Funktionsloser Wert

Freitag, 30. Mai 2008

In einer Gesellschaft, die sich als Produkt von Arbeitsschritten und -vorgängen begreift, die also Arbeit als ihren Blutkreislauf versteht, werden aus Menschen Funktionsträger. Schleichend wird aus dem Kind - das übrigens mehr und mehr auch zum Kostenfaktor und als vulgär-individualistischer Egoismus von Ehepaaren verstanden wird - kein Erwachsener, sondern eine Funktion, die er in seinem Leben zu erfüllen hat. Der Funktionsträger erfüllt seinen bescheidenen Teil, um die Arbeitsgesellschaft am Leben zu erhalten. Aus der Notwendigkeit bestimmter Arbeitsprozesse wird eine Arbeitsgläubigkeit und -verklärung. Und obwohl dieser Imperativ der Adelserhebung aller Arbeitenden in jedem noch so kleinen Bereich unseres Lebens Platz gefunden hat, wird erst bei denen die Brutalität dieser Vedinglichung des Menschen zur Dienstleistung und Funktion sichtbar, die aus welchem Grund auch immer, nicht in der Rolle einer ausführenden Funktion innerhalb der Gesellschaft leben müssen. Das sind greise Menschen, die ihre Funktion alters- und krankheitsbedingt abgeben mußten und deshalb als nutzlose Gesundheitskostenpotenzierer angesehen werden; das sind aber auch Ehepartner, die sich nur auf Erziehungsarbeit konzentrieren und von ihren Bekannten deshalb schief angesehen, aber auch bemitleidet werden; und das sind vorallem "arbeitsfähige" Menschen, die ihre ehemalige Funktion verloren haben oder nie eine hatten und daher als Ballast an der wirtschaftlichen Gesundheit des Volkes eingestuft sind. Gerade dort, wo Funktionsfähigkeit vorherrscht und nicht gelebt wird, ist die Härte entmenschlichter Nutzbarmachung des Individuums am stärksten zu spüren.

Die Funktionssuche der Funktionslosen offenbart sich am Arbeitsmarkt. Schon alleine dieser Begriff ist verdächtig. Am Arbeitsmarkt treffen Angebot und Nachfrage aufeinander, Arbeitskraft und diejenigen, die Arbeit kaufen wollen. Dass es sich dabei um Menschen handelt, die das einzige zu Markte tragen müssen, was sie besitzen - d.i. das bißchen Energie, dass sie von Natur aus in sich tragen -, wird in dieser Abstraktion der Begriffserklärung verschwiegen. Der Arbeitsmarkt ist in erster Linie ein Menschenmarkt; der fehlende begriffliche Bezug zum Menschen ist gewollt, um den Arbeitnehmer der kapitalistischen Welt, nicht mit den Arbeitnehmern der Historie - Sklaven, Leibeigene etc. - in Verbindung zu bringen.
Gleichermaßen verhält es sich mit den Funktionsbörsen, die den Menschen, die zur Verdinglichung ihres Daseins gezwungen werden - der "Arbeitsmarkt" regelt ja offiziell Angebot und Nachfrage, was vermuten ließe, dies alles läuft zwanglos ab; dabei ist die oft würdelose Funktionssuche des Menschen keine Freiwilligkeit sondern eiskalte Erpressung seitens der Machthabenden - terminologisch vorspiegeln, sie wären die Regulatoren massenhafter Funktionsangebote, die nur sie gerecht und maßhaltend verteilen könnten. Das Jobcenter als zentrischer Punkt, an dem alle Angebote zusammenlaufen und verwaltet werden; die Agentur für Arbeit als Treffpunkt listiger Agenten, die den Unternehmern Funktionsmöglichkeiten aus der Tasche kitzeln!
Da dieses Kitzeln kein Modell ist, welches Erfolge zeitigt, und das Verwalten bei einer übersichtlichen Anzahl von freien Arbeitsplätzen eine langweilige und zudem halbwegs unnütze Aufgabe ist, schiebt man die Schuld ab: Der "Markt weigere sich", mehr Menschen "in Lohn und Brot zu bringen". Der Markt! Die Verdinglichung der Verantwortung! Kein Mensch trägt die Verantwortung dafür, dass Menschen ohne Funktion bleiben müssen, keine Konzernsvorstände, keine mißratenen Reformen von Politikern - über die rückständige Idee, Automatisierungen wieder zurückzunehmen, um möglichst vielen Menschen Arbeit zu geben, soll hier nicht geurteilt werden -, sondern das Ding "Markt". Der "Markt" steht somit in einer langen Tradition von Schuldverlagerung, nimmt die Rolle ein, die man einst Gottheiten einräumte ("Der Herr weist alle Wege!" Oder: "Deine Erkrankung ist eine Prüfung des Herrn!").

So sitzen Menschen zuhause, werfen sich selbst vor, keinen Wert mehr zu besitzen, weil sie keine Funktion tätigen dürfen und gleiten in Depressionen ab. Sie wollen verdinglicht sein, funktionieren, wollen sich in diesen Momenten mit ihrem bloßen Menschsein - bar jeder Funktion - nicht zufrieden geben. Das kann nicht wundern, denn sie bekommen täglich zu hören, wie aufwendig ihre Unterhalt doch ist, wieviel man sich sparen könnte, wenn ihre Existenz eine funktionstüchtigere wäre. Und so suchen und suchen sie, finden aber nicht oder kaum - und wenn, dann schlecht bezahlte und menschenverachtende Arbeitsverhältnisse. So wie die depressiven Phasen dieser Menschen anwachsen, schmelzen die Möglichkeiten einer Funktionsausübung in sich zusammen. Bezeichnenderweise gleitet ihre Suche ins Mysteriöse ab, entschwindet der materiellen Welt. Denn sie suchen dann schon nicht mehr nach einem Lohn, der sie materiell zufriedenstellen könnte, sondern nur noch nach dem propagierten Gut, dem metaphysischen Urwert "Arbeit". Viele Leidtragende verkünden, mit dem letzten bißchen Stolz, das sie noch aufzubringen imstande sind, dass sie jede Tätigkeit annehmen würden, dass sie alles dafür machen würden, um nur Arbeit zu haben. Freilich verteilt man in dieser Gesellschaft an solche Zeitgenossen ausreichend Schulterklopfer. Schließlich tragen sie das System weiter, obwohl sie von ihm ausgeklammert werden. Doch das Wollen alleine reicht nicht aus, es ist unzureichend, wenn man funktionieren will, aber nicht kann, weil keine Gelegenheit dazu geboten wird. Wer nicht funktioniert, wer von seiner Funktion entbunden wieder vermenschlicht, der Dinglichkeit entweicht, legt den Funktionsträgern Kosten auf. Ist nicht mehr nutzvoll einsetzbar und daher als wertlos abgestempelt. Die Einzelschicksale kümmern indes nicht, sie bleiben im Nebel verborgen, um denen, die keine Funktion mehr erfüllen, bloß nicht begreiflich zu machen, dass sie vom Mittel wieder zum Zweck zurückgekehrt sind. Denn das könnten solche Menschen ohne Funktion sein: Sich selbst der Zweck! Entkommen der verdinglichten Daseinsform, sich wieder dem widmen, was sie als Menschen ausmacht. Dumm für den, der in seiner Funktion sein Menschsein sah, womöglich weil man ihn jahrzehntelang darauf abgerichtet hat.

All dies führt dazu, dass die Menschen nicht Lohn suchen, nicht nach einer Möglichkeit sich über Wasser zu halten, sondern bloß auf "Arbeit" aus sind. Dies äußert sich auch gerade dort, wo in einem Bewerbungsgespräch abgeraten wird, schon bald das Gehalt oder die Arbeitszeiten zu erfragen. Obwohl das die maßgebenden Größen eines Antritts zu einem Arbeitsverhältnis sind, obwohl der Funktionssuchende es als das wichtigste Anliegen ansieht, einen Lohn zu beziehen, den er in seiner Freizeit nutzen kann - so er denn eine hat, weswegen die Frage nach den Arbeitszeiten durchaus Priorität hat -, soll diese Frage in den Hintergrund gedrängt werden. Es ist scheinbar ausreichend, eine Funktion zu besitzen; die Kosten-Nutzen-Maßhaltung, die die unternehmerische Welt überall ansetzt, gilt in diesem Moment nicht für den Suchenden. Er soll nicht abwägen, sondern die "Segnungen der Arbeit" genießen, gleich wieviel sie ihm bringt, ob sie ihn absichert, ob er noch freie Zeit zum Menschsein hat.
Der Arbeitsbegriff konnotiert Gehalt, Selbstwert, soziales Ansehen. Aber nur oberflächlich, denn für immer mehr Menschen bedeutet Arbeit: Hungerlohn, Minderwertigkeitskomplexe, soziale Ausgrenzung. Und selbst denen, die ein Auskommen in ihrer Arbeit haben - hier spiegelt sich der Irrtum gravierend, denn es ist nicht "ihre" Arbeit, sondern gehört dem jeweiligen Käufer der Arbeitskraft -, bietet der Arbeitsbegriff nur oberflächliche Autonomie. Sie bleiben Sklaven ihres Herrn, gebunden an eine Autorität, die Profite zum Selbstzweck erhebt, die nicht den Mensch, aber sehr wohl seine nutzbare Energie will. Zudem bedeutet es für die Käufer der "gekauften Arbeitskraft" mehr und mehr, felsenfest zu glauben - und daher zu fordern -, auch die Meinung und die absolute Loyalität des Arbeitnehmers erworben zu haben. Letzterer sollte schließlich die Hand nicht beißen, die ihn füttert.
Und obwohl die jeweilige Person in Unmündigkeit gestossen wird, wenn sie innerhalb einer Funktion ihr Leben fristet, erklärt man diesem Typus des verdinglichten Menschen, der nur noch Mittel zum Zweck ist, dass er der vollwertigste aller Bürger des Landes ist, weil er arbeitet, weil er schafft, weil er schwitzt und blutet.

Keiner dieser Apologeten der Arbeitsromantik, die vom schweißtreibenden Paradies der arbeitenden Menschen phantasieren, erklärt auch nur einmal, dass vollwertige Bürger all jene darstellen, die Menschen sind. Ganz unabhängig von ihrer Funktion! Wie sollten sie dies auch erklären, wo ihnen die Rückführung des Menschen zum Menschsein ein Graus sein muß. Vielleicht würde sich der moderne Mensch nämlich bewußt, dass die Hysterie um Mobilität, Flexibilität, Wachstum und Fortschritt einen historischen Irrtum darstellt, wie die Menschheit dann und wann immer wieder einem Irrtum unterlegen war. Ja, vielleicht würden die Menschen sogar erkennen, dass die eine Hälfte dessen, was der Markt ihnen bietet, nutzlos, die andere Hälfte, mit noch weniger Arbeit produziert wäre. Auf Nutzen reduziert und damit verdinglichtes Mittel seiend, ist der Mensch diesen Herrschaften wertvoller.

Es gilt dem entgegenzutreten und klar zu formulieren, dass alleine das Menschsein ausreicht, um respektvoll behandelt zu werden, um einen Wert zu besitzen. Wie die Feldmaus Frederick in der gleichnamigen Kindergeschichte, muß das Individuum nicht funktionieren, um für die Gesellschaft einen Wert zu besitzen. Frederick half nicht bei den Vorbereitungen für das Winterquartier, er genoss die letzte Sonne, die allerletzten Farben des Herbstes, während seine Gefährten emsig Lebensmittel anhäuften. Dies warfen sie ihm natürlich vor. Er solle doch auch etwas tun, nicht so faul sein! Er behauptete, er sei aber doch beschäftigt, sei nicht faul. Als sich die Vorräte aufbrauchten und der Winter einfach nicht verging, wußten die Mäuse sich den Hunger nicht mit Geschichten und Erzählungen wegzuphantasieren. Die Langeweile drückte aufs Gemüt und ließ den leeren Bauch erst recht spürbar werden. Doch dann erzählte Frederick von der Sonne und wärmte seine Gefährten damit, und die Farben des Herbstes erfüllte sie alle mit Phantasie. Offensichtlich hatte Frederick keine Funktion in seiner Gesellschaft. Seine Gefährten sahen dies jedenfalls zunächst so. Aber plötzlich wurde offenbar, dass seine Funktionslosigkeit einen Nutzen hatte. Wehe derjenigen Gesellschaft, in der sich Funktionslose dieser Einsicht gewiß werden. Dann bleibt kein Stein mehr auf dem anderen stehen...

