauben. Und noch was vergisst er zu erwähnen: Nämlich, dass er als Deutscher eigentlich gar nicht doppelt wählen muss. Er wählt nur in Deutschland und die dort Gewählten verwalten via Europäische Union und Troika gleich noch Griechenland mit. Sein griechischer Kollege hat vielleicht neulich in Griechenland gewählt. Vielleicht - gleich komme ich dazu. Aber berücksichtigt wurde sein Votum wahrscheinlich nur wenig, denn jede griechische Regierung steht unter der Leitung der Men in Black aus Brüssel.

Ich gelte als Deutscher und als Spanier. Bis vor einigen Jahren habe ich meinen spanischen Pass auch noch regelmäßig verlängert. Dann wurde ich arbeitslos, gab mein Auto auf und konnte es mir nicht mehr leisten, ab und zu an den Münchner Stadtrand zu düsen, um mir einen Stempel vom spanischen Konsul verabreichen zu lassen. Wahrscheinlich denken die nun in Spanien, mich gibt es nicht mehr. Bin ja seit längerer Zeit für sie nur noch eine Karteileiche, wenngleich ich jederzeit wieder offiziell "spanisch werden" könnte. In all den Jahren, in denen ich beide Pässe hatte, habe ich nie bei spanischen Wahlen teilgenommen. Möglich wäre das gewesen. Ich fand aber, ich war viel zu weit weg, um mir ein Urteil bilden zu können. Einige Doppelstaatler, die ich damals kannte, haben auch nie außerhalb Deutschlands gewählt.

Müller-Vogg baut da ein argumentatives Konstrukt auf, das voller kleinkarierter Ahnungslosigkeit ist. Seine Argumente gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eignen sich nicht als "große Ungerechtigkeit". Wer wählt schon in einer Heimat, die nie so richtig physische Heimat war. Na dann kann man auf den zweiten Pass auch verzichten, würde Müller-Vogg wohl triumphierend einwenden. Klar könnte man, es lebt sich auch dann nicht anders. Und trotzdem war die doppelte Staatsbürgerschaft lange ein Bruchstück meiner Identität. Nicht das Spanische an sich. Da bin ich völlig unempfindlich. Scheiß die Flagge und die Hymne an. Ich meine eher, dass es für mich eine Form von Identifikation war (und vielleicht manchmal noch ist). Mein Vater kam da her. Ich irgendwie auch. Psychisch zumindest. Ich kenne ja beide Seite, die kulturellen Eigenheiten, Mentalitäten und Sonderbarkeiten. Warum sollte ich auf meines Vaters, warum auf meiner Mutter Heimat verzichten?

Der Typ hat gar keine Ahnung, was das bedeutet, welchen sentimentalen Wert es haben kann, zweierlei Pässe zu bewahren. "Einfache Deutsche wie ich", schreibt er. Seichter geht es kaum noch. Was hätte ich auch davon, in Spanien eine Partei zu wählen, die den Sparkurs der deutschen Sittenwächter umsetzen muss. Nee Kumpel, ich habe genug mit meinem Wahlrecht in Deutschland zu tun. Funktioniert ja hier schon nicht so, wie ich mir das vorstelle. Ich brauch' keine weitere Baustelle.

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Die miese Brühe, die wir saufen, während die Demokratie stirbt

Freitag, 13. Dezember 2013

Die Große Koalition gefährde demokratische Prozesse, habe ich in die Runde geworfen. Es gab allerdings kaum Antwort. Meine Kollegen schwatzten weiter am Wesentlichen vorbei. Haste den Gabriel gesehen gestern? Voll der Krawallo mit der Slomka! Meinste nicht auch, Roberto? Ich sagte darauf nochmals, dass diese geplante Koalition keinerlei Opposition mehr zulasse und dass das der Demokratie nicht gut tue. Ich erntete bloß Schweigen. Danach widmete man sich wieder dem Kaffee, der nach allgemeiner Auffassung wie eine Brühe schmeckt, in der vorher Socken gewaschen wurden.

So stehen wir meist vor Arbeitsbeginn rum, trinken Kaffee, essen einen Happen, stecken uns eine Kippe ins Gesicht und quatschen. Einer sagte mir kürzlich, dass nun der Mindestlohn komme. Er habe es gelesen. Ich antwortete, dass das nun zwar im Koalitionsvertrag stehe, aber noch lange nicht sicher sei. Nur weil es den Koalitionären komme, kommt noch lange kein Gesetz, fügte ich hinzu. Ein Koalitionsvertrag ist ja kein Gesetzgebungsverfahren. Ich schrieb ja unlängst darüber. Außerdem sei das eine bedenkliche Entwicklung, wenn man nun so tut, als würde die Koalitionsrunde Gesetze beschließen. Das sei Ausdruck eines allgemeinen Demokratiedefizits oder von Unwissenheit, sagte ich ihm. Er ging darauf gar nicht ein. Er unkte nur, dass der Mindestlohn sicherlich einige Arbeitsplätze kosten würde.

Ich stelle mir vor, dass vor etwas mehr als achtzig Jahren, genau an derselben Stelle, an der wir jeden Morgen quatschen, auch Leute herumstanden. Damals vermutlich noch auf einem Acker. Der Stadtrand lag ja noch weiter östlich. Leute, die vielleicht eine Pause vom Kartoffelernten machten und einen Kaffee schlürften. Und die schwatzten. Die Präsidialkabinette führen uns in den Ruin, sagte vielleicht einer aus der Runde in die Runde. Er führte aus, dass die Journalisten diese spezielle Variante der Diktatur nicht kritisieren, sondern sie sprachlich verklären und stützen, indem sie die Notverordnungen zu einer Vernunftsangelegenheit küren. Wahrscheinlich hörten alle zu, sagten aber wenig bis nichts darauf. Nur einer sagte, denn einer ist immer dabei, der sowas sagt: Was soll man denn machen, die Not ist groß und irgendwie muss man schließlich regiert werden. Wenn es keine starke Regierung gäbe, die die Arbeitslosen an die Kandare nimmt, dann wird alles bloß noch schlimmer. Und überhaupt, der Kaffee schmeckt beschissen. Hey Robert, haste deinen Socken als Filter verwendet?

Wahrscheinlich war es nie anders. Der miese Kaffee in der eigenen Tasse ist den Menschen stets wichtiger gewesen, als der schleichende Prozess der Verschlechterung eines Gemeinwesens. Er macht sie gesprächiger als der Niedergang. Klar, den Kaffee können sie auch schmecken. Und sie können demnach feststellen, dass er ihnen nicht schmeckt. Und falls der Kaffee mal alle ist, dann kann man in die Tasse starren und den Mangel konkret benennen. Aber eine Demokratie, die langsam aber sicher ihre vormaligen Ideale verabschiedet und immer stärker marktverortet wird, empfindet man nicht so sehr als Mangel. Man erfasst einen solchen Prozess ja kaum sinnlich. Das heißt, man nimmt ihn schon wahr, muss dann aber eins und eins zusammenzählen.

Zwar kann man auch heute recht deutlich erkennen, wie die politischen und publizistischen Eliten leichtfertig mit der Demokratie umgehen, sie sprachlich in neue Gefilde führen und letztlich veräußern. Aber Kritik im Alltagsleben der Menschen vernimmt man darüber selten. Sie sind ein bisschen politikerverdrossen, mögen die Bonzen aus Wirtschaft und Politik nicht, aber ansonsten scheint sich niemand wirklich aufzuregen.

