... es kömmt darauf an, sie zu interpretieren

Freitag, 30. November 2012

Schon wieder so ein Fehlschluss. Schrieb ich doch noch vor einigen Tagen, dass Merkels Rede zur besten Regierung vernünftig betrachtet nichts anderes sei, als ein Anzeichen von zerrütteter Perzeption. Das dürfte sich aber als falsch erwiesen haben. Ihre Rede und der Beifall ihres parteilichen Anhangs sind nämlich gar nicht irgendwelchen Wahrnehmungsstörungen geschuldet. Wahrnehmung ist, wenn man etwas Schwarzes sieht, vom Auge zum Gehirn der Impuls geht, etwas zu sehen, das unter der Kategorie schwarz verbucht ist und man dann urteilt: Das ist schwarz. Gestörte Wahrnehmung ist, einen Impuls zu bekommen, der fälschlicherweise in der Kategorie orange landet, um selbstsicher zu verkünden, man sehe gerade etwas Oranges.

Nein, diese Leute leiden nicht unter Wahrnehmungsstörungen, sondern eher unter Kontrollzwang. Unter einen Zwang, sich eine Welt zu entwickeln, in der man das, was ungeliebt schwarz ist, einfach ganz dünn mit orangem Lack überspritzt. Mit einer Schicht, die nur aus der Distanz orange schimmert, die bei näherer Betrachtung aber nichts ist, als orangene Kleckse auf schwarzem Grund. Das ist nicht Wahrnehmungsstörung. Das ist eine sonderbare Störung, die Welt wie sie sich real zeigt, nicht annehmen und demgemäß handeln zu wollen.

Es ist ja nicht so, dass diese beste Regierung seit Wiedervereinigung die in einem objektiven Armutsbericht beschriebene Ungleichheit einfach abtut, sie leugnet und als nicht existent darstellt. Sie hat Lack angebracht, hat verdecken lassen, damit die Wahrnehmung, wie man sie sich wünscht, gar nicht erst getrübt wird, gar nicht erst auf die Probe mit der Wirklichkeit gestellt werden muss. Wahrnehmungsstörung wäre es gewesen, wenn die Minister etwas zum Ausbau des Niedriglohnsektors gelesen, dann aber erklärt hätten, es gäbe zwar niedrige Löhne, aber vermehrt träten diese nicht auf. Raffinierter ist es hingegen, wenn man zum Ausbau jenes Sektors, der im wesentlichen die Arbeitslosenstatistiken von Arbeitslosen befreit, erst gar nichts schreibt.

Wer von der Armut weiß, sie aber leugnet, dessen Perzeption dürfte defekt sein. Wer aber so tut, als wisse er davon nichts, der kann zwar als ignorant angesehen werden, mehr aber wohl nicht. Die Welt als Wille und Vorstellung. Diese beste aller Regierungen ist so gut wie all jene Regierungschefs, von denen sie sagt, sie seien verblendet gewesen. Castro oder Gaddafi, Honecker oder Ceauşescu. Auch die sprachen viel von der Erfüllung von Vorgaben und Zielen und erklärten die allgemeine Zufriedenheit zur Doktrin. Inwiefern unterscheidet sich Merkels Regierung von diesen Gestalten?

Die Regierungen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu interpretieren. Zynisch betrachtet könnte man diese Regierung in Schutz nehmen wollen. Man könnte sagen, dass in einem System, in dem das politische Primat zugunsten (finanz-)wirtschaftlicher Bevormundung aufgegeben wurde, nichts anderes übrigbleibt, als sich eine Welt zu zimmern, in der die Politik noch etwas gilt, in der sie von allgemeiner Zufriedenheit und Besserung der Lebensumstände spricht. Autosuggestion ist keine Wahrnehmungsstörung, sondern ein modus vivendi oder modus supervivendi wenn man so will. Man könnte diese Regierung, wie gesagt, in Schutz nehmen wollen und ihre Interpretation der Welt, als letzte Ausflucht ihrer selbst werten. Könnte man. Darf man aber nicht. Denn sie ist der verlängerte Arm der wirtschaftlichen Bevormundung, mit ihr verquickt, von ihr bezahlt. Diese Regierung macht sich ja nichts selbst vor; sie hofft nur genügend Dumme zu finden, denen sie noch was vormachen kann.



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Die Asozialen hinter "Die Asozialen"

Donnerstag, 29. November 2012

Es gibt Bücher, die hat man gelesen, auch wenn man sie nicht gelesen hat. Will heißen: Wenn man den Titel vor sich liegen hat, die Buchklappen überfliegt, dann weiß man schon, was auf den nächsten Seiten folgt. Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren von Walter Wüllenweber ist so ein ungelesen gelesenes Buch.

These seines geistigen Elaborats ist es, dass Oben und Unten auf Kosten der Mittelschicht lebten. Die Unterschicht hätte keine bürgerlichen Wertvorstellungen mehr, würde in den Tag hineinschmarotzen und Steuerzahler betrügen, gleichwohl die Oberschicht sich in eine Parallelwelt abgrenzt. Erstaunlich findet Wüllenweber, dass diese "gegenüberliegenden Enden der Gesellschaft" ähnliche Entwicklungen nehmen. Beispielsweise, dass zwischen Leistung und Erfolg kein Zusammenhang mehr herrschte oder der Beschiss zur Lebensart würde. Die einen betrügen das Finanzamt, die anderen beim Sozialamt - was mindestens ungefähr dasselbe sei.

All das geschieht freilich zulasten der anständigen und unbescholtenen Menschen, der so genannten Mittelschicht, die der wahre Motor der Gesellschaft ist. Und der gerät mehr und mehr ins Stottern aufgrund dieser parasitären Auswüchse jenseits der Mitte. Es ist schon makaber, dass Wüllenweber Ober- und Unterschicht gegenüberstellt und gleichsetzt. Geschenkt an dieser Stelle, dass er Oberschicht generalisiert, anders als Krysmanski das in seinem Buch tat. Dergleichen Detailiertheit darf man jedoch von ihm nicht verlangen. Gleichfalls die Unterschicht, die er zeichnet, in der alle betrügen und im bescheißenden Wettbewerb mit dem Sozialamt stehen. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen, wonach 97 Prozent aller Leistungsberechtigten nach SGB II keinerlei Pflichtverletzungen begingen, wonach sogar 99 Prozent keinerlei Arbeitsverweigerung leisteten, dürften für Wüllenweber irrelevant sein. Dass der eklatante Steuerbetrug und eine Koalition, die fortgeschaffenes Schwarzgeld bei Rückführung dezent pauschal besteuern und damit Straffreiheit gewähren möchte, ein ganz anderes Kaliber von Betrug ist, kommt ihm freilich auch nicht in den Sinn.

Für die, die Wüllenweber Oberschicht nennt, ergeben sich ganz andere Betrugsmöglichkeiten, als für jene, die Unterschicht sind. Und es ergeben sich qua finanzieller Ausstattung Möglichkeiten, sich Rechtsberatung zu engagieren, fast lückenlose Vertuschungs- und Alibioptionen zu installieren. Kein Hartz IV-Empfänger könnte so vollständig und gefahrlos auch nur einen Betrug um zwei oder drei Hunderter begehen. Ein reuiger Betrüger, der seinem Jobcenter seinen Betrug gestehen würde, erhielte auch keine Straffreiheit, sondern müsste sich mit dem Staatsanwalt auseinandersetzen.