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Sit venia verbo

„Für China inakzeptabel ist die Forderung einiger Exiltibeter nach politischer Vereinigung aller tibetischen Siedlungsgebiete mit eigener Verfassung unter loser Oberhoheit Chinas; ein solches Groß-Tibet hätte nach Einschluss ausgedehnter Gebiete von Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan die doppelte Größe des heutigen Autonomen Gebietes Tibet. Allerdings räumte der Dalai Lama im Herbst 2007 ein: „Alle Chinesen, die Tibetisch sprechen und die tibetische Kultur respektieren, können bleiben, sofern es nicht zu viele sind.“
- Helwig Schmidt-Glintzer, "Kleine Geschichte Chinas" -

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Mein Abgeordneter - Teil 2

Donnerstag, 29. Mai 2008

Fortsetzung vom 28. Mai 2008

Schritt 2: Machen Sie Meldung!

Nachdem wir uns nun einige Tage oder Wochen im Schwejk-Kosmos geübt haben, sollten wir die Sprechstunde unseres Abgeordneten besuchen. Zuweilen geht das ohne Voranmeldung. Volksvertreter bieten regelmäßige Sprechzeiten an und man kann diese nutzen, um sie mit eigenen Nöten und Sorgen zu belästigen. Sehen Sie, das war ein Rückfall! Wir wollten optimistisch sein, ein bißchen naiv, aber immer freundlich. „Belästigen“ ist wahrlich ein unangebrachter Terminus, denn offiziell ist es doch so, dass sich der gute Herr oder die nette Dame für uns interessiert. Kein Wähler belästigt seinen Mann im Parlament – zumindest werden solche infamen Aussagen nicht öffentlich herausposaunt. Vom Belästigungen seiner Wähler spricht unser Mann nur im vertrauten Kreis seiner Kollegen. Wir aber heben uns solche Unflätigkeiten für unseren Stammtisch auf, in der Sprechstunde haben solche Worte keinen Platz.
Wenn wir Glück haben, müssen wir nicht mal warten und dürfen sofort ins Zimmer unseres Abgeordneten. Da sitzt nun der Mann, der an unserer Stelle im Parlament sitzt, für unsere Belange eintritt und die lästigen Lauf- und Marathonaufgaben der Demokratie für uns unternimmt. Unser Laufbursche, dem wir natürlich ein ordentliches Taschengeld mit auf dem Weg geben. Wir wollen nicht vorlaut sein und harren aus, bis er das Wort ergreift. Wir dürfen uns sicher sein, dass er das tut. Die meisten dieser Exemplare lieben es, sich reden zu hören. Und eine Minute, in der sie sich nicht selbst hören durften, war ein verlorenes Sechzigstel einer Stunde. Deshalb wird er uns fragen, wie er uns helfen kann, wenngleich er nie mit dem Gedanken spielt, uns Hilfe zukommen zu lassen. Nun liegt es an uns, ihn mit blanker Naivität zu treffen, ihm ein Rätsel aufzugeben, dass er noch nicht begreifen kann. Wir sagen: „Nun Herr X, was haben Sie zu berichten?“ Auch wenn es sich hierbei um eine Frage handelt, werden wir sie nicht fragend betonen, sondern wie einen Ausrufesatz stehenlassen. Jedoch nicht militärisch zackig, sondern naiv und liebenswürdig. Sollte er nun glauben, er habe sich verhört und meint deshalb nochmal nachfragen zu müssen, so wiederholen wir den Satz genau in dieser Weise. Das Schweigen überspielen wir mit erwartungsfrohen Augen, die auf seinem Gesicht haften. Irgendwann wird er uns aber doch nochmal fragen müssen, was denn damit gemeint sei. Dann lächeln wir ihn an und stellen voller Freude fest: „Sie sind doch mein Abgeordneter!“ Es darf nicht vergessen werden, ein überraschtes Gesicht zu machen, gerade so, als würden wir uns denken: „Himmel nochmal, warum versteht der meine Frage nicht?“ Sicher wird er verdutzt umherblicken; wenn er Humor hat, lacht er erstmal, überspielt diese Situation der Ratlosigkeit mit einem Witzchen. Wir aber lachen nicht und sein eventuelles Witzchen begreifen wir ebensowenig, wie seinen Lacher. Stattdessen blicken wir ihm treu ins Gesicht und ergreifen nun nocheinmal das Wort. „Sie sind doch mein Abgeordneter. Erzählen Sie mir doch bitte, was Sie diese Woche so getan haben!“ Wichtig: Wir sind zwar naiv, aber nicht ängstlich. Deshalb begreifen wir einen solchen Satz als Aufforderung, nicht als zögerliche Bitte unsererseits. Natürlich ist zu befürchten, dass er immer noch dümmlich aus seiner Wäsche starrt. Aber das hält uns nicht davon ab, uns erneut in Schweigen zu hüllen.
Für uns ist es ab jetzt belanglos, wie unser Freund aus der Volksvertretung weiter reagiert. Man darf aber davon ausgehen, dass er sicherlich irgendetwas darauf zu sagen hat. Wir achten darauf nicht, lassen ihn aber nochmals wissen: „Sie sind doch mein Volksvertreter! Nun, was haben Sie denn für mich in Berlin getan? Was gibt es Neues von der Front?“ Ob er nun anfängt, etwas verwirrt zwar, aber doch weiterhin um Fassung ringend, einige Wortbrocken herauszuschleudern? Einerlei! – denn wir wollen den ersten Besuch nicht unnötig in die Länge ziehen. Er kennt uns jetzt, weiß von unserer Naivität und unserem - für ihn ungesunden – Maß an Chuzpe. Somit beenden wir diesen ersten Besuch mit treudoofen Nicken und aufmerksamen Vorsichhindösen, erheben uns nach einer Weile, geben ihm die Hand und verschwinden. Aber halt! Nur wir wissen, dass dies ein erster Besuch war. Deshalb verabschieden wir uns nicht mit „Bis demnächst“ und nicht mit „Bis zur nächsten Woche“. Vielleicht, um die Sache mit Anstand zu Ende zu bringen, klopfen wir ihm auf die Schulter und lassen ihn wissen, dass wir froh sind, jemanden wie ihn, einen engagierten und wortgewandten Menschen, im jenem Gefecht zu wissen, das beinahe täglich für unsere Belange geführt wird. Das wird ihn erstmal versöhnen und durchatmen lassen. Es wäre tragisch und unentschuldbar, wenn der gute Mann seine Sprechstunden verkürzt, verlegt oder gar komplett streicht, nur weil wir ihm Angst gemacht hätten, bald schon wieder bei ihm vorstellig zu werden.

Zwischenexkurs: Drei, zwei, eins – meins!

Bestimmt fiel Ihnen schon mehrmals auf, dass wir hier immer von „unserem“ Abgeordneten sprachen. Ich spreche immer von „meinem Abgeordneten“, weil er das in diversen Ansprachen, Wahlkampfveranstaltungen und von Plakaten herunter selbst gesagt hat. Da hieß es dann: "Wählen Sie mich zu Ihrem Abgeordneten!" Außerdem haben wir ihn doch gerade deshalb fortgeschickt vom Weib und Kind. Er ist unser Botschafter und durch mich – nicht nur, aber auch – hat er diesen ehrenvollen und außerordentlich wichtigen Posten erhalten. Es ist folglich kein Zufall, wenn ich meinen Abgeordneten immer mit einer Besitzanzeigung betitele. Es ist wohlkalkuliert. Für uns ist wichtig, dass wir immer von „unserem“ Mann sprechen. Und das gerade auch in seiner Anwesenheit. Dies ist geradezu von fundamentaler Bedeutung für das Auf-die-Nerven-gehen unseres entflohenen Vertreters. Dieses kleine Wörtchen ordnet ihn in unserem Kosmos ein. Wir teilen ihm damit unterschwellig mit, dass wir nicht für ihn, er aber sehr wohl für uns da ist. Darum soll er immer wieder mitgeteilt bekommen, wohin er und wem er – in seiner Aufgabe als Mandatsträger – gehört. Er muß wissen, dass seine Position kein Gottesgeschenk oder eine zufällige Fügung des Schicksal ist, auch keine Anstellung als Wortverdreher großer Konzerne oder einflußreicher Interessensverbände und ebensowenig ein geruhsames Ruhepolster für seine Luxusambitionen, sondern er wurde von uns damit betraut, in unserem Namen im Parlament zu sitzen. Er ist unser Mann in Berlin oder München oder Kiel oder wo auch immer! Weil es uns gibt, hat er die Ehre, täglich zwischen Akten und Berichten zu sitzen; weil wir sind, darf er mehrmals von Sitzung zu Sitzung und von Buffet zu Buffet hetzen. Er ist, weil wir sind! Und das müssen wir ihm sprachlich immer wieder einbläuen, dürfen wir nicht unterlassen, nur weil wir meinen, wir hätten es nun oft genug gesagt. Die Sprache ist der Schlüssel, daher verwenden wir unsere Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern als Werkzeug gegen jene, die uns mundtot und damit sprachlos sehen wollen. In dem Moment, in dem wir beginnen, ihn als „einen“ Abgeordneten anzusprechen, könnte er sich – aalglatt wie er ist – davonstehlen, könnte seine Verpflichtung dem Wähler gegenüber vergessen.
Merke: Zentraler Punkt unseres Miteinanders mit dem Abgeordneten ist das besitzanzeigende Fürwort, das wir uns nicht der Bequemlichkeit halber ersparen dürfen. Er ist „unser“ Abgeordneter, so wir wir alle „unsere“ Hosen tragen und „unsere“ Haare schneiden lassen. Freilich verfügen wir nicht über ihn, wie über einen Gegenstand. Er ist Mensch und Bürger, kein Sklave; er ist frei, sein Mandat aber nicht! Es gehört uns anteilig, ist Zeichen demokratischer Teilhabe und deshalb nicht sein Privateigentum. Natürlich könnte er sein Gewissen hervorheben, welches ihm im Grundgesetz von seiner Verantwortung gegenüber seinen Wählern entbindet. Vielleicht sollten wir dann die rhetorische Frage in den Raum werfen, wem das Gewissen desjenigen gehört, dessen Amtsstellung wiederum uns gehört.
Auf diese sprachliche Feinheit haben wir zu achten. Sie kategorisiert die Interessenslage und konkretisiert unser naives Tun im Umgang mit unserem Mann vor Ort. Wir sehen nicht ihn, sondern sein Mandat als unseren Mitbesitz an. Weil wir sind, darf er dort sein. Und das darf er niemals vergessen, wenn wir ihn in Beschlag nehmen.

Fortsetzung folgt...

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De dicto

"Wie er sich aber gestern im Bundestag verteidigte, das offenbarte miserablen Stil. Er hielt seine Rede, nahm die „Standing Ovations“ seiner Fraktionsgenossen entgegen und verließ den Plenarsaal, flankiert von seinem „Hofstaat“. So ersparte er sich, die peinlichen Details anzuhören, die die anderen Redner über ihn ausbreiteten.
Die Botschaft von Gysis Auszug war klar: Was ihr über mich redet, interessiert mich nicht, wie ihr über mich urteilt, ist mir egal. Kurz: Ihr seid mir nicht wichtig genug, als dass ich euch auch nur eine Minute zuhöre."
- BILD-Zeitung, Hugo Müller-Vogg am 28. Mai 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Gysis Abgang kann man betrachten wie man will. Grundsätzlich haben aber nicht die Herrschaften Abgeordneten das Recht, dass ein von ihnen gescholtener Kollege auszuharren hat. Wenn überhaupt, so hat dieses Recht der Wähler. Er kann verlangen, dass derjenige, dem man seine Stimme gegeben hat, dem man an seiner Statt zur Vertretung nach Berlin geschickt hat, auch am Ort des Geschehens verweilt, um jeder Debatte, sei sie noch so nichtig, beizuwohnen. Wahr ist aber auch, dass die Diskussion um Gysis mögliche Stasi-Vergangenheit einer politischen Nichtigkeit gleichkommt. Vor einigen Jahrzehnten hätte man es sich gewünscht, dass die Parlamentarier in dieser Weise speicheltriefend aufgestachelt gegen jene vorgegangen wären, die im Dritten Reich einen mehr oder minder einflußreichen Posten innehatten. Seinerzeit aber wählte man diese Herren zu Bundeskanzlern oder Bundespräsidenten.