Und ich, ich sitze wie einst Klemperer hier rum und staune über die alltagssprachlichen Auswüchse, die das demokratische Verständnis neu einrahmen. Ich bin es inzwischen müde, immer wieder von postdemokratischen Zuständen sprechen zu müssen. Aber genau so ist es eben. Wo bleibt denn der Verfassungspatriotismus, der laut Vorsicht! schreibt, wenn sie mal wieder die Koalitionsrunde zum Gesetzgeber krönen? Wenn es um politische Prozesse, Willensbildung und Verfahrenswege geht, da schleicht sich eine Laxheit in die Sprache ein, hinter der man ein gutes Pfund Verachtung für dieses politische System wittern muss.

Ein System, das bekanntlich vieles erschwert, wie manche Aasgeier aus Politik und Wirtschaft am Rande von Stuttgart 21 schon feststellten. Demokratie macht nämlich handlungsunfähig, wenn man sie zu ernst nimmt, haben sie uns erklärt. Mitsprache lähmt und so. Die Nazis nannten ähnliches verächtlich Plauderbude - dem ewigen Debattieren wollten sie ein Ende bereiten. Man müsse handeln, etwas tun, tätig werden. Nicht nur immer reden, argumentieren und Kompromisse finden. Die Typen, die heute herumheulen, weil Großprojekte in Deutschland so schwer umsetzbar sind, weil ja jeder mitreden möchte, klingen ganz so wie diese Nazis von einst. Nur sagen darf man es ihnen nicht, sonst werden sie sauer.

Erschreckend ist seit Jahren, wie die von der Troika verabschiedete Sparpolitik sprachlich an den Mann und die Frau gebracht wird. Man spricht von Sanierung, von Sparpotenzial und davon, dass der Beamtenapparat nun schlanker geworden sei. Das sind Floskeln, die mir schon in manchem Alltagsgespräch begegnet sind. Sie färben das Weltbild der Menschen. Hinter all diesen Floskeln stecken Methoden der Entdemokratisierung, die in den Ländern, die man zu sanieren vorgibt, drastische Formen angenommen haben. Die Entmachtung eines vom Volk gewählten Parlaments hat aber mit Sanierung nichts zu tun. Sprache, die verkappt ...

Im Zuge der Koalitionsverhandlungen fanden sich viele kleine Sentenzen, die zum Nachdenken anregten. Eben die Geschichte, dass man die Koalitionsrunde zum Gesetzgeber erklärte. Oder aber, dass eine Sendung den Fahrplan der nächsten Wochen zeichnete und für Mitte Dezember die "Merkel-Wahl" festschrieb. Oder dass man den Mitgliederentscheid der Sozialdemokraten einfach ignorierte und schrieb, dass die Große Koaliton komme, daran gäbe es keinen Zweifel mehr. Und dann gibt es noch so viele andere Sprachgezüchte, die an der republikanischen Ausrichtung derer, die die Öffentlichkeit mit Meinung versorgen, zweifeln lassen. Ich erinnere mich, dass ich über die Schlagzeile "Manning schuldig!" stolperte. Dass er für schuldig befunden wurde, wäre richtiger gewesen. Wenn man schreibt, dass er (oder ein anderer Angeklagter) schuldig sei, macht sich der Journalismus gleich noch zur moralischen oder gar richterlichen Instanz. Speziell in einem Fall wie dem des Bradley Manning, der eigentlich im besten republikanischen Sinne dafür sorgte, dass diverse Fakten die Sache der Öffentlichkeit (also zur res publica) wurden, ist das gefährlich.

Ich sehe einige meiner Kollegen vor mir, wie sie abwinken und sagen: Ach komm, du übertreibst. Sind ja nur Worte. Stimmt. Und dann denke ich an Victor Klemperer, der die sprachlichen Abwandlungen (auch schon im Vorfeld Hitlers) notierte. Es gab Wendungen, die plötzlich Einzug fanden, rohe Floskeln, die den Weg wiesen und einen auch sprachlich klar antidemokratischen Kurs. Dabei liegt mir fern anzunehmen, der Faschismus käme bald wieder zurück. Damals warteten die Nazis auf ihre volle Entfaltung. Uns erwartet das demokratische Kleidchen über den häßlichen Körper der Wirtschaftsdiktatur. Und wenn ich es mir recht überlege, was ist denn schon der große Unterschied zwischen einem jener Präsidialkabinette von damals und der marktkonformen Demokratie, auf die man uns sprachlich immer vehementer vorbereitet?

Nein, es sehen nicht alle zu, wie eine Demokratie der Teilhabe, die den mutigen Bürger nicht scheut, sondern befürwortet, langsam in eine andere Form gegossen wird. Aber mir scheint, es hören alle viel zu passiv zu. Aufgeregt wird sich über allerlei Unsinn. Teils über Geschichten aus dem Boulevard, über Personalien am Rande der Machtzentren oder über Muckefuck. Wenn man die Entdemokratisierung und das defizitäre Gequatsche am Rande dieses Prozesses nur erschmecken, bloß in die eigene Tasse gießen könnte: Es wäre plötzlich das Thema jeder Runde. Bäh, diese Demokratie schmeckt ja wie Wasserbrühe. Kann man ja nicht trinken.

Ich sitze hier und schlürfe selbst üblen Kaffee. Ich mach' mir mal nen richtigen, bevor ich mir weiter Gedanken über den Niedergang mache. Man sollte die Postdemokratie wenigstens dekadent mit einem Schluck ordentlichen Kaffee hinunterspülen. Der Geschmack vollmundiger Bohnen macht jeden Untergang erträglicher.


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Transformative Figur und Mensch

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Nelson Mandela beklagte sich einmal darüber, dass ihm die Verklärung seiner Person zu einem "Messias" nicht gefalle. Diese Entwicklung mache ihm Sorgen. Er sei doch lediglich ein Sünder, der versuche, möglichst ohne Sünden durchs Leben zu kommen. In den letzten Jahren seines Lebens schien sich Mandela mit seiner Rolle als messianischer Popstar jedoch abgefunden zu haben. Vermutlich hatte er auch altersbedingt nicht mehr die Kraft, seinen Widerwillen zu artikulieren.

Er war – um es mit den Worten Jesse Jacksons zu sagen – eine "transformative Figur" und nicht bloß eine historische Gestalt. Er war ein Veränderer, der mutig für seine Überzeugungen eintrat. Die Nachrufe auf seine Person hoben auch dies hervor. Trotz allem war Mandela aber auch ein Mensch. Einer mit Fehlern und Schattenseiten. Diese Komponente kam im Wald der Nachrufe jedoch weniger zum Ausdruck. Eigentlich schade, denn die Würdigung des Menschen Mandela sollte wenigstens ansatzweise alle Facetten seines Daseins beinhalten. Um ihn als Menschen begreifen zu können, ist diese nachrufende "Vergöttlichung" völlig ungeeignet.

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Lindner und der Kaiser von Byzanz

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Der Parteitag der FDP, der vor einigen Tagen stattfand, stieß auf ein breites Echo der Öffentlichkeit. Man konnte Lindner im Fernsehen sehen. Und seiner motzigen Rede in Auszügen im Radio lauschen. Dass er die Große Koalition für einen Raubzug hält, konnte man gar nicht überhören. Selbst wenn man gewollt hätte. Seine und seiner Partei Ablehnung dieses Bündnisses zwischen Konservativen und Sozialdemokraten war jedem Sender und jeder Zeitung eine Nachricht wert. So wie auch seine Rede vor seinen Parteifreunden.

Für ein Land, in dem die Übermacht der kommenden Koalition dem Bisschen an Opposition, das noch bleibt, gerade mal je Fraktion fünf Minuten Redezeit erteilen will, ist diese Berücksichtigung einer Partei, die nicht mal im Bundestag vertreten ist, schon irgendwie erstaunlich. So erstaunlich wie der Umstand, dass man nicht auch anderen Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, mal ein breiteres Forum bietet.