Reden wir nicht über betrügerische Leistungsberechtigte nach SGB II - die letzthin veröffentlichten Zahlen sprechen ja, wie angerissen, eine andere Sprache. Der so genannte Sozialbetrug fällt relativ lau aus. Es gibt ihn quasi nicht. Pekuniär fällt er so gut wie nicht ins Gewicht. Es sei denn, man sieht den Bezug von Sozialleistungen generell als Betrug am Steuerzahler, sprich: an der Mittelschicht, an - es sei denn, man definiert das Hinterziehen von Steuern als normale Widerstandshandlung freiheitsliebender Erfolgsmenschen an. Und genau darum geht es Wüllenweber. Sein Buch ist kein faktenbasiertes Produkt, kein objektives Machwerk, sondern ein reines Befindlichkeitsbuch. Vielleicht auch ein Erbauungsbüchlein, in dem er die Mittelschicht wachrütteln und moralisch stärken will. Wüllenweber will das vorherrschende Lebensgefühl einer Klasse nachzeichnen, die sich selbst als Mittelschicht versteht und die moralische Verurteilungen auf Basis eines Weltbildes betreibt, das ökonomisch vorgeprägt ist. Es geht um Menschen, die sich stets verarscht und betrogen vorkommen, die glauben, sie seien die gemolkene Kuh und immer benachteiligt, zahlten nur Steuern ohne Gegenleistung und finanzierten den Armen ein Leben in Saus und Braus und den Reichen gleich mit.

Wüllenweber arbeitet die Befindlichkeit dieser Menschen ab und füttert sie mit neoliberalen Background. Das wiederum verwundert wenig, denn er gehört der "IZA Policy Fellows seit 2005 als Gründungsmitglied an". Dieses Institute zur Zukunft der Arbeit (IZA) ist ein von der Deutschen Post AG privat gegründetes Wirtschaftsinstitut, das immer wieder neoliberale Schocktherapien vorschlägt. Im März 2010 legte es eine Agenda 2020 vor, in der Mindestlöhne kategorisch abgelehnt und längere Arbeitszeiten gefordert wurden. Außerdem sprach sich dieses Papier für die Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Lockerung des Kündigungsschutzes aus, sowie für ein Workfare-Konzept. Der Direktor der Arbeitsmarktpolitik des IZA (Hilmar Schneider) sprach sich zudem für eine Arbeitslosen-Auktion aus. Die Granden des IZA sind altbekannte Gesichter: Klaus Zumwinkel, Klaus Zimmermann und eben genannte Hilmar Schneider. Policy Fellows sind neben Wüllenweber Leute wie Dieter Althaus, der ewige und überall anzutreffende Oswald Metzger, Dirk Niebel, Bert Rürup, Thilo Sarrazin und Thomas Straubhaar.

Der Untertitel von Wüllenwebers Buch klingt nach Aufklärung - er lautet nämlich: Und wer davon profitiert. Die Antwort kann klar gegeben werden: neoliberale Konzepte und Think Tanks wie das IZA. Die Darstellung der mittelschichtigen Befindflichkeit ist das Polster, auf dem weitere neoliberale Reformen erzwungen werden sollen. Dabei die Oberschicht gleichfalls zu diffamieren, ist nur ein gekonnter Kniff, denn es ist genau diese Oberschicht, die eine wütende Mittelschicht braucht, um Konzepte wie das des IZA durchzuboxen. Den Hass auf die Unterschicht mit dem Unverständnis für die Oberschicht zu koppeln, soll etwas wie Objektivität suggerieren und die Menschen für Konzepte gewinnen, die ihnen nur Nachteile und Gram bescheren werden.

Dieses hier nicht weiter genannte Buch von Walter Wüllenweber erschien in irgendeinem Verlag.



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Nomen non est omen

Heute: Authentisches Marketing

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack.
"Ich liebe meinen Job, denn er ist meine Berufung. Doch das, was meine Berufung ist, steckt noch in den Kinderschuhen – authentisches Marketing. Es ist das neue Marketing, das die Menschen und seine Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und nicht die Gewinne des Unternehmens."
- Ekaterina Arlt, Marketing-Expertin auf experto.de -
In der PR- und Marketing-Branche ist das der neue Trend: das sog. "authentische Marketing". Der Begriff setzt sich aus den Nomen Authentizität und Marketing zusammen. Das Schlagwort suggeriert, als gäbe es eine Form von anständiger und aufrichtiger Transparenz beim Verkaufen von Produkten, Dienstleistungen und Ideen (PLI).

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Die biologische Klasse und die Auflösung von Klasseninteressen

Mittwoch, 28. November 2012

Das große Geld hat der Unterklasse so lange eingeflüstert, dass es so etwas wie Klasseninteressen gar nicht gibt, bis die es geglaubt hat. Das an sich war schon durchtrieben. Sie hat alsdann neue Klassen eingeführt, die nicht auf ökonomische Prämissen zurückzuführen sind, sondern auf biologische Gemeinsamkeiten. Diese biologisch konzipierten Klassen anstelle eines ökonomisch verstandenen Klassenbegriffes nehmen dem Sozialabbau, der Entrechtung, der Vereinsamung und Zersparung der öffentlichen Hand das Wind aus den Segeln. Wenn sich Menschen plötzlich nicht mehr als nahestehend begreifen, weil sie in denselben Prekärbeschäftigungen verarscht werden, sondern weil sie zum Beispiel beide weiblich sind, dann zieht man die Verantwortlichen für die soziale Schieflage aus der Schusslinie.

Die Biologisierung des Klassenbegriffes unterschlägt die ökonomischen Ungleichheit

Schwarze sind nicht gleich Schwarze. Obamas Kinder und die Kinder eines afroamerikanischen McDonalds-Angestellten aus Harlem haben nicht dieselben Probleme.
Während ökonomisch privilegierte Frauen um die "Gleichberechtigung von Frauen in Führungspositionen" (so schrieb es die taz) kämpfen, zählt die Wartefrau jenen Teil ihres Lohnes, der der Willkür der Stehpinkler geschuldet ist, auch Trinkgeld genannt.
Unterdessen Schäuble jede Nische dieser Republik und Europas erreichen kann, wissen weniger reiche Querschnittsgelähmte viel über Barriereunfreiheit zu erzählen.
Sind alle Kinder gleich? Das Kindergeld eines Kindes aus einer Bedarfsgemeinschaft ist anzurechnendes Einkommen, inzwischen Millionärskinder nicht über ihrer Kindergeldbedürfigkeit Rechenschaft ablegen müssen.
Vural Öger kann vermutlich seine Rechnungen begleichen, der nette Türke am Eck nicht immer.
Alleinerziehende Mütter sind nur im Wehgeklage gleich: die eine beklagt sich, weil sie das Zuwenig an Zeit noch nicht mal finanziell niederschlägt, die andere, weil die Tagesmutter keine Zeit aufbringen will, um den kleinen Oliver-Pascal während ihres Leadership Live Experience zu versorgen.

So viele biologische Gruppen, deren Gemeinsamkeit nur ist, entweder dieselbe Hautfarbe, eine Vagina, eine Behinderung, Jugend, ethnische Herkunft oder Familienstand zu haben. Mehr auch nicht. Dahinter verschwindet der ökonomische Rang, aus dem die soziale Stellung destilliert wird. Dahinter gehen Privilegien und Unterprivilegierung flöten.

Die "biologische Klasse"* kanalisiert soziale Diskrepanzen

Die politische Linke warf Alice Schwarzer zuweilen vor, mit ihrem Geschlechterkampf den Klassenkampf zu spalten und gar aufzulösen. Das Konzept des Geschlechterkampfes ist ein biologisches und hebt die ökonomische Grundlage der Klassen auf, dividiert Klasseninteressen auseinander. Es gibt keine gemeinsamen Klasseninteressen zwischen Frauen oder Schwarzen oder Kindseltern - es gibt innerhalb dieser Gruppen jedoch ökonomisch-klassenspezifische Interessen. Biologische Gruppen haben den Zufall als Grundlage, nicht die ökonomische und somit soziale Stellung. Und nur sie machen die Klasse.