Müller-Vogg appelliert an das moralische Gewissen. Nicht Gysis Gewissen, sondern an jenes, dass im Volk gärt und nun mit erhobenen Zeigefinger gegen die "Gefahr von Links" aufbegehren soll. Ein Volksaufstand ist unentschuldbar, kein demokratischer Weg - da sind sich unsere Eliten einig. Aber wenn dieser Aufstand gegen die LINKE in die Wege geleitet würde, dürfte man ein Auge zudrücken. So zumindest könnte man die regelmäßige Hetzpropaganda aus dem Hause Springer erklären. Man blättere einmal durch, was die Herrschaften Journalisten da zur LINKEN schrieben. Ernsthaft auseinandergesetzt hat man sich mit ihnen sicher nicht. Dies alles ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Positionen der LINKEN sozialdemokratisch gefärbt und damit im Kern pro-kapitalistisch anmuten. Müller-Vogg ist froh, dass die Linien bei BILD so klar gezogen sind, Freund und Feind so spielend erkennbar gemacht werden, denn dann kann er ganz frei in seinem Element werkeln: in der Aufwiegelung! Vor einiger Zeit waren es Erwerbslose, dann Jugendliche und nun eben die LINKE und namentlich Gysi. Morgen wieder Lafontaine und dann - wie im obigen "Artikel" geschrieben - die unsouveräne Petra Pau, die als Bundestagspräsidentin voreingenommen ist, weil sie Mitglied der LINKEN ist. Als ob die anderen Bundestagspräsidenten politisch rein seien...

Interessant ist auch die Auffassung der Parlamentarier, die sich nun darüber aufregen, dass Gysi ihnen den Rücken zugekehrt hat. Wenn aber in manchen Bundestagsdebatten die Reihen so licht sind, dass die verbliebenen Delegierten wie verirrte Berlin-Besucher bei einer Rast aussehen, fühlt man sich nicht dazu animiert, dagegen kritisch aufzubegehren. Dann geht es auch nur um die Wählerschaft, die man einmal mehr wort- und körperlos "vertritt". Wie oft haben diejenigen, die nun den großen Moralisten heraushängen lassen, den Wählern schon den Rücken gezeigt?
Das alles ändert nichts daran, dass die Menschen dieses Landes ein Anrecht haben, von Gysis Vergangenheit zu erfahren. Ob ein moralisches Urteil erlaubt ist, steht auf einem anderen Blatt. Wir sind alle vom Sein beeinflußt, unser Bewußtsein richtet sich danach. Das galt seinerzeit auch für Kiesinger und Lübke. Man hätte sich damals nur mehr Mut zur Einsicht und ein offenes und klärendes Gespräch gewünscht. Aber selbst das war zuviel. Die "Gespräche" von heute sind aber weder offen noch klärend, sondern für Gysi und viele Linke - nicht nur aus der Partei gleichen Namens - ehrabschneidend und beleidigend.

Und eine letzte Frage sei erlaubt: Wo war die aufgescheuchte Aufregung, als man Helmut Kohls Stasi-Akten nicht veröffentlichen wollte? Wo war sie, als er den Rechtsstaat verspottete und vor Gericht eine Aussage verweigerte, die unsereinem Beugehaft beschert hätte? Die BILD kann das freilich nicht beantworten. Kohls Trauzeuge Diekmann würde das nicht zulassen.

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Mein Abgeordneter

Mittwoch, 28. Mai 2008

Prolog: Wider dem entflohenen Volksvertreter

Es ist an der Zeit, diesem Land einen Ratgeber zu schenken. Einen, der die Menschen anleitet, wie sie mit denen zu verfahren haben, die in ihrem Namen die Geschicke und Mißgeschicke dieses Landes leiten. Der ihnen Rat erteilt im Umgang mit ihren Abgeordneten, der ihnen vorführt, wie man denen begegnet, die enthoben vom sicheren Erdboden, recht engagiert wirkend, wohlvergnügt den Volkstreter mimen. Dabei geht es nicht um Moral. Denn was kann der Abgeordnete dafür, wenn er zwischen Sektempfängen und Seminaren bei Versicherungsdienstleistern kaum Zeit und Antrieb findet, sich mit denjenigen auseinanderzusetzen, die ihm seine Position geschenkt haben? Nein, wir müssen den Abgeordneten als unglücklichen Zeitgenossen begreifen, der blind innerhalb seines üppigen Umfeldes lebt und eigentlich nach Aufklärung giert, die er freilich innerhalb seines Alltages kaum zugestanden bekommt. Wir brauchen also einen Ratgeber, der uns vor Augen führt, wie wir unserem Abgeordneten wieder für uns, unsere Probleme und Anliegen, unsere Meinungen und Anschauungen gewinnen. Dabei ist es von Belang, sein Gewissen, welches laut Grundgesetz – Art. 38, 1 GG – der Maßstab seiner Beschlußfähigkeit ist, nicht einfach unter den Teppich zu kehren. Natürlich soll er sein eigenes Gewissen befragen dürfen. Doch soll jenes wieder mit den Forderungen und Hoffnungen seiner Wähler verquickt werden. Was das Gewissen des Abgeordneten heute mit Wirtschaftsforderungen und Unternehmensinteressen verbindet, soll wieder dem gemeinen Wähler zuteil werden. Und da wir keinen Volksvertreter zu seinem Glück prügeln können, dürfen und wollen, wir es nicht als sinnvoll erachten, für des Abgeordneten Aufklärung in Haft einzusitzen, wird der Ton die Musik machen. Es kommt darauf an, den Verirrten nicht zu schelten, ihm keinen Marsch zu blasen, sondern eine feine, sanfte Melodie ins Ohr zu säuseln.
Aber was soll die lange Vorrede! Wir werden Schritt für Schritt vorgehen, um unseren Abgeordneten für uns zurückzugewinnen. Dazu müssen wir uns vorbereiten, ein wenig Kaltschnäuzigkeit erlernen. Die Bequemlichkeit, unseren entflohenen Abgeordneten in einem Tierheim abzuholen, so wie unseren entlaufenen vierbeinigen Freund, können wir uns hier leider nicht leisten. Und daher soll der erste Schritt prompt folgen, um keine Zeit zu vergeuden.

Schritt 1: Sind Sie blöd, Schwejk? - Melde gehorsamst, ich bin blöd!

Bevor wir unseren Abgeordneten in seiner Sprechstunde besuchen, sind Vorbereitungen zu treffen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns jeglicher Gewalt entsagt haben. Daher sind die Vorbereitungen weniger materieller Art, sondern eine Einstellungssache unseres Verstandes.
Etwas gespielte Naivität würde uns gut zu Gesichte stehen, bringt uns sicher weiter. Wer erinnert sich nicht an die Abenteuer des Naivlings Schwejk? Oder denken wir an Forrest Gump! Es wird uns anfangs schwerfallen, hinter den politischen Institutionen Einrichtungen zu erblicken, die für uns – die Bürger und Wähler – gemacht sind. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass der große politische Zirkus eine Veranstaltung ist, in dem wir wenig bis gar nichts verloren haben. Diese bittere Erkenntnis müssen wir ablegen, wenn wir auf unseren Abgeordneten treffen. Es heißt in jenem Moment, frisch und fröhlicher Optimist zu sein, immer vom Besten auszugehen, an das Edle zu glauben. Unser Abgeordneter muß das Gefühl haben, auf einen Wähler zu treffen, der ihm aus der Hand frißt, der noch an Staat und Autorität glaubt. Dazu muß man wissen, dass dies die Lieblingssorte Wähler ist, die so ein üblicher Abgeordneter hat. Solche Exemplare aus der Wählerschaft sind es, die sich leicht beschwichtigen lassen und die die einstudierten Floskeln seiner politischen Vertretung wie das Wort Gottes huldigen. Wir merken uns also, dass zurückhaltender Optimismus unsere Grundstimmung sein muß, wenn wir unserem Mann aus dem Parlament gegenübersitzen. Mehr nicht, es soll nur Basis sein! Verfallen wir nicht in die irrige Annahme, wir würden ihn aufsuchen, um ihn idiotisch entgegenzulächeln, wenn er so tut, als würden wir ihm am Herzen liegen. Wir wissen ja, dass wir es nicht tun, aber wir tun so, als glaubten wir ihm jede Silbe seines schmalzigen Scheininteresses. Große Augen machen, gutgläubig seinen Reden folgen, ein wenig den Schwejk parodieren und dann, wenn er sich am Ende seiner Ausführungen wiederfindet, stellen wir ihm eine naive, aber für ihn vielleicht peinlich anmutende Frage. Oder eine Frage, die er aus dem Stegreif und ohne zu erröten nicht beantworten kann. Diese Herrschaften glauben, sie haben es mit Dummen zu tun, weshalb wir ihrem Weltbild zunächst noch entgegenkommen. Gegenüber der Dummheit wird ein guter Abgeordneter zur Höchstform sophistischer Rhetorik auflaufen. Darin liegt unsere Chance.
Wir merken uns aber: Auch wenn uns des Abgeordneten Verächtlichkeit nicht gefällt, wir eigentlich verärgert sein müßten – und wohl innerlich auch in einem solchen Moment sind -, so werden wir doch nicht ausfällig oder schweifen vom gutgläubigen Optimismus ab. Wir dürfen unseren Mann nicht abwertend betrachten, ihn nicht moralisch verurteilen. Auch bei ihm ist das Bewußtsein vom Sein abhängig, oder anders: Er ist Opfer seines Umfeldes. Was wir als seine Not erkannt haben, das sollten wir noch wissen, bevor wir die Höhle des Löwen betreten, ist für ihn Erfüllung und Lebensinhalt. Es soll Exemplare von Abgeordneten geben, die wirklich glauben, was sie Tag für Tag den Menschen erzählen. Andere sind felsenfest davon überzeugt, dass ihr Votieren für Unternehmensinteressen eine Wohltat für den Bürger darstellt. Wir werden ihn mit seinem Irrtum nicht konfrontieren. Das wäre vergebene Liebesmühe.
Standhaft, mit etwas Schalk im Nacken, werden wir so tun, als würden wir uns für den Mann interessieren, der unter uns sein Amt bekleidet. Sollten wir staatsfeindlich gesinnt sein, so wird das unser Mann nicht erfahren. Wir stellen persönliche Aversionen in den Hintergrund, damit er glaubt, einem gutgläubigen Schaf aus seiner Herde zu begegnen, dass er beruhigt zur Schlachtbank führen kann.
Wenn wir uns dies verinnerlicht haben, suchen wir seine Schlachterei auf – sein Büro.

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Ditfurths Mandatsniederlegung

Dienstag, 27. Mai 2008

Wenn ein Abgeordneter sein Mandat niederlegt, dann ist dies alltägliche Normalität innerhalb einer Demokratie. Schließlich ist niemand gezwungen, seine gesellschaftliche Stellung bis zum Erbrechen zu halten. Freilich ist diese Freiheit nicht jedem, nicht in jedem Bereich gegeben, ist sie oftmals nur theoretischer, nicht konkreter Art. Aber eine Amtsniederlegung ist im Bereich konkreter Freiheit anzusiedeln. Jutta Ditfurth, Frankfurter Stadtverordnete der Liste ÖkoLinX-ARL, nimmt sich diese zwanglose Freiheit. Zwanglos? - So sicher darf man sich da nicht mehr sein, wenn man Ditfurths Worten folgt. Sie liefern ein bezeichnendes Bild von Frankfurt, aber auch von der Gesamtgesellschaft ab und zeigen auf, wie linke Opposition, die sich nicht den herrschenden Gedanken verschrieben hat, unterdrückt wird.
"Was sich seit 2006 hinter den Kulissen des Römers im Umgang mit der linken Opposition abspielt, ist unerträglich.

Im Römer spiegelt sich wider, was gesellschaftlich passiert. Das brutale Ausmaß an Verarmung einerseits und Bereicherung andererseits ist inzwischen so offensichtlich, dass VertreterInnen des Besitzbürgertums, CDU und Grüne, jegliche radikale, ökologische linke Opposition mobben und ausschalten wollen, vor allem wenn die sich in der Vergangenheit und der Gegenwart ebenjener Schwarz-Grünen allzu gut auskennen.

CDU/SPD/Grüne/FDP im Römer liefern die Stadt Frankfurt am Main dem Kapital, Banken und Konzernen, aus. Die städtische Infrastruktur wird auf ihr Bedürfnis zugeschnitten und nicht auf die Bedürfnisse der meisten Menschen in der Stadt.

So wird der EZB eine lärmende Brücke geschenkt, damit ihr Verkehr fließt, während z.B. die barrierefreie Stadt ein schöner Traum bleibt. Der Löwenanteil des Geldes wird nicht in die Verbesserung des Lebens der meisten FrankfurtInnen gesteckt, etwa in soziale Einrichtungen, MigrantInnenprojekte, Krankenhäuser, Stadtteil- und Jugendzentren, humane Wohnungen, bessere Luft und Maßnahmen gegen den Lärmterror durch Flugzeuge und Autos, sondern in Prestigeprojekte, in Infrastrukturmaßnahmen für Wohlhabende sowie in elitäre Kultur.