Die FDP findet tagespolitisch betrachtet in diesem Lande nicht mehr statt. Weshalb schenkt man ihr dennoch so viel Sendezeit? Ist das alte Verbundenheit? Gewohnheit im Umgang mit einer Partei, die noch nie nicht dabei war? Haben die Bürger dieses Landes denn einen Anspruch darauf, über die (Miss-)Geschicke einer Partei zu erfahren, die einigermaßen ordentlich rausgewählt wurde, nur weil sie früher mal immer drin war? Und das alles während Die Linke und die Grünen mit kurzen Redezeiten im Bundestag abgespeist werden sollen? Und insbesondere Die Linke auch sonst relativ wenig Sendezeit und Aufmerksamkeit geschenkt bekommt?

Mit welcher Berechtigung die FDP von den Medien die Rolle als Kopf der APO verliehen bekommt, ist nur schwer in Erfahrung zu bringen. Es gibt eine Unzahl an Parteien, die nicht im Bundestag sitzen. Über keine wird allerdings so rege über Personalien berichtet. Gibt es nicht weitaus wichtigere Themen als den neuen Vorsitzenden einer Fahrstuhlpartei? Warum liest man eigentlich so wenig von der MLPD? Irrtum, wer meinte, die FDP sei mausetot. Sie bekommt heute noch mehr Aufmerksamkeit in ZDF Berlin direkt als Gysi im Parlament. Ist das die ausgleichende Rolle, die die Medien als publikative Gewalt einnehmen?

Früher mag der Chef der FDP ja ein einflussreicher Mensch gewesen sein. Heute ist er eine Fußnote. Oder sagen wir es so: Er sollte nach Faktenlage eine Fußnote sein. Der Basileus von Byzanz war ja auch mal ein mächtiger Mann, bis er nur noch Herr über eine lange Stadtmauer, einen morschen Palast und fünf abgegraste Wiesen war. Ob man zuletzt noch viel von ihm gesprochen hat?

Nach Norwich ist die Antwort hierzu eindeutig: Ja, man hat. Er sollte schließlich als Bollwerk gegen die Muselmanen erhalten bleiben. Wie die FDP heute. Nicht gegen die Muselmanen freilich - gegen den angeblichen Linksruck, den man allerorten wittert. Der östliche Herr der Christenheit war auch als machtloser Despot noch in aller Munde. Ganz so wie der Herr der Marktlehre heute.


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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 10. Dezember 2013

"Der Mensch ist Mittelpunkt? Ha, das hätten Sie wohl gerne. Der Mensch ist Mittel. Punkt."

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Die Oligarchie der Ja-Sager

Montag, 9. Dezember 2013

oder Die Minderheit, dieser Tyrann.

Nachdem Slomka den SPD-Boss nach der Verfassungsmäßigkeit des Mitgliederentscheid gefragt hatte, erteilte das ZDF tagsdrauf zwei Staatsrechtlern das Wort. Ja, bestätigten sie, dieser Entscheid könnte tatsächlich verfassungswidrig sein. Denn da entscheide eine Minderheit über die Zukunft aller im Lande. Also quasi oligarchische Zustände?

Dieselben Politologen glauben hingegen nicht, dass es in irgendeiner Weise verfassungswidrig ist, wenn eine Minderheit von Reichen - Krysmanski würde von den 0,01 Prozent sprechen - die Mehrheit nach ihrem Gefallen tanzen lassen. Für sie ist es keiner Rede von Verfassungswidrigkeit wert, wenn diese Minderheit Lobbyisten instruiert, ihren politischen Funktionseliten Vorgaben diktiert, zum Schaden aller Deregulierung, Freihandel, Privatisierung und Sozialabbau erpresst. Dieselben Herren Politologen haben schön brav ihren Mund gehalten, als in den letzten Jahrzehnten Spitzensteuersätze und die Körperschaftssteuer gesenkt wurden. Hat das etwa keine Minderheit von langer Hand geplant? Eine, die überdies in Aussicht stellte, dass bei Zuwiderhandlung mit Konsequenzen zu rechnen sei. Wir stellen nicht mehr ein!, drohten sie. Oder: Wir entlassen!

Diese Minderheit, die die Zukunft aller im Lande bestimmte, hat sich noch nie einer staatsrechtlichen Expertise unterziehen müssen. Aber ein Mitgliederentscheid, der ruft Staatswissenschaftler auf den Plan. So ein im Gegensatz zur stillen Plutokratie völlig bescheidenes Unterfangen, treibt gleich zum Vorwurf der Verfassungswidrigkeit. Das sagt viel über die widrige politologische Verfassung dieses Landes aus. Die Zunft beschäftigt sich mit Nebensächlichkeiten, will das Ganze nicht sehen. Dafür wird sie ja auch nicht bezahlt.

Nur weil eine Minderheit ihre Meinung kundtut, muss nicht gleich vom Bruch mit der Mehrheitsgesellschaft gesprochen werden. Wenn die Gilde staatsrechtlich versierter Herrschaften glaubt, dass die Unterbindung einer Absicht durch das Veto einer Minderheit, schon verfassungswidrig ist, dann drängen sich mir doch einige bescheidene Fragen auf: Ist es somit nicht ebenfalls verfassungswidrig, dass die Minderheit körperbehinderter Menschen in diesem Lande auf Barrierefreiheit pocht? Und diese Minderheit der chronisch Kranken, die medizinisch versorgt sein will auf Kosten aller - ist das nicht ein eklatanter Fall von Verfassungswidrigkeit? Wo steht eigentlich in der Verfassung geschrieben, dass die Minderheit alleinerziehender Eltern auf Kosten der Allgemeinheit unterstützt werden sollen?

Wer Verfassungsmäßigkeit alleine an Minderheit und/oder Mehrheit ausrichtet, der muss sich selbst fragen lassen, ob er nicht irgendwie eine verfassungswidrige Ansicht hegt. Ach ja, bevor ich es vergesse, noch eine Frage: Ist es nicht auch irgendwie verfassungswidrig, dass die Minderheit der Aktienbesitzer maßgeblich das Fernsehprogramm für alle gestaltet? Ist das nicht auch Oligarchie, eine Herrschaft der Wenigen über die Vielen?

Ich meine, der Mitgliederentscheid wird als blöder Witz enden. Die Zustimmung wird immens sein. 75 Prozent Zustimmung scheint nicht ausgeschlossen. Wir kennen sie ja, die Sozialdemokraten. Wenn es darauf ankommt ... ich wiederhole mich. Das haben auch die besorgten Staatsrechtler eingesehen, deswegen haben sie kein großes Fass aufgemacht. Sie bekommen ja ihre Regierung noch vor Weihnachten. Alles wird also gut. Warum also weiterhin die Mär von der Verfassungswidrigkeit aufrecht halten? Es ist halt doch nur eine Oligarchie der Ja-Sager und Abnicker.


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Trau, schau, der hat Geld

Samstag, 7. Dezember 2013

Warum genießt Klitschko bei den Ukrainer so viel Vertrauen?, fragte ein Kerl einen anderen Kerl im Autoradio. Antwort: Man nimmt ihm ab, dass es ihm um die Sache gehe, weil er genug Geld habe. Wenn jemand selbst reich ist - und Klitschko habe als Boxer viel Reichtum erworben -, dann traut man ihm nämlich zu, dass er das alles nicht nur tut, um sich selbst zu bereichern. Und Berlusconi, du Blödmann? Und Berlusconi?, raunte ich dem erklärenden Kerl zu.