Diese falsche Definition von Klasse wird aktuell bemüht, um die Frauenquote für Frauen in Führungspositionen zu popularisieren. Besonders arglistig ist hierbei, dass man Frauen für dieses Vorhaben gewinnt, die keinerlei Interesse an der Bevorzugung ökonomisch bessergestellter Frauen haben können. Arglistig, weil sie Frauen zu elitären Klassenkämpferinnen macht, die nichts mit dieser Elite gemein haben, außer den zufälligen Umstand, mit einer Vagina ausgestattet zu sein. Die Lebenswirklichkeiten für Kassiererinnen und Verkäuferinnen sind andere als jene, die eine Frau aus dem oberen Segment der Gesellschaft kennt. Für eine Frau, die nicht monatlich zusehen muss, wie sie ihr (Über-)Leben finanziert, die nicht Verzicht übt aus Mangel, die nicht Haushalt, Lohnarbeit und Familie unter einen Hut bringen muss, weil sie selbst bei Mutterschaft Personal engagieren kann, sollen sie geradestehen, um der Frauenquote in Führungspositionen Nachdruck zu verleihen.

Die "biologische Klasse" deklassiert und schafft Kasten innerhalb der Klasse

Die biologisch konzipierte Klasse ist nicht nur falsch, sie ist gefährlich. Sie ist prädestiniert dazu, ohnehin privilegierten Klassen Pfründe und Monopole zu sichern. Innerhalb dieser künstlich erschaffenen Klasse ziehen genau diejenigen den Kürzeren, die in der ökonomisch-sozialen Definition von Klasse wahrgenommen würden. Natürlich verwenden die biologischen Klassisten nicht den Begriff des Klasseninteresses oder gar -kampfes. Es ist altes Vokabular, das verpönt ist. Sie haben sich aber ohne Nutzung dieser Begriffe eine Klasse entworfen, in der es Fußvolk gibt, das für höhere Interessen und zu dessen eigenen Nachteil mobilgemacht werden kann. So boxt man Frauenquoten durch oder betreibt man Familienpolitik zugunsten reicher Kinder und ihrer Eltern.

Die biologische Klasse baut nicht auf Prämissen der Gleichheit und sie will auch keine Gleichheit herstellen. Sie deklassiert und macht Menschen zu Einzelkämpfern, zu Subjekten ohne Einordnung, wirft auf Individualinteressen zurück, schaltet Klasseninteressen aus. So kämpfen Schwarze zwar für die Präsidentschaft eines Mannes, der dieselbe Hautfarbe hat, gleichwohl die Benachteiligung von Menschen aus ihrer Gesellschaftschicht mit Desinteresse betrachtet und folglich hingenommen wird, weil der Benachteiligte beispielsweise asiatischer Herkunft ist. Die biologische Klasse ist das falsch eingeimpfte Klassenbewusstsein zur Auflösung des Klassenkampfes, der die Besitz- und Eigentumsverhältnisse und die Produktionsverhältnisse hinterfragt und aufgreift.

*Anmerkung: "Biologisch" ist hier sicherlich großzügig ausgelegt. Türke zu sein ist nicht unbedingt biologisch bedingt. Alleinerziehende Mutterschaft auch nicht. Hier soll aber die künstlich entworfene Klasse deutlich werden.



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Nicht die beste: die einzige Regierung

Dienstag, 27. November 2012

Die beste Regierung seit der Wiedervereinigung - und man kann nicht mal viel dagegen sagen. Nicht weil sie es ist, sondern weil es keine Regierung gibt, die man Merkel zur Entkräftung ihres Unsinns unter die Nase schmieren könnte. Wer sollte denn besser gewesen sein? Die rot-grüne Autosuggestion vielleicht? Das feiste Gelächter von den roten und grünen Rängen, das Merkel erntete, als sie selbstverherrlicht vor den Bundestag trat, ist deshalb unerträglich. Man kann mit diesen Leuten nicht ins Lachen über diese Kanzlerin des Augenwischs einstimmen, denn sie gackerten nur, weil sie damit sagen wollten: Wir waren dazumal viel besser!

Das ist die ganze Tragik an dieser blasierten Geschichte: Da waren in den zwei Dezennien seit der Wiedervereinigung einige Regierungen tätig, sieben Jahre davon eine sozialdemokratisch-grüne Koalition - und nicht mal die kann man hernehmen, um damit der Kanzlerin Worte zu entkräften. Das gesamte Elend an Merkels sonderbaren Auftritt ist nicht diese arrogante und überhebliche Anwandlung ihrerseits, ja dieser deutliche Beweis ihrer limitierten Wahrnehmung, das Elend ist viel mehr, dass man mit den Lachern aus der Opposition nicht mal lustig einstimmen kann, weil man weiß, was diese Opposition vorher als Regierung leistungsverweigert hat. Ja, man muss auf die oppositionellen Feixer und Pruster selbst den Vorwurf der Beschränktheit, der eng umfriedeten Wahrnehmung anwenden.

Merkels BeRaZ-Rede ist vernünftig betrachtet selbstverständlich ein Anzeichen zerrütteter Perzeption. In einem anderen historischen Milieu, mit anderer Vergangenheit, hätte man sie verlacht, sie als verrückt und endgültig abgewirtschaftet tituliert; die Presse hätte Glossen und Polemiken publiziert und jeder hätte gewusst, dass es sich um den Kopf einer verblendeten Entourage handelt, die trunken ist in ihrer Isolation vor den realen Lebensumständen der Menschen hier in diesem Lande und in jenen Ländern, in denen sie hineinpfuscht. Aber mit vergangenen Regierungen im Rücken, die dieselbe kurzsichtige, asoziale, imperiale und kleinkarierte Politik unter anderen Farben betrieb, kann man jede Albernheit unter die Leute bringen, ohne verspottet zu werden. Kann man Hinterzimmerhosiannas und Arschkriechereien verlesen, ohne als komplett umnachtet zu wirken. Arschkriechereien aus Hinterstuben, wie jener von Generaldeutschmarschall Volker Kautel: "Meine Kanzlerin, Sie sind die größte Regierung aller Zeiten."

Seit 1998 erleben wir nicht verschiedene Regierungen, wir erleben eine Regierung. Vermutlich vorher schon, nur noch nicht so schamlos, so direkt und menschenverachtend, so ignorant gegen die Bedürfnisse der Menschen, wie ab jenem Jahr. Es ist die Lebensleistung des Schröderianismus und seines Nachfolgers, des Merkelismus, dass sie selbst die Ära Kohl wie eine halbwegs soziale Epoche erscheinen lassen im Rückblick. Ob es nun Rot-Grün war oder dann Schwarz-Rot oder nun Schwarz-Gelb - die Stossrichtung und die Patentrezepte aller Politik war stets dieselbe. Die Regierung, die seit vierzehn Jahren amtiert, ist sicher nicht die beste seit der Wiedervereinigung, aber sie ist so gut wie die einzige, die wir seither haben ...



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De auditu

Montag, 26. November 2012

Letzte Woche wurde bekannt, dass die Zahl der Sanktionen beim Arbeitslosengeld II gestiegen ist. Besonders stark seien Meldeversäumnisse darunter zu finden gewesen. Etwa zwei Drittel der Sanktionen wurden ausgesprochen, weil einer Einladung zum örtlichen Jobcenter nicht nachgekommen wurde. Obwohl es sich in der Mehrzahl lediglich um solche kleinen Strafen handelte, konnte man in den Medien Fragen zur Zunahme der Sanktionszahlen hören, die in etwa so lauteten: Erkennen die Jobcenter den Betrug nun schneller und besser?

Das Meldeversäumnis macht demnach schon gleich den Betrug? Jede kleinste Unterlassung manifestiert bereits betrügerische Absichten? Hier wird mehr gesagt, als man vermutlich wollte. Die Frage scheint nun so gestellt werden zu dürfen, weil das gängige Vorurteil nun verifiziert scheint. Steigende Zahlen nähren das gärende Ressentiment, dass Betrug ein fester Bestandteil im Leben eines arbeitslosen Menschen sein muss. Jetzt kann man selbst von Betrug sprechen, auch wenn es nach wie vor nur drei Prozent aller Leistungsberechtigten sind, die sanktioniert wurden - auch wenn von diesen drei Prozent zwei Drittel lediglich zu einem Termin nicht erschienen sind. Anders gesagt: Nicht mal ein Prozent der Sanktionierten hat sich andere Pflichtverletzungen geleistet. Das Sozialgesetzbuch II spricht da übrigens von kleinen oder großen Sanktionen.