Die Stadt wird in rasantem Tempo so verändert, dass sie den Verwertungsbedingungen des Kapitals dient, der Ästhetik und den Konsumbedürfnissen von einflußreichen Cliquen und "AufsteigerInnen" und ihren dogmatischen Kulturvorstellungen gefällt. Es sind in Frankfurt/Main überall die gleichen Cliquen und Kungelgruppen, die längst viel zu viel Einfluß über unser Leben in dieser Stadt haben. Und sie hoffen, dass die Menschen dieser Stadt sich auf Dauer damit zufrieden geben, was als Brosamen dieser Enteignung der Stadt und des öffentlichen Raums abfällt. Gibt es dann mal zuviel kleinbürgerlich-reaktionären Unmut wird der mit verlogenen, pseudo-historischen Altstadtrekonstruktionen beschwichtigt."
Jutta Ditfurth beschreibt ein düsteres Bild der Kommunalpolitik, wie sie scheinbar in vielen Städten dieses Landes betrieben wird. Was sie hier aufreiht, könnte gleichermaßen meine Heimatstadt betreffen. Hier werden z.B. großräumige Kindergärten, die eine riesige Gartenfläche haben, eine übersichtliche Anzahl von Kindern betreuen, geschlossen; der riesige Garten als Baufläche verkauft. Stattdessen entwirft und erbaut man Kindergärten, die kaum ausreichenden Platz bieten - pro Kind zwei Quadratmeter -, die in einer effizienten und billigen Holzbauweise innerhalb weniger Wochen entstehen. Bezeichnenderweise wird ein solcher Kindergarten bald in einem Stadtteil eingeweiht, in dem vornehmlich ausländische Mitbürger leben. In den feineren Gegenden meiner Heimatstadt, würde man sich nicht einmal trauen, so ein Projekt vorzuschlagen. Für die Stadtoberen ist es belanglos, ob Kinder aus ärmeren Haushalten wie Hühner in einer Legebatterie betreut werden. Wenn es die "ökonomischen Zwänge" erfordern oder wenn ein potenter Geldgeber winkt, dann wird bei der Abstimmung im Stadtrat munter die Hand gehoben. Natürlich sind diese Herrschaften aber autonom, werden nicht gezwungen, sondern entscheiden aus freien Stücken heraus. Zumindest verkünden sie das gerne. Man darf sie nicht einmal nach ihrer Motivation fragen und dahingehende Vermutungen anstellen, ohne dass sie mißmutig werden und es als eine Frechheit empfinden, dass man so über sie denkt.

Was Jutta Ditfurth hier kundtut, ist nicht Frankfurter Einzigartigkeit, sondern in jeder größeren Stadt Deutschlands zu beobachten. Städte gehören nicht mehr den Bürgern und Bürgerinnen, sondern einigen wenigen Cliquen und Familien, die im stillen Hintergrund moderne Medicis sein wollen und leider oftmals auch sind. Alleine mit dieser kafkaesken Aussicht leben zu müssen, lediglich zwischen parteipolitisch verhunzten und von der Wirtschaft versauten Charakteren wählen zu dürfen, die dann im Namen des Volkes, Politik gegen das Volk betreiben, könnte schon als Zwang ausgelegt werden, ein Mandat geradezu weit wegwerfen zu müssen. Jedenfalls dann, wenn man dieser Riege feiner Damen und Herren nicht angehört. Aber Ditfurth führt weiter auf, wie man ihr und ihrer Liste, das Leben erschwerte und sie regelrecht zur Mandatsniederlegung zwang.
"Von 2001 bis 2006 wurde mir, als einziger parlamentarischer Vertreterin der Wählervereinigung von ÖkoLinX-Antirassistische Liste im Frankfurter Römer, die Arbeit durch die Koalition aus CDU/SPD/Grüne/FDP bereits massiv erschwert. Wir haben uns dagegen, so gut es ging, gewehrt. Schon in jenen fünf Jahren war die, alle kommunalpolitischen Frage der Stadt Frankfurt umfassende, Arbeit im Römer nur auf Basis hoher Selbstausbeutung möglich.

CDU und Grüne haben dann im Frühjahr 2006 die Arbeitsbedingungen der linken Opposition drastisch verschlechtert. Nach unseren Informationen hat die CDU die diesbezüglichen "Anregungen" der Grünen freudig aufgegriffen, die linke Opposition über jedes bisher im Römer bekannte Maß hinaus zu drangsalieren. Das einzige, was die Grünen aus ihrer Vergangenheit mitgenommen haben, ist das Wissen darum, wie man Minderheiten schäbig behandelt - was sie selbst mal erlitten haben, wenden sie nun auf linke KritikerInnen an.

Die Hessische Gemeindeordnung (HGO) erlaubt Fraktionen bestehend aus zwei Abgeordneten. CDU/SPD/Grüne/FDP warteten aber 2006 bis nach der Kommunalwahl und erhöhten dann, passend zu den Wahlergebnissen, die Mindestgröße für eine Fraktion im Römer auf mindestens drei MandatsträgerInnen, so dass die vor dieser Geschäftsordnung gleich nach der Wahl gebildete neue zweiköpfige Fraktion bestehend aus Luigi Brillante (Europaliste) und Jutta Ditfurth (ÖkoLinX-ARL) plötzlich nicht mehr als Fraktion anerkannt wurden.

Mir wird faktisch im Parlament der Mund zugehalten. Durch die Willkür von CDU und Grünen stehen mir pro Tagesordnungspunkt (zwischen 6 und 15 Tagesordnungspunkte pro Sitzung) auf einer Stadtverordnetenversammlung lediglich 30 bis 60 Sekunden "Redezeit" zur Verfügung.

Die Geschäftsordnung wurde 2006 so geändert, dass ich während einer achtstündigen Parlamentssitzung statt bisher kümmerlicher 20 Minuten Redezeit nur noch lächerliche 10 Minuten für eine ganze Sitzung habe und damit praktisch seit eineinhalb Jahren nur noch begrenzt an sehr wenigen Debatten teilnehmen darf. Diese Einschränkung meiner Redefreiheit wurde auch für die Haushaltsdebatten und den Kommunalpolitischen Situationsbericht nie aufgehoben.

Als Parlamentarierin gewählt wird es mir unmöglich gemacht, Parlamentarierin zu sein. Ich bin z.B. auch in keinem Ausschuss stimmberechtigt und aus sämtlichen Informationsrunden ausgeschlossen.

Durch Geschäftsordnungsmanipulation kommen Tagesordnungspunkte, die ÖkoLinX-ARL vorschlägt, nachts auf die Tagesordnung, wenn ein Teil des Stadtparlaments sich in der Cafeteria längst mit Wein und Bier die Kante gibt, ein anderer Teil in Fraktions- und Nebenräumen kungelt, die Magistratsreihen so leer sind wie die ZuschauerInnen-Tribüne und die Presse längst nach Hause gegangen ist.

Von 2001 bis 2006 erhielt ÖkoLinX-ARL im Römer (gleichfalls nur eine Stadtverordnete) jährlich 60.000 Euro für Büro- und Personalkosten, während sich die anderen Fraktionen, auch die Grünen, die doch Wählerverluste eingefahren hatten, plötzlich noch mehr Geld zuschoben als vor 2001.

Aber seit 2006 gibt es - außer einem Büro mit schlichter Grundausstattung - Null Euro für ÖkoLinX-Antirassistische Liste, d.h.
- Null Euro für Personal, nicht einmal schäbige, kleine Honorarverträge für Hilfskräfte sind mehr möglich;
- Null Euro auch für Büromaterial, Kopien, Bürotechnik, Archiv, Öffentlichkeitsarbeit, Haushaltseminare, Fachberatung usw.

Großartiges Resultat sinn- und nutzloser Verhandlungen war, dass wir 500 (in Worten: fünfhundert) Blatt Schreibmaschinenpapier pro Monat bekommen.

Über die Ausstattung von ÖkoLinX-ARL im Römer entscheiden ausgerechnet und eigenmächtig die Parteien, deren Fraktionen - nicht nur im Römer - selbst entscheiden dürfen, wieviel Geld sie sich aus Steuergeldern nehmen, sondern die auch im Landtag und Bundestag über die Höhe der eigenen Fraktionsmittel und Diäten bestimmen.

Ich muss seit April 2006 alle Kosten für Hilfskräfte und Bürokosten, für Beratung und Archiv usw. aus eigener Tasche bezahlen. Das kann ich nicht mehr. Die Kosten liegen weit höher als die Aufwandsentschädigung, die andere Stadtverordnete selbstverständlich nicht für ihre Büros verwenden müssen. Eine längerwierige Krankheit und besondere berufliche Belastungen kamen hinzu. Es ist auch nicht zumutbar, politische FreundInnen über Jahre um Spenden für die Arbeit einer gewählten Stadtverordneten zu bitten, deren notwendige und dem WählerInnenauftrag entsprechende Kosten eigentlich aus dem Haushalt der Stadt Frankfurt finanziert werden müssten.

CDU und Grüne drängen mich aus dem Römer. Sie werden unterstützt von der FDP, aber auch von der SPD, die - obwohl selbst, wenn auch widerwillig, Opposition ist - keinen Moment daran dachte, die Rechte einer Minderheit solidarisch zu unterstützen und unterwürfig allem zustimmte, was CDU und Grüne ausgeheckt haben."
Das Mandat für ÖkoLinX-ARL geht nicht verloren. Manfred Zieran wird Jutta Ditfurths Stelle einnehmen. Aber die Gängelung der Musterdemokraten hat Früchte getragen. So wird es einer Liste, die demokratisch gewählt und damit legitimiert ist, unmöglich gemacht, Arbeit im Sinne ihrer Wähler zu leisten. Wie wenig Respekt man vor den Wählern von ÖkoLinX-ARL hat, zeigt einmal mehr die Arroganz der politischen Eliten. Man muß befürchten, dass diese Wähler irgendwann erkennen, dass ihre Stimme für eine solche Liste vergeudete politische Mitwirkung ist. Dann hätten CDU/SPD/Grüne/FDP erreicht, dass eine linke Opposition ganz aus dem Römer verschwindet; dann würde Regierung und Opposition wie aus einem Guß vor sich hinwerkeln können. ÖkoLinX-ARL hat sich eben nicht an die ausgemachte Taktik, im Parlament Geplänkel stattfinden zu lassen, die nur dem Anschein dienen, es würde Demokratie verwirklicht, gehalten.

Ist also diese Mandatsniederlegung eine zwanglose Entscheidung gewesen? Sicher ist, dass jene Frankfurter, die gesellschaftlich ausgegrenzt sind, keine Teilhabe am Gemeinwohl kennen, die arm sind, mit Jutta Ditfurths Abgang einen herben Verlust erlitten haben. Auch wenn sie nun ihr Mandat weiterreicht, da sie sich den Gängelungen seitens der etablierten Parteien nicht mehr beugen will, so bleibt sie doch eine der letzten standhaften Linken hierzulande. Falsche Kompromisse sind ihr Ding nie gewesen...

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In nuce

Murat Kurnaz sprach mit US-Abgeordneten über seine Zeit in Guantanamo. Interessant dabei, wie man Schuld verlagern kann. So gibt er Osama Bin Laden die Schuld an seiner Haft. Auch so kann man seinen Peiniger reinwaschen. Und damit das US-Gewissen ruhig schlummern kann, stellen die Abgeordneten schlußendlich fest, dass die Haftbedingungen in Guantanamo völlig "unamerikanisch" seien. Dann ist ja alles gut! Aber verwundert es nicht, dass die USA seit Jahrzehnten so eine vollkommen "unamerikanische" Politik betreiben? Man möchte doch annehmen, dass Angriffskriege, geheimdienstliche Interventionen und Konzentrationslager nicht zum US-amerikanischen "way of politics" gehören. Unamerikanisch: Schon alleine an dieser Bezeichnung läßt sich ermessen, welcher Größenwahn dahintersteckt. Als wären die USA Amerika oder Amerika die USA; wobei die Monroe-Doktrin in diese Richtung zielt. Gleichwohl könnte Fidel Castro, als Kubaner und damit Bürger Amerikas behaupten, dass nur der Cubano-Sozialismus typisch amerikanisch ist, oder man könnte die These aufstellen, dass der kolumbianische Drogenhandel den gesamten Kontinent ausmache. Wenn aber eine US-Administration so "unamerikanisch" agiert, sollte man sich fragen, ob die Protagonisten überhaupt Amerikaner - US-Amerikaner wohlgemerkt - sind. (Freilich würden viele behaupten, dass ein Texaner eher Mexikaner als US-Bürger ist.) Aber das Prinzip ist uns doch bekannt. Nachher war auch alles so völlig "undeutsch" und Hitler war Österreicher...