Von der Epik, mit der man im Westen nun diesem Klitschko begegnet, halte ich gar nichts. Er ist ein Politiker der Opposition. Er tut, was man da halt so tut. Gegen die Regierung sein. Auch mal auf der Straße. Vielleicht meint er es ernst. Kann aber auch sein, dass er die Liebe der Massen auskostet. Das ist auch völlig unerheblich. Heute feiern sie dich, morgen wollen sie dich lynchen. Das darf man nie vergessen. Er will sein Land jedenfalls auf EU-Kurs bringen. Für meine ungeschulten Ohren hört sich das an wie: Gebt uns endlich neoliberale Reformen! Wer EU sagt, der muss auch Neoliberalismus sagen. Ganz einfach.

Um seine Motive geht es mir also gar nicht so sehr. Aber wie kommt ein Journalist eigentlich dazu, den Reichtum eines Menschen als Vertrauensgrundlage zu beziffern? Was ist das? Eine neue Prädestinationslehre? Ein auf Zeitgeist getrimmter Calvin? Jetzt liebt einen nicht mehr Gott, weil man reich ist, sondern die Massen auf den Straßen. Ich habe selten eine Einschätzung von so formvollendetem Schwachsinn gehört. Wäre an der These etwas, so müsste Berlusconi der edelste Politiker aller Zeiten gewesen sein. Und schade, dass es Romney nicht geschafft hat. Sein gigantischer Reichtum wäre sicherlich Grundlage eines neuen Sozialstaatsaufbruchs geworden.

Nein, Geld verdirbt nicht den Charakter. Jedenfalls nicht mehr als andere Dinge. Andere verderben sich ihren Charakter mit wesentlich geringeren Mitteln. Mit Alkohol oder Weibergeschichten. Und mancher Autor wurde zum Charakterschwein, wenn es ihm nicht richtig aus der Feder floss. Andere wurden reich und änderten sich nicht. Es ist eine Frage der inneren Einstellung. Grundsätzlich ist nicht Geld das Problem, sondern der Mensch, der Geld mit Grundsätzen verwechselt. Andersherum adelt Geld aber auch nicht. Und eine Vertrauensbasis nach dem Motto "Trau, schau, der hat Geld!" ist Unfug. Ab wieviel wird man vertrauensselig? Ist Janukowitsch etwa arm?

Und hintergründig schwingt da so eine elitäre Verachtung gegenüber armen Menschen mit. Alle die nicht viel Geld haben, sind verschlagen und durchtrieben, warten nur darauf, sich selbst zu bereichern. Immer dieses Gesinde! Immer diese Kassiererinnen, die sich Pfandbons einstecken! Der Reiche wird da zum besseren Menschen verklärt, zur korruptionsresistenten Person.

Jetzt hätte er nur noch sagen müssen, dass wir grundsätzlich von Millionären regiert werden sollten, dann hätte er seine kleine These auf den Punkt gebracht. So weit kam es nicht. Ich schaltete das Radio ab und schob Fortunate Son ein, drehte lauter und gab Gas.


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Ein kurzer Text über rein gar nichts

Freitag, 6. Dezember 2013

Hier sollte mein Text stehen. Genau hier. An dieser Stelle, über die gerade eure Augen huschen. Und was steht nun hier? Nichts. Oder doch: Anstelle dessen dieser Text hier. Dieser Text, der nicht mein Text ist. Also, er ist schon meiner, ich tippe ihn ja gerade. Aber es ist nicht der Text, der hier hätte sein sollen. Scheiße! Das ärgert mich. Ich habe das fertige Ding gelöscht. Versehentlich. Alles war fertig, ich verließ die Eingabemaske, kam zurück und alles war leer.

Es wäre der beste Text gewesen, den ich hier gebracht hätte. Na gut, einer der besten Texte. Einer der besseren Texte - ich will nicht übertreiben. Gelöschte oder nie erschienene Texte werden ja immer verklärt. Das liegt im Naturell der Schreiber-Leser-Beziehung. Zeilen, die nicht erscheinen sind jungfräulich. Noch kein Arsch hat ihn mit seinen Augen berührt. Niemand kritisiert. Bei Schreibenden geht die uralte religiöse Verehrung der Jungfräulichkeit auf diese Weise weiter. Na ja, es ging um so viele Dinge in meinem unbefleckten Text; Dinge, mit denen ich mich üblicherweise beschäftige. Sozialismus, Fairness, die Welt als Ganzes, der Mensch und sein Versagen und Schokopudding. Alles in diesem einem Text. Und den kriege ich nicht mehr zusammen.

Da war wirklich alles drin. Er war gut gedrechselt. Schöne Überleitungen. Alles gut arrangiert. Ich habe das Sujet gut betont und hübsche Schnörkel angebracht. Der große Wurf. Wenn ich das Ding nun schnell zusammenschustere, wäre es nicht mehr dasselbe wie das, was ich gelöscht hatte. Es wäre nur die Illusion eines Textes. Ich würde mir nur vormachen, dass der Text wieder in der Welt wäre. Wäre er aber nicht. Es wäre nur der Versuch eines Textes, den die Welt nie erblickte. Ein Abklatsch. Alles kommt nur einmal auf die Welt.

Warum macht der Typ hier so viel Wind um ein Phantom?, werdet ihr euch fragen. Spinnt er jetzt endgültig? Fällt ihm nichts mehr ein, sodass er über etwas schreiben muss, dass er geschrieben haben könnte? Wenn er es denn geschrieben hat. Behaupten kann das ja jeder. Steht es so schlecht um ihn? Nur wieso sollte ich nicht über Dinge schreiben, die es nicht gibt? Das macht doch alle Welt. Wir leben doch in einer Gesellschaft, die sich mit Vorliebe mit Dingen beschäftigt, die es so gar nicht gibt. Die ganze herrschende Ökonomie baut auf solche Phantasmen. Im Schnitt haben wir alle hohe Ersparnisse, liest man zum Beispiel. Der Wohlstand ist also noch gewährleistet. Nur Leute, ich sag' euch ganz offen: Meine Ersparnisse kann ich nicht sehen, sie sind nicht da und trotzdem schreiben irgendwelche Einfaltspinsel darüber, als habe sie es je gegeben.

Man höre sich nur das soziale Gewissen einiger sozialdemokratischen Politiker heute an. Was mir mein angeblicher Text, der nicht wurde, wie er geplant war, das ist denen ihr Reformwerk, das so gut geplant war, aber nicht wurde, wie sie es angeblich wollten. Ersetzt mal hier das Wort Text mit dem Scheißwort Hartz IV! Manchmal klingen wir halt alle wie Sozialdemokraten. Wir müssen nur über Dinge reden, die uns nicht gelungen sind. Dann hören wir uns alle so an. Die Sozis reden doch auch nur dauernd von Dingen, die es nicht gibt, die es aber geben sollte oder sogar gegeben haben soll. Hartz IV als soziale Reform und so. Wenn Sozialdemokraten heute kommentieren, was die Arbeitsagentur noch alles will, zum Beispiel Zugriff auf Internetdaten von Arbeitslosen bekommen, dann sagen sie: So war das alles nicht gemeint. Wir hatten was ganz anderes vor. Was daraus geworden ist, hat nichts mehr mit uns zu tun. Was letztlich aus diesem Text wurde, hat mit dem, der geplant war, auch nichts zu tun.

