Glatter Bruch

Freitag, 29. Januar 2016

Eines vorweg: Wir haben es hier mit einem gruseligen Roman zu tun. Mit einer sonderbaren Form von Horror. Splatter kommt darin zwar nicht vor, nicht mal der übliche Nervenkitzel blutleerer Thriller. Aber nichtsdestotrotz: Was Susanne Schaller ihren Lesern vorgelegt hat, ist durch und durch schaurig. Adorno fürchtete sich bekanntlich ja nicht vor der Rückkehr des Faschismus. Er fürchtete die Rückkehr desselbigen hinter der Maske des Demokraten. Vielleicht trifft dieses Bonmot auf Schallers Version eines zukünftigen Deutschlands zu, wobei man analysieren müsste, ob man die Demokratenmaske überhaupt noch darin trägt. Man gibt sich nämlich in ihrem Zukunftsmodell nicht viel Mühe, einen Anschein von Menschlichkeit oder Partizipation aufrechtzuerhalten. Gelächelt wird trotzdem. Doch selbst diejenigen, die beruflich noch auf der Gewinnerstraße sind, stellt uns Schaller als arme Schweine vor – als arme Schweine mit Geld und Konsumgütern. Sie lächeln ebenfalls, selbst wenn sie das Gegenteil wollten. Der Rest, Zwangsverwaltete nennt sie sie, darbt von der Hand im Mund in ehemaligen Sozialbauten, die jetzt nur mehr Löcher in heruntergekommenen Bezirken sind. Ob sie lächeln kann man nicht eindeutig klären (eher nicht!), denn ihre Quartiere sucht man eher selten auf.

Die Handlung kreist um die Familie Schuster. Er ist ein erfolgreicher Statistiker, der für die Regierung Daten so hinbiegt, dass sie damit arbeiten kann. Sie gibt ihre Arbeitskraft ehrenamtlich und mit etwas schwerfälligem Verve der Kirche hin, organisiert die Armenspeisung und Kurse für die Ausgestoßenen. Deshalb bekommt sie Probleme, denn so ein Projekt bezweckt Umverteilung und Umverteilung, dass wissen selbst die Zwillinge der Schusters, sei ein terroristisches Unterfangen. Maxime ist, dass man jedem schade, dem man die Hand reiche, weil so jeglicher Eigenantrieb abhanden käme. Zur Einhaltung dieses und weiterer solcher Credos hat die Regierung die Polizeiarbeit ausgelagert an ein Privatunternehmen namens Securion, das mit ehemaligen Soldaten und anderen Hartgesottenen auf Exekutive macht. Sie patroullieren und überwachen fleißig, sind vorzüglich zu den Bessergestellten, gegenüber dem Rest ergehen sie sich liederlich. Die Schusters passen sich wie alle Familien mit Einkommen an, leben in einem exquisiten Stadtteil, die Sprösslinge zeigen gute Schulleistungen und saugen die dortige Propaganda auf wie ein Schwamm graues Spülwasser. Ein für die Schusters zugewiesener Familienberater gibt indes den Takt vor, sagt den Schusters wohin die Reise geht und plant sogar deren Urlaub und Sexualleben. Auf der anderen Seite der Gesellschaft sieht es dementsprechend aus. Das heutige Hartz-IV-System wirkt dagegen wie ein lange vergessenes Land, in dem noch Milch und Honig floss. Und doch ahnt man, dass jenes heutige Modell der Anfang zu dieser Entwicklung gewesen sein muss, die Schaller so bedrückend beschreibt.

Diese »zerbrechende Welt« ist, obgleich dieses Buchtitels, doch eine Welt des Glatten. So nennt Byung-Chul Han (»Die Errettung des Schönen«) den Hochglanz unserer Zeit. Alles ist dort aalglatt, von makelloser Ebenheit. Für Han ist die Welt des Glatten pure Positivität, in der es keine Risse und Unebenheiten gibt, keinen wulstigen Grind. Sie geht bar allen Schmerzes und kennt keine moralischen Aspekte. Schaller beschreibt auf der besseren Seite der Gesellschaft keinen Wülste, keine Unregelmäßigkeiten, meidet alle Erhebungen. Jede Erhebung wird viel mehr verschleiert. Das ist durchaus im doppeldeutigen Sinne gemeint. Es fehlt an Ecken, an überlappenden Grat, an dem man sich reißen könnte, alles geschieht in Stille und ohne Stolpersteine. Selbst die Erhebung derer, die sich (noch) nicht abfinden mit der neuen Welt. Bei den Depravierten ist es hingegen rauh und es kratzt fürchterlich. Geschieht der gesellschaftliche Abstieg, wird jemand arbeitslos oder verfehlt die Konventionen, geht es auch da glatt über die Bühne, ganz ohne Reibungsverluste. Han spricht vom Digitalschönen und nennt das Smartphone als Beleg für einen Zeitgeist, der eine Ästhetik gebiert, die das Naturschöne überrumpelt. Schaller hat diese ästhetische Einfachheit in ein Gesellschaftsmodell verarbeitet. Sie präsentiert ein smartphonisiertes Gemeinwesen. Hat eine fröhliche Diktatur der Glattheit entfaltet, in der der gute alte Bösewicht, das exemplarische Unrechtsregime faktisch unkenntlich bleibt, weil es mit nonchalantem Lächeln glatt alle Rauh- und Rohheiten des Daseins vertuscht.

Man sehnt sich nach ihrem Buch förmlich nach Nationalsozialisten oder anderen Faschisten, nach dumpfen Bösmenschen, die einen verfolgen, die Häscher spielen, zuschlagen oder Folterkeller unterhalten. Solche Bösewichte sind mit der menschlichen Natur leichter fassbar, weil wir sie sinnlicher begreifen können. Fast ist man geneigt, die Glatzköpfe von heute als sympathische Figuren anzunehmen, denn sie machen keinen Hehl aus ihrer schwarzen Moral brauner Güteklasse. Die lächelnden Gestalten in Schallers Feel-Good-and-Nanny-State, die die Menschen belächeln, während sie sie dem Untergang anheimstellen, kann man so viel schlechter einordnen. Sie machen den oben erwähnten Horror aus. »Unsere« heutigen Glatzköpfe sind eindeutig, machen niemanden was vor, sie hassen die Menschen - Punkt; die Glattköpfe hingegen kommen ganz anders als Menschenfreunde daher, bleiben gekonnt ungenau und verschwommen und betreiben ein totalitäres Handwerk mit einer völlig anderen Berufsauffassung wie jene von damals, die Deutschland in die Katastrophe wiesen. Und man kann sich ausmalen, hätten sie damals weniger gegrunzt, mehr mit glatter Miene und falsch gesetztem Lächeln, hätten sie öfter ihre Zahnleiste gezeigt, womöglich wären wir dieses Regime nie losgeworden.

Kinder werden zu Spitzeln im Elternhaus, eheliche Alltage werden behördlich durchleuchtet und organisiert, Wachpersonal an jeder Ecke, Armut wird retuschiert. Es ist wahrlich eine zerbrechende Welt, die Susanne Schaller unter unseren Augen ausbreitet. Und doch stellt man sich einen sich vollziehenden Bruch nicht so vor. Man erwartet Splitter, scharfe Scharten, die hervorstechen, ausgefranste Bruchstellen. Aber nichts dergleichen. Es ist wie poliert, fast seidig. Ein glatter Bruch eben. Ein aalglatter Bruch mit der Zivilisation, den man hinter der Lüge verbirgt, die Zivilisation nur verbessert zu haben.

Die Figuren entwickeln im Handlungsverlauf eine eher nur oberflächliche Tiefe, nie sieht man hinab bis auf den Grund ihres Daseins. Von dem, was wir der Einfachheit halber Seele nennen, wollen wir gar nicht erst sprechen; denn es ist eine seelenlose Welt, die auf die Protagonisten einwirkt. Diese mangelnde Tiefe der Figuren darf man nicht als Makel verstehen. Sie gibt den Figuren jene Konturlosigkeit, die in einer solchen Dystopie zwangsläufig ist und dementsprechende menschliche Produkte verursacht. Die Zeit ausgereifter Persönlichkeiten ist dort nicht, unsichere Durchschnittstypen, denen Tiefe abgeht, haben dort Konjunktur. Und wer Konjunktur hat, dem geht es materiell halbwegs passabel. Nicht mal die Kinder der Schusters entwickeln Persönlichkeit; sie sind das Abziehbild der politischen Leitlinie, unaussprechliche Kotzbrocken und Fremdkörper in der eigenen Familie, die Parolen papageien und denen jeglicher altruistische, ja jeder zwischenmenschliche Antrieb vollkommen abgeht. Wünsche und Sehnsüchte deutet Schaller im Innenleben ihrer Figuren nur zaghaft an. Sie sind traurige Realisten, die jeden Kampf aufgegeben haben, die die Tortur des glatten Alltages über sich ergehen lassen und dabei seelisch verwaisen.

Und wo das Böse mit triefenden Geifer den Horror des Buches ausmacht, ein blutleerer Raum von freundlichen Vollstreckern die Tristesse kenntlich macht, da wünscht man sich gleichermaßen, dass das Gute sich aufschwingt, den Glatten die Köpfe einzuschlagen. Es gilt zurecht als Kulturleistung, dass man Diskrepanzen nicht mit Fäusten oder Steinäxten austrägt, sondern mit Diskussion und Rechtsmitteln, dass man einfach gesagt spricht, wo man schlagen könnte. In der zerbrechenden Welt allerdings, da fragt man sich zunehmend, ob zu viel von dieser Kulturleistung nicht einfach nur zu viel ist. Dass Frau Schuster nicht zur Mörderin wird, die Bälger leben lässt, ihre neuen Kollegin nicht erwürgt, dem Familienberater nicht den Schädel zertrümmert, ist eigentlich nur ein Wunder. Oder schlicht der Beweis dafür, wie gut das glatte Regime der Zukunft funktioniert.

Susanne Schaller lebt in Hannover und betreibt das Weblog »quartierschreiberin«. Ihr erstes Buch »Zerbrechende Welt« ist im Renneritz Verlag erschienen.

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Nach Griechenland?

Donnerstag, 28. Januar 2016

All diese Menschen in die deutsche Gesellschaft zu inkludieren wird ein schwieriges Unterfangen. Die Integrationsleistung wird einem gesellschaftlichen Kraftakt gleichen. Doch »there is no alternative«. Wir können diese Leute doch nicht einfach wegschicken.

Viele von ihnen neigen zur Gewalt. Andere sind nur Maulhelden. Aber auch da blubbert verbale Gewalt hervor. Wir können uns nun darüber unterhalten, wie es zu dieser Gewaltbereitschaft kam. Über Perspektivlosigkeit, Langeweile und rohe Sitten. Aber nicht alle, die zum Beispiel mit Arbeit nicht in Berührung kamen, sind deshalb gleich zu solchen geworden. Jeder verarbeitet seine Misere anders. Eine Handvoll radikalisiert sich, liest Erbauungsschriften, kleidet sich anders, will sich von den anderen unterscheiden und tritt dann aggressiv gegen alle auf, die nicht das glauben, was er zu glauben begonnen hat. Andere sympathisieren mit diesen Radikalen, distanzieren sich nicht und lassen sich deren Nähe gefallen.

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Der gestrige Mensch und seine metaphysische Revolte

Mittwoch, 27. Januar 2016

Wie gesagt, er konfrontierte mich mit seiner Meinung: Für ihn sei Multikulti gescheitert. Es funktioniere einfach nicht, daher müsse man sich davon als Ideal verabschieden. Es war eine Lebenslüge. Ich sah ihn an, fragte ihn, welche Alternativen es denn gäbe und folgerte, dass es bei den Deutschen immer so einen Hang gäbe, sich gegen Gemachtes, schon längst Unabwendbares, ja gegen die nicht mehr veränderbaren Entwicklungen auf Erden, mit sonderbarer Blindheit aufzulehnen. Ob Multikulti gescheitert oder gelungen sei, sei doch völlig zweitrangig. Es ist die Realität in einer Welt, die immer mehr zusammenrückt, die globalisiert Geschäfte abwickelt und die per Tastenklick einem globalen Provinzialismus fröne. Es gehe doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr um das Ob oder »Ob-nicht«, nicht um das »Wollen-wir« oder das »Nein-lieber-nicht« – nur noch das Wie ist von Bedeutung. Moderne Gesellschaften seien nun mal multikulturell und multiethnisch.