Wenn man glaubt, dass die BILD-Zeitung die Grenzen aller Widerlichkeit überschritten hat, taucht sie plötzlich mit einer Widerwärtigkeit auf, die alles Vorherige in den Schatten stellt. Nachdem man sich beim sogenannten LIDL-Skandal - der ein Skandal aller Discounter zu sein scheint - in Stillschweigen hüllte, fungiert man einmal mehr als Werbeträger. Schließlich ist bald Europameisterschaft und man darf davon ausgehen, dass die BILD wieder kräftig und großformatig für billige Chips und noch billigeres Bier aus LIDL-Regalen wirbt. Da heißt es in der wortgewandten Hofberichterstattung unter anderem: "Um faire Produktionsbedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu sichern, ist Lidl als eines der ersten Handelsunternehmen dem Europäischen Programm für Sozialstandards beigetreten – eine echte Vorreiterrolle." Und überhaupt sei LIDL "auf einem guten Weg" und "bereit für die Zukunft" - was immer das genau bedeuten soll. Es wird einem geradezu übel, wenn man nachliest, wie sich die BILD anbiedert, um den guten Freund zu stärken. Die Reinwaschung wird sich lohnen, denn spätestens wenn es dann Salzstangen und Deutschlandfahnen für ein Taschengeld gibt, ist die kritische Haltung der Kundschaft Geschichte.

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Der homo sovieticus in dieser Gesellschaft

Sonntag, 25. Mai 2008

Es steht geschrieben, dass die Welt sich bis Anfang der neunziger Jahre in einem ideologischem Ringen befand. Ein "Kalter Krieg" genannter Widerstreit zwischen zwei sich grundsätzlich unterscheidenden Gesellschaftsformen, die sich als miteinander unvereinbar verstanden. Kapitalismus und Kommunismus standen sich als Antinomien gegenüber, wurden - und werden noch heute - als differente Positionen im Zeitalter der Massenideologie proklamiert. Die Verteidigung der jeweiligen Position rechtfertigte das Ansammeln von Atomwaffen genauso, wie das Ausspionieren des jeweiligen Gegenspielers. Um die speziellen Eigenheiten des eigenen Systems zu wahren, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut. Die dem System immanente Seinswelt - die Lebensentwürfe der Menschen, die sich innerhalb des Systems derart gestalten mußten - durfte keinesfalls verraten, dem Gegner ausgehändigt werden, sondern galt als heiliges Gut, welches mit Blut und Eisen zu verteidigen war.

Nun ist es so, dass heutige Sozialisten, gerade auch in der LINKEN, die Sowjetunion - den Lenker des Weltkommunismus - nicht verherrlichen, ohne gleichzeitig mit Schamesröte im Gesicht aufzutreten. Sie wissen, dass im Paradies der Werktätigen etwas schief gelaufen ist, ganz distanzieren kann und will man sich aber letztendlich nicht. Grundsätzlich, so vernimmt man unterschwellig, habe man im kommunistischen, also sowjetischen Part für mehr Gerechtigkeit gesorgt, die gerade den Werktätigen zugutekam. Freilich habe man hart arbeiten, eine respektable materielle Grundlage schaffen müssen. Doch war es nicht Wesenszug des homo sovieticus, sich selbst nur auf den Faktor Arbeitskraft zurückzustutzen. Des Menschen Zelebrierung der Notwendigkeit von Arbeit, so argumentiert man heute in Kreisen der westlichen Establishment-Linken, ist Bestandteil des kapitalistischen Charakters. Darüber wird vergessen, oder wissentlich vertuscht, dass dieses Wesen ebenso im sogenannten Realsozialismus verankert war.

Es ist lohnenswert, sich auf Helmut Altrichters Beschreibungen der sowjetischen Arbeitswelt zu zu beziehen. Der Osteuropa-Historiker beschreibt mehrfach, wie sich die glorreiche Idee von einer gerechten Arbeitswelt wandelte, dem kapitalistischen Zwilling in nichts nachstand, sogar in der Radikalität überholte. So heißt es bei Altrichter, dass bereits in den zwanziger Jahren überall dort, wo es möglich war, von Zeit- auf Akkord- und Stücklohn umgestellt wurde. Die Gleichheit geriet schnell außer Mode, da man sich entschloss, Fachkräften mehr zu bezahlen als Ungelernten - hinfort die sozialistische Einsicht, dass niemand aufgrund seiner begrenzten Auffassungsgabe benachteiligt werden dürfe! - und zu diesem Zweck regelrecht Parolen ins Land posaunt wurden, die diese Ungleichheit zur sozialistischen Notwendigkeit verklärten. Außerdem äußerte sich diese Ungleichheit nicht nur in höheren Löhnen für Fachpersonal, sondern zeigte sich auch an Zusatzvergünstigungen, wie z.B. bevorzugte Vergabe von industriellen Konsumgütern, bevorzugte Zuweisung von Neubauwohnungen und zusätzliche Verköstigung in besonderen Kantinen. Ein Prämiensystem, gestaffelt nach der Leistung der erbrachten Arbeit, gab es nur in den Kreisen dieser Besserverdienenden, das Gros der Werktätigen - gerade auch jene, die vom Land in die Stadt kamen - blieb von zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten ausgeschlossen. Die Disziplinarverordnungen innerhalb der Betriebe wurden verschärft und Verstöße von der Betriebsleitung exekutiert. So konnten z.B. Arbeitsfehler als Sabotageakt ausgelegt werden, was drakonische Strafen zur Folge hatte. Zu spät zum Arbeitsplatz erscheinende Arbeiter wurden als "Arbeitsdeserteure" behandelt - dies konnte ab den dreißiger Jahren sogar strafrechtlich verfolgt werden. Mangelnde Disziplin, als die man diese nichtigen Vergehen betrachtete, konnte zur fristlosen Kündigung führen, die oftmals eine Entlassung aus der Betriebswohnung nach sich zog. Zudem verlor man in jenem Moment auch den Sozialversicherungsschutz. Deportation oder Einweisung in ein Zwangsarbeitslager schwebten wie Damoklesschwerter über dem Betroffenen. Die Einführung des Arbeitsbuches, das jeder Arbeiter und Bauer mit sich zu führen hatte, perfektionierte die lückenlose Dokumentation jedes einzelnen Arbeiterschicksals.

Dies alles lief nicht im Stillen ab, sondern wurde stilgemäß ins rechte Bild gerückt. Parolen wurden verbreitet und Merksprüche formuliert. Die Glorifizierung der Arbeit bedeutete "den Sozialismus zu leben". Besonders makaber wirkten dabei sogenannte "sozialistische Arbeitswettbewerbe", bei denen nicht mehr die Notwendigkeit des Übels im Zentrum der Überlegung stand, sondern die Pein und die Mühen um ihrer selbst Willen gefeiert wurden. Die sich daraus rekrutierenden "Arbeitshelden" wurden zu sozialistischen Helden schlechthin, zu Zeitgenossen, die nicht arbeiteten, weil es notwendig erscheint, sondern weil in der Arbeit selbst mehr als Schaffensprozess steckt, quasi eine Art metaphysische Wahrheit. Konträr zur Meinung der "sozialistischen Urväter", die eine Gesellschaft eingerichtet wissen wollten, in der Arbeit vielleicht notwendig ist, aber nicht geheiligt, war nun Arbeit zum Adelsprädikat propagiert worden. Der sozialistische Mensch definiert sich durch seine Tätigkeit im Betrieb, kann nicht ohne Arbeit sein, weil er dann keinen Wert mehr besitzt, sich förmlich langweilen muss. Ein Leben ohne Arbeit ist ihm unvorstellbar. Alle Maßnahmen zur Erhaltung der Arbeitskraft, die im Realsozialismus durchaus so eingerichtet waren, dass einem Werktätigen eine Krankheit nicht finanziell zurückwarf, waren in diesem Kontext zu sehen. Sie waren keine altruistische Maßnahme seitens der Machthaber, wohl aber auf reines Kosten-Nutzen-Kalkül zurückzuführen.

Wenn heute von "zu viel DDR" fabuliert wird - gerade auch im Lager der Liberalen -, dann ist das durchaus in der Weise zutreffend, dass wir dabei sind - besser schon mittendrin sind! -, Arbeit als ein wertvolles Gut zu feiern, vollkommen enthoben von der leidigen Notwendigkeit, des Menschen Energie mit stumpfen Handbewegungen zu vergeuden. Die Arbeit wird zum Objekt ohne Prädikat, denn wenn von "Arbeit" gesprochen wird - (Arbeitslose suchen bezeichnenderweise Arbeit, keine Verdienstmöglichkeit! Auf die Frage in Bewerbungsgesprächen, warum man sich für das Unternehmen X entscheidet, antworten sie nicht damit, dass sie unter dem Zwang sind, Geld zu erwerben, sondern erfinden hehre Motive, warum die Arbeit gerade dort um ein Vielfaches besser ist.) -, ist jede Eigenschaft hinfällig, denn im Wort "Arbeit" steckt bereits, was jahrelange Prägung in uns wachrüttelt. "Arbeit" steht für Teilhabe, für Verdienst, für soziale Integration. Rationalisieren Betriebe aufgrund von Automatisierungen, verfallen wir in Wehklagen, erinnern uns an die schönen alte Zeiten, in denen noch Schweiß rann, als die menschliche Arbeitskraft noch gebraucht wurde. Wie gerne würde man wieder selbst unter Tage in engste Schächte klettern, damit menschliche Arbeitskraft auch dort die Maschine zurückdrängt. Hinfort mit Straßenreinigungsmaschinen, die eine Person bedient; her mit Hunderten von Besen! Keine Gefahr und keine Mühsal hält uns ab, keine Effizienz und Produktions- und Wiederholgenauigkeit ist von Belang, wenn das wertvollste Gut des Menschen, seine Arbeitskraft, nur wieder expandieren könnte und sich nicht auf einen immer enger werdenden Markt beschränken müßte. Ja, wer kommt denn auf die Idee, durch Automatisierung verlorene Arbeitsplätze zu bejubeln? Wir betrauen das zutiefst, anstatt uns klarzumachen, dass dies eigentlich ein positiver Aspekt ist, der nur in einem negativen Umfeld verhaftet bleibt. Nicht die verlorenen Arbeitsplätze sind zu beweinen, sondern der Umstand, dass dieses System bei allen Arbeitsplatzabbau immer noch arbeitslastig organisiert ist. Nicht der schwindende Arbeitsplatz ist das Problem, sondern das System, in dem er organisiert ist! Und obwohl dies so ist, bleibt "Arbeit" ein Heiligtum - unantastbar und rein. Wer von des Menschen Hang zur Faulheit spricht - doch Faulheit ist es nicht, denn der Mensch widmete sich anderen Aufgaben, die ihm Freude bereiten würden; es ist nur Faulheit innerhalb des Apparats, aber nicht davon enthoben betrachtet -, sein Recht auf Müßiggang in Szene rückt, der wird argwöhnisch betrachtet. Man nehmen dem homo oeconomicus, der eine liberalere Abart des homo sovieticus darstellt, bloß nicht sein Götzenbild!

So gesehen ist der "kapitalistisch motivierte Realsozialismus" nicht tot. Wie die westlichen Innenminsterien sich die "ertragsreichen Innovationen" von TscheKa und StaSi unter den Nagel reißen - man denke an Schäubles "Idee", Geruchsproben von verdächtigen Demonstranten zu sichern -, so tun es die wirtschaftlichen Eliten des Westens diesen gleich, und sichern sich des homo sovieticus' Arbeitsliebe, bauen die in der kapitalistischen Welt schon immer vorhandene Freude an der Arbeit aus, um aus dem nur Freudigen, einen geradezu Liebenden zu modellieren. Der Kapitalismus hat eben nicht gesiegt, weil er a) nie ein abgeschlossenes, für sich alleine dastehendes Gesellschaftsmodell war, sondern im Realsozialismus einen Bruder - nicht einen Feind - hatte, und b) die Errungenschaften seines Brudermodells, die oft rabiater anmuten, sich brutaler und rücksichtsloser äußern - wohl auch kulturell bedingt -, in sich selbst assimiliert, sich der nutzvollen Werte der Roten hemmungslos bedient und somit nicht übriggeblieben ist, sondern eine Mischform darstellt.