Alles nur Luft, ganz heiße Luft. Warum soll also nicht auch mal ich von Luft erzählen? Gönnt mir doch diesen Text über so rein gar nichts. Die Presse ist voll davon. Das Fernsehen ohnehin. Bei Jauch geht es stets um das ganze Nichts, um das Alles des Nichts. Um feine Absichten, die man hege, die man aber nicht umsetzen könne. Ich habe meinen Text wenigstens geschrieben. Die Kotzbrocken bei Jauch hatten nie irgendwelche guten Absichten. Ich lege mich gleich wieder zwischen die Kissen. So ein gelöschter Text kostet viel Kraft.


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Der Wettbewerb und die Suppenküche

Donnerstag, 5. Dezember 2013

Letzte Woche schrieb die taz, dass der Suppenküchenstaat wachse. Man muss jedoch befürchten: Nicht mal der ist intakt. Auch er bricht nach und nach als Zuflucht weg.

Am selben Tag, als die taz ihren Artikel brachte, lauschte ich einem Feature im SWR-Radio. Es ging um eine Tafel irgendwo in Rheinland-Pfalz, die immer mehr in Bedrängnis gerät. Die Supermärkte würden immer weniger Lebensmittel zur Verfügung stellen. Zurückzuführen sei das auf eine effizientere Kalkulation seitens der Läden und verstärkten Rabatt-Aktionen bei Waren, die kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatum stehen. Früher hat man den Reis zur Tafel gebracht, nun rabattiert man ihn großzügig, um ihn doch noch loszuschlagen. Die besagte Tafel erhalte deshalb immer weniger Lebensmittel und kann dementsprechend immer weniger an Bedürftige verteilen. Das geht so weit, dass sie keine weiteren Bedürftigen mehr aufnehmen kann, sagte eine Tafel-Mitarbeiterin.

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Die unsachliche Ehrlichkeit des Herrn Gabriel

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Gabriel braucht Thesen, um die beabsichtigte Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung zu legitimieren. Da fiel ihm ein, er könne ja die Terroraktion auf Utøya nennen. Durch die Vorratsdatenspeicherung in Norwegen, so Gabriel, habe man "sehr schnell" in Erfahrung bringen können, "wer der Mörder war". Sie habe ermöglicht, den Einzeltäter zu überführen. Telepolis nennt dieses Argument unsachlich. Denn zwar habe das norwegische Parlament einige Monate vor dem Anschlag für die Einführung der Vorratsdatenspeicherung gestimmt - aber eingeführt ist sie bis heute nicht. Erst mit Beginn des Jahres 2015 soll es dort so weit sein.

Telepolis führt weiter aus, dass konventionelle Ermittlungen ausgereicht hätten, um Breivik zu überführen. Hinzuzufügen wäre aber auch noch folgender Aspekt: Breivik hätte sich vermutlich früher oder später ohnehin gestellt hätte. Er tötete ja nicht ohne Stolz. Und da er sich selbst in einer Mission sah, wäre er nicht daran vorbeigekommen, sich zu outen und zu stellen. Utøya ist also ein schrecklich doofes Beispiel für die Erfolge, die die Vorratsdatenspeicherung angeblich ernten soll.

Was aber interessant ist: Bei aller Unsachlichkeit und Instrumentalisierung dieses Anschlags, ist Gabriel zwischen den Zeilen ehrlich genug, um die Vorratsdatenspeicherung nicht mehr als Sicherheitsgarant aufzuzählen. Jahrelang erklärten uns Sicherheitspolitiker, dass die Vorratsdatenspeicherung (und andere Überwachungsverfahren) Terroranschläge verhindern könne. Man könne quasi a priori einschreiten. Hier kam rhetorisch die Sauerland-Gruppe ins Spiel, die man mittels Überwachung vor ihren geplanten Anschlag dingfest gemacht habe.

Durch die Sammlung von Daten könne man also für Sicherheit sorgen, sagte man uns. Noch bevor es zum Akt der Gewalt kommt wohlgemerkt. Dass nicht nur die Sammelei von Daten dazu notwendig würde, war schnell klar. Man die gesammelten Daten auch sondieren, rastern und auswerten, sie in Algorithmen speisen und Prognosen errechnen. Prism hat unser aller Bewusstsein dafür, was hier alles möglich ist, stark erweitert. Daten einfach nur abheften und gleichzeitig versprechen, dass man terroristische Gewalt so schon vorher verhindern könne, war immer nur plumpe Augenwischerei. Wer Daten sammelt, der will sie auch einordnen, mit ihnen arbeiten.

Gabriel ist ehrlicher, als er es vermutlich sein wollte. Denn er gibt indirekt zu, dass die Vorratsdatenspeicherung nichts verhindert. Er siedelt sie als erfolgreich nach Utøya an, nicht schon davor. Ganz anders als viele Sicherheitspolitiker über Jahre hinweg warben. Dank der beabsichtigten Praxis, Daten auf Vorrat zu speichern, kann man vielleicht nach einem Gewaltakt Rückschlüsse erhalten. Aber auch nur vielleicht. Wenn man optimistisch ist. Oder auf Werbetour für dieses Vorhaben.

Die Vorratsdatenspeicherung ist kein apriorisches Sicherheitskonzept, sondern bestenfalls ein Ermittlungsverfahren a posteriori. Wenn überhaupt! Nur sagt das keiner. Außer der unsachliche Herr Gabriel. Ungewollt wahrscheinlich. Aber immerhin.


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#Aufschrei der Dummheit

Dienstag, 3. Dezember 2013

Kürzlich beklagte sich Jutta Ditfurth via Facebook, dass man ihr eine Gruppe gewidmet hat. "Ich würde Jutta Ditfurth gerne mal auf die Fresse hauen" heißt sie. Ein kleine Gruppe nur, die wenig Einfluss hat und zuletzt verwaist schien. Parallel zum Verfassen dieser Zeilen wurde die Gruppe gelöscht. Gleich dazu mehr. Der Inhalt hatte es in sich. Bestand aus Hassreden gegen Ditfurth, aus Androhungen und Despektierlichkeiten jeglicher Art. Über all dem stand der Titel, der wie ganz selbstverständlich zur Gewalt aufrief. Eine wie Ditfurth habe schließlich was auf die Fresse verdient.

Die O-Töne bei "Ich würde Jutta Ditfurth gerne auf die Fresse hauen" waren nicht ohne. Ein User meinte gar, er wohne gleich um die Ecke von Ditfurth. Er könne den Titel der Gruppe mal Wirklichkeit werden lassen. Sie wurde Staatsfeindin genannt und ein mutiges Gruppenmitglied meinte, bei dieser Frau sei seine "Selbstkontrolle komplett ausgeschaltet". Dass "diese Frau einfach geschlagen" gehört ist den Mitstreitern natürlich unisono klar gewesen.

Alles hat seine Schattenseiten. Bei Facebook sind es Typen, die sich das Recht herausnehmen, ihren Hass auf Einzelpersonen oder Gruppen in einer Facebook-Gruppe zu kanalisieren. Was las man nicht alles vor einigen Jahren, als im arabischen Raum die Menschen in Rebellion traten und sich über soziale Netzwerk im Internet formierten - und die mittels Smartphones organisatorisch auf einem Niveau standen, das vorher bestenfalls eine gut organisierte Polizeitruppe innehatte. Das dürfte die Sonnenseite des Phänomens sein. Man kann sich organisieren, leicht kommunizieren, kann sich relativ unkompliziert informieren. Das Instrument Facebook wird aber auch missbraucht. Man trägt den Hass und die Dummheit hinein, macht es zu einem Medium der Menschenverachtung und kann sich dann sogar noch gegenseitig auf die Schulter klopfen, sich wechselweise die gegenseitige Blödheit bestätigen und liken.