Mit Camus könnte man sagen, dass da der konservative Deutsche in die Revolte eintrete. Und zwar in die metaphysische Revolte, in einen Aufstand gegen das Gemachte und Finale. Wir müssen uns vielleicht Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Den Meier oder Müller hingegen als traurige und unglückliche Gestalt, die Felsen händisch wälzt, wo der Lastenaufzug schon längst erfunden wurde. Er findet sich mit den Entwicklungen, die die moderne Welt generiert, nicht ab, erklärt für gescheitert, was gar nicht mehr zur Bewertung taugt, weil es hinzunehmen ist. Richard David Precht sagte kürzlich, dass die Globalisierung eben nicht abgeschottet zu haben sei und uns die Flüchtlinge »Willkommen im Leben« entgegenrufen. Dem kann man nur zustimmen. Multikulturalität ist kein Gesprächsgegenstand, über den man noch in dem Sinne befinden könnte, ob wir das wollten oder eben nicht. Sie ist das Los dieser Erde, die Durchmischung von Völkern und Nationen ist die logische Folge einer Welt, die sich vernetzt und sich so zu einem größeren Dorf entwickelt hat.

Der Kultursoziologe Arjun Appadurai distanzierte sich schon in den Achtzigerjahren von der klassischen marxistischen Bewertung, dass Waren alleine die Determinanten sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse seien (»The Social Life of Things«). Auch Dinge seien selbst Akteure. Auf die globalisierte Welt gemünzt, ergibt diese These, dass es eben nicht nur die Infrastruktur ist, die »um die Welt geht«, sondern auch die Suprastruktur, der Bereich der Ideen und Formen. Das ist ein Grund für die Zukunftsträchtigkeit multikultureller Gesellschaften. Wer glaubt, dass Globalisierung nur bedeutet, einfach Rohstoffe und Waren von A nach B und von B nach A zu schicken, der nimmt das Phänomen nur begrenzt wahr. Für Appadurai ist Globalisierung ein zirkulierender Strom sozialer Formen. Daher lassen sich Handel und dessen soziale Folgen nicht sauber voneinander scheiden.

Der metaphysische Widerstand gegen Multikulti erinnert mich an jene Stimmen, die ich bei vielen Menschen zuweilen höre, die den Jahrgängen jenseits der Fünfzig angehören. Sie beklagen sich zuweilen, dass der Einzelhandel stirbt, die Innenstädte verwaisen, weil die Menschen gezielt den Internethandel nutzen. Nun kann man die Menschen dafür sensibilisieren und ihnen sagen »Kauft nicht beim Online-Händler!«, aber das widerspricht der allgemeinen Entwicklung. Mit frommen Belehrungen ändert man die Zeichen der Zeit nicht. Es ist ein antimodernistisches Hadern, ein metaphysisches Widerstreben gegen eine Veränderung der Lebensrealität, gegen das gute alte Gestern, an das man gewohnt war. Natürlich werden Innenstädte sich modifizieren. Tun sie ja heute schon. Den Konsum aber online vereinfacht und bequemer gestaltet zu haben, wird man mit moralischer Einstufung des Phänomens nicht einfach aus der Welt schaffen. Man kann faktisch über diese Entwicklung gar nicht mehr verhandeln, weil sie da ist und angenommen wurde und noch verfeinert wird und sich fort und fort entwickelt. Wer zurück will, der sehnt sich nach einer Welt, die es nicht mehr gibt, die es nur wieder geben kann, wenn das Netz irreparabel zusammenbricht.

All die Stimmen, die Multikulti für gescheitert erklären oder die Straßen füllen mit ihren Parolen gegen Ausländer, tönen im antimodernistischen Blues. Sie glauben aus unerfindlichen Gründen, dass sie mit ihrer isolationistischen Haltung die Dynamiken dieser modernen Welt aufhalten können. Wenn man Mauern und Zäune errichtet, so denken sie, dann kann die Welt und das Land so bleiben, wie es immer war. Man konserviert sich die Erinnerung an eine Wirklichkeit, wie sie vor Jahrzehnten mal war, aber nicht mehr sein kann in unseren Tagen. Es sind insofern wirklich ewiggestrige Stimmen, die sich gegen die multikulterelle Gesellschaft stellen. Wer metaphysisch revoltiert, fällt aus seiner Zeit, zieht eine Schnute und tut so, als würde das etwas nützen, als würde »der Weltgeist« diese infantile Haltung zur Kenntnis nehmen und einlenken, gleich darauf schuldig bekennen, dass alles so bleiben kann, wie es sich »sein unzufriedenes Publikum« wünscht. Plus die Vorzüge natürlich, die die vernetzte Welt für uns gezeitigt hat. Denn man will ja nur nicht multikulti sein, multikonsumistisch hingegen schon.

Es braucht einen gesunden Fatalismus in gewissen Entwicklungen unserer Epoche der Menschheitsgeschichte. Der »ethnisch reine Gesellschaftsentwurf«, einer weitestgehend homogenen Bevölkerung, ist schon seit Jahren dahin. Völkerwanderungen gab es ja ohnehin schon immer. Die globalisierte Welt schafft diese menschliche Konstante nicht etwa ab, sondern forciert sie. Sie erzeugt Einwanderungsländer und -gesellschaften. Die Mobilität zwischen Ethnien und Kulturen ist unabänderbar in einer solchen Weltordnung. Wer das nicht will, muss nationale Volkswirtschaften und Mangelökonomie in Kauf nehmen und darf nicht mit stolzer Brust von deutschen Waren in der Welt, von Exportweltmeisterschaft und Marktführerschaft schwelgen. Der sollte glücklich sein, ein provinzielles Landei zu sein, ohne Ansprüche auf exotische Früchte, Erdöl und Urlaub auf Bali.

Dass eine multikulterelle Gesellschaft immer einfach zu regieren ist, dass es sich ohne Probleme darin leben lässt, heißt das alles deshalb noch lange nicht. Man muss es regeln, muss Toleranz und Gelassenheit lernen und selbst jegliche leitkulturelle Attitüde ablegen. Aber ob wir das wollen oder nicht, es ist nun mal so. Hört auf zu jammern!

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 26. Januar 2016

»Jede Propaganda ist so gefährlich wie die Dummheit auf die sie trifft.«

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Praktikanten, denen es so schlecht geht, weil es ihnen gut geht

Montag, 25. Januar 2016

Tja, die Sache mit dem Mindestlohn und den Flüchtlingen kam nicht so recht voran. Die konservativen Verlautbarungsorgane haben es immer wieder versucht, jenen Lohnstandard mit der Flüchtingsdebatte zu verquicken, um ihn letztlich auszusetzen. Aber leider leider Pustekuchen. Bislang zumindest. So richtig eingehen will keiner darauf, obgleich diese Taktik doch die besten Ansätze in sich trüge. Mit geringqualifizierten Ausländern, die schlechtergestellt werden sollen, holt man doch jeden alten Patrioten mit ins Boot, in dem kein Platz mehr für die anderen ist. Wer nationalistisch speichelt, der lässt sich selbst viel leichter ausbeuten und um etwaige Standards betrügen. Weil dieses Konzept aber aus unerfindlichen Gründen strauchelt, hat die »Frankfurter Allgemeine« neulich eine andere Variante getestet. Sie hat Praktikanten als schlimm betroffene »Verlierergruppe« aufs Tapet gebracht und machte mit diesen Opfern Stimmung gegen den Mindestlohn. Aber dieser angeblich arg gebeutelte Gruppe, so konnte man dann doch zwischen den Zeilen lesen, geht es wahrscheinlich ziemlich gut.

Man versuchte es also mit Dramatik. Praktikas würden nur noch verkürzt angeboten, weil dreimonatige Praktikas nicht unter den Einfluss des Mindestlohnes fallen, schrieb man. Daher bieten manche Unternehmen nur noch kurze Gastspiele an. Das errege die Praktikanten sehr, weiß man bei der »Frankfurter Altvorderen Zeitung« und man nimmt sich dieser traurigen jungen Menschen an, denen es »wichtiger ist, Erfahrungen zu sammeln, als den Mindestlohn zu bekommen«. Das ist Anführungszeichen ist tatsächlich ein Zitat aus dem Artikel. Denn der Mindestlohn, so zieht die Zeitung als Fazit, habe vielen das »Wunschpraktikum vermasselt«. Wer so argumentiert und klagt, der muss es ja haben. Anders kann man es sich überhaupt nicht erklären, dass den Mitzwanzigern Erfahrung teurer ist als Bezahlung. Noch immer erhält man als Praktikant keine üppige Bezahlung. Man kann sich auch in Zeiten des Mindestlohnes nur schwerlich über Wasser halten. Aber wem monatelanges Sammeln von Erfahrungen wichtiger ist, als die finanzielle Absicherung Monat für Monat, der ist entweder Hungerkünstler, liebt das mietfreie Leben auf der Straße oder ist einfach nur gut vom Elternhaus ausgestattet.

Praktikum sollte ja an sich immer nur etwas Vorübergehendes sein. Der Missbrauch von Praktikanten als gleichwertige Arbeitskraft hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte verstärkt. Als die Unternehmen klagten, dass der Mindestlohn sie in Zugzwang bringe, da hatten sie indirekt zugegeben, dass sie ihr Geschäftsmodell auf Praktikantenstellen bauten. Das war eine Zweckentfremdung des Praktikumsgedankens. Man hat es als Normalität angesehen, dass Praktikanten viel, ausdauernd und billig arbeiten. Wenn sich solche Stellen jetzt aufgrund des Mindestlohnes zeitlich verkürzen, dann ist das nicht ein Missstand und auch nicht ein Nebeneffekt, den man so nicht gewollt hatte, sondern die Normalisierung einer Einrichtung, die missbräuchlich ausgenutzt wurde, um die Personalkosten zu drücken. Für manchen Praktikanten kann das natürlich ärgerlich sein. Aber man kann es eben nicht jedem recht machen.

Dass die »Frankfurter Allgemeine« mit den Praktikanten auf Anti-Mindestlohn-Kurs geht, zeigt eigentlich noch etwas ganz anderes, was in diesem Lande faul ist. Wer aus dem Studium kommt, sich zunächst eine Praktikumsstelle sucht und dabei kundtut, dass ihm die Bezahlung weniger interessiert, muss finanziell ausgestattet sein. Das heißt also ferner, dass Studenten in den meisten Fällen aus Familien kommen, die es sich leisten können, ein Studium zu finanzieren. Arme Studenten müssen entweder gleich loslegen und etwas verdienen, schon alleine, um ihren Studienkredit abbezahlen zu können, oder sie müssten großes Interesse daran haben, dass auch Praktika besser bezahlt würden. Wer aber Praktikant wird ohne finanzielle Ansprüche, den quälen eher keine Geld- oder gar Existenzsorgen. Diese »ehrenamtlichen Praktikanten« sind nur ein Beleg dafür, dass in Deutschland vor allem Reichtum studiert und es an Schichtendurchlässigkeit mangelt. Wir haben es also mit einer Gruppe zu tun, die den Mindestlohn gar nicht benötigt, weil man sich familiär bedingt niemals in Achtfuffzig-Sphären bewegen müsste. Es geht ihnen mit dem Mindestlohn doch nur so schlecht, weil es ihnen schon vor dem Mindestlohn ganz gut ging.

Dann also doch lieber mit geringqualifizierten und ungebildeten Arabern gegen eine Lohnuntergrenze agitieren? Mit dem syrischen Hilfsarbeiter? Denn mit Parolen gegen die Fremden punktet man. Da gibt es einige ansonsten gewerkschaftlich orientierte Menschen, die plötzlich ihren Gerechtigkeitsinstinkt verlieren, weil sie etwas gegen dunkelhäutige Menschen haben. Und wenn die dann auch noch nichts können und »genauso gut« bezahlt werden sollen wie Deutsche, dann wird der Mindestlohn flugs zum Auslaufmodell. Geringqualifizierten einen Lohnstandard zu bemessen, war ja immer in der Kritik. Schon vor der Einführung. Man wollte ungebildeten Kräften nichts garantieren, wer ungelernt Flure putzt, der muss ja schließlich von seiner Hände Arbeit nicht leben können. Die Ablehnung gegen die, die sie »Unterschicht« nennen, ist immer noch nützlich, um Stimmung zu erzeugen.