Ich wiederhole mich, stelle aber erneut die Frage, die ich mir immer wieder stellen muß. Wenn in einer (Welt-)Gesellschaft keine Unterschiede zwischen zwei Gegenpositionen feststellbar sind, wenn sie also faktisch gar keine Gegenpositionen sein können, weil sie sich eben gleichen, weil sie vielleicht sogar komplett identisch sind, sich bestenfalls in der Farbe unterscheiden - wie man oft so salopp feststellt, dass irgendwas oder irgendwer "dasselbe in grün sei" -, dann muß doch die orwellianische Frage aufgeworfen werden, wer nun eigentlich Mensch und wer Schwein ist. Eine Frage, die sich vorallem die staatstreuen Linken und Trend-Sozialisten aller Parteifarben stellen sollten. Worin unterscheiden sie sich denn eigentlich von jenen, die sie via Medien ständig attackieren?

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Sit venia verbo

„Es gibt keinen materiellen Beweis für die US-offizielle Version des 11. September, für die „Große Erzählung von Osama und den 19 Attentätern“ (Mathias Bröckers). Die veröffentlichten Passagierlisten der vier gekapperten Maschinen enthalten ihre Namen nicht. Kein Fingerabdruck der 19 mutmaßlichen Selbstmordbomber wurde gefunden, obwohl doch jeder von ihnen Flugtickets, Bordkarten und Gegenstände in den Flugzeugen angefasst haben musste. Und keine der neun angeblichen Entführerleichen, die geborgen wurden und laut CNN noch auf Eis liegen, konnte bisher durch DNA-Tests identifiziert werden.
Man könnte einwenden, das Fehlen der Beweise sei belanglos, da sich mittlerweile Osama Bin Laden gleich zweimal per Video zu dem Verbrechen bekannt habe. Doch auch dies hält einer genaueren Analyse nicht stand. Die erste Aufzeichnung wurde nach der Eroberung Afghanistans im November 2001 von US-Soldaten gefunden und in der Folge in unendlichen Wiederholungen auf allen Fernsehsendern abgespielt. Die englische Übersetzung von Bin Ladens Aussagen, die als Untertitel auf dem Video mitläuft, ist zweifellos belastend. Doch stimmt sie mit dem überein, was Bin Laden auf Arabisch sagt? Die allen Verschwörungstheorien abgeneigte Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt dazu fest: „Tatsächlich ist kaum zu verstehen, über was sich Bin Laden mit seinem Gesprächspartner unterhält. Ab und zu erkennt man einzelne Worte, doch mehr nicht.“
Das zweite Video taucht Ende Oktober 2004 auf, unmittelbar vor den US-Präsidentschaftswahlen. Nun ist nicht nur die englische Übersetzung, sondern auch der arabische Orginalton ein eindeutiges Schuldbekenntnis. Aber es gibt zwei inhaltliche Ungereimtheiten: Der Mann, der da als Bin Laden zu sehen ist, gibt an, den Beschluss zur Zerstörung der Twintowers bereits in den achtziger Jahren gefasst zu haben – zu einer Zeit also, als die CIA und Bin Laden in Afghanistan noch für dieselbe Sache kämpften. Außerdem sagt der Video-Bin Laden, dass er sich vor dem 11. September mit Hijacker Mohammed Atta geeinigt habe, alle Operationen „innerhalb von 20 Minuten“ zu Ende zu bringen. Aber die Maschine, die Atta gesteuert haben soll, flog nach der Entführung nicht direkt nach New York, sondern in die entgegengesetzte Richtung und brauchte doppelt so lange.
Im Westen völlig unbekannt ist ein drittes Dokument Bin Ladens zum 11. September, ein ausführliches Interview, das am 28. September 2001 in der pakistanischen Zeitung Ummat erschien. Darin distanziert sich der Saudi von dem Massenmord: „Ich habe schon gesagt, dass ich nichts mit den Attacken des 11. September zu tun habe. Als Moslem versuche ich mein Bestes, um Lügen zu vermeiden. Ich hatte keine Kenntnis von diesen Attacken, noch halte ich die Ermordung unschuldiger Frauen, Kindern und anderer Menschen für einen verantwortbaren Akt.“
Mindestens eines der drei Bin Laden-Dokumente zum 11. September muss eine Fälschung sein. Aber welches?"
- Jürgen Elsässer, "Wie der Dschihad nach Europa kam" -

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In Kritik gepackte Kritiklosigkeit

Freitag, 23. Mai 2008

Kritik an den Abläufen innerhalb des kapitalistischen Gesellschaftswesens ist eingestuft als unheiliger Frevel. Dies verwundert umso mehr, wenn man sich vor Augen hält, dass es eben Kritik ist, die im Inneren der Unternehmens- und Konzerngesellschaft geradezu gefordert wird. Die dort als Meeting oder Mitarbeitergespräch benannte Prozedur, in der jeder seine Meinung kundtun und Kritik üben darf - ja geradewegs muß - ist die in Form gegossene, institutionalisierte Weise des Kritisierens. Inmitten fest abgesteckter Grenzen innerhalb des Gefüges der kapitalistischen Produktions- und Dienstleistungsweise, um zur Verbesserung von Effizienz und Produktivität, von Rationalisierung und Gewinnmaximierung beizutragen, ist Kritik ein begehrtes und gewolltes Gut für jene, die sich vom Fetisch ewiger Profitmaximierungen ernähren. Für die Arbeitnehmer wird dies Theaterstück der kritischen Teilhabe aufgeführt, das weismachen will, dass man nicht nur Rädchen im Getriebe eines gigantischen Produktions- und Konsumapparates ist, sondern mitwirkender Teilhaber an den profitablen Errungenschaften dieser Gesellschaft. Da diese Kritik also eine Form des Aushorchens von Mitarbeitern ist, um die eigenen Abläufe innerhalb des Unternehmens zu straffen und zu verschnellern, die Profitmaximierung an jedem Handgriff des Produktionshergangs kenntlich zu machen, bedarf es keiner Destruktivität, sondern einer konkreten Ansage seitens der Mitarbeiterschaft. Die unsichtbaren Regeln des Unternehmertums gebieten es, dass er seine Kritik an einen Verbesserungsvorschlag bindet, d.h. dass er nicht nur kundtun darf, dass z.B. der Arbeitsablauf des Einschraubens zu viel Zeit koste, sondern er muss konkretisieren, wie er sich vorstellt, diesen Arbeitsgang weniger zeitintensiv zu realisieren. Kurz: Man verlangt von den Mitarbeitern entweder Stillschweigen oder konstruktive Kritik. Kritik um der Kritik willen - destruktive Kritik - gilt als Verstoß gegen eine unsichtbare Charta, die das Unternehmertum seinen Angestellten auferlegt hat.

Dieses absolute Festhalten an Konstruktivkritik zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche des Gemeinwesens kapitalistischer Prägung. Versucht eine politische Partei die Fehlerhaftigkeit einer Grundposition der anderen Partei zu beweisen, rechtfertigt sich die kritisierte Seite meist damit, dass der Kritiker zunächst einmal aufzeigen müsse, wie man es besser machen könne; er soll also konstruktive Kritik üben, nicht einfach die Fehlerhaftigkeit der Position zum Gegenstand der Kritik machen. Die Negation eines Zustandes alleine, reiche nicht aus, um gegen ebendiesen vorzugehen; an die Negation ist eine Idee, eine neue Vorstellung, eben eine Konstruktion im Geiste zu ketten. Erst dann - und nur dann - wird die Negation dessen, was einem übel aufstößt, zur Kenntnis genommen und als ernsthafter Versuch von Kritik akzeptiert. Besonders gravierend äußert sich der Hang zur konstruktiven Kritik, wenn man das System als Ganzes anzweifelt, die Zustände des Kapitalismus, wie er sich in purer Menschenverachtung und Verwurstung der menschlichen Arbeitsenergie äußert, zum Gegenstand einer Fundamentalkritik macht, die zunächst nur das "schlecht Gegebene" negiert, angreift, für fehlerhaft erklärt. Tritt der Systemkritiker auf, läßt sein gesamtes Repertoire an Kritik zur Geltung kommen, so wird er kurz darauf aufgrund seiner Destruktivität für irrational erklärt, zum Tagträumer stilisiert, der zwar in vielen Punkten der angemahnten systemimmanenten Ungerechtigkeiten durchaus richtig liegt, aber doch keine Alternative anbieten kann, weshalb er nicht ernstzunehmen sei. So ein Zeitgenosse, heißt es dann, jammere eigentlich mehr, als dass er kritisiere.

Die Treue zur Konstruktivkritik bewirkt, dass negierende Kritik verächtlich gemacht wird. Wer keine Vorschläge zur Verbesserung anzubieten hat, der solle lieber schweigen. Das strikte Pochen darauf, Negationen an Alternativen zu binden, gleicht einer Mundtotmacherei, die Menschen dazu animiert, erst gar nicht zur Kritik animiert zu werden. Nebenbei werden jene belächelt, die mit den uralten Ideen ihrer dogmatischen Lehrer auftreten, weil sie noch im Klassenkampf ausharren, der ja angeblich selbst schon in die Geschichte eingegangen ist. Dazu Herbert Marcuse: "Hier zeigt die sogenannte Ausgleichung der Klassenunterschiede ihre ideologische Funktion. Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen." -
Dabei ist es belanglos, ob die uralten Dogmas jener besser oder schlechter sind, als die Dogmatik der herrschenden Zustände. Wichtig ist dabei: Die herrschenden Kreise legen fest, welche Alternativen, die man an die Negation, d.h. Kritik kettet, respektabel sind und welche nicht. In der Liebe zur Konstruktivkritik kommt zudem etwas zur Geltung, was ebenso "der Erhaltung des Bestehenden" dienlich ist. Indem man Massen von Menschen entmutigt, sich kritisierend zu äußern, auch dann, wenn sie keine alternativen Vorschläge machen können, entmündigt man sie ihres Feingefühls für Ungerechtigkeiten allerlei Art und degradiert sie zu stummen Funktionsträgern dieser Gesellschaft, die ihre zugeteilte Aufgabe erfüllen sollen, ohne sich kritisch damit auseinanderzusetzen.

Man kann Zustände und Vorgehensweisen für grundsätzlich falsch einstufen, aber dennoch keinen Lösungsweg ersonnen haben. Negation setzt keine Schaffung neuer Utopie voraus, ist aber nicht selten der Vorbote neuer Ideen, die sich aber erst dann einstellen, wenn zunächst gründlich negiert und aufgehoben wurde. Bakunin: "Die Lust der Zerstörung ist gleichzeitig eine schaffende Lust." - Was Bakunin nicht ordentlich betonte: Zuerst zerstört, d.h. kritisiert man die Fehler und Falschheiten eines Objekts. Wenn dies geschehen ist, stellt sich eine schaffende Lust ein, die Neues auf den Ruinen des Widerlegten erbaut. Niemals aber kann beides Hand in Hand zur gleichen Zeit geschehen. Dadurch aber, dass man in dieser Gesellschaft so tut, als habe jede Kritik auch eine neue Konstruktion mit sich zu bringen, kanalisiert man den Willen zur Kritik von Millionen von Menschen, setzt diesen Willen mit Gejammere gleich, welches destruktiv ist, die Wirtschaft lähmt, den Absatz behindere usw. Doch auch Menschen, die nicht wissen, wie man es besser machen könnte, erkennen zuweilen, dass das herrschende Prinzip falsch ist. Doch wenn man ihnen das Aussprechen dieser erkannten Gewißheit damit verunmöglicht, sie zu Jammerlappen ohne bessere Vorschläge zu stilisieren, erstickt man deren Kritikwillen im Keime, läßt sie zur schweigenden Masse verklumpen, die zwar innerlich Falschheiten wahrnehmen, aber aufgrund des eingeimpften Prinzips der Konstruktivkritik, lieber im Schweigen verweilen, um durch ihr ethisches Feingespür und durch das Aufbegehren ihres Gewissens nicht das System zu lähmen, welches ihnen täglich begreifbar machen will, dass es keine Alternativen gibt - schon gar nicht, wenn man nur negiert, ohne Verbesserungen zu reichen, die realisierbar sind. Realisierbar im Sinne der herrschenden Auffassung von Realisierbarkeit! Somit ist selbst jede konstruktive Kritik - gemessen an dieser Auffassung - eine in Kritik gepackte Kritiklosigkeit, ein stumpfes Schwert, denn realisierbar ist niemals, was die Masse an ökonomischer Teilhabe sich erkämpfen will, sondern nur dasjenige, was die ökonomischen Herrscher kulanterweise an Teilhabe anbieten. In Gefilden der Systemkritik spielt es also folglich keine Rolle mehr, ob man konstruktiv kritisiert oder Destruktivität walten läßt - beide sind zum Scheitern verurteilt. Doch nur die zweite Variante bietet einen sofortigen Maulkorb, macht den Kritiker umgehend unmöglich.