Fragt zum Beispiel ein Radiomoderator trotz bekannter Sachlage nach, ob denn nun der Betrug besser aufgedeckt werden konnte, so ist das nicht nur eine Frage, sondern ein Programm, das abgespult wird. Es ist eine Ausdrucksweise, die offenmacht, wie man über so genannte Hartz IV-Empfänger denkt. Ihre Existenz in Arbeitslosigkeit ist hiernach nichts als ein einziger Betrug. Selbst ein kleines Vergehen ist schon Betrug. Jede Kleinigkeit eine Kleinigkeit auf Betrugsbasis. Jeder Atemzug im Grunde ein Atemzug in betrügerischer Absicht. Trotz gegenläufiger Fakten weiterhin den Betrug in die Behandlung des Themas zu flechten, erklärt den Arbeitslosen, der sich betrügerisch nichts zuschulden kommen ließ, zum Betrugsfall. Es ist insofern egal, was er macht, ob er betrügerische Absichten hegt oder betrugsfrei durchs Leben geht: Er ist und bleibt Betrüger.



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An die statistischen 2.440, die noch kommen!

Freitag, 23. November 2012

oder Keine Warnung, aber gesagt will ich es haben!

53 Prozent mehr Spanier kamen im ersten Halbjahr dieses Jahres nach Deutschland. Wegen der Wirtschafts-, Euro- und Finanzkrise, die ja programmatisch nur noch Schuldenkrise heißen darf. 53 Prozent klingen dramatisch. Es handelt sich dabei um 11.000 Spanierinnen und Spanier, um 3.900 mehr, als im ersten Halbjahr 2011. Heißt umgerechnet, ohne Einbeziehung von Saisonalwerten, dass ab jetzt, ab heute, nach Zweidritteln des Novembers, noch etwa 2.440 Spanier nach Deutschland kommen werden. 2.440 fiktive Menschen aus Spanien, ohne Herausrechnen von Schwankungen bezogen auf Kälte und Weihnacht, fliehen aus der Perspektivlosigkeit nach Deutschland. Glauben diese Menschen, sie eilen in ein Elysium?

Glaubt das ja nicht zu stark, ihr dos mil cuatracientos cuarenta! Ich muss vorsichtig sein. Als Sohn eines Spaniers, der hier die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, ist es nicht anständig, euch vom Herkommen abzuraten. Das wäre nicht fair. Und es mag ja sogar sein, dass ihr hier schneller einen Job findet, als auf der Halbinsel. Job wohlgemerkt, denn mehr als Jobs bieten sie hier selten an. Job sagt man in Deutschland mittlerweile fast nur noch. Job klingt aber für mich amerikanisch, nach hire, natürlich nach fire, nach Ausbeutung, nach fehlenden Mitarbeiterrechten und niedrigem Einkommen. Und dergleichen bieten sie hier vermehrt an. Einen Arbeitsplatz finden nur wenige. Die anderen finden einen Job. Manche nicht mal das.

Kann also gut sein, dass man euch 2.440 einen Job anbietet. Ihr seid ja illusions-, ihr seid perspektivlos - solchen Leuten gibt man irgendeinen Scheiß zum Geldverdienen und erhält dafür dankbare, loyale und anständige Angestellte. Befristeter Vertrag mit geringem Einkommen und einer Probezeit, die sich über die gesamte Befristung erstreckt? Muchas gracias, besser als nichts. Ich schließe Sie in mein Abendgebet mit ein, patrón! Und sonst? Liegt das große Glück an jener Stelle der Erde, die Gott selbstpersönlich geküsst hat? So ähnlich sangen das Die Prinzen vor Jahren in einem kühnen Moment deutscher Selbstkritik. Warum gibt es solche Texte eigentlich heute nicht mehr? War das Sommermärchen, war Du bist Deutschland! die Demarkationslinie, ab der antinationale Wagnisse der Kunst nicht mehr toleriert wurden?

Habe ich als Sohn eines Spaniers, eines Gastarbeiters, nicht die Aufgabe, denen zu berichten, die nun folgen wollen? Erwartet euch hier das Glück, la suerte? ¿Hay futuro? Ist hier Zukunft? Freude vielleicht sogar? Ihr 2.440 fiktiven Menschen aus Spanien dürft eines nicht glauben: Dass man euch hier mit offenen Armen erwartet. Ihr nehmt ja den Deutschen den Job weg. Die schlechte Bezahlung. Die miesen Arbeitszeiten. Das Beantragen von Aufstockleistungen trotz Vollzeitstelle. Bestimmte Kreise in Deutschland haben es nicht gerne, dass Fremde den Einheimischen die Prekärbeschäftigung stehlen. Und glaubt ja nicht, dass ihr fleißig sein könnt. Das heißt, ihr könnt es sein. Nur wird man das nie anerkennen. Mein Vater war ein viel zu fleißiger Mann, rieb sich in Wechselschicht auf, selbst als er zu alt für eine solche Unregelmäßigkeit war. Erst der Ernst, dann das Vergnügen, sagte er oft. Was hat mich dieser Spruch angekotzt! Ich meine, der Mann war Katholik, kein calvinistischer Prädestinationsanhänger - und dennoch diese Frugalität. Wenn der Ernst nicht halbwegs vergnüglich sein kann, dann hat er keinen Wert, finde ich. Jedenfalls, worauf ich hinauswollte: Anerkannt hat man seinen Fleiß nie, fadenscheinig war seine Herkunft immer.

Ich will niemanden abraten nach Deutschland zu kommen. Jeder muss seine Erfahrungen machen. Es gibt da eine Legende innerhalb unserer Familie. Ich bin mir sicher, ich bin der einzige, der sie noch kennt. Mein Vater ist nur noch selten Thema. Zu lange ist er tot. Sage nur keiner beim Ableben eines Menschen, man werde ihn nie vergessen. Man wird! Seine Stimme kann ich mir nicht mehr vorstellen. Man vergisst. Das ist der Lauf des Lebens, das in den Tod mündet. Legende ist, dass er, kurz bevor er nach Deutschland kam, das war Anfang der Sechzigerjahre, ihn ein Nachbar zur Seite zog und warnte, er solle den Deutschen nichts glauben, was sie sagten. Sie denken anders als sie sagten. Kann sein, dass die Geschichte wahr ist. Vorurteile gibt es überall. Heute würde ich aber behaupten, klänge diese Geschichte etwas anders. Er würde ihn warnen, dass man bei den alemanes wenig denke, dafür viel Unbedachtes sage. Hinterfotzig geschieht hier gar nichts mehr.

Man denke an diesen deutschen Konsul, diesen Herrn Fuchtel, der kürzlich erst meinte, dass 1.000 deutsche Beamte erledigen könnten, was 3.000 griechische nicht mal ansatzweise vollbringen würden. Diese Arroganz nennt er und die Presse hierzulande "ein Missverständnis". Schließlich gibt es in Griechenland sicherlich auch bürokratische Ungereimtheiten, die ominös sind. Die gibt es aber in Deutschland auch. Deren Glück ist es nur, dass sie nicht von der Troika geprüft werden. Mit dieser Überheblichkeit gegenüber den randständigen Völkern Europas werdet ihr 2.440 fiktiven Gastarbeiter zu ringen haben. Als ich bei Spiegel Online den Artikel zu diesem Fuchtel las, darunter die Kommentare verfolgte, kam mir das kalte Kotzen. Der Chauvinismus ist in diesem Lande Doktrin geworden, die Selbstherrlichkeit ist so unbeschreiblich, dass man ahnt, hier folgt noch etwas Schlimmes daraus. Was Fuchtel sagte ist das Produkt einer Agenda, die Europas südliche Völker unter die Fuchtel nehmen will.