Dass aber Flüchtlinge gar nicht so schlecht qualifiziert sind, wie man das gemeinhin behauptet, ist jetzt für die Gegner des Mindestlohnes eine blöde Sache. Sie verschweigen deswegen auch einfach die Analyse des staatlichen Arbeitsmarktservices aus Österreich, der über einen Zeitlauf von mehreren Wochen die berufliche Fähigkeiten der Geflüchteten aus dem arabischen Raum geprüft hat. Dabei kam heraus, dass man es durchaus mit Fachkräften zu tun hat. Ja, mit richtig gebildeten Leuten! Das kann man aber nicht eingestehen, wenn man den Mindestlohn ablehnt. Denn arabischen Hilfsarbeitern nur Vierfuffzig bezahlen zu wollen ist der breiten Masse leichter vermittelbar. Für solche Helferlein ist das ja viel Geld. Aber wenn der Araber gar kein HiWi ist, sondern einer mit Studium, dann wird es komplizierter. Denn dann fragt sich der Schweißer, der für einen Leiharbeitgeber schuftet, früher oder später mal, wielange es wohl noch dauern mag, bis auch er wieder abgestuft wird und so mies verdient, wie sein syrischer Schweißerkollege.

Da sind in Zeiten, da das Narrativ ungebildeter Kameltreiber wegbricht, die Praktikanten halt die bessere Gruppe, um gegen den Mindestlohn zu werben. Man muss flexibel sein im Kampf gegen Partizipation und Fairness, man darf keine Gelegenheit auslassen und den Lesern Mitleid abnötigen. Die armen Praktikanten, die so reich sind, dass sie einen Armutsmindestlohn gar nicht wollen. Wer auch weiterhin eine Ökonomie der Ausbeutung als Grundlage globaler Wettbewerbsfähigkeit betreiben will, der darf nicht zimperlich sein bei der Wahl seiner Mittel. Der Mindestlohn ist jedenfalls noch lange nicht unantastbar.

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Wacht auf, ihr Blogger in der Herde

Freitag, 22. Januar 2016

Das Monat ist fast um. Die Ereignisse der Silvesternacht liegen schon eine Weile hinter uns. In einer eiligen Zeit wie unserer fühlt es sich an, als läge Silvester bereits ein Dreivierteljahr zurück. Bislang habe ich mich mit keinem Ton dazu geäußert. Jemand fragte mich vor einigen Tagen schon, ob ich jetzt schweigen würde, weil die Realität so bitter sei. Schließlich sei nun bewiesen, dass Muslime und Deutschland nicht zusammengehen könnten. Daran habe ich nicht gedacht, als ich beschloss, meinem Mund mitsamt Fingern Einhalt zu gebieten. Ich blieb still, weil ich es endgültig satt habe, als Blogger Teil der allgemeinen Hysterie zu sein, die je und je über das Land schwappt. Ich habe genug davon Schweinen durchs Dorf hinterherzueilen, die ich nicht habe entfliehen lassen.

Klar, es gibt ja verschiedene Stimmen zu Köln. Einige waren sogar mehr als vernünftig, haben die Ereignisse von Köln dialektisch eingeordnet und dem Schwarm der Hassprediger ein Stückchen Aufklärung entgegengehalten. Das ist nicht nur lobenswert, sondern weitaus mehr. Es ist Heimat in einer Zeit, da uns der massive Rechtsruck die liberale und rechtsstaatliche Heimat entreißen will. Aber beide Seiten, die Hatespeaker wie deren Gegenspieler von der humanitären Seite, laufen einer Sau hinterher, die man durch die Dörfer des deutschen Provinzialismus jagt. Sie stimmen beide auf ihre jeweilige differente Weise in die gesetzte Agenda ein, posten, kommentieren, propagieren und thematisieren, bis es zu einer regelrechten Hysterie kommt, die einen Vorfall zu etwas stilisiert, was angeblich »eine neue Dimension« oder »eine völlig neue Art« ist. Man stellt Singularität her, die von allen Betrachtern, gleich welcher Weltanschauung, mehr oder minder bestätigt wird. Und in diesem Klima werden dann natürlich exakt auf dieses singuläre Ereignis zugeschnittene Lösungsansätze, Gesetze, Umgangsregeln oder was auch immer gefordert. Das wiederum führt dazu, dass man dieses Thema weiter ins Zentrum stellt, weiter minutiös davon berichtet, Tickermeldungen hier, neueste Entwicklungen dort, alles Denken der Betrachter dreht sich nur noch darum, andere Geschehnisse werden ausgeblendet, fallen hinten runter. Der Hype erlaubt keine Synchronizität von Sujets.

Seit etwa einem Jahr schaue ich nicht mehr TV. Wir bezahlen hier die Rundfunkgebühr und schauen uns dann »Die Anstalt« in der Mediathek an. Die Anschläge von Paris habe ich verpasst, erst am Folgetag mittags habe ich davon erfahren. Mir ist aber nichts entgangen. Während ich mich anderweitig beschäftigte, saßen Millionen am Fernsehapparat und verfolgten Eilmeldungen, Tickerbänder liefen am unteren Bildschirmrand. Spekulationen wurden genährt, Eventualitäten als Meldung verkauft, erste Statements von Leuten, die ihre Erkenntnisse aus Tickerbänder hatten, in denen spekuliert und eventualisiert wurden, wurden gesammelt und eingespielt. Das Gegenteil von Information ist minutiöse Berichterstattung. Sie reiht den wirklichen Informationsgehalt neben informativen Entbehrlichkeiten und lässt sie damit schrumpfen. In diesem Klima reift die Hysterie, denn man sucht ja nach Erkenntnis, nach Erklärung und wirklicher Information und jeder will diese Gemengenlage aus Info und Sonstiges enträtseln, liefert dann eigene Ansichten, die auf Fakten beruhen, die faktisch nicht Fakt sind, sondern Möglichkeit. Und weil dem so ist, werden all die Kommentare von Hasspredigern wie von Vernünftigen ebenso nur zur Spekulation.

Selbst die seriösen Berichterstatter können ja nur noch auf Material zurückgreifen, das nicht geprüft ist, das belastet ist von dem Stimmengewirr und dem Getappe im Dunkeln. Ja, selbst die Polizei kommuniziert Hysterie, wenn sie Berichte anfertigt, die halbfertig sind und die Vorwürfe und Spekulationen aufgreifen und bestätigen, dass man noch nicht genau im Bilde sei, wohl aber wisse, dass es so oder so gewesen sein könnte. Hysterie ist zwar kein Konjunktiv, aber letzterer ist die Sprache des Hysterikers. Bei ihm könnte, würde, hätte, unter Umständen, vielleicht, nach derzeitigem Stand der Ermittlungen und nach vorsichtiger Schätzung, eine halbgare Info immer ein egalitäres Existenzrecht neben sachlich recherchiertem Fakt.

In so ein Klima will ich nicht mehr textlich vorstoßen. Ich werde es künftig natürlich nicht vermeiden können, auch mal in die Hysterie hineinzukommentieren. Aber ich bereichere keine Debatte, die auf allen Seiten im hysterischen Zustand geführt wird und die auf Aussagen beruht, die noch nicht mal verifiziert und fertigermittelt sind. Ferner möchte ich nicht polizeiliche Ermittlungen beeinflussen, indem ich mich zu etwas äußere, das noch gar nicht spruchreif ist. Theoretisch natürlich, denn so wichtig bin ich ja nicht, als dass die Polizei irgendwie bei mir nachlesen würde.

Ich will aber so oder so der Hysterie als Bürger und Blogger entgehen und als letzterer will ich noch etwas anderes anmerken, denn wir Blogger lassen und mehr und mehr von der Agenda der so genannten Qualitätsmedien einspannen. Wir nehmen ständig deren Themen an, ereifern uns über die Komplexe, die sie forcieren und wenn sie ablassen von ihrer Beute, dann lassen wir auch ab, weil wir ganz genau wissen, dass im hysterischen Klima des Moments solche Texte gerne gelesen werden, die sich mit eben dem Gegenstand dieses Klimas befassen. Zeitungen machen das ja auch, deshalb legen sie nach und schreiben noch einen und noch einen Text dazu, egal wie gegenstandslos der Inhalt auch sein mag. Als Blogger müssten wir das nicht tun. Wir unterhalten keine Werbekunden und haben keine Angestellten, wir müssen nicht auf Teufel komm raus wirtschaften, auch wenn wir natürlich manchen müden Euro gerne mitnehmen.

Wacht auf, ihr Blogger in der Herde! Lasst uns selbst Themen setzen und künftig über solche Themen, die die Masse hysterisieren, mit zeitlichen Verzug schreiben. Warum? Damit wir sachlich bei den Fakten bleiben können, die erst nach und nach ans Tageslicht kommen und die in den ersten Stunden und Tagen solcher Ereignisse noch gar nicht verifizierbar sind. Die klassischen Medien sollten das an sich auch tun, aber sie kann man nicht belehren, denn sie spielen ein anderes Spiel, wollen mit Schlagzeilen verdienen. Wie gesagt, Blogger wollen auch leben, aber sie können sich den Luxus zeitlicher Verzögerung eher leisten. Deswegen mache ich jetzt Wochenende.

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Ein unvergleichlich toller Typ

Donnerstag, 21. Januar 2016

Fremde sind faul, arglistig und ungebildet. Sie haben keinerlei Respekt, stehlen und provozieren. Sie spielen mit »unseren Frauen« und nehmen sie sich ohne sie zu fragen. Wenn deutsche Werte überhaupt was bedeuten, dann sich durch Schlechtmachen anderer aufzupolieren.

Letzte Woche endete diese Kolumne damit, dass sie meinen seligen alten Herrn einst zum Vater eines Analphaten gemacht hatten. Das ist ein gutes altes Vorurteil, dass hier lebende Ausländer in ihren Herkunftsländern keine anständige Schulbildung genossen hätten. Mein Vater galt natürlich auch als fauler Geselle, arbeitete jedoch bis er mit fast 63 Jahren starb in Tag-, Spät- und Nachtschichtrhythmus. Wieviele ihm nachsagten, dass er stahl, weiß ich natürlich nicht. Dass er aber anständige deutsche Mädchen zu Sex zwingen würde, das dürften auch viele geglaubt haben. Südländer halt, bei denen geht es eh immer nur um das eine. In den Jahren vor seinem Tod war er rehabilitiert. Jetzt überzog man andere Nationalitäten und Ethnien mit Vorurteilen. Der Spanier hatte als Feindbild abgewirtschaftet. Er war langweilig geworden, weil er wie ein Deutscher mit dunklerem Teint und mit späteren Abendbrotzeiten war. Jetzt gab es Türken, Albaner und Russen. Und die waren allesamt faul, arglistig und nicht gut gebildet. Außerdem wollten sie nur deutschen Frauen ins Bett kriegen und ...

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Traumanovelle

Mittwoch, 20. Januar 2016

Eine der wiederkehrenden Fragen der Menschheit ist jene, was man mit denen anstellt, die die Brutalität und die Gräuel des Krieges über einen längeren Zeitraum über sich haben ergehen lassen müssen. Modern gefragt: Wie reintegriert man Traumatisierte wieder ins Gemeinwesen? Sterbende Menschen, Feuer, erloschene Schicksale und Verwüstungen – all das macht ja was mit einem. Traumata sind mannigfaltig. Manche ziehen sich zurück, werden schweigsam. Andere bemessen dem menschlichen Leben und der Würde keinen Wert mehr. Sie werden Zyniker am Nächsten, erblicken bloß noch Organismen, die eben verenden, wo andere Mitmenschen sehen würden. Das Problem ist so alt wie die Zivilisation. Gelöst hat man es jedoch selten. Die psychologische Aufarbeitung von Traumata ist aber auch noch ein relativ junges Fach. Heute haben wir es in der Hand.