Man darf sich aber nicht entmutigen lassen, muß Kritisierbares auch kritisieren. Lösungen stellen sich niemals aufgrund ausgetüftelter Planungen ein, sondern sind Folge einer Zerstörung. Erst Negation, dann folgt was folgen muss oder kann! Daher ist die Negation ohne Alternativansätze keine stumpfe Waffe, kein Jammern ohne Ausweg, sondern der Vorbote für Neues, der Ansatzpunkt zur Schaffung neuer Denkmuster.

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De dicto

Mittwoch, 21. Mai 2008

"Arm sein heißt in Deutschland, nicht nach Mallorca zu fliegen, billiges Brot bei Lidl, Kaiser’s, Aldi zu kaufen. Jeder wirklich Arme in der Dritten Welt wünscht sich das Luxusleben der armen Deutschen. Wir armen Deutsche haben kein Geld für Konzertkarten, Kino-Tickets, Schulausflüge für unsere Kinder bzw. Schwimmkurse für Babys. Die armen Deutschen haben alle ein Dach über dem Kopf. Sie verhungern nicht, sie verdursten nicht. Ihr seid die reichsten Armen der Welt. Jeder Zahnarzt behandelt eure faulen Zähne. Wenn es kalt wird, macht ihr einfach die Heizung auf."
- BILD-Zeitung, Franz Josef Wagner am 20. Mai 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Franz Josef Wagner berichtet aus dem Leben jener die arm sind. In einem Zapp-Bericht aus dem Jahre 2006, wird Wagners Lebensstil dokumentiert, womit erklärbar wird, warum er ausgewiesener Experte in Sachen Armut ist. Dort erhält er einen Dienstwagen, weil sein "Alter schon sieben Jahre auf dem Buckel hatte", zeigt seine Speiselokalitäten und gibt ungewollt zu, dass er nicht einmal den Eingang des Springer-Gebäudes kennt, weil er seine "Artikel" zuhause verfaßt. Ja, man sieht sofort, dieser Mann hat jegliches Recht, das Leben der Armen zu beschreiben - er ist Experte, weil er selbst so wenig besitzt, sich so wenig leisten kann. Derart in Armut verstrickt, muß man ihm die Berechtigung sich dazu zu äußern, geradezu aufdrängen.

Für Kulturveranstaltungen ist wahrlich kaum Geld im Regelsatz einberechnet - keine 38 Euro im Monat. Freilich sind diese 38 Euro anders verplant, nicht selten um Altlasten zu begleichen. Jemand der in Deutschland arm ist, hat kaum Interesse an Kulturveranstaltungen, weil er es sich erstens, nicht leisten kann, und zweitens, er sozial geächtet ist und sich bei einer Veranstaltung mit sozial Geachteten fehl am Platze fühlt. Wagners zynische Ausführungen, dass Deutschlands Arme im Grunde Jammerlappen seien, weil sie sich den Schulausflug ihrer Kinder nicht leisten können, grenzt an Menschenverachtung. Er ruft ihnen zu, dass sie ein Dach über den Kopf haben, es warm haben, nicht verhungern müssen - Grundbedürfnisse werden gestillt (wobei das auch nicht immer zutrifft), daher sei ein verpaßter, weil unbezahlbarer Schulausflug zu ertragen. Und damit wirft er bereits Kinder in den Mechanismus der sozialen Ausgrenzung und Ächtung, zeigt diesen kleinen Wesen auf, welch geringen Wert sie in einer Gesellschaft haben müssen, die sich an der Schwere des Geldbeutels definiert. Innerhalb dieser wird selbst ein Schulausflug zur Selektion zwischen reich und arm. Nachher sind es Menschen wie Wagner, die über den "Abschaum in den Vorstädten" hetzen, die von "Kärcherisierung zur Internierung" schreiten, um den "vom Elternhaus verpfuschten Nachwuchs" zu bändigen. Dann heißt es, dass der Staat alles getan habe, um aus diesen jungen Menschen, nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu machen - einer Gesellschaft, die von Anfang an klargemacht hat, dass sie diese Menschen, die aus Armut kommen, gar nicht gleichberechtigt behandelt wissen will, um sie dem Druck des freien Marktes auszuliefern.

Es ist die übliche Aufwiegelung von Armen gegen Arme, von Wehrlosigkeit gegen Machtlosigkeit, das immergleiche divide et impera. Da werden deutsche Arme mit Armen in der Dritten Welt - an deren Leid wir gleichermaßen schuldig sind - in einen Wettbewerb gestellt, in Relation gesetzt und gegeneinander ausgespielt. So erfüllt der arme Afrikaner eine wichtige Aufgabe in dieser, unserer Gesellschaft. Er wird als Druckmittel benutzt, als Mahnmal, wie es schlimmer sein könnte, als vorschwebende Gewißheit, dass die eigene Armut hierzulande eine erträgliche Form des "Ganz unten" ist - zumindest im Vergleich mit der afrikanischen Armut. Wagner gießt den Irrsinn dieser Gesellschaft in Worte, vielmehr: er zeigt sich als spießbürgerlicher Verfechter dieses Irrsinns, der volle Lebensmittel- und Konsumgüterregale kennt, Rekordgewinne der Unternehmen mit sich bringt, sich an jeder Ecke in Kommerz und Handel äußert, aber gleichermaßen Menschen innerhalb dieser Besitzes- und Einkaufswelt, an den Rand stellt und sie nicht derart ausstattet, dass sie am gesamten Kreislauf dieses Irrsinns - das ewige Wachstum und die Fortschrittsgläubigkeit bliebe auch Irrsinn, wenn alle daran teilhaben würden - teilhaben können.

Die von uns verschuldete Armut in der Dritten Welt ist kein Gradmesser, mit dem die hiesige Armut relativiert werden könnte. Einerseits ist sie aufgrund der industriellen Nichtigkeit unmöglich ein Vergleichsmaßstab und kommt damit den berühmten Birnen und Äpfeln gleich, andererseits ist es im höchsten Maße dekadent, die von uns forcierte Armut in der Dritten Welt auch noch dahingehend auszubeuten, sie als Negativbeispiel unseren Armen unter die Nase zu reiben. Nicht das Ausspielen der Armen dieser Welt ist von Belang, nicht dem bösartigen und nichtwissenden Gekeife eines Spießers wie Wagner ist demnach Folge zu leisten, sondern die Beseitigung jeglicher Armut, egal in welchen Gefilden, muß Ziel einer Weltgesellschaft sein, die in Reichtum schwimmt, die produziert und konsumiert, die für jeden Weltbürger Teilhabe bieten könnte, sofern sie sich nur dazu entschlösse. Die Armen unserer Gesellschaft haben letztendlich mehr mit den ausgebeuteten Verelendeten in der Dritten Welt gemein, als mit ihren eigenen Gesellschaftsgenossen oder Landsmännern. Nur weil mein Ausbeuter die gleiche Sprache spricht, nur weil er die gleichen Feiertage zelebriert und dieselben Fernsehsendungen bevorzugt, steht er mir noch lange nicht näher, als ein Schwarzafrikaner, den täglich die gleiche Sorte von Ausbeuter zum Aderlaß treibt wie mich. Wagner greift dies alles von der falschen Richtung her auf, bringt aber dennoch zusammen, was zusammengehört: Armut mit Armut - ihr Armen und Verelendeten aller Länder vereinigt euch!

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Nomen non est omen

Heute: "Generationengerechtigkeit"
"Generationengerechtigkeit ist eine Ethik der Zukunft."
- Dr. Jörg Tremmel, Gründer und Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRZG) -
"Ziele der liberalen Reformen sind Rentensicherheit, Beitragsstabilität und Generationengerechtigkeit."
- Auszug aus dem Wahlprogramm 1998 der FDP -
"Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und egoistisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind, die Kosten aber durch Verschuldung auf künftige Generationen abzuwälzen"
- Altbundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Agenda 2010-Rede
Die Befriedigung der Bedürfnisse der nächsten Generation soll mindestens so hoch sein, wie die der jetzigen Generation. Die rot-grüne Regierung unter Schröder hat mit diesem Schlagwort Kürzungen bei Universitäten, Schulen und Kindergärten gerechtfertigt. Die jetzige Generation dürfe nicht auf Kosten der nächsten leben, so die Argumentation. Da hohe Staatsausgaben zugleich auch mehr Staatsschulden bedeuten, dürfe man der nächsten Generation nicht noch mehr (Staats-)Schulden überlassen, so die Denkweise. Bedenklich, wenn nicht gar widersprüchlich ist, dass erschwerte Berufs- und Bildungschancen der jetzigen Generation - eben durch weniger Kindertagesstätten, durch Studiengebühren und überfüllte Schulklassen - zweifelsfrei negative Auswirkungen auf die nächste Generation haben werden. So wird die Gerechtigkeit in der Gegenwart abgeschafft und beliebig in eine unbestimmte Zukunft verschoben. Auch wenn der Grundgedanke, über die eigene Legislaturperiode hinaus zu denken und zu handeln, zu begrüßen ist, so werden mit diesem Schlagwort - wieder einmal - nur Kürzungen in der Gegenwart gerechtfertigt, ohne Gerechtigkeit weder für die jetzige, noch für die zukünftigen Generationen zu schaffen.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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In nuce

Dienstag, 20. Mai 2008

"Rudi und Ulrike" heißt das neueste Buch von Jutta Ditfurth. Darin thematisiert sie die freundschaftlichen Bande, die zwischen Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof bestanden und die in der deutschen Öffentlichkeit nahezu unbekannt waren. Selbsternannte Experten und angebliche Freunde Dutschkes, kritisieren Ditfurth nicht nur dafür, dass sie den "gewaltfreien Rudi" mit der RAF-Aktivistin in Verbindung bringt, sondern leugnen diese Freundschaft generell. Gerade der Spiegel tut sich hervor, "Rudi und Ulrike" als Lügenwerk abzutun. Als Kronzeugen stehen zwei fadenscheinige Gestalten am Start: Clemens Kuby und Bernd Rabehl. Der eine - Kuby - Esoteriker und darauf drängend, dieser "Republik einen Dienst" zu tun, indem man das Buch anders betitelt, weil Rudi nicht mit Ulrike in Verbindung gebracht werden darf; der andere - Rabehl - hält Vorträge vor schlagenden Verbindungen und hat einst die sächsische NPD moralisch reingewaschen, sie vom Vorwurf des Faschismus gesäubert, und war zudem nur bis 1966 mit Dutschke befreundet - die Freundschaft zwischen Rudi und Ulrike bestand aber von 1967 bis 1969.
Warum dies ganze Spektakel? Wieso darf diese Freundschaft nicht zugegeben werden? - Jutta Ditfurth vermutet: "Wer in Heiligendamm Widerstand geleistet hat oder anderswo Naziaufmärsche verhindert, soll die APO weiter mit nostalgischem Geschwätz resignierter Veteranen assoziieren und nicht mit dem Kampf gegen Ausbeutung und Erniedrigung. Es geht darum, daß die APO verkitscht und museumstot ist, bevor eine neue junge Linke weiß, was sie aus den Kämpfen der Sechziger lernen kann. Der Funke soll nicht überspringen." - Wenn der "friedfertige Rudi" durch die "terroristische Ulrike" eine Wandlung hin zum auf Aktion erpichten Sozialrevolutionär erfährt; wenn Meinhof durch Dutschke von ihrer Rolle als personifizierte Teufelin erlöst wird und als ernstzunehmende, polarisierende und stilgewandte Journalistin akzeptiert wird, dann modifiziert sich der Ruf der APO - weg von der schrillen Zirkusrevolution, die erfolglos war und der im Keime diese Erfolglosigkeit schon erwuchs, hin zur Aktion gegen Mundtotmacherei, Ausbeutung und Kollektivismus, gegen die Entfremdung des Menschen und seiner Loslösung von sozialen Bindungen zugunsten der produktiven Verwertbarkeit seiner Arbeitskraft.