Sicher, da ist die süße Aussicht auf Beschäftigung, die in vielen Fällen nicht mehr sein wird, als die Enttäuschung von Träumen. Aber sonst droht ein Leben in einem Land, in dem man als Mensch fremder Herkunft immer in Fremdheit verbleibt. Wiederhole ich mich, wenn ich schreibe, mein Vater sei das gewesen, was man hinlänglich als integriert bezeichnet? Ja doch, natürlich wiederhole ich mich. Man kann es nicht oft genug sagen. Eines der infamsten deutschen Märchen dieser Epoche ist es nämlich, dass Anpassung sich lohne, dass man als integrierter Fremdling akzeptiert, manchmal auch geliebt würde. Man Vater sprach die Sprache der Deutschen, er arbeitete in all der Zeit seines Daseins auf deutscher Erden, war nicht radikal, nicht politisch gefährlich, war meist ruhig und freundlich, soff nicht mehr, als all die deutschen Vertreter seines Milieus. Er hätte gleichwohl jemand sein können, der zu Führers Zeiten in einer deutschen Stadt geboren worden wäre. Er blieb immer fremd. Er fühlte sich fremd, weil sie ihn wie einen Fremden behandelten. Ich schrieb darüber mehrfach. Mit dem Intergrationsgeschwätz von heute will man doch nicht Akzeptanz schmackhaft machen, man will nur die Selbstherrlichkeit auskosten, die man als Volk im eigenen Lande ausüben kann, man will nur zeigen, dass man Herr in einem Haus ist, das sich mehr und mehr zu einem moralischen Gefängnis wandelt.

Ihr potenziellen 2.440 solltet wissen, wohin ihr abwandert. Oder anders: Ihr solltet wissen, wer ihr seid, wenn ihr euch auf deutschen Boden traut. Definition des Südländers: Ihr könnt nicht mit Geld umgehen, was den Schluss nahelegt, dass ihr faul und rückständig seid. Zudem seid ihr unkalkulierbar, weil ihr heißblütig seid, zu viel Stolz habt. Das unterstellte man meinen Vater, als er in den Sechzigerjahren seine Stelle kündigte, weil er keinen umgehenden Urlaub erhielt, um zu seinen sterbenden Vater zu eilen. Ihr nehmt Dinge wichtig, die in der schönen neuen Ökonomie unwichtig zu sein haben, woraus man wiederum ableitet, dass ihr zu gesellig, zu faul, zu wenig ökonomisch seid, woraus man ferner ableitet, dass die Krise in eurem Land, das ebenso das Land meines Vaters war, selbstverschuldet ist. Die Griechen sind schlimmer als ihr. Die Italiener nicht. Die Portugiesen sind ja eigentlich nichts anders wie Spanier. Eh alles dasselbe Gesocks! Für viele Jobs, so wird man gönnerhaft erklären, seid ihr dennoch gut genug. Aber nicht für alles, dazu seid ihr zu unqualifiziert, was soviel heißt wie: dumm. Man wird meinen, ihr kommt aus einem Land, in dessen Krankenhäuser noch Aderlass als höchste medizinische Maßnahme praktiziert wird. Davon läßt sich freilich ableiten, dass ihr alle irgendwie mittelalterlich seid. Meinem Vater hat man hierzulande nicht geglaubt, dass seine Schwestern in Spanien Haushalte haben, in denen es von Elektrogeräten so wimmelte, wie in einem stinknormalen deutschen Haushalt zu jener Zeit auch.

Letztens sagte mir jemand, dass Gott, als er die Erde geschaffen hatte, hierher, nach Deutschland kam, um zu scheißen. Diese Umkehrung von der geküssten Stelle auf Erden ist natürlich unsinnig. Gelacht habe ich trotzdem. Ich kann darüber lachen. Ihr 2.440 solltet wissen, dass man in diesem Lande nicht mehr viel über solche deutschenverächtlichen Kalauer lacht. Ihr landet in einer seltsamen Humorlosigkeit, wenn es euch hierher treibt. Mein Vater fand diese unhumorige Lebensart immer sehr lachhaft. Gleichwohl hat man Humor in diesem Land, über Griechen in Hängematten beispielsweise gackert man wie eine Halle voller debilem Bodenhaltungsgeflügel. Und merkt euch: Spanier sind stets lispelnd, sofern man sie deutschsprachig persifliert. Und natürlich dauergeil, immer scharf auf Weiber. Das ist witzig. Bringt mal einer von euch 2.440 Spaniern, die es sich noch überlegen können zu kommen, einen schlechten Witz über deutsche Wampen oder die Art, immer besonders intelligent tun zu wollen, nur um am Ende als Depp dazustehen. Da raucht aber der Nationalstolz!

Ich könnte sagen, dass ihr es euch überlegen solltet. Tue ich aber nicht. Aber wissen, wohin es einen verschlägt, sollte man schon. Gut, natürlich präsentiert die Öffentlichkeit immer gerne Ausländer, die ganz begeistert tun von der deutschen Freundlichkeit, von der Gastfreundschaft und so. Woher sie die herziehen, weiß ich nicht. Weiß man in Spanien von der NSU? Ob die von ihr getöteten Menschen fremder Herkunft wohl bevor sie ermordet wurden, dieselben schwärmerischen Äußerungen taten? Vertiefen wir nicht, denn es ist auch geschmacklos, Deutschland mit der NSU gleichzusetzen. Die Menschen hier sind ja nicht alle Mörder. Nicht mal alle Rassisten oder Chauvinisten. Aber Konjunktur haben beide Lebensformen durchaus. Und das nicht zu knapp. Das muss man wissen, wenn man in ein Land geht, das ohnehin immer schon prädestiniert dafür war, überheblich an seine Umwelt, an seine Nachbarn heranzugehen. Als mein Vater nach Deutschland kam, waren rassistische Äußerungen auch an der Tagesordnung, aber man musste sie verstecken, konnte Beim Adolf hätte es das nicht gegeben! nicht allzu offen sagen. Heute kann man das auch nicht. Man hat Rassismus und Fremdenfeindlichkeit von Adolf gelöst, als Kategorie einer gesellschaftlichen Mittelschicht installiert, die von sich glaubt, sie sei die Krone der Schöpfung innerhalb der Krone der Schöpfung, die sich Deutschtum nennt.

Es ist heute auf den Tag genau zwanzig Jahre her, dass in einer norddeutschen Kleinstadt Menschen türkischer Herkunft ums Leben kamen. Sie verbrannten in dem Haus, das Rechtsradikale angezündet hatten. Damals war ich Teenager und ich war voll der Wut. Ich war zu jung, um meine Gedanken konkret zu fassen. Aus purer Emotionalität wäre ohnehin nichts Verwertbares rausgekommen. Was mich aber noch mehr auf die Palme brachte, das war die lapidare Art der Menschen, die mit den Achseln zuckten, als ginge es sie nichts an. So war es bei der NSU-Geschichte letztlich auch. Wenn es um die Aufarbeitung der RAF geht, um die ewigen Bubackiaden, die durch den Blätterwald gejagt werden, dann haben ganz normale Menschen von der Straße wohl eine Meinung, die zwischen Kerkerhaft, Nie wieder freilassen! oder Kopf ab! für die damaligen Terroristen liegt. Gewöhnt euch an die Devise, die hier herrscht, ihr 2.440. Sie lautet: Nach oben buckeln, nach unten treten. Deshalb erinnert man dauerhaft an Bubacks Ermordung, macht schockierende Dokumentationen und gestaltet die Aufarbeitung als mediales Ereignis, während der Brandanschlag in Mölln relativ unerinnert behandelt wird. Deshalb erhält hier ein toter Eisbär nach zwei oder drei Jahren ein Denkmal, während Sinti und Roma mehr als sechzig Jahre auf ein Mahnmal warten mussten, das an den an ihnen begangenen Völkermord erinnert.