Cäsar musste seine Veteranen mit Land entschädigen, um sie bei Laune zu halten. Frankenkönig Karl zog, wie viele Regenten und Krieger, von Feldzug zu Feldzug, auch um keine marodierende Gruppe kriegssozialisierter Männer im Reich erdulden zu müssen. Der Dreißigjährige Krieg traumatisierte (mehr als jeder Krieg zuvor) auch die Zivilbevölkerung. Zumindest auf deutschen Boden. Nach Jahrzehnten des Blutes und des Hungers, des Brandschatzens und des Kannibalismus, des Vergewaltigens und der Seuchen, war das Leben nicht mehr dasselbe. Es gibt natürlich keine Erhebungen, doch unzählige Berichte, wonach das Trauma noch viele Dekaden anhielt. Mancher Historiker erging sich gar in der Behauptung, dass diese Ära den deutschen Nationalcharakter geprägt habe wie keine andere. Allerdings führt jene These an dieser Stelle etwas zu weit.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland voller junger Männer, deren Schule der Schützengraben war und deren Lehrmittel der krepierende Kamerad an der Seite. Diese Männer wirkten mit an der Zersetzung der Weimarer Republik, prügelten sich durch die Straßen deutscher Städte, wurden Corpsmitglied oder landeten gleich bei der SA. Diese Gruppierung, die durch den Krieg traumatisiert menschlicher Regungen verlustig wurde, war die Basis von Hitlers Erfolg. Anderes Beispiel: Vietnam-Veteranen griffen zur Flasche, neigten zu familiärer Gewalt oder wurden gelegentlich zu Amokläufern. Die Litanei könnte ausladend ergänzt werden. Jede Episode zeigt, dass der Krieg traumatisiert und Menschen zurücklässt, die verlernt haben in menschlichen Kategorien zu empfinden und je nach Traumatisierungsgrad mehr oder weniger »gewaltbereit« (auch und vor allem im Sinne von »ohne Respekt vor menschlicher Würde«) sind.

Über die Verfassung von Menschen, die den Schrecken des Zweiten Weltenbrandes erlebt haben, gibt es keine Evalution. Nur Erzählungen. Der Historiker Sönke Neitzel sagte unlängst in einem Interview, dass das Leben danach weiterging und keine »traumatisierten Zombies« durch das Land liefen. Aber das darf bezweifelt werden. Alleine der Umstand, dass er Traumata für die psychischen Auswüchse von Untoten hält, zeugt von seinem Anspruch. Es gab in jenen Jahren sicherlich verstärkt häusliche Gewalt, versteckte Übergriffe und Aggressionen. In den Schulen hielt man es ähnlich. Der Ausbruch der 68er-Generation hatte unter anderem auch mit solchen Erlebnissen in der Familie zu tun; daher erspähten die jungen Leute zum Beispiel eben auch in der Familie die Keimzelle gesellschaftlicher Gewalt. Die Kommunen sind die Folge traumatisierter Haushalte. Zudem wird von regem Alkoholismus berichtet. Zum Psychologen wäre man ohnehin nicht gegangen. Es gab ja auch wenige ärztliche Niederlassungen dieser Art. Außerdem wollte man nicht als Spinner gelten. Man verdrängte und der ökonomische Aufschwung half dabei mit, die erlittenen Qualen zu kanalisieren, sie durch ein Konsumsurrogat zu ersetzen. Der Rest ist Erzählung, ist Leiche im Keller mancher Familie. Es wurde nicht darüber gesprochen. Das war Zeitgeist, auch über dem Teich. In »Die besten Jahre unseres Lebens« von William Wyler kommen US-Soldaten zurück nach Hause und erzählen nichts, trinken nur oder sind seelisch mitgenommen. Und deren Frauen machen auch einfach weiter und werden nicht damit fertig, dass ihre Männer sich völlig verändert haben.

Vor einigen Jahren allerdings verbreiteten einige Medien neue Erkenntnisse aus Erhebungen. Viele ältere Menschen der Kriegsgeneration würden an den Folgen jener Ära noch immer leiden, hieß es da. Vielleicht brach da nur endgültig hervor, was man über Jahrzehnte verborgen hielt. Aber das ist nur Spekulation, Zahlen gibt es wie gesagt nicht. Es gehört aber zum Erfahrungsschatz der Menschheit, dass es nach erlebten Gräueln für die Menschen nicht einfach weitergeht.

Nun sind wir bei den Menschen, die zu uns kommen und von denen man sagt, dass sie sich seltsam benehmen würden. Seltsam, weil sie respektlos seien. Gegenüber Frauen und Männern. Gegenüber menschlicher Würde an sich. Menschenrechte fielen ihnen schwer. Die Vorwürfe sind Legion, sind emotionalisiert und vieles davon mag in seinem Detailreichtum nicht zutreffen. Aber ansatzweise mag da Wahres beinhaltet sein. Dass es schwierig ist, etwaige Menschenrechte verinnerlicht zu haben, wenn man fortwährend in einem Szenario lebte, in dem es Menschenrechte nicht gab, in dem jegliche Rücksichtnahme auf Menschlichkeiten verworfen wurden, müsste mit weitaus mehr Empathie für die Geflüchteten wahrgenommen werden. Die Historie lehrt uns – wie gesagt -, dass von brutaler Gewalt Traumatisierte nicht ohne Weiteres integrierbar sind.

Die psychologische Betreuung in den Flüchtlingsunterkünften ist marginal, herrscht teilweise gar nicht vor. Die Gelder, ohnehin knapp bemessen, können weitestgehend nur die materielle Not eindämmen. Fachliche Unterstützung bei der Verarbeitung von Kriegserfahrungen wäre - wenn wir schon diese leidige Debatte über Flüchtlinge führen müssen, denen wir jedwede Empathie absprechen – eine erste Maßnahme, um traumatisierte junge Leute integrierbar und ihnen den Respekt vor dem menschlichen Leben und das Grundrecht auf körperliche und psychische Unversehrtheit kenntlich zu machen. Man sucht zwar unter Studenten Hilfskräfte, die auch die psychische Verfassung abfedern sollen. Aber den jungen Leuten fehlt es an Erfahrung und Praxis, um sich dieser kolossalen Aufgabe stellen zu können. Denn manchen der Geflüchteten müssen soziale und universelle Konventionen nicht etwa neu beigebracht werden, sondern sie müssen sie überhaupt erst erlernen. Wer seit dem Teenageralter Kriegserfahrungen machte, der kennt keine andere geistige Schule als Hunger, Angst und Gewaltexzesse, dem lehrt das Leben schnell, dass Egoismus, Wegschauen und Gegengewalt funktionierende Überlebensstrategien sind.

Was die Geflüchteten hier im Exil erwartet ist das Gegenteil von Respekt. Sie werden kriminalisiert und werden von einem großen Teil der Öffentlichkeit als Schädlinge bezeichnet und behandelt. Rechte Schlägertrupps und anonyme Brandstifter machen ihnen das Leben schwer und lassen sie nur schwerlich zur Einsicht geraten, dass es hierzulande ein anderes Konzept von menschlicher Würde gibt, als jenes, dass sie kennengelernt haben. Sie sehen in gewaltbereite Gesichter, sollen aber gleichzeitig einsehen, dass manche ihrer »gewaltbereiten« (vor allem im oben genannten Sinne) Anwandlungen völlig falsch sind in dieser Gesellschaft.

Jeder von uns ist Produkt seines Umfeldes, ist geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen, von Eindrücken und den Ängsten, denen man uns aussetzt. Nicht jeder entwickelt dieselben Überlebensstrategien und mentalen Selbsttäuschungen, um durch eine schwere Zeit zu kommen. Manche ziehen sich zurück, andere werden aggressiver. Was bedeutet, dass nicht jeder Geflüchtete potenziell gewalttätig ist. Doch auch die stillen Traumatisierten benötigen die Schaffung von Vertrauen in ein Menschenbild, das nicht von Gewalt dominiert ist, um zu genesen und um als Bürger mit sensibilisierter Wahrnehmung ankommen zu können.

Stellen wir uns nur mal vor, dass der Streit um das Menschenbild, in den wir schlittern, den neue Rechte gegen Demokraten und Linke führen, irgendwann in ein Patt gerät, die Gemüter weiter erhitzt. Stellen wir uns vor, wir verlieren die Fassung und geraten in eine Auseinandersetzung, die irgendwann in Straßenkämpfe und dann in einen Bürgerkrieg führen. Aus dem besorgten Bürger würde ein bewaffneter Bürger. Aux armes, citoyens / Formez vos bataillons. Frankreich jedenfalls würde schnell fallen, auch die dortige Gesellschaft wankt zwischen Weltbildern. Und dann erleben wir das in Zentraleuropa drei Jahre lang. Unsere Kinder kennten nur Krach, blieben den Schulen fern, sähen oft Blut, viel Feuer und manchen Toten auf der Straße. Sexuelle Gewalt wäre keine Seltenheit, wie in jedem Krieg. Wo wir uns noch Jahre zuvor empört hätten, stumpften wir ab. Wir stumpften ab, um mental überleben zu können. Und dann wird der Druck unerträglich und wir flüchten, kratzten unser letztes Geld zusammen, um die Schlepper bezahlen zu können, die uns über die Ostsee nach Norwegen brächten.

Man kesselte uns in Unterkünften ein und begrüßte uns mit Breivik-Plakaten, die die Sehnsucht nach Reinigung von fremden Elementen preisgäben. Ständig fürchteten wir, dass man uns zurückschicken könnte. Und wir spürten, wie unsere Kinder den Krieg in ihrem Benehmen hätten. Wir allerdings auch, nur nicht so ausgeprägt. Jugendliche Flüchtlinge aus Deutschland machten abends, was sie gelernt haben im Krieg: Sich nehmen, was man bekommen kann, was man will. Und die Norweger kriminalisierten uns und wollten schnelle Abschiebung, die Ausschaffung in eine Gegend, in der wir jede Minute dem Tod ausgesetzt sind. Und in einem solchem Klima aus Kriegserfahrung und Abschiebeangst, aus Kriminalisierung und Pathologisierung, aus Isolation und fehlender psychologischer Betreuung, sollen wir die Wesensmerkmale, die der Bürgerkrieg uns auferlegt hat, einfach wieder und ohne psychologische Betreuung ablegen?

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Aus fremder Feder

Dienstag, 19. Januar 2016

Wie drücken wir unser Mitgefühl für Ashraf Fayadhs Vater aus, der einen Schlaganfall erlitt, als das Todesurteil gegen seinen Sohn erging, und der wenig später starb?
Barmherzigkeit existiert nicht im Vokabular des saudischen Regimes. Wie Fundamentalisten jeglicher Couleur orientieren sich die Machthaber an einer simplen Prämisse, die das Blut gefrieren lässt und die der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka folgendermassen resümiert hat: »Ich bin im Recht - du bist tot.« Die Sprache der internationalen Realpolitik findet bei solcher Gelegenheit ebenfalls keine Worte. Noch wenn sich die westlichen Regierungen äussern wollten, was käme dabei heraus? »Es tut uns leid, dass Sie derart in Schwierigkeiten sind, aber wir sind auch in der Klemme - zwischen unseren Wertvorstellungen und der Schwierigkeit, diese aufrechtzuerhalten. Unser tiefstes Mitgefühl, aber wir sind nun mal auf Öl angewiesen. Wie bedauern aufrichtig, aber wir müssen auch die Interessen unserer Rüstungsindustrie im Auge behalten.«
Die Sprache der Politik kann nur dann glaubwürdig sein, wenn sie sich an die Grammatik der Menschenrechte hält. In diesem Idiom können wir von verletzter Würde und von vorenthaltenen Grundfreiheiten reden. Natürlich reicht es nicht aus, eine Sache zu benennen, um sie ins Lot zu bringen; aber für die Opfer bedeutet es zumindest einen kleinen Trost, wenn ihr Leiden anerkannt wird.
- Priya Basil in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 14. Januar 2016 -

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Die letzten Tage der Menschheit?