Dieses ordentliche Maß an Dummheit wurde von Facebook lange toleriert. Mehrfache Meldungen von Usern hatten lange Zeit keine Sperrung dieser Seite, die immerhin zur Gewalt gegen eine Person aufruft, bewirkt. Erst als Jutta Ditfurth Facebook mit anwaltlichen Schritten drohte, entschloss man sich dazu. Das ist erst einige Tage her.

Wer die Affekte aus Zeiten, da man aus dem Volksempfänger heraus aufwiegelte, für graue Vergangenheit abtut, sollte sich nur mal diverse Gruppen bei Facebook antun. So wie Facebook als Medium der Organisation gegen Unrecht und Machtmissbrauch positiv genutzt werden kann, so wird es auch als Plattform von Hetzern dienstbar gemacht. Es gibt jede Menge Dummköpfe, die ihren #Aufschrei in die Welt hinaustippen. Fortschritt kann da nur als Rückschritt begriffen werden.


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Als Elvis in die Jahre kam

Montag, 2. Dezember 2013

Als ich hörte, dass die hessischen Grünen mit Bouffier ins Bett steigen wollen, habe ich mich zunächst aufgeregt. Die Grünen wollten ja eigentlich den Wechsel. So stand es auf vielen Wahlplakaten. Nach einer Weile habe ich mir gedacht: Was ist denn schon passiert? Dieses Arrangement mag zwar für Spötter lustig sein, aber eine Zäsur ist es ganz sicher nicht.

Der grüne Landesverband in Hessen hat ja immer schon suspekte Gestalten in seinen Reihen gehabt. An oberster Stelle Joschka Fischer oder Otto Schily. Tarek Al-Wazir ist nur die Fortführung dieser Realos mit geschmeidigeren Mitteln. Besonders im hessischen Teil der Partei wurde der historische Richtungsstreit zwischen Fundis und Realos ausgetragen. Seitdem die Ökosozialisten ausgemerzt wurden, gelten die hessischen Grünen als Hochburg des Realotums.

Jutta Ditfurth schrieb mal, dass die hessischen Grünen der Achtzigerjahre die linke Bastion der Gesamtpartei waren. Im Norden funkten teilweise rechtslastige Naturburschen in die Partei. Und in Baden-Württemberg schimmerte schon der KuK-Konservatismus (Kretschmann und Kuhn) durch. Aber in Hessen wollte man den linken Kurs aufrechterhalten. Bis man eben gegen die Realos verlor. Die hessischen Grünen waren also immer extrem zur Gesamtpartei gestellt, entweder linker oder rechter als die allgemeine Tendenz. Sagt das etwas über die hessische Mentalität aus?

Oder aber man wirkte ins Bundespolitische hinein. So wie es der Fischer-Clan von Mitte der Neunziger bis Mitte der Zweitausender tat. Man trug frech den Karrierismus und die seichte Inhaltslosigkeit als Programm voran und diente sich so als leicht zu befriedigender Koalitionspartner der Sozialdemokratie an. Spätestens seit 1998 ist die Bundespartei aus dem Hessischen heraus so sehr dem Mainstream angepasst, dass sie jederzeit als Alternative und Mehrheitsbeschaffer für den Konservatismus vorstellbar wurde.

Natürlich schimpfen nun die Leute. Sie befinden das für unglaubwürdig, dass die Grünen in Hessen mit der Union koalieren wollen. Aber das ist keine Sensation. Ist nur konsequent und liegt ganz im Wesen dieses Landesverbandes, dessen Opportunismus der gesamten Partei im Land trauriges Beispiel stand. Aus irgendeiner alten Achtziger-Romantik heraus glauben die Menschen, diese Partei sei eine Art soziales und ökologisches Gewissen. Das ist wie mit dem späten Elvis, den man immer noch als King of Rock 'n' Roll ankündigte, obgleich er nur noch Schmonzetten trällerte. Trotzdem verband man ihn auf immer und ewig mit dem Rock 'n' Roll. Doch nur der frühe Elvis machte in Hound Dog sexuelle Anspielungen. Später sang er brav und angepasst: "And you're always there to lend a hand/ In everything I doooo!" Er war nicht mehr derselbe.

Ich habe sogar von jemanden gehört, dass er glaube, diese Liebschaft zwischen Bouffier und den Grünen würde letzteren bei der nächsten Landtagswahl alle Sitze kosten. Und in meiner Empörung, so kurz nach Bekanntwerden des Koalitionsvorhabens, schrieb ich andernorts, dass die Grünen in vier Jahren dafür Scheiße fressen würden. Alles Quatsch! Nichts wird passieren. Die Grünen haben keinen Tabubruch begangen. Ein Begriff, den man diesbezüglich derzeit oft liest. Nach Hartz IV und der Absegnung von Kriegseinsätzen im Ausland, die sie im Bund mittrugen, ist die Stützung des reaktionärsten Landesverbandes der CDU nur konsequent. Nach allem, was man unter Schröder mittrug, kann man jetzt auch mal die Anrainer des Frankfurter Flughafens verraten und für Wohlstand und Wachstum auch mal den Fluglärm tolerieren, ohne gleich unglaubwürdig zu werden.

Nein, gar nichts wird passieren. Dass eine konservative Partei voller Karrieristen und Opportunisten mit einer anderen konservativen Partei voller Karrieristen und Opportunisten anbändelt, die überdies Posten in Aussicht stellt, ist das normalste von der Demokratie. Einige Wähler werden sie bei der nächsten Landtagswahl abstrafen, andere Wähler belohnen. Man sollte endlich aufhören, die Grünen als eine Partei anzusehen, die sie seit mindestens 20 Jahren nicht mehr sind. Elvis war letztlich auch nur ein Schmusesänger, der zufällig eine rockige Vergangenheit hatte.


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Schweig still, bleib mir sympathisch

Freitag, 29. November 2013

Ich habe da jemanden kennengelernt. Am Fußballplatz. Haben uns oft unterhalten. Ein lustiger Mensch. Haben viel gelacht. Ne coole Socke irgendwie. Flapsig. Da stehe ich drauf. Das Leben ist bitter genug. Es war Sympathie auf den ersten Blick. Getroffen haben wir uns seither öfter. Immer am Fußballplatz. Beim Warten auf unsere Kinder. Bei Training oder Punktspiel. Haben miteinander geraucht. Das Spiel bewertet. Gewusst, dass wir es besser könnten als unsere Kinder, wenn nur der Bauch nicht wäre und die ganzen Zipperlein. Aber im Geiste waren wir beide fit.

Na ja, stimmt nicht ganz. Ich mochte an ihm, dass er den ganzen Spaß nicht so ernst nahm. Nicht so, wie der Vater eines anderen Kindes, der seine Brut als verkanntes Talent und alle anderen Kinder entweder für Bälger aus der Gosse oder für zu fett hielt. Mit dem sozialdarwinistischen Penner aus gutem Elternhause, was er uns natürlich gleich steckte, war bald Funkstille. Mein Kumpel aber blieb da ganz Mensch und das mochte ich. Und mag ich noch immer. Das macht alles viel entspannter. Und plötzlich kam uns der Bratwurstfabrikant von der Säbener Straße in die Quere.

Er hätte auch Steuern hinterzogen, wenn er so viel Geld hätte, wie der Hoeneß, sagte er. Ich weiß nicht, wie es ist, mehrfacher Millionär zu sein. Aber ich vermute, mich würde es wenig stören, von den vielen Millionen etliche entbehren zu müssen. Mir wäre das alles auch zu aufwändig. Ich würde zahlen und wollte meine Ruhe haben. Ich vermute, so bequeme Menschen wie ich kommen aber auch nicht zu Geld. Und überhaupt ist diese Entschuldigung mit der eigenen Niedertracht billig. So kann man alles entschuldigen. Selbst Konzentrationslager. Wer so argumentiert, der erlaubt keinerlei moralisches Urteil mehr, rottet die Ethik aus allen Kategorien menschlicher Wahrnehmung aus.