Lächelnd geht der Mensch zugrunde. Immer lächeln, gleich wie arrogant und überheblich der Kunde ist, egal wie schlecht es einem selbst dabei geht. Der Kunde ist ja immerhin König, vielmehr Ernährer, und daher hat er ein Recht darauf, angestrahlt zu werden, selbst wenn er sich wie eine Sau benimmt. Unternehmen fragen nicht danach, wie es ihren Lohnempfängern geht, denen man das Dauergrinsen abnötigt. Ob Ehesorgen oder krankes Kind, ob Kopfschmerzen oder Dauerdurchfall, ob depressive Phase oder Trauer über die verstorbene Mutter: Es ist einerlei, der Angestellte muß lächeln. Und wenn er es nicht kann, wenn es ihm einfach nicht möglich ist, dann wird der vom Vorgesetzten erzeugte Druck, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, sicher ein kleines Wunder vollbringen: Es ist ja auch zum Lächeln, wenn man Drohungen erhält, die ankündigen, einem die Existenz zu rauben.
Am Lächeln zerbrechen Menschen. Zumindest dann, wenn sie es immer tun sollen, auch dann, wenn sie sich selbst krank, traurig oder einfach nicht zum Lächeln aufgelegt fühlen. "Wer von Berufs wegen ständig lächeln muss, stellt seine eigentlichen Befindlichkeiten hintan und rutscht über die finsteren Stationen Selbstverleugnung, Zwanghaftigkeit und Unterordnung direkt in die Herzinsuffizienz respektive in die Depression."
Die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit äußert sich in den sonderbarsten Formen. Man sollte als Kunde tun, was möglich ist, um den Dauerlächlern ihr Lächeln zu ersparen; man sollte sie direkt darauf ansprechen und sie wissen lassen, dass die "Serviceleistung Lächeln" gerne unterlassen werden darf. Dauerlächelnde Kreaturen haben doch keine menschlichen Züge und wer wird schon gerne von Robotern bedient, die ein maskenhaftes Äußeres haben?

Eigentlich war ich der Ansicht, dass die moderierende Heulboje Schreinemakers, schon lange beruflich das Zeitliche gesegnet hat. So kann man sich täuschen! Sie hat in ihrem Haus ein Studio eingebaut und betreibt dort "informatives" Fernsehen. Eine Moderatorin, die Krokodilstränchen vergießt, wenn ein Gast sein Leid klagt, die ihre eigenen Steuergeschichten zum Bestandteil ihrer Sendung erhebt, ist eigentlich kein Thema für eine ernstzunehmende Diskussion, ist vielmehr Teil des üblichen TV-Kuriositätenkabinetts. Aber wenn sie beginnt, sich zum Sprachrohr der Versicherungswirtschaft zu machen, dann sollte man das erwähnen und anmahnen. In einer ihrer Heimsendungen wird ungeniert für Privatrente geworben. Da tritt ein selbstgekürter Rentenexperte auf, der einem Auszubildenden ohne Durchblick - er behauptet selbst, keinen Durchblick zu haben - Ratschläge gibt, wie er sich für das Alter rüsten kann. Zudem ein "glücklicher Rentner", der kundtut, dass man sich nicht auf den Staat verlassen darf, sondern Eigeninitiative gefragt ist. Natürlich wird nicht vergessen, von der Vergreisung Deutschlands zu sprechen, und das schön Wort "Demographie" wird mehrmals erwähnt, damit das Spektakel auch einen Anstrich von wissenschaftlicher Verifizierung hat.
Das übliche Szenario eben. Aber wenn selbst eine Durchschnittsjournalistin beginnt, sich in diese Richtung zu engagieren, dann weiß man erst, wie rentabel dies Geschäft sein muß und - das läßt sich nicht leugnen - wie verzweifelt die Privatversicherer sein müssen, wenn sie bei einer nicht zu verstehenden Nasalwortakrobatin auftreten müssen.

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"Und jetzt..."!

Montag, 19. Mai 2008

Angesichts kollektiver Beeinflussung und gezielter Desinformation seitens der Sendeanstalten, stellt sich die Frage über Wert oder Unwert des Fernsehens. Zwar bietet Fernsehen ein reichhaltiges Angebot, informiert in seltenen Fällen wirklich unabhängig und im Sinne einer Erkenntnisschaffung für den Zuseher, doch sind dies nur seltene Früchte der journalistischen Berichterstattung. Im Regelfall werden Informationen unter den Tisch gekehrt, Aussagen aus Führungsetagen - aus Wirtschaft und Politik gleichermaßen - ohne hinterfragen aufgetischt, Berichte und Diskussionen zur Stimmungsmache arrangiert. Zusätzlich fördert oder justiert man das Konsumverhalten, bleut den Menschen tröpfchenweise ein, wie sie zu sein haben, damit diese Gesellschaft am Leben bleiben kann und fördert stumpfe Unterhaltung zur Ablenkung von aufkeimenden Denkprozessen. Obwohl das Fernsehen eine höchst vielfältige Apparatur zur Gestaltung und Formung des Massenwillens ist, finden sich Raritäten informativer Berichterstattung dazwischen; finden sich zwischen der Suche von Topmodels und Gesangesbarden, zwischen Anne Will und "Hart aber fair", Dokumentationen oder Berichte, die dem Massenstrom entgegenrudern.

Ist Fernsehen nun also Fluch oder Segen? Oder kann man zumindest behaupten, dass Fernsehen ein Segen sein könnte, wenn man damit sinnvoll umzugehen weiß? Der Medienkritiker Neil Postman verneint dies, denn er argumentiert, dass Fernsehen immer und überall Unterhaltung ist. Selbst die Berichterstattung zu einem Erdbeben oder zu einem Massenmord ist ein Teil dieser Unterhaltungsindustrie. Postman führt dazu aus:
"Mit "Und jetzt..." wird in den Nachrichtensendungen (...) im allgemeinen angezeigt, dass das, was man soeben gehört oder gesehen hat, keinerlei Relevanz für das besitzt, was man als nächstes hören oder sehen wird, und möglicherweise für alles, was man in Zukunft einmal hören oder sehen wird, auch nicht. Der Ausdruck "Und jetzt..." umfaßt das Eingeständnis, dass die von den blitzschnellen elektronischen Medien entworfene Welt keine Ordnung und keine Bedeutung hat und nicht ernst genommen zu werden braucht. Kein Mord ist so brutal, kein Erdbeben so verheerend, kein politischer Fehler so kostspielig, kein Torverhältnis so niederschmetternd, kein Wetterbericht so bedrohlich, dass sie vom Nachrichtensprecher mit seinem "Und jetzt..." nicht aus unserem Bewußtsein gelöscht werden könnten."
Die Macher des Fernsehens behaupten, ein Abbild der Welt, so wie sie sich in ihrer Gesamtheit zeigt, zu präsentieren. Dieses Abbild ist aber zerklüftet und auseinandergerissen. Was einst die sozialistische Theorie schuf ("Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis." - Autorenkollektiv, "Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus"), d.h. die Gesamtheit aller Abläufe, die in der Welt getätigt werden, die sich von selbst vollziehen, als einen einzigen Prozess zu begreifen, der nicht in tausenderlei Teilbereiche und Sektoren gesplittert werden kann, widerlegt das Fernsehen in gekonnter Perfektion. Man hat den Eindruck, als habe die Dokumentation zum Sextourismus nichts mit der Berichterstattung über den Tsunami in Thailand gemein; das oberflächliche Küren vermeintlicher Laufstegschönheiten nichts mit dem Bericht über einen ALG2-Bezieher; die Werbung von McDonalds oder BurgerKing nichts mit dem Dokumentarfilm der übergewichtige Kinder zum Thema hat; die Nachricht vom Rekordgewinn eines Unternehmens nichts mit den bei "Hart aber fair" dargelegten Nöten einer sechsköpfigen Familie. Ja, man glaubt kaum, Nachrichten aus einer Welt zu vernehmen, sondern kommt unwillkürlich zu dem Schluß, dass es Nachrichten aus mehreren Welten sein müssen, die man ins Haus geliefert bekommt. "Und jetzt..." zerreißt die Gesamtheit des Abbildes der Welt, bewirkt eine Zersplitterung und Isolierung des zur Schau gestellten Objektes.

Wenn den Menschen der Bezug fehlt oder diese unkenntlich gemacht werden, den die zur Schau gestellten Objekte zueinander haben, dann erscheint ihnen das Dargelegte wie ein isoliertes, nur für sich allein stehendes Ereignis. Berichtet man über die Widrigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, stellt aber diesen Bericht nicht in ein Gefüge von Gesamtheit, dann offenbart sich die Not des am Arbeitsmarkt Suchenden, wie die Not eines Einzelnen - eines Verlierers vielleicht. "Und jetzt..." heißt es kurz nachdem über den Arbeitsmarkt informiert wurde und da wird auch schon von der Exportweltmeisterschaft berichtet, die zwar errungen ist, aber natürlich weiterhin unbedingt gehalten werden muß (die Sinnhaftigkeit eines solchen Zieles soll hier nicht ausdiskutiert werden). Danach ein erneutes "Und jetzt...", welches mit sich bringt, dass ein Gewerkschafter von den kontinuierlich sinkenden Löhnen und der Lohnzurückhaltung der letzten Jahre spricht - ein Zusammenhang zum fadenscheinigen Titel "Exportweltmeister" wird aber nicht hergestellt. Sobald der Zuseher versucht ist, beide Nachrichten in Relation zu setzen, heißt es einmal mehr "Und jetzt..." - ein wenig Komisches, Tragisches oder eine Mischung daraus lenkt erneut ab.
"Die Welt im Fernsehen ist Dada in Reinkultur, eine "Kotkugel, auf der Damenseidenstrümpfe verkauft und Gauguins geschätzt werden", wie es in Walter Serners "Dadaistischem Manifest" heißt. Es geht nicht um Logik, Vernunft, Zusammenhänge, Folgerichtigkeit. Es geht um Sparpakete, Völkermord und Michael Jackson. Es geht um alles. Mit Dagmar Berghoff schaffen wir die Welt in 15 Minuten. Eine solche Haltung bezeichnet man in der Psychiatrie als Schizophrenie, im Theater als Varieté. Im Fernsehen ist sie das Normale."
- Udo Marquardt -
Es geht also um alles - und daher um nichts. Dies ist keine Antinomie, denn wenn in 15 Minuten die Welt umrundet wird, nie aber in der Form, dass man das Tagesgeschehen als Einheit eines Ganzen betrachtet, sondern aufsplittert in Nachrichten aus "Wirtschaft, Politik und Sport" oder verteilt in regionale Kategorien wie "Deutschland, Europa und Welt", dann sieht man sicherlich Vieles, labt sich an allerlei optischen Eindrücken, begreift aber doch keine Zusammenhänge - begreift folglich nichts. Zwischen jeder Nachricht schiebt sich ein "Und jetzt...", welches verdeutlicht, dass das eben erblickte gerne vergessen werden darf, damit einer neuen Information Platz geschaffen werden kann. Und nicht nur zwischen jeder Nachricht, sondern zwischen jedem einzelnen Sendekonzept: Nach der Selektion mehr oder weniger untalentierter Laiensänger, die als Paradebeispiel einer effektheischenden, voyeuristischen und anstandslosen Gesellschaft begriffen werden können, in der jener im Trend liegt, der seinem Nächsten mit frechen Beleidigungen begegnet und wo gelehrt wird, dass nur der Konformist ein Karrierist ist, wird - nach einem deutlichen "Und jetzt..." - eine Dokumentation über einen erfolgreichen Unternehmer präsentiert, der natürlich nicht vergißt, über die "Selbstbedienungsmentalität des deutschen Arbeitnehmers" zu wettern. Konstanten und "rote Fäden" werden aber durch den Löschmechanismus der unterteilten Fernsehwelt ausgemerzt, gar nicht erst zur Denke gebracht. Um den einsetzenden Denkprozess des Zusehers zu verhindern, bombadiert man ihn mit "Und jetzt..."-Informationen, die immer und überall präsent sein müssen, die immer nur einen Teilaspekt widerspiegeln, nie aber die Stellung der Nachricht in genere darlegen.

Der Zuseher ist fern von Erkenntnis, weil er nur sieht, doch nicht verarbeitet - gar keinen Anreiz zur Verarbeitung erhält. Er ist weit davon entfernt, zwischen verschiedenen Nachrichten Verknüpfungen herzustellen, die aus vielen Mosaiksteinchen ein Bild schaffen würden. Sehend aber entfernt von Einsicht - fernsehend! Diesem Dilemma kann nicht einmal ein aufgeklärter Fernsehkonsum und eine vermehrte informative Berichterstattung im Sinne von Erkenntnisgewinn entgegenwirken. Fernsehen ist folglich weder Fluch noch Segen, sondern schlicht und ergreifend - und dies in jeder Form und in jedem Konzept: Unterhaltung. Selbst finster dreinblickende Jan Hofers und Jens Riewas, die einen Bericht zu einem Völkermord ankündigen, sind Protagonisten und damit traurige Clowns des dekadenten Unterhaltungsmechanismus Fernsehen.

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