Montag, 18. Januar 2016

Es geht nicht um die Wahl zwischen AfD oder anderen Parteien, nicht um Einwanderungsende oder humanitäre Hilfe. Das sind nur die direkten Optionen. Aber in denen liegt so viel mehr. Es geht um unser Weltbild. Ja, viel mehr noch um unser Menschen- und Gesellschaftsbild. Wie wir leben und wie wir Gemeinwesen und das Kontinentalbündnis organisieren wollen. Darum, mit welchem Konzept von Gemeinschaft wir in die Zukunft zu gehen gedenken. Wir haben nicht weniger als die Wahl zwischen Hass und Freundlichkeit, zwischen einer Weltanschauung, die lieber zuschlägt, schießt, sich abschottet und sozial aushungert oder gelebten Kosmopolitismus und Partizipation. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es einen ähnliches Kräftemessen. Zwischen Faschismus und Demokratie. Die Begriffe haben sich heute sicherlich verschoben, aber die jeweiligen Menschenbilder, die beide Seiten in sich trugen: Zwischen diesen beiden müssen wir dieser Tage neuerlich entscheiden.

Misanthropie oder Philantrophie also? Grimm oder Offenheit? Geschlossene oder offene Gesellschaft? Totalitaristische Abschottung oder lieber ein humanistischer Ansatz? Der Mensch als Verfügungsmasse oder als Zweck an sich? Das ist nämlich, was wirklich dahinersteckt, wenn wir über die AfD und ihre virtuellen Wahlerfolge sprechen oder dem entgegenhalten, wenn wir die Flüchtlingskrise zu einem Meilenstein der Politikverdrossenheit erklären oder sie als Chance deklarieren. Wir diskutieren nur kurzfristig und oberflächlich betrachtet über den Umgang mit Flüchtlingen, der profundere Gehalt solcher Diskussionen ist der, dass wir damit die Ausrichtung unserer Zukunft thematisieren.

Die Flüchtlingskrise wird von vielen Seiten als Chance angesehen. Damit ist nicht die Industrie gemeint, die Flüchtlinge als Gelegenheit sieht, den Mindestlohn zu unterwandern. Sie benutzen diese Menschen als Mittel zum Zweck. Hartmut Rosa (Professor für Soziologie in Jena) fragt sich zum Beispiel im »Philosphie Magazin« (Nr. 1 / 2016), ob die Flüchtlinge die letzte große Chance seien, der skleriotischen Gesellschaft doch noch zu entgehen. Denn besonders in Deutschland, so behauptet er, habe es »rasenden Stillstand« (Paul Virilio) gegeben, alles habe sich verändert, verschnellert, wurde unter Anpassungs- und Optimierungsdruck versetzt in den letzten Jahrzehnten. Es hat sich massiv beschleunigt und ausgerechnet in der Flüchtlingsfrage sucht man jetzt einen Stabilitätsanker, möchte durch sie keine Veränderung erfahren, damit alles so rasend stillstehend bleibt, wie wir es gerne hätten. Aber die Flüchtlinge werden unsere deutsche und europäische Gesellschaft natürlich verändern. Möglich, so könnte man mit Rosa folgern, dass die Flüchtlinge eine kleine Chance sein könnten, unser Menschen- und Gesellschaftsbild zu modifizieren. Im selben Heft stellt die Journalistin und Kriegsreporterin Carolin Emcke passenderweise fest: »Vielleicht helfen die Geflüchteten Europa in diesem Sinne mehr als wir ihnen, weil sie uns zwingen zu definieren, was Europa sein will.«

Wir könnten demnach wieder etwas mehr den Menschen als Urmotiv allen ökonomischen Treibens auf Erden erkennen. Oder eben das Gegenteil. Das ist unsere eigentliche Wahl. Wir haben eine minimale Chance, dass wir die Menschheit als globalen Wert entdecken und alle Geschäfte nur zu deren Wohl existieren sollen. Oder wie rufen die letzten Tage der Menschheit aus und akzeptieren endgültig, dass Geschäfte ein Eigenleben haben, in dem Menschen nur als Faktoren vorkommen, die man so oder so bändigen muss. Letzteres erscheint dieser Tage die maximaleren Chancen zu haben.

Gesellschaftlich werden so viele Fragen gestellt, aber die entscheidende ist die, wie wir künftig leben wollen. Weltoffen, liberal und multikulturell oder isolationistisch, borniert und in Monokultur? Jede Frage, die derzeit gestellt werden kann, hat mit dieser Überfrage zu tun. Jede Behauptung, die man aufzustellen vermag, spielt auf sie an. Wenn jemand, wie neulich einer meiner Arbeitskollegen, die These in den Raum stellte, dass Multikulti gescheitert sei, dann schwingt mehr mit. Ich antwortete ihm, dass es einen seltsamen Hang innerhalb der deutschen Gesellschaft gäbe, Dinge für gescheitert oder gelungen zu erklären. Aber das ist nicht das Thema, denn manche Dinge seien so wie sie sind. Dass die Welt eben enger zusammenrücke, nationale Reinheiten immer weniger zu finden seien, das ist keine Sache, die man für gelungen oder gescheitert erklären könne. Es sei schlicht Tatsache und was man sich fragen müsse ist: Wie arrangieren wir das Zusammenleben? Und an dieser Stelle kommt die zentrale Frage aufs Tapet. Wollen wir als menschliche Wesen mit Empathie in die Zukunft gehen oder als individuelle Einzelkämpfer ohne Gemeinschaftsgefühl?

Letzteres bezieht sich nicht nur auf Flüchtlinge und Ausländer, sondern ganz generell auf alle Gruppen, die in den letzten Jahren der Diskreditierung ausgesetzt waren. Die Geflüchteten sind eine Chance, um das gesamte Konzept zu überdenken. Also auch, ob und wie wir zum Beispiel künftig mit Arbeitslosen umgehen möchten. Wenn wir bei den Geflüchteten gesellschaftlich den Affekten erliegen, wird die Gesellschaft für alle, die nicht ökonomisch astrein ticken, die folglich Geld kosten, weiterhin ein unmenschlicher Ort bleiben oder es noch mehr werden. Sollte es möglich sein, die Flüchtlingsfrage zu einem Fanal wider neoliberaler Anschauung zu erheben, könnte das eine Initialzündung sein, dieses Europa der Konzerne - das an seiner Peripherie ohnehin bröckelt - auszuschalten und neu zu denken.

Es ist ein Streit der Weltbilder und Philosophien und Konzepte. Wie damals, als der Faschismus für Effizienz, Ordnung und Gleichschaltung stand und die Demokratie für Diskussionskultur, Individualismus und Entfaltungsraum. Die Gegenüberstellung der beiden politischen Systeme war in Kern eigentlich ein Vergleich zwischen Menschenbildern. Für die einen war der Mensch eine Zelle im Organismus, ein Wesen in einem rassistisch gefassten Sozialverband, das seine Aufgabe zu erfüllen hatte, ohne aus der Reihe zu tanzen. Die anderen sahen den Menschen als ein freies Individuum, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und als realtiv freien Herrn über seine Geschicke. Dieses Gegenüber entfachte Straßenkämpfe, Machtergreifungen, politische Morde und (wie in Spanien) Bürgerkrieg.

In diesem Dilemma stecken wir wieder. Was unser Menschenbild betraf, haben wir nie ein Ende der Geschichte erreicht. Es war nie gesichert, wankte immer, wurde von den Liberalen auf ökonomischer Ebene preisgegeben und erodierte langsam aber sicher. Man dachte lange, dass nach dem Faschismus und der langen Zeitspanne relativen Friedens, die westlichen Gesellschaften eine Nachhaltigkeit in humanistischen Fragen erreicht hätten, die es quasi verbat, dass die Menschlichkeit zu Bruch gehen würde. Aber seit Jahren bröckelt sie. Und nun stehen Rassisten und Nationalisten vor dem halb sturmreif geschossenen Konzept und machen sich heran, es endgültig zu stürmen. Es gab nie eine Unverbrüchlichkeit in dieser Angelegenheit.

Alles was geschieht, hat jetzt damit zu tun, der Menschlichkeit wieder ein Fundament zu geben oder die letzten Tage einer Menschheit einzuläuten, die sich nicht mehr als solidarische Spezies versteht, sondern als Masse individualisierter Marktteilnehmer und Kunden. Es kömmt darauf an, uns zu verändern.

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Dieser Niedergang spottet jeder Beschreibung

Freitag, 15. Januar 2016

In etwa neunmal habe ich angesetzt. Wollte was zum endlosen, nie abbrechenden Niedergang der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands schreiben. Speziell über den Finanzminister, der den Vorsitzenden und Vizekanzler bedauerte und ihm sein Mitgefühl aussprach, weil er mit dem Vertrauen von lediglich einem Dreiviertel der Delegiertenstimmen ins neue Jahr gehen muss. Da dachte ich mir, wenn man den Zerfall dieser Partei an einer Anekdote festmachen, an einem Ereignis deutlich machen will, dann wohl daran. So nichtig ist sie mittlerweile geworden, so beliebig ihr Vorsitzender, dass sie selbst ihr angeblich größter politischer Kontrahent bemitleidet. Immer wieder probierte ich einen Anfang, war unzufrieden, stellte Sätze um und hatte dann endlich etwas, womit ich leben konnte, doch da kam mir das Sujet des geplanten Textes oder besser gesagt, das Personal des Sujets, mit neuem Futter in die Quere.

Just da meldete sich der stellvertretende Bundesvorsitzende zu Wort. Mit den Mehr-Bretto-vom Nutto-Liberalen, den postwesterwellianischen Neoliberalen würde er eher koalieren wollen als mit »Die Linke«, geiferte er. Mit denen also, die die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall als einen Frontalangriff gegen unternehmerische Freiheit auffassen, die Steuersenkungen für alleinstehende Arme ab einem Jahresgehalt von 100.000 Euro und deren liberaler Geist laxe Regeln auf dem Arbeitsmarkt fordert, aber Überwachung und Polizeistaatlichkeit durchaus für gut bekömmlich hält. Das sagte er übrigens nur einen Tag, nachdem laut einer Emnid-Umfrage bekannt wurde, dass das Soziale bei den Sozialdemokraten vermisst wird. 49 Prozent der Befragten lehnten es ab, »mehr soziale Gerechtigkeit« und »SPD« in einem Satz zu schmeißen. Nur 32 Prozent hatten mit dieser Verquickung kein Problem. 2014 waren es noch 46 Prozent, die beides nicht zusammenbringen wollten. Sollte ich nicht lieber damit beginnen, fragte ich mich. Was ich dann auch tat, neuerlicher Anlauf und kaum, dass ich halbwegs zufrieden war, wankte der Text schon wieder.

Jetzt war es der Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion, der natürlich auch etwas gesagt haben wollte zum neuen Jahr. Er beklagte sich bitter, dass die Bundeskanzlerin eine Sozialdemokratisierung ihrer Partei betreibe und damit dem aktuellen Koalitionspartner schade. Wenn der Mann das Gefühl hat, dass ihn da jemand links überholt, wo es kaum linke Attribute gibt, dann könnte er sich ja fragen, ob er vielleicht rechts auf dem Standstreifen steht. Wenn diese konservative Frau, deren Leitmotiv immer vornehmlich der Sozialabbau und die »Geltendmachung Deutschlands in der Welt« war, plötzlich von einem Sozialdemokraten als Sozialdemokratin entlarvt wird, dann muss es wirklich schlimm bestellt sein um jene Partei. Vielleicht sollte ich damit loslegen, besann ich mich. Womöglich wäre das der passendere Einstieg, um die Belanglosigkeit der Sozialdemokratie in unseren Tagen zu beziffern.

Ich begann abermals neu, hielt aber gleich wieder ein. Weil ich befürchtete, dass gleich wieder einer aus dem Verein neuerliches Material liefern würde. Und da wurde es mir schlagartig klar: Über den Niedergang dieser Partei lohnt es sich eigentlich gar nicht mehr zu schreiben, man kann ihn Tag für Tag für Tag selbst sehen. Ein Blick in die Zeitungen genügt. Wozu muss der Chronist und Kommentator wirken, wenn das was man beschreiben will, ganz von selbst auf einen wirkt? Er sollte doch Dinge aufdecken, ja kenntlich machen – aber wenn sich der Gegenstand selbst entblößt, was will man da noch Erhellendes nachschieben? Man lässt die Geschichten rund um die Agonie auf sich einprasseln und wirken und muss eigentlich nichts mehr sagen. Die Anekdoten, die uns der politische Alltag liefert, die sprechen doch wahrhaft für sich alleine. Publizistische Demontage kann man sich getrost sparen, wenn sie täglich aus dem Zentrum dessen zu vernehmen ist, was man eigentlich zu demontieren sich vorgenommen hatte. Hier bin ich überflüssig, muss nichts mehr ausleuchten und aussprechen. Die Sozialdemokraten zeigen Eigeninitiative genug, sich selbst zu entsorgen, so sehr, dass es jeder Beschreibung spottet.