Jedenfalls, er sagte das und ich widersprach. Dann sagte ich, dass Hoeneß der richtige Mann für diesen Verein sei. Ich zitierte mich selbst mit einer Passage aus einem Text der letzten Woche: "Ein anständiger Mann an der Spitze dieses Vereins wäre ungefähr so, als würden sich die katholischen Kardinäle im Konklave für einen homosexuellen Stricher aussprechen." Worauf er nur lapidar antwortete: Haben sie doch. Wie? Was meinst du?, fragte ich. Na, das sind doch alles Kinderficker und Prasser. Was für ein Niveau! Hätte er doch nur geschwiegen ...

So geht es mir ja oft. Man lernt jemanden kennen, findet den gut, hat Freude an seinem Dasein. Und dann lernt man ihn besser kennen und ist irritiert. Mensch, der hat aber seltsame Anwandlungen. Kuriose Meinungen. Oder einfach nur Bildzeitung im Kopf. Und dann ist man irgendwie abgestoßen und froh, wenn die nächsten Gespräche nur noch am Lack kratzen.

Ich erinnere mich, dass ich zum Tode Peter Alexanders einen Text schrieb. Meine Güte, was trieb mich damals dazu? Es war eigentlich ein ganz beschissener Text, in dem ich ausdrücken wollte, dass ich seine unpolitische Haltung durchaus schätzte. Dafür erntete ich Ärger. Denn der Mann habe mit seiner guten Laune das System gestützt, legte man mir nahe. Sieh das doch ein Genosse, überdenke nochmal deine Positionen. Indirekt stimmt das vielleicht sogar. Nur weiß ich nichts davon, dass er für das System geworben hätte. Er blieb unpolitisch und erlaubte keine Einblicke in die Abgründe seiner Weltsicht. Das habe ich an ihm geschätzt. Er hat einfach mal sein Maul gehalten, wo andere es blöderweise aufmachten. Ich denke da an den BAP-Onkel, der sich immer gerne politisiert und dann auch schon mal im Dunstfeld zweifelhafter Kampagneros landete.

Heute höre ich gerne Max Raabe. Ich mag die Texte im Stile der Dreißigerjahre. Diese freche Art, die es da im zeitgenössischen Schlager gab. Diese Couplets haben mehr sprachliche Reife als vieles, was man von heute so kennt. Raabe macht Musik und sonst weiß man wenig von ihm und von seinen Ansichten. Ich hoffe stark, das bleibt so, sonst vergeht er mir auch noch. Er soll trällern und seine Berühmtheit nicht verpolitisieren. Dann macht er nichts falsch.

Ich finde, wenn man sich so auf Anhieb auf einem oberflächlichen Level sympathisch ist, dann sollte man das eine Weile halten. Und vielleicht sogar immer so einhalten. Dann ist Zusammenleben eindeutig leichter. Je näher man sich kommt, je offener man spricht, desto größer die Gefahr der Entzauberung. Schweig still, bleib mir sympathisch!, wollte ich schon oft jemanden zurufen. Nur war es da schon zu spät. Ich gebe ja zu, diese Haltung, gar nicht so tief gehen zu wollen, ist ein wenig biedermeierisch. Ich ziehe mich halt nicht in Zierkissen zurück aufs Sofa, um eine Tasse Kaffee zu schlürfen, sondern weile in der zwischenmenschlichen Oberflächlichkeit. Jede Zeit hat ihre Selbstschutzautomatismen und Biedermeieresken.

Klar doch, kommende Woche stehe ich wieder mit ihm am Rand des Fußballfeldes. Sicherlich werden wir witzeln. So bin ich nicht mehr, wie ich vor vielen Jahren noch war, als ich glaubte, ich müsse Leute mit dummen Ansichten irgendwie mit arroganter Verachtung strafen. Sicher, da tat sich ein Abgrund auf und ich weiß, zu mehr als zum Spielfeldrand wird es kaum je reichen. Aber warum soll ich mir und ihm das Leben schwer machen. Soll er denken, was er denken will. Und sei es noch so ein Unfug. Meinungsfreiheit und so. Nicht immer leicht tolerant zu sein. Aber noch viel schwerer, die Intoleranz gegenüber offenbar idiotischer Meinung durchzuziehen.

Heute bin ich dazu locker genug. Man wird ruhiger. Cooler. Resignierter und fauler. Falls er demnächst aber damit beginnen sollte, den Türken ein genetisches Armutszeugnis auszustellen, dann ist der Rubikon überschritten. Tut er aber nicht. So schätze ich ihn nicht ein. Bitte, schweig still, nicht noch ein Abgrund! Ab und zu zusammen eine Zigarette rauchen und sich umdrehen und gehen. Komm gut heim. Bis nächsten Donnerstag.


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Die, die laut Nein schreien und still Ja ankreuzen

Donnerstag, 28. November 2013

oder Ein Nein wäre ein Ja zum demokratischen Grundgedanken.

Am 6. Dezember ist der Tag, an dem der Typ mit dem Sack kommt. Und es wird in diesem Jahr der Tag sein, an dem der Mitgliederentscheid bei den Sozialdemokraten beginnt. Das heißt folglich: Dieses Jahr gibt es für uns nichts aus dem Sack, aber sehr wahrscheinlich auf den Sack.

Als gestern der Morgen graute, graute dem Morgen. Denn nun wussten wir, dass man sich über Nacht auf eine Große Koalition geeinigt hatte. Seither werden die Kommentatoren des Zeitgeschehens nicht müde, die Sozialdemokraten als die Sieger der Verhandlungen zu stilisieren. Das geschieht, um die SPD-Mitglieder einzuschwören, um sie auf Kurs zu bringen. Sie sollen glauben, dass das Kabinett Merkel III, musikalisch von einer sozialdemokratischen Agenda untermalt wird. Bei Maischberger konnte man schon vorher erfahren, dass Merkel eigentlich eine sozialdemokratische Kanzlerin sei. Das ist ein unglaubliches Kunststück in einer Zeit, da nicht mal die Sozialdemokraten sozialdemokratisch sind.

Wo genau liegt der sozialdemokratische Gewinn an einem Mindestlohn, der nicht für alle gilt und den man auch relativ einfach umgehen kann? Vom flächendeckenden Charakter des Mindestlohns spricht keiner mehr. Nahles scheint das Wort flächendeckend geradezu verlernt zu haben. Und wie man die soziale Schieflage ein bisschen begradigen möchte, ohne die höchste Stelle der Steigung abzusenken, sprich: ohne Steuern für Reiche zu erhöhen, das kann doch beim besten Willen kein sozialdemokratischer Erfolg sein.

Ich will den Sozialdemokraten jetzt auch nicht einreden, sie sollten Nein sagen, weil das Programm nicht richtig sozialdemokratisch ist. Ich persönlich sehe das zwar so. Aber ich glaube ja auch, dass sozialdemokratisch etwas völlig anderes als die SPD ist. Vorratsdatenspeicherung, Freiheit für Reiche und Wimperntusche auf den Niedriglohnsektor sind ja gewissermaßen seit Jahren das Konzept dieser postsozialdemokratischen Partei gewesen. So sieht halt auch die geplante Zusammenarbeit mit der Union aus.