Der Protest im Süden Europas geht an der Realität vorbei. Wenn ihr Merkel Runen an eine fotomontierte Uniform tackert, dann ist das haltlos. Denn hier trägt keiner Uniform. Das braucht man nicht mehr. Es ist unfair, wie ihr protestiert. Die Uniform hat doch keinen etwas gemacht, um sie an Leiber selbstherrlicher Chauvinisten zu heften. Kennt ihr da drüben auch Kauder? Der meinte unlängst, in Europa spreche man wieder deutsch. Das ging ganz ohne Uniform. Früher zogen sie sich erst Runen über den Kopf, bevor sie das Deutsche in die Welt trugen. Heute geht es ohne. Uniform hat sich als Begriff gewandelt. Uniform meint heute, dass man sich auf den Unis des Landes Leute heranzieht, die mächtig in Form sein sollen, um den deutschen Weg in Europa weiterhin gehen zu können. In bester Uniform zu sein bedeutet, dort Examen mit Themen wie Deutsche Wirtschaft als Muster für Europa! oder Aussichten auf ein Europa unter deutscher Obhut! oder Am deutschen Wesen ...! abzulegen. Eure spanische Provinzialität kommt da nicht vor, höchstens als etwas, das es zu überwinden gilt. Der europäische Süden kann seinen Lebensstil nämlich nicht behalten. Die meinen hier ernsthaft, ihr würdet noch Siesta halten. Die gab es noch, als ich ein kleiner Bub war so halbwegs. Spanien schien mir im Urlaub so fremd, so anders, gemütlich irgendwie, aber auch nervig, weil meine spanische Familie ein Faible dafür hatte, etwas zeitlich einzuplanen, dann zu sagen "Gleich! Wir gehen gleich!" zu sagen, um dann mindestens nochmals eine Stunde rumzuhocken. Tranquilo hieß die Beschwichtigung und die Geduldsaufforderung. Tranquilo, tranquilo! Immer mit der Ruhe. Damit ist es aber seit mindestens zwanzig Jahren vorbei, das Dreischichtsystem hat die Sitten verändert.

Viele Italiener in Deutschland haben es geschafft, einerseits als liebenswert und als Urlaubserinnerung zu gelten, während man gleichzeitig diese italienische Art verachtet. Sie bauen in ihr niedlich anzuhörendes Deutsch italienische Worte. Bene. Grazie. Signora. Pronto. Und alle sind entzückt. Mensch, fast wie in Italien. Reizende Menschen. Gibt es Weilers "Maria, ihm schmeckt's nicht!" eigentlich in spanischer Übersetzung? Da kommt so ein Italiener vor, der sich reizend verstellte, um nicht anzuecken, um akzeptiert zu werden. Und was die andere von mir denke, egal - was wichtig, is in meine Kopf, sagt Weilers Protagonist. Das ist nichts weiter als innere Emigration, als Rückzug in Kopfwelten, Isolation. Spricht man hingegenvon der reizenden italienischen Wirtschaft, dann ist die Verzückung passé. Nette Leute sind sie ja, aber so schrecklich unproduktiv und ineffizient, korrupt und zu emotional sowieso. Das Italienische ist für die deutschen Wirtschaftsfeldmarschälle und ihre Landser ein Auslaufmodell. So kann man im 21. Jahrhundert nicht mehr leben. Gerne speisen, Meer genießen, mit dem Roller durch die Gegend düsen, gelato schlecken und dabei keine Abstriche für die Ökonomie akzeptieren - so geht es nun wirklich nicht! Als ob man in Italien nicht auch Schicht arbeitete, nicht auch malochte, nicht auch schwitzte! Die Mär will aber, dass der Süden etwas ist, der für das amtierende Jahrhundert und die folgende Zukunft nicht überlebensfähig ist. Nicht weil es strukturelle Probleme gibt, sondern weil die dortigen Menschen einfach fehlerhaft sind, nicht in die Zeit passen. Und die Wächter der Zeit, das sind die Deutschen und ihre angelsächsische economy. Ihr 2.440 Menschen aus Spanien, die ihr vielleicht kommt, wie die Italiener wird man euch romantisch verklären. Ach, Spanier sind so nett, so hilfsbereit und die Sprache und das Essen und dieses urbane Barcelona und dieses pittoreske Baskenland. Spanische Menschen lieben sicherlich gut, glaubt man in Deutschland. Die Glut in den Augen, sie muss auch im Bett abfärben. Manchmal verwechselt man hierzulande die in die Augen tretende Perspektivlosigkeit mit Glut. Was ich sagen will ist: Ihr werdet sicher manches Bett erobern. Und manche von euch werden begeistern. Und manche von euch werden enttäuschen. So ist das eben, im Schnitt vögelt jedes Volk in etwa so gut, wie es auch schlecht vögelt.

Sind auch einige von euch aus dem Baskenland dabei? Ich könnte ja mal ein statistisches Mittel errechnen. Etwa 4,6 Prozent aller Menschen, die in Spanien leben, leben im País Vasco. Das heißt, von den 2.440, die kommen, sind etwa 112 aus dem Baskenland. Hinweis an euch: Sagt, ihr kommt aus Cantabria. Das kennt man hierzulande recht wenig und es ist unverfänglich. Als mein Vater, ein gebürtiger Baske, der nie baskisch sprach, weil es Franco nicht wollte, dass die baskische Kultur erhalten bleiben sollte, als mein Vater also öfter mal sagte, er käme aus dem Baskenland, da erntete er nur zynische Zoten und man dichtete ihm Terrorbereitschaft an. Nicht völlig ernst, sondern in der typisch deutschen Art der Ehrabschneidung und das Lächerlichmachens. Damit kann man leben, das stimmt. Aber ja nicht glauben, quid pro quo spielen zu dürfen. Das ist nicht drin, sonst gilt man als nicht-integratives Element.

Nochmal, ich will es niemanden ausreden. Aber ein wenig Ahnung haben, in was man sich begibt, sollte man schon. Nur was bilde ich mir ein zu glauben, ihr würdet das, wahrscheinlich ohnehin des Deutschen unfähig, lesen? Selbst wenn, glaubt man mir? Ihr könnt aber in diesem Land jeden fragen ... oder lieber nicht, denn man bestätigt es euch sowieso nicht. Hier ist die Welt zu Gast bei Freunden. Gast, hört ihr? Gäste gehen auch wieder. Wie man sich fühlt, wenn ein Trottel behauptet, damals hätte die Regierung alles falsch gemacht, weil sie die Gastarbeiterschaft nicht zeitlich begrenzt hat? Man fühlt sich unwürdig behandelt als Sohn eines Gastarbeiters, deplaziert, ungewollt und als ein Produkt, dass es nie hätte geben sollen. Jemanden diesen Eindruck zu vermitteln, jemand das Gefühl zu geben, überflüssig zu sein, daran dürft ihr euch gewöhnen, wenn ihr nach Deutschland kommt. Fragt selbst mal Rentner, Kinder arbeitsloser Menschen und Arbeitslose, fragt chronisch Kranke und diejenigen, die nicht mehr vollschichtig einsetzbar sind. Die sagen es euch. Man muss nur die richtigen fragen, um richtige Antworten zu erhalten.



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Demokratie der Feten und Miniröcke

Donnerstag, 22. November 2012

Einer der Unternehmensgrundsätze der Axel Springer AG lautet, die Lebensrechte des israelischen Volkes zu unterstützen. Kein Wunder also, dass die BamS einen Kommentar dazu druckte, der den einschlägigen Titel Tel Aviv ist Berlin trägt. Geschrieben von einem gewissen Martin S. Lambeck, der üblicherweise Essen & Trinken-Kolumnen für seine Zeitung schreibt. Der Text ist mehr als ein Bekenntnis zu Israel; er ist im Grunde ein tiefer Blick in das Welt- und Demokratieverständnis einer AG, die Kriegstreiberei und Augenwischerei betreibt.