Franz Walter schrieb hin und wieder kluge Gedanken zur neuen Sozialdemokratie nieder; genug andere namhafte und weniger bekannte Kommentatoren in Zeitungen und Blogs bestellten und bestellen noch immer dasselbe Feld. Sie fahren die soziologische Schiene, erklären die Entwicklungen der Partei mit gesellschaftlichen Dynamiken und Prozessen. Warum ist der Sozi so, wie er nun ist? Woher kommen seine Reflexe und die Abkehr von seinen alten Werten? Dies alles sind interessante Fragen und die Antworten sind lehrreich. Eine solche Herangehensweise ist wohl auch notwendig, um begreifen zu können. Aber es ist so viel analysiert wurden, mittlerweile reicht es beileibe auch aus, aus dem endlosen Schatz der Anekdoten zu schöpfen, die diese SPD Woche für Woche, Tag für Tag erzeugt, um ihren eigenen Niedergang mit Bilderreichtum und Erzählstoff auszustatten. Daher werde ich keinen Text mehr über diese demontierte Partei schreiben. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie im Niedergang begriffen ist. Wir wissen, dass es bergab geht – und wie es bergab geht, das wiederholt sich in dem Tagesmeldungen beinahe täglich.

Kaum habe ich diese Zeilen beendet, lese ich, dass der Bundesvorsitzende schnelle Ausweisung und Rückführung krimineller Flüchtlinge gefordert hat. Die juristische Praxis ist gar nicht mal so einfach, wie er es hinstellt. Sollte das Land, in der Menschen rückgeführt werden, sich mit der Aufnahme weigern, so sagt der Parteiboss, so würde er eine Reduzierung der Entwicklungshilfe befürworten. Ach ja, jeden Tag ein neues Kaliber, das jeder Beschreibung spottet.

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Glückwünsche eines Analphaten

Donnerstag, 14. Januar 2016

Das Völkische hat angeblich eine neue Dimension angenommen. Und im Osten des Landes tobt der Völkischensturm wie nirgends. Der Besserwessi weiß, dass das ein Phänomen »von drüben« ist. Aber so einfach ist es nicht.
Pegida

Der Text ist echt harter Tobak. »Mit großer Sorge beobachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien«, heißt es da. Die Überfremdung von Sprache und Kultur drohe. »Bereits jetzt sind viele Deutschen [Anm.: Fehler im Original] in ihren Wohnbezirken und an ihren Arbeitsstätten Fremdlinge in der eigenen Heimat.« Und weiter: »Die deutsche Bevölkerung wurde bisher über Bedeutung und Folgen nicht aufgeklärt. Sie wurde auch nicht darüber befragt.« Immerhin gehe es um die »geistige Identität auf der Grundlage unseres christlich-abendländischen Erbes«. Es stehe also alles auf dem Spiel. Außerdem distanziere man sich vor Rassismus und Links- wie Rechtsextremismus. »Völker sind (biologisch und kybernetisch) lebende Systeme höherer Ordnung mit voneinander verschiedenen Systemeigenschaften«, heißt es aber schon einen Satz weiter. Aus dieser Erkenntnis leitet man ab, dass Integration nicht möglich sei und es zur »ethnischen Katastrophe« komme. Daher: »Allein lebensvolle und intakte deutsche Familien können unser Volk für die Zukunft erhalten.«

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Der weiße Mann und die Integration

Mittwoch, 13. Januar 2016

Man nannte sie die »fünf zivilisierten Stämme«. Die Seminolen, Creek, Choctaw, Chicksaw und Cherokee waren indigene »Nationen« aus dem Appalachen-Gebiet. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts hatten sie ihre Jagdgründe am Rande der jungen Vereinigten Staaten. Bei den fünf Stämmen fing der Wilde Westen an. Aber wild waren die fünf Stämme gar nicht. Nur kurz währte ihr Aufstand gegen die Weißen, dann sahen sie ein, dass sie nie wieder alleine auf ihrem Land sein würden. Lösungen mussten her. Und die lagen in den Annäherung an den europäischen (sprich: weißen) Lebenstil. Und so nahmen diese Indianer langsam weiße Gewohnheiten an. Sie waren eh von jeher sesshafte Völker gewesen. Jetzt sattelten sie um, legten sich europäische Kleidung an und druckten Zeitungen. Die Cherokee erfanden hierzu eine gesonderte Schrift. Sie bestellten Felder und handelten mit Geld. Manche erlangten große Farmen und wurden selbst zu Sklavenhaltern. Einige besonders widerliche Exemplare ihrer Völker fingen die Angehörigen anderer Stämme und verkauften sie an Sklavenhändler.

Man fing an die Kinder von weißen Missionaren erziehen zu lassen und schickte sie zu weißen Lehrern. Einige wenige nahmen das Christentum an. Sie wurden Farmer und Handwerker und bezahlten mit Dollars. Skalps waren nicht mehr ihre Trophäen. Manche von den braven Neubürgern hatten noch Skalps von Schädeln geschält. Doch diese Zeiten waren vorbei. Sie hatten wirklich fast alles geändert. Ja, sie erkoren sich sogar Delegierte, die mit Washington im politischen Dialog standen. Selbst eigene Verfassungen gaben sie sich. Das sahen die jungen Vereinigten Staaten zwar nicht so gerne, aber noch hielten sie still, denn mit neuen Elementen einer Gesellschaft musste man Geduld üben. Außerdem kämpften sie 1812 als Verbündete Seite an Seite mit den Amerikanern gegen die Briten.

Nie zuvor in den jüngeren Geschichte der Menschheit mag sich ein Volk so drastisch in neue Lebensverhältnisse integriert haben. Und solange die USA östlich der Appalachen noch genug Lebensraum für neue Siedler bot, koexistierte man friedlich, wenn man die fünf Stämme auch nicht als US-Bürger betrachtete. Aber der Raum im Osten wurde enger. Ab da half alle Integration nicht mehr. Der Indianerfresser Andrew Jackson wurde Präsident und der hauchte seiner Zeit einen neuen Geist ein. Plötzlich spielte die Herkunft und die Hautfarbe dieser Beinahe-US-Bürger doch wieder eine Rolle. Um eine moralische Legitimation für den nun beabsichtigten Landraub zu erlangen, behauptete man frech, diese Wilden würden sich nicht richtig integrieren wollen. Sie seien immer noch zu fremd. Was man an ihrer Verfassung sehen könne - denn wie dürfe es sein, dass sich da eine Gruppe eigene Regeln innerhalb der Union übertrage? Man sprach noch nicht von der Parallelgesellschaft, meinte aber wohl genau dies.

Man erkannte ihre Selbstverwaltung ab, verschärfte den Ton und forderte keine Integration mehr, weil man nun auf dem Standpunkt beharrte, dass die ohnehin kaum machbar sei. Die kulturelle Verschiedenheit sei einfach zu groß, hieß es jetzt. Publikationen hetzten gegen die fünf Stämme oder versuchten es konziliant, indem sie sie zu überzeugen versuchten, dass es doch keinen Zweck hätte, den Weißen und sich selbst vorzumachen, dass es noch was werden würde mit einer Begegnung auf Augenhöhe. Man blendete alle Anpassungen aus und versteifte sich darauf, die Reste der kulturellen Herkunft, die sich die Autochthonen bewahrt haben, als Beleg für deren Integrationsunwillen zu diskreditieren. Weil die Anpassung also nicht hundertprozentig geschah, entzog man den Stämmen jenen guten Ruf, den sie noch einige Jahre zuvor genossen hatten. Das Land, das sie besiedelten, war einfach für die Weißen zu wertvoll, als dass man es den Wilden hätte überlassen wollen. Aus Europa rollten beständig Einwanderer heran und alle wollten sie Boden. Irgendwer musste draufzahlen: Die Indianer. Die, die den Weißen am nächsten lebten, das waren nun mal die fünf Stämme.

Und so deportierte man sie, jagte sie fort, weiter nach Westen, ins unwirtliche Oklahoma. »Männer wurden auf den Feldern oder Straßen ergriffen, Frauen vom Spinnrad fortgezerrt, Kinder beim Spielen«, berichtete ein Augenzeuge damals. »Trail of Tears« nannte man diese Vertreibung und den langen Marsch in den Westen; den Pfad der Tränen, weil auf diesen Gewaltmärschen so viele Menschen starben und in der Prärie zurückblieben. Es waren traumatische Zeiten für die fünf Stämme. Auch dort wurden sie weiterhin diskriminiert, sie fügten sich beinahe kampflos ihrem Schicksal, gingen nach Oklahoma, passten sich den weißen Plänen an und finden auch in der neuen Heimat keine Anerkennung. Man will sie jetzt total assimilieren, wie man das mit allen Stämmen plant. Man schert ihnen die Haare und verbietet die Muttersprache. Religion und Kultur sollen sie aufgeben, endlich weiße Standards annehmen, zivilisiert werden. Erst in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts wird Washington den Ureinwohnern Rechte gewähren.

In letzter Zeit wird hierzulande wenig von Integration gesprochen. Man hat es wohl aufgegeben. »Die wollen sich doch gar nicht einfügen«, sagen die Leitkulturattachés dann. Das Problem ist jedoch etwas anderes: Was integriert ist und was nicht, wird völlig einseitig entschieden. Man mag die Landessprache sprechen, nach den Regeln und Gesetzen leben, aber wenn man bestimmte Riten und Gebräuche einhält, in den eigenen vier Wänden die Herkunftsprache spricht, dann entzieht man ihnen das Vertrauen. So bleibt man ewig »der Türke« oder »der Moslem«. Dasselbe hat man vor vielen Jahren in diesem Lande den Juden unterstellt. Sie waren angepasst, deutsche Bürger, haben im Weltkrieg gekämpft, Steuern bezahlt, waren in Vereinen aktiv. Aber sie galten als »der ewige Jude«, weil sie halt nicht immer alle kulturellen Bräuche aufgaben und sie weiterhin pflegten. Man musste keine Peies tragen, es reichte schon aus, dass man am Sabbat die Tram mied, um als integrationsunfähig angesehen zu werden.

Integration ist in einem solchen Klima gar nicht möglich. Denn man betrachtet sie als Einbahnstraße, als etwas, was »die Fremden« zu verrichten haben und unter keinen Umständen die Einheimischen. Letztere definieren einfach nur, was sie für angepasst halten und was nicht. Und wenn man mit dem Auftrag herangeht, möglichst viele Punkte der Unangepasstheit zu finden, dann findet man die auch. Der weiße Mann hat es noch immer verstanden, das Fremde als das hinzustellen, das unwillig ist, wo er selbst unwillig war, einige Schritte darauf zu zu gehen.

Die fünf zivilisierten Stämme sind nur eine Episode aus dieser traurigen Geschichte der (weißen) Menschheit, in der Zusammenleben scheitert, weil die Leitkulturalisten es so wünschen. Danach strengten sich die Juden vergebens an. Doch der weiße Herrenmensch ist nicht bestechlich, er schnuppert am Stallgeruch und sondert aus. Moslems können sich heute bemühen wie sie wollen – man wird immer etwas finden, das man ihnen zum Vorwurf macht. Wer Integrationswillen in einem Klima fordert, in dem man Integration als Ziel ohnehin für aussichtslos hält, weil ja die Verschiedenheiten angeblich nie überbrückt werden könnten, der geht auch über Leichen.