Ach, ich bin mir sicher, die Sozialdemokraten sagen ab den 6. Dezember laut Nein. Kreuzen aber still Ja an. Wie immer. Sie werden schwere Bedenken haben, sich winden, rumeiern, sich deprimiert abwechselnd am Arsch und am Kopf kratzen und viele Argumente gegen die Große Koalition auflisten. Sozialdemokraten machen das wie andere Leute Sudoku. Als Zeitvertreib quasi. Sie sehen die These, widersprechen mit allerlei Antithesen und gehen gleich darauf die Synthese ein. Und das schaffen sie, ohne gleich Hegelianer zu sein. Sozis legen so eine Art thailändischer Höflichkeit an den Tag, sagen auch Ja, wenn sie Nein meinen.

Hätte die Merkel doch die absolute Mehrheit errungen. Rückblickend wäre mir das lieber gewesen. Dieses Szenario hätte letztlich mehr mit parlamentarischer Demokratie zu tun gehabt, als die koalitionäre Megalomanie die jetzt ansteht. Daher, Sozis, sagt Nein! Nicht, weil das Programm eine Farce ist, weil man euch einlullt mit eurem Sieg bei den Verhandlungen über die Union. Das ist alles Unsinn und nicht der Rede wert. Sagt Nein, weil das der Demokratie besser täte. Übernehmt also Verantwortung und weigert euch, in einem Land leben zu müssen, in dem es eine Opposition nur noch auf dem Papier gibt.


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Beschreibung eines Kontinents der gewollten Ungleichheiten

Mittwoch, 27. November 2013

Über Peter Mertens Kritik des neoliberalen Europas.

Quelle: Amazon
Im Grunde gibt es keinen NSA-Skandal. Und wenn man hierzulande die Rolle des BND bei den Abhöraktionen beleuchtet, dann sollte man auch nicht vom BND-Skandal sprechen. Was hier geschieht sind nämlich lediglich die geheimdienstlichen Auswirkungen eines neuen Kalten Krieges. Nicht mehr zwischen verfeindeten Blöcken, die in verschiedener Weltauffassung erstarrt sind, sondern zwischen zwei kapitalistischen Blöcken, zwischen Kontrahenten auf dem freien Markt - zwischen Wettbewerbern. Dass die Europäische Union mit den Vereinigten Staaten um die wirtschaftliche Oberhoheit auf Erden buhlt, steht für den belgischen Soziologen Peter Mertens fest. Er beschreibt in seinem Buch Wie können sie es wagen?, wie sich Europa in eine neoliberale Zone verwandelte.

Das Maastrichter Europa war nie als ein Europa der Menschen geplant. Auch nicht als ein Hort, der Bürger- und Menschenrechte als seinen größten Exportschlager erachtet. Das Europa nach Maastrichter Ausrichtung wollte wettbewerbsfähiger werden, im globalen Expansionsstreben absahnen, den Markt erobern und die Chinesen und Amerikaner im Wirtschaftskrieg ausstechen. BusinessEurope nennt Mertens dieses neue Europa der wirtschaftlichen Vorherrschaft.

Und dieses BusinessEurope geht zwar nicht über Leichen, wohl aber über schlecht bezahlte Jobs. Die Auflösung von Sozialstandards und die Einführung eines Niedriglohnbereichs sollten Europa in der Welt stärken. Mertens nennt das den "stillen Staatsstreich von BusinessEurope". Er sieht besonders Deutschland als den ideologischen Vorreiter dieses ganz besonderen europäischen Gedankens. Und er beschreibt, wie Belgiens Konservative immer wieder nach Berlin deuten und ihren Landsleuten sagen: So müssen wir auch werden. Hartz IV war richtig. Niedriglohn ist die einzige Chance. So lernt der Leser nebenbei noch die flämische Nationalbewegung kennen, die ihre Separationswünsche mit neoliberaler Agenda unterlegt und so den Nationalismus mit Wirtschaftsradikalismus verwebt. Flame zu sein bedeute nämlich auch, die wirtschaftlich schwache Wallonie mitzuziehen.

Wir kennen das ja auch in etwas anderer Weise in Deutschland, wenn wieder mal Bayern, Baden-Württemberg und Hessen tönen, dass sie die Republik ernährten und Bundesländer mitschleifen müssten. Nach Mertens ist die Renationalisierung Europas ein Nebenprodukt dieses Kontinents in Schocktherapie. Es entstehen überall wirtschaftlich orientierte Nationalismen oder Ökonomiepatriotismen, die Solidarität zu einer Tugend degradieren, die man sich leisten können sollte.

"Das Europa des Wettbewerbs und der Ungleichheit" ist kein Abfallprodukt des Krisenpakets, das die Medien in Europa in verschiedene Tranchen zerschnitten haben. In Euro-Krise, Wirtschaftskrise, Staatsschuldenkrise oder EU-Krise - ohne einfach mal von der systemimmanenten Krise zu sprechen, von einer Krise des Kapitalismus, der sich als einziges Regularium bloß noch eine unsichtbare Hand leistet. Viele Kritiker der EU sprechen in ihrem engstirnigen Betragen oft davon, dass die Europäische Union einen neuen Sozialismus züchte, eine Gleichmacherei und ein Herabdrücken des Lebensstandards aller Menschen. Kollektivierungen gibt es wohl. Aber all das geschieht nicht aus Mangelwirtschaft heraus, sondern ist die Geschäftsgrundlage der globalen Wettbewerbsfähigkeit, die man um jeden Preis erhalten und verstärken möchte.

Mertens spricht auch von Sozialismus und setzt ihm eine 2.0 dahinter. Das ist eine klare Abfuhr für den Sozialismus, den es schon mal gab. Etwas Neues muss her. Ein Sozialismus, der Werte nicht nur besitzt, sondern pflegt und garantiert. Er schreibt, dass der Kapitalismus immer wieder durchschimmerte in den letzten Jahrhunderten. Schon zaghaft in der Republik von Venedig. Oder im Genf des Herrn Calvin. Aber er war nie so weit, sich endgültig durchzusetzen. Erst mit der Industrialisierung gelang es die kapitalistischen Versuche nachhaltig zu installieren. Die Zeit war erst im 19. Jahrhundert reif für ihn. Alle Versuche vorher mussten scheitern. Warum also, fragt Mertens nun, sollte der Sozialismus nicht auch mehrere Versuche erhalten, bis er überlebensfähig werden kann. Die Grundlagen der heutigen Wirtschaft würden Mangel jedenfalls ausschließen. Und dass man alles verplanwirtschaften müsse, sagt ja auch kein realistischer Mensch. Nur manches müsste von der Allgemeinheit verwaltet und kontrolliert werden.

Der Kapitalismus hat nicht gesiegt. Er blieb übrig. Man kann das gut erkennen, wenn man in der gesellschaftskritischen Literatur unserer Tage querliest. Wagenknecht will einen kreativen Sozialismus und Mertens den Sozialismus 2.0. Das sind die Früchte, die ein maßloses System säte.

Wie können sie es wagen? fragt Mertens. Aber sie wagen es einfach. Ohne Rücksprache mit den Menschen. Rücksprache hält die Politik nur mit dem besseren Teil der Europäer. Mit Reichen, mit Konzernen und Managern. Die sagen, was gut für uns alle ist. Ja, und wie können wir es wagen, uns das gefallen zu lassen? Und wir sollten es als ersten Schritt nicht wagen, Mertens Buch einfach zu ignorieren. Wage zu wissen! Dieser Ausspruch der klassischen Aufklärung trifft bei Wie können sie es wagen? zu. Mertens ist ein moderner Aufklärer und vielleicht wird er einst genannt, wenn man von der Ära der Aufklärung 2.0 spricht.

Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug von Peter Mertens ist im VAT Verlag André Thiele erschienen.


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