Statt Burka-Frauen, so schreibt Lambeck, flanierten selbstbewusste Mädchen in Miniröcken am Strand durch Tel Aviv. Die mag es dort geben. Die Frage ist nur, was der Mann gegenüberstellen will. Denn palästinensische Frauen tragen gemeinehin keine Burka - und sollte er auf den Iran anspielen, so gilt dort dasselbe, nämlich dass Frauen auch dort nicht in Burkas versteckt gehalten werden. Was haben die Taliban, die er vermutlich meint, also mit Tel Aviv am Hut? Wohl nur etwas, wenn man die islamische Welt wie aus einem Guss begreift. Sind doch eh alle gleich, diese Mohammedaner! Hier wird ein Feindbild genährt und es wird suggeriert, dass dieser Feind eine Einheitsfront bildet. Der Mann hat eindeutig zu viel im Clash of Civilisations geschmökert.

Zudem ist es nicht nur so, dass in Tel Aviv miniberockte Frauen zu sehen sind. Manche tragen auch Uniform. Und Maschinengewehr. Auch das ist Tel Aviv. Das sollte man schon auch mal betonen. Und wenn die israelische Hauptstadt wie Berlin ist, muss man sich fragen, wohin Wowereit all die mit Waffen bestückten Uniformistinnen verschwinden läßt, warum er sie aus dem Stadtbild tilgt.

Und "am Wochenende gibt es in Tel Aviv so viele Parties wie in Berlin", weiß er außerdem. Unmittelbar nächster Satz von Lambeck: "Israel ist das einzige Land im Nahen Osten, in dem Demokratie herrscht ..." Weil es viele Feten gibt, herrscht in Israel Demokratie, ist sie eine freiheitliche Gesellschaft? Das läßt wahrlich tief blicken. Wo gefeiert werden kann, da ist Demokratie. Zur Erinnerung: Die Nazis feierten auch und nicht selten Feste; selbst als Berlin Zweifrontstadt war, gab es noch fette Sausen. War das alles Demokratie? Feierte man im Europa des Wiener Kongresses nicht rauschende Feste? Der Kongress tanzt, nannte sich eine Revue später - sich beziehend auf einen Ausspruch des Zeitgenossen Ligne. War das alles demokratisch? Lambeck verbreitet ein Demokratieverständnis, das für Teenager annehmbar sein mag. Gibt der Spaßgesellschaft nun die Spaßdemokratie, die auf Tanzflächen bestritten wird. Demokratie als epikuräischer Veitstanz? Was will er sein? Eine demokratische Dancing Queen? You can dance, you can jive, having the democracy of your life? Feiern Leute, feste feiern - das ist uns Demokratie genug! Mehr ist nicht notwendig. Eine Pulle, Musik, Miniröcke und Tanzfläche. Ach Demokratie, was bist du leicht zu haben.

Auf der Tanzfläche herrscht Krieg, ist ein aktuelles Lied. Lambeck schreibt, man höre in Tel Aviv "die gleiche Musik" - auch dieses Stück? Wenn Tanzfläche israelische Demokratie meint, dann ist der Titel wirklich treffend. Die israelische Gesellschaft wird von Regimekritikern immer wieder als reaktionäre und wenig meinungsfreie Gesellschaft bezeichnet. Die sozialen Diskrepanzen sind Sprengstoff. Versöhnende Projekte zwischen Juden und Palästinensern sieht man nur äußerst ungern. Es ermutigt die Palästinenser nur unnötig, wenn man ihnen Hoffnung macht. Avraham Burg schrieb vor Jahren, dass sich die israelische Gesellschaft von der Staatsdoktrin verabschieden sollte, wonach der Holocaust ein singuläres Ereignis darstellt, das zur nationalen Identitätsstiftung missbraucht wird. Man dürfe das Morden nicht vergessen, sollte bewusst daran zurückdenken, nicht aber in dem Sinne, es als rein an den Juden begangenes Unrecht zu verstehen. Wenn der Holocaust überhaupt eine Bedeutung gehabt haben soll, so Burg, dann als universelle Mahnung, was der Mensch dem Menschen antun kann, wenn sämtliche moralischen Imperative einstürzen. Dafür erntete Burg nicht den Applaus einer freiheitlichen Gesellschaft, sondern viel Hass und Drohungen.

Solidarität mit der leidenden israelischen Zivilgesellschaft verlangt Lambeck schlussendlich. Natürlich. Darauf arbeitete sein Text ja hin. Palästinensische Menschen leiden vermutlich nicht. Das Feindbild verdient nicht, mit menschlichen Zügen ausgestattet zu werden. Außerdem teilen wir in Deutschland "unsere Werte und unsere Träume" mit Israel - was immer die auch sind. Zivile Häuser bombardieren? Träumen wir hiervon, unliebsame Menschen in Wüstenlandstriche zu verbannen? Und träumen Menschen mit islamischen Hintergrund nicht auch vom Frieden? Von intakten Lebensverhältnissen? Von gesunden Kindern, von Liebe und Zuneigung? Welche Werte und Träume, glaubt Lambeck, pflegen die in Gaza lebenden Menschen denn unter ihrer nicht vorhandenen Burka? Todbringung? Mord? Bombengürtel?

Man kann es abkürzen und feststellen, dass Lambecks Text nicht zur Solidarisierung gedacht ist, sondern zur Verteufelung von Menschen, denen er das Menschsein zwischen den Zeilen abspricht. Es ist schlicht Kriegstreiberei. Pardon wird nicht gegeben, falsche Mitmenschlichkeit erlauben wir uns nicht, wenn wir vom Schreibtisch aus heilige Kriege, heilige Gemetzel entwerfen, wenn wir Feinde generieren, die ohne menschliche Attribute auskommen müssen. Ein mutiger Partydemokrat ist das, der mit flotter Sohle über das Parkett huscht, um das Blutvergießen zu einer gerechten Sache zu formulieren.



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Doch nur ein neuer Sloterdijk

Mittwoch, 21. November 2012

Asche auf mein Haupt. Mea culpa - dreifaches Repetitio, ohne maxima, man soll es nicht übertreiben. Was habe ich mich in diesem Precht getäuscht! Als er Anfang September in seiner neuen nächtlichen Sendung mit Hüther sprach, war bei allem Leerlauf dazwischen, beim Bildungsfetisch beider Herren, doch wenigstens etwas entstanden, was man im Fernsehen sonst eher selten sieht: Niveau. So ein bisschen davon jedenfalls. Und dann kam Döpfner - und dann kam auch noch Lindner! Und schlimmer noch die dazugehörigen Themen! Freiheit bei dem einen, Gerechtigkeit bei dem anderen! So viele Ausrufezeichen in meiner Schreibe! Das gehört sich nicht, ich gebe es zu. Sowas ist eigentlich ein stilistischer Missgriff. Aber was soll man denn machen?

Als der Vorstandsvorsitzende von Axel Springer bei ihm zu Gast war und über eine Freiheit schwadronierte, die alle Gazetten Springers ansonsten in Grund und Boden schreiben, da fragte ich in einem sozialen Netzwerk zynisch, wer als nächstes kommen würde. Kissinger vielleicht, der mit ihm über Menschenrechte fachsimpelt? Oder etwa Breivik zur Frage Was ist Nächstenliebe? Man glaubt es kaum, die Realität ist noch zynischer, noch phantastischer, als phantasievolle Zynismen. Er lud Lindner ein und ging mit ihm der Frage nach Was ist gerecht? Ich gebe es an dieser Stelle auf, höhnische Vermutungen aufzustellen, wer da wohl als nächstes Experte sein darf. Die Wirklichkeit schlägt mich da um Längen!