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 12. Januar 2016

»Normalität wird für die meisten Deutschen erst dann erreicht sein, wenn man als Deutscher an der Imbißstube in Auschwitz ganz unverkrampft bei einem Roma ein Zigeunerschnitzel bestellen kann. Wenn man gerade aus 'Schindlers Liste' kommt, versteht sich. Tief betroffen.
Tief betroffen, aber halt hungrig.«

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Geistesgestörte und andere Arschlöcher

Montag, 11. Januar 2016

Théodore Géricault, Die Irre
Eine der größten Frechheiten, die man im Umgang mit politischen Gegner an den Tag legen kann, das ist die Pathologisierung, der Umstand, ihn mundtot machen zu wollen, indem man ihm Geisteskrankheit unterstellt. Die Bild-»Zeitung« hat diese Unart im Laufe vieler Jahre nicht nur vervollkommnet, sondern geradezu zu einem guten Umgangston in der politischen Debatte gemacht. Sie schrieb über den »Irren aus Teheran« oder den »Verrückten aus Pjöngjang« und tat so, als könne man weltpolitische Ereignisse und Dynamiken mit dem Geisteszustand beteiligter Personen erklären. Es ist daher nicht verwunderlich, dass man jetzt bei jenem Teil des Pöbels, der über einen Zugang zu sozialen Medien verfügt, immer wieder den Vorwurf gegenüber der Bundeskanzlerin vernimmt, wonach sie am Geiste erkrankt sei. Zu tief verankert ist in diesem Land diese typische Praxis der Bild-»Zeitung«. Sie hat sozialisiert und einem breiten Publikum einen mehr als sonderbaren Blick auf das politische Treiben eingeimpft. Wenn man bei den Boulevardmedien jahraus jahrein vernimmt, dass die Welt eine Spielwiese geisteskranker Protagonisten ist, dann fällt profunde Analyse nicht unbedingt einfacher.

Exakt mit dieser Anschuldigung konfrontierte neulich einer dieser Gestalten den Generalsekretär des Kanzlerinnenwahlvereins und erntete dafür ein »Arschloch« als Antwort. Der Mann stammte aus jenem Milieu, das jetzt aus allen Ecken kriecht, um gegen Flüchtlinge zu mobilisieren und die Bundeskanzlerin für ihre dementsprechende Politik anzufeinden. Lassen wir an dieser Stelle mal außer Acht, dass das Krisenmanagment ihrer Regierung unzureichend und fahrlässig ist. Das Geld fehlt, der Großteil der Aufgabe auf den Schultern freiwilliger Helfer ausgetragen wird und das Asylgesetz abermals verschärft wurde. Für einen Teil eines sehr einfach gestrickten Publikums, sieht ihre Politik trotzdem aus wie ein Freifahrtschein für Flüchtlinge. Sie lässt die Deutschen aussterben, glauben sie. Oder will gar die Islamisierung. Die Vorwürfe schaukeln sich hoch und da bleibt natürlich nur ein Schluss: Die Frau hat ihren Verstand verloren. Das liest man jetzt immer häufiger bei den Hetzern, Abendlandsern, Rechtsalternativen und Pegidisten. Für komplexere Auswertungen reicht deren Horizont nicht. Sie greifen zum einfachsten aller Mittel: Wer nicht so denkt, wie man es selbst tut, der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Und es ist ja auch praktisch und simpel, wenn man komplizierte Vorgänge und deren Antreiber pathologisieren kann. Man muss sich ja nicht auseinandersetzen mit Durchgedrehten. Stattdessen würde man sie lieber abholen lassen, Zwangsjäckchen und Gummizelle und so. Eine Therapie natürlich hinterher. Und gibt es da nicht auch mittlerweile was von Ratiopharm? Sich fremden Positionen annehmen, sie begreifen wollen, inhaltlich durchforsten, um sich dann Pro oder Contra mit einer Sache zu befassen, kommt bei der Pathologisierung nicht mehr vor. Der politische Kontrahent ist keiner mehr, mit dem man streitet um Lösungen und Sichtweisen, er ist plötzlich zu einem hilfebedürftigen Halbidioten degeneriert, den man die Ernsthaftigkeit versagt. Wer Mitmenschen und gegnerische Standpunkte so diskreditiert, der drückt damit letztlich auch aus, wie sehr er den demokratischen Usus verachtet. Denn wo man Diskussionsbedarf durch die »Irreführung« des Gegenübers untergräbt, da wird nicht mal mehr die Aussicht auf Konsens bewahrt, da unterdrückt man Gesprächsstoff, beendet man die Auseinandersetzung mit dem Betrachter einer anderen Sichtweise.

Es ist ferner nicht nur respektlos und antidemokratisch, sich mit politischen Kontrahenten dergestalt auseinanderzusetzen – es enthebt sie auch ihrer Verantwortung. Wer verrückt ist, der ist krank und unzurechnungsfähig und dem kann man Hetze und Mord nicht mehr ankreiden. Wer also als Durchgedrehter in Teheran gegen Israel schürt, der gehört zu einem Psychologen oder in Zwangsjacke, nicht aber an den Pranger der Weltpolitik. Wer der Bundeskanzlerin nachsagt, sie habe endgültig ihren Verstand verloren, der macht sie unmündig, nimmt ihr die Verantwortlichkeit für Bundeswehreinsätze, NATO-Prahlerei und griechische Tragödien ab. Man kann dieser Frau vieles unterstellen, aber nicht bei Trost ist sie nicht. Sie weiß zu allen Zeiten ziemlich genau, was sie tut und wie sie es zu verkaufen versucht.

Der Generalsekretär reagierte rüde auf die Frage, wie er mit der Geisteskrankheit seiner Kanzlerin umgehen möchte. »Sie sind ein Arschloch«, antwortete er. Man muss den CDU-Mann und seine Ansichten nicht mögen, aber letztlich ist das die adäquate Antwort auf solche Vorwürfe. Jemanden als »Arschloch« zu betiteln ist wesentlich zielführender, als ihn für irre zu erklären. Denn mit Arschlöchern kann man trotz allem noch immer diskutieren und muss sie nicht einweisen lassen. Insofern hat der Generalsekretär der Bundeskanzlerin bewiesen, dass er mehr Respekt vor seinem Gegenüber hat, als dieser »Wir-erklären-die-Bundeskanzlerin-für-geistekrank«-Pöbel. Im übrigen halte ich viele Positionen des Generalsekretärs für beleidigendswert, aber ein Geisteskranker ist es deshalb noch lange nicht. Er ist eher das, was er so locker anderen als Antwort gibt.

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Opfer bringen

Freitag, 8. Januar 2016

Tragisch, wirklich tragisch. Wenn es Menschen Bomben regnet. Metall klirrt und Schreie ertönen, die dann unterm Schutt erstummen. Schlimm, wirklich schlimm. Wenn unter Brocken tote Kinder von toten Eltern toter Großeltern liegen. Hinterbliebene im Geröll suchen und hoffen, noch keine Hinterbliebenen zu sein. Abscheulich, wirklich abscheulich. Wenn sie dann Steine zur Seite stemmen und dann sind da nur Reste. Von Betten, von Schränken, von Großmutter. Unschön, wirklich unschön. Wenn sie dann weinen und klagen und laut den Himmel und seine Düsenjäger verfluchen und einen Hass kriegen, der ihnen die Fäuste in die Höhe recken lässt. Ekelhaft, wirklich ekelhaft. Wenn sie dann so gefilmt werden, in Fernsehkanälen ausgestrahlt und als die Brut des neuen Terrorismus deklariert werden, weil sie so böse anzusehen sind. Lernen es diese Wilden denn nie?

Das ist alles wirklich unerträglich, aber wir müssen den Regierungen unserer Breitengrade wohl danken. Sie sichern uns damit unsere Art zu leben. Unseren Way of Life. Den Wohlstand, die Ressourcen, die wir dazu benötigen. Sie erziehen die Völker dieser Erde zur notwendigen Einsicht, dass man bloß die Chuzpe haben muss, sich zu nehmen, was man will, was man braucht, was einem in den Sinn kommt. Wer auf dem Boden lebt, unter dem die Rohstoffe schlummern, das ist dabei zweitrangig, man kann ja Verträge aufsetzen und Funktionseliten schmieren. Und wenn diese verwirrten Kerle, die den Koran als Totenbuch missbrauchen, dann endgültig mit vielen unbeteiligten Kollateralschäden, die auf Mama oder Papa oder »mein Kind« hörten, diese Erde verlassen haben, dann probieren wir es wieder, exakt so wie vorher. Vielleicht geht es ja diesmal gut. Vielleicht radikalisieren sich die Verlierer unserer globalen Ökonomie, unserer Weltordnung ja mal ausnahmsweise nicht und alles geht glatt. Zu wünschen wäre es uns. Wir hätten den friedlichen Wohlstand allemal verdient, wir Leute von der oberen Nordhalbkugel.

Vielen Dank, ihr Regierungen! Es geht weiter wie immer, gemütlich und üppig. Ich habe die satte Auswahl an Lebensmitteln, an exotischen Ingredienzien, kann Erdbeeren im Winter essen und geschälte Nordseekrabben aus Marokko, kann relativ günstig durch Städte kariolen, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, Reifen quietschen, Gummiabrieb ist nicht schlimm, neues Kautschuk kommt morgen an, die Plantagenarbeiter sind ja so fleißig, so fleißig, sie singen sogar bei der Arbeit. Auch Erdöl kommt nach. Es steckt ja noch genug in den Böden. Nicht bei uns. Aber uns gehört bekanntlich die ganze Welt. Also was spielt es dann für eine Rolle, wo es drinsteckt? Hat der Schöpfer uns nicht eine Welt ohne Grenzen geschenkt? Ich telefoniere und surfe mit meinem neuen Mobiltelefon, alle zwei Jahre ein neues Teil, was ich auch muss, denn nach zwei Jahren allerspätestens, gibt das Ding seinen Geist auf, oh Obsoleszenz, du riesiger Absatzmarkt! Die unbrauchbaren Siliciumplatten schicken wir rüber, zu den Schwarzen, die bauen sich daraus Girlanden für ihre Wellblechhütten. Jeder soll was vom Fortschritt haben. Sie kriegen Schmuck - wir seltene Erden. So sind wir. Es ist ein Geben und Nehmen. Ein Nehmen. Ein Nehmen. Ein Nehmen. So ist Leben eben. Unsere Art zu leben eben.

Um die zu erhalten braucht man Maßnahmen. Freihandelsabkommen. Regelungen. Einsätze. Weltordnung. Währungsfonds. Zentralbanken. Militärpräsenz. Waffen für Halunken, die die ihren in Schach halten. Und halt manchmal Krieg. Als letztes Mittel dessen, was wir Politik nennen. Als allerletztes Mittel. In Syrien fallen Sprengladungen auf die Köpfe. Damit es immer weitergeht, immer so weitergeht. Sie sind da für uns, die Uniformierten. Kämpfen für uns. Töten für uns. Dezimieren, löschen aus, verstümmeln. Für uns. Auch für mich. Ja, für mich! Ich brauche noch weitere Telefone, Krabben, Erdbeeren auf dem Weihnachtsmarkt. Wohlstand ist schön. Dafür muss man eben Opfer bringen.

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Lasst uns froh und munter sein

Donnerstag, 7. Januar 2016

Die Feiertage konnten kommen. Einer der vielen Indizes, die wir in dieser Republik kultiviert haben, wiegte uns ins Festtagsstimmung. Er bestätigte unseren »ausgeprägten Einkommensoptimismus« und beruhigte uns. Nicht Zimt und Nelken versetzen uns in die stille Zeit – Indizes machen das.

Es gab keinen Schnee, keine Kälte. Der Glühwein schmeckte nicht und es kam keine Stimmung auf. Weihnachten 2015 schien wirklich traurig zu werden. Bis kurz vor dem Fest die Medien etwas aus dem Hut zauberten. Einen Index nämlich, das Patentmittel gegen Niedergeschlagenheit in diesem Land. Der GfK-Klimakonsumindex kam gerade noch rechtzeitig gegen Christmas-Blues, gegen schneelose Nicht-Weihnachtsstimmung. Er wurde zum Volltreffer hochgeschrieben. Nach vier Monaten, in denen er gefallen war, stieg er im Dezember wieder mal an. Die Menschen in Deutschland, so erzählten die Nachrichten auf allen Kanälen, hätten wieder Zuversicht und dicke Geldbörsen, einen »ausgeprägten Einkommensoptimismus«, wie man das an mancher Stelle bezeichnete. Solche Botschaften heben die Stimmung. Plötzlich in den Glauben versetzt zu werden, dass man nicht knapsen muss, ausgeben und konsumieren kann und einem die Welt der Warenhäuser zu Füßen liegt, ist ja nicht übel. Insbesondere so kurz vor dem wichtigsten Fest der materiellen Christenheit.

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Der eindimensionale Mensch am Abendbrottisch

Mittwoch, 6. Januar 2016

Die »Zeit« hat Anfang Dezember drei VW-Angestellten beim Abendbrot Gesellschaft geleistet. Bei »Schwarzbrot, Mett und rohen Zwiebeln« gab es ein Gespräch zum Unternehmen, zur Abgas-Trickserei und wie man als Angestellter damit umzugehen hat. Alle drei Männer jammerten, weil die Öffentlichkeit das Unternehmen so pauschal abkanzelte, es bestraft wissen wollte und Schadensersatz forderte. Auf einer Zeitungsseite gelingt es diesen Leuten mühelos, Werbung für den Automobilhersteller zu machen, für den sie arbeiten, ohne wirklich in medias res zu gehen. Sie beklagen sich, papageien die Sätze nach, die ihre Oberen schon absonderten und machen aus dem Betrug einen zivilcouragierten Akt, ein Kavaliersdelikt und etwas, was man doch bitte hinnehmen sollte. Immerhin ist es Volkswagen, auf das man jetzt einschlägt. Volkswagen! Wo man auch hinkommt in der Welt und bekennt aus Deutschland zu sein, so reihen die Einheimischen Schlageworte auf, um ihre Deutschlandkenntnisse zu beweisen. Sie sagen dann Worte wie: Beckebaua oder Oktobafeste oder Wolkswaage. So geht man nicht mit einer Topmarke um, so behandelt man kein deutsches Schlagwort.

Und so rinnt es dann hervor: »Wir waren in den Neunzigern schon in der Krise«, »wir haben zusammengehalten und es geschafft«, »selbst Leiharbeiter sind stolz das Logo zu tragen« - die Corporate Identity läuft wie geschmiert, sie gluckert lustig beim Bier die Kehle hinunter. Nun ja, dass die stolzen Leiharbeiter schon recht bald nach Aufdeckung der Abgas-Geschichte mehrheitlich »aus dem Unternehmen ausscheiden« mussten, sagen die drei VW-Arbeiter nicht. Sie sind ja auch schon rund 30 Jahre dabei, sind vor Entlassungen gefeit. Da kann man bequem unkritisch sein, den Soziolekt derer annehmen, für die man jeden Tag arbeitet. Man bestätigt daher treuherzig, Herr Winterkorn habe nichts gewusst, die Zeitungen haben es aufgebauscht und der TÜV trage ja auch viel viel Verantwortung in der Sache. Wieso nicht mit Tank-Gutscheinen wiedergutmachen?, fragt einer der drei. So wie schon vormals die Offiziellen versuchten, sich vor Verantwortung zu drücken, indem man einen Ausgleich bezahlt, der galant den eigentlichen Vorfall kaschieren sollte.

Klassenkampf, wir wissen das mittlerweile nur zu gut – Klassenkampf gibt es nicht mehr. Es ist ein antiquiertes Wort mit noch antiquierteren Inhalten. In den letzten Jahren haben wir massiv erlebt, wie wir zugunsten der ökonomischen Eindimensionalität aufhörten, Gesellschaft als Anordnung verschiedener Klasseninteressen zu betrachten. Man tat so, als habe man als Arbeiter dasselbe Interesse am Unternehmen, wie als derjenige, dem der Laden gehört. Das Motto, wonach der Angestellte versucht möglichst viel mit möglichst wenig Aufwand zu verdienen, während der Chef möglichst wenig mit möglichst viel Ertrag zu bezahlen trachtet, war plötzlich völlig von der Bildfläche verschwunden. Die Interessen zogen nicht mehr auf gegenüberliegender Seite am Strick, sie taten so, als zögen sie auf einer Seite und über diesen fingierten Zustand vergaß man, dass man so den eigenen Interessen keinen Dienst erweisen konnte.

Gesellschaftliche Entwicklung kann nur eine bedingte Partnerschaft sein. Diese Klarheit haben wir aus den Augen verloren. Entwicklung war stets das Ausfechten gegeneinander stehender Interessen und Positionen, für die man kämpfen, streiken, protestieren musste – sozialer Fortschritt geschieht nie einvernehmlich, er ist ein Akt gegenseitiger Machtspiele, ein Schaulaufen, ein Schwanzvergleich. Das alles haben wir in den letzten Jahren völlig ausgeblendet. Marcuse hat davor schon in den Sechzigern gewarnt oder es jedenfalls beschrieben. Er hatte seine amerikanische Erfahrung gemacht und sie in »Der eindimensionale Mensch« dokumentiert. Die »Ausgleichung der Klassenunterschiede« hatten für ihn eine »ideologische Funktion«, denn sie würde nur der »Erhaltung des Bestehenden dienen«.

Das trifft zu. Die drei VW-Leute müssen sich nicht fürchten. Aber ihr preisgegebenes Klassenbewusstsein, das symbolisch für den Niedergang von Arbeiterparteien oder Gewerkschaften steht, hat das bestehende Prinzip der Angebotsökonomie erhalten und sogar noch beflügelt. Natürlich sind beim Kuschelkurs der Lohnzurückhaltung und der gemäßigten Interessensvertretung, bei Agenda 2010-Akzeptanz und Hartz-IV-Toleranz auch einige gut weggekommen. Leute, die beim Abendbrot sitzen und weiterhin relativ gut verdient, Sonderzahlungen, Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld erhalten haben. Aber die anderen sind eben Leiharbeiter, temporäre Kräfte, Niedriglöhner und was es da alles noch so gibt. Oder sie gehören zu denen, die erst gar keinen Fuß mehr in den Türspalt bekommen und als langzeitige Arbeitslose in den Karteien geführt werden.

Wenn man den drei Typen so folgt, während sie sich sättigen, dann weiß man ganz genau, was in dieser Republik seit einigen Jahren falsch läuft. Es ist nicht der Umstand, dass da Leute vor sich hin schlafen, sie sind hellwach, haben sich aber entschlossen, die Parolen ihrer Vorgesetzten und Arbeitgeber nachzuplappern, wo sie eigene Einsichten haben sollten. In derselben »Zeit«-Ausgabe (Nr. 49) gab es im Feuilleton einen Teil, der sich »Von Kant lernen« nannte. Darin würdigte man den Philosophen als immer noch wichtigen Denker. Dort kam auch er zu Wort, man druckte eine Passage aus die »Beanwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« und überschrieb den Text mit den Worten »Es ist so bequem, unmündig zu sein«. Der »Schritt zur Mündigkeit« ist beschwerlich, schreibt Kant, denn »dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht […] auf sich genommen haben.« Das steht auf Seite 50. 21 Seiten später gibt es Abendessen und Unmündigkeit.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 5. Januar 2016

»Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluss an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihre Opfer der Lebenschancen beraubt; obszön, weil sie sich und ihre Mülleimer vollstopft, während sie die kärglichen Lebensmittel in den Gebieten ihrer Aggression vergiftet und niederbrennt; obszön in den Worten und dem Lächeln der Politiker und Unterhalter; in ihren Gebeten, ihrer Ignoranz und in der Weisheit ihrer gehüteten Intellektuellen. [...] Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals in vollem Wichs, der seine in einem Aggressionskrieg verdienten Orden zur Schau stellt.«
- Herbert Marcuse, »Versuch über die Befreiung« -

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Acht Jahre später

Montag, 4. Januar 2016

oder In eigener Sache.

Freitag, der 4. Januar 2008. Es ist 9:44 Uhr. Der Text ist fertig. Ein schlichter Text, es geht um Hessen, um Roland Koch, der Ausländer ausweisen möchte, die nicht spuren, es geht ferner darum wie man Integration versteht und nicht versteht und all solchen Firlefanz. Nochmal redigieren, Fehler tilgen und dann ein finaler Klick auf den »Veröffentlichen«-Button. Es ist jetzt 9:45 Uhr. Der erste Text landet auf den Seiten dieses Weblogs, der sich »ad sinistram« nennt. Bei der Titelauswahl half mir eine, die mir nahe steht. Die Namensgebung ist drei Tage her. Bis 2016 würde dieser erste Text etwa 220 Zugriffe ernten. Am ersten Tag sind es wohl eher so um die 20. Ich weiß im Augenblick der Veröffentlichung nicht, wielange der Spaß hier gehen soll. Einen weiteren Text plane ich bereits. Auch einen dritten kultiviere ich im Hinterkopf. Ob es weitere werden, kann ich jetzt noch nicht wissen. Wahrscheinlich, so denke ich, vergeht mir bald die Laune. Werden mir andere Sachen wieder wichtiger.

Seither ist viel passiert. Demokratiedefizite, Sozialabbau, erstmalige Erwähnung bei den NachDenkSeiten, Ende meiner ersten Ehe, Arbeitslosigkeit, Finanzkrise, Copy & Paste-Minister, mein erstes Buch, Schwächung der EU, Stärkung der Fremdenfeindlichkeit, neues Leben in Hessen, neuer Arbeitsplatz, ein zweites Buch, Gauckiaden, Narkose durch Merkelismus, neuerliche Ehe, Heppenheimer Hiob, Ukraine-Eskalation, Flüchtlinge, neuerliches Ehe-Aus, Kriegsofferten, Terrorismus, deutsche Großmannssucht und so viel Narreteien mehr.

10,3 Millionen Zugriffe sind es mittlerweile geworden. Wobei die Statistik erst im Mai 2010 einsetzt. 86,4 Prozent der Leser kommen aus Deutschland. 3,1 Prozent aus den USA, die man auch mit NSA abkürzen kann. 2,2 Prozent aus Österreich und der Schweiz. Die meisten betreten ad sinistram via Firefox und benutzen Windows als Betriebssystem. Die Statistik bei Facebook gibt weiter Auskunft: 70 Prozent meiner Leser sind männlich. Der Großteil der männlichen Leserschaft ist zwischen 35 und 54 Jahren alt. Zwischen 45 und 64 liegt die Hauptlesergruppe bei den Frauen. Es folgen mir mehr Leute aus Wien als aus Dresden. So, genug der Zahlen, die keiner braucht ...

Mein lieber Schwan, war der erste Text schlecht. Ich habe ihn eben mal angeklickt, wollte nochmals schauen, mich erinnern, meine damaligen Gefühle nachempfinden. Auch da habe ich mich weiterentwickelt. Mein Anspruch ist ein anderer als damals. Ich dachte, ich beeinflusse ein wenig, könne zwar nicht die Welt retten, sie aber sensibilisieren. Das glaube ich nicht mehr. Zeiten ändern dich und sich. Meine Themen sind dieselben wie damals. Manches ändert sich nie. Was ich damals aber dachte: Es könnte noch Veränderung kommen, Besinnung und Schwenk. Alle paar Jahre ändere sich schließlich das Klima. Heute bin ich konsterniert. Ich denke nicht, dass es sich so ändert, dass wir uns zurücklehnen können. Der Wettbewerb ist schärfer geworden, die soziale Schieflage schiefer und dazu manövrieren wir uns an den Rand einer globalen Auseinandersetzung. Das westliche Jahrtausend ist vorbei - aber wir halten daran fest und erkennen die Notwendigkeit einer neuen globalen Ordnung schlicht nicht an.

Jetzt geht es für dieses Weblog ins neunte Jahr. Leben kann ich von diesem Projekt nicht. Aber es ist eine Grundlage. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Ich bedanke mich bei allen Unterstützern, die ich in all den Jahren hatte. Bei Freunden und Anhängern, bei Kritikern und Pissnelken, auch bei denen, die mir irgendeinen Krebs an den Leib wünschen. Selbst diese Leute helfen mir mit ihren Klicks und ihrer Anwesenheit. »Meinen Feinden verdanke ich die Hälfte meines Einkommens. Sie hassen mich so hingebungsvoll, daß es ne unterschwellige Liebesaffäre wird«, sagte einst ein dreckiger alter Mann. Ich mag den stinkenden Pegida-Trottel zwar nicht, aber seine Präsenz hier unterstützt eben genau jenes Linke, das er so penetrant ablehnt. Auch im neunten Jahr.

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