Philosophie: die Liebe zur Weisheit, der Hang zur Wahrheit. Der Philosoph: der, der die Wahrheit liebt, weil sie weise ist. Ist der Philosoph noch Philosoph, wenn er irgendwelche Knotenfurze einlädt, die mit der Wahrheit ungefähr so im Bunde stehen, wie der Teufel mit der Liebe? Kann man jemanden einen Philosophen nennen, der im neoliberalen Agitprop geschult ist und den auch anwendet? Andererseits war es doch immer auch Teil deutscher Philosophisterei, sich mit der Macht zu brunften, sich an ihrer wundzurammeln, sie mit formvollendeten Rezitationen zu deflorieren. Man warf das zuweilen Hegel vor, der dem preußischen Autoritätsstaat historische Aufträge erteilte - und dann ist da noch der, dessen Sein und Zeit es war, sich wenigstens eine Weile den Nationalsozialisten, der "Bewegung" wie er sie nannte, anzudienen. Philosophie mag in deutschsprachigen Gegenden auch immer mit Liebe zur Macht übersetzbar gewesen sein. Denn Wahrheit und Macht, so lehrt es der Geist der deutschen Selbstwertlosigkeit, sind eigentlich dasselbe. Bares ist Wahres - und Macht, auch wenn wir das in unserem Vor-dem-Gesetz-sind-alle-gleich-Staat nicht gerne laut sagen.

Mea culpa. Wie habe ich mich da getäuscht! Nachdem Hüther zu Gast war, konnte man ja nicht ahnen, wohin die Prechterei weist. Hätte man es wissen können? Precht war (oder ist?) der Sohn von Eltern, die sich eher im linken politischen Spektrum heimisch fühlten. Stimmt die simple These, wonach Kinder immer den Bruch mit der elterlichen Lebenswirklichkeit suchen, so ist sein Dialog mit Gestalten des amtierendes Regimes, mit Leuten, die von den jeweiligen Themenblöcken so weit enteilt sind, wie die osteoporösen Gebeine der konservativen Tea-Party-Bewegung von der liebeswert durchgedrehten Teegesellschaft des verrückten Hutmachers in Carrolls Märchen ... stimmt diese These also, so ist das Gespräch mit solchen Geschöpfen nur folgerichtig.

Man könnte die Philosophie retten wollen und behaupten, Precht sei gar kein Philosoph. Philosophen haben Werke hinterlassen. Selbst Erdachtes mit Einsprengseln anderer Denker aufs Papier gebracht. Precht interpretiert nur Wissenschaft und Philosophie, er greift ab, was andere geschrieben und erforscht haben, ist also nur ein Lehrstuhlphilosoph, kein freischaffender Denker. Das ändert aber nichts an seiner Stellung. Er ist der neue Sloterdijk, der neue GEZ-finanzierte Rechtfertiger eines Systems, das sich selbst mit GEZ-finanzierten Sophisten als annehmbar und gut darstellen muss. Als Schreiber war Precht durchaus imponierend, hat unterhalten und zugleich informiert, hat Philosophie populär gemacht - und dann stolpert er mit seiner Sendung auf die politische Bühne und offenbart sich ideologisch. Si tacuisses ... si tacuisses ...

Ich hätte es wissen können. Denn wie ich oft in seinen Büchern las, hat Precht ein Faible für Hirnforschung. Das ist an sich nicht verwerflich. Ich finde das Thema auch interessant, würde die Herkunft meines diesbezüglichen Interesses gerne mal hirndurchforscht wissen. Aber wenn ich nun zurückdenke, was ich bei ihm las, dann sind da schon doppeldeutige Momente. Hinterher ist man immer schlauer. Hinterher fällt einem ein, dass die Knietätschelei zwischen Gattin und Nachbar vielleicht doch kein Zufall war. Dann hat man eigentlich und innerlich immer schon gewusst, dass sie es mit ihm trieb.

Manchmal schien es so, als wünsche er sich eine Welt, die verhirnforscht ist, das heißt, die unmittelbar auf die Ergebnisse dieser Disziplin aufbaut und die Erkenntnisse alltagstauglich macht. Welches Menschenbild entwirft sich aber eine Gesellschaft, die den Menschen als determiniertes und rein impulsgesteuertes Gehirn mit drunter angebrachten Körper enttarnt? Vielleicht lügt sich die humanistische Denkweise selbst an, wenn sie eine total (und totalitär!) verwissenschaftlichte Sicht auf den Menschen ablehnt. Den Menschen als biologische Apparatur zu erklären mag ja nicht grundsätzlich falsch sein - ihn als hormonell betriebenen Duracell-Hasen zu sehen, ist wahrscheinlich sogar nachvollziehbar und beschränkt richtig. Der Humanist leugnet das aber und belügt sich womöglich selbst. Und ich glaube, das ist auch gut so. Der Mensch muss sich über bestimmte Abläufe in seinem Körper zwar bewusst sein, sollte sie aber leugnen und wegschieben können. Wenn der Mensch nicht mehr als ein motorisierter Organismus ist, dann verliert er seinen Wert, dann schwindet der Würdebegriff, dann wird er austauschbar, geht die Einzigartigkeit jedes menschlichen Wesens flöten. Der Mensch ist vermutlich nur besonders, wenn er sich sein Mysterium bewahrt, wenn er seine biologische Stellung in der allgemeinen Biologie leugnen kann, um seiner Selbstwert willen. Hier winken mal wieder Sartre und Camus hervor, die den Menschen als einziges Wesen sahen, das sein könne, was immer es wolle.

Ich unterstelle Precht nicht, dass er dieses Weltbild favorisiert und antreibt. Aber eine klare Abgrenzung hierzu scheint er auch nicht hinterlassen zu haben. Es entsteht hieraus vielleicht etwas wie stillschweigende Zustimmung zu einem Weltbild, das sich der Neoliberalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Hirnforschung befasst sich nicht selten mit Effizienz, damit den Hirnbesitzer, also den Menschen, effizienter zu konstituieren, ihm begreiflich zu machen, was in ihm vorgeht, um ihn schneller verarbeiten zu lassen; Liebeskummer ist dann beispielsweise nichtig, er wird zur Ausschüttung von Stoffen, die bestimmte Reaktionen erzielen, zu einer chemischen Handlung. Der Traum der Wissenschaft ist hier nicht nur das Verständnis, sondern gleichfalls einen Weg zu finden, die üblichen Hindernisse des Menschseins, diese störenden Impulse für das Leben als Konsument und Arbeitskraft, aus dem menschlichen Katalog zu verbannen. Wie gesagt, nicht dass Precht das wollte. Aber seine Begeisterung für diese Wissenschaft korreliert blendend mit den Effektivierern der neoliberalen Weltanschauung.

Gleichwohl ist Hirnforschung spannend, was aber geschieht, wenn man diese Disziplin nicht einordnet und ihr den Wind aus den Segeln nimmt, ist die Hirnzerforschung des Menschen. Eigentlich ist es der Philosophen Aufgabe, Wissenschaft in das Nest der Philosophie zu betten, sie also mit Weisheit auszustatten und sie auf den Boden des Alltags zurückzuholen. Jedenfalls definierte sich Philosophie selbst so, als sie aufgrund der Verwissenschaftlichung der Welt zunächst für entbehrlich gehalten wurde. Hier versagt Precht zweifelsohne. Und ich habe das nie so richtig bemerkt. Seine politische Offenbarung in Gestalt einer sich philosophisch gebenden Sendung, eröffnen plötzlich Sichtweisen, die ich vorher nicht erkannte.

Man könnte auch vermuten, dass philosophische Betrachtungen in diesem System nur noch der Öffentlichkeit zugetragen werden, wenn sie eindeutig politische Stellung pro status quo beziehen. Sie bekommen eine Sendung, Precht, wenn Sie mit Döpfner und Lindner sprechen, sie mal politisch rausputzen und geisteswissenschaftlich aufwerten! Wäre es dann nicht philosophischer gewesen, erst gar keine Sendung haben zu wollen? Aber ich halte das für ausgeschlossen. Precht brachte mit, was man im neoliberalen Rechtfertigungsfernsehen benötigt. Er nahm nicht hin, was man forderte, er hatte in sich, was sie brauchten, um wieder mal einen Philosophen für das Nachtprogramm zu haben, dessen persönliche Aufklärung es ist, selbstverschuldet in seine Unmündigkeit zu stürzen.

Ach hätte er nur geschwiegen, dann wäre er Philosoph geblieben ... und hätte ich mal geschwiegen, diesen Mann und seine Sendung für "nicht schlecht" zu bezeichnen ...



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Sit venia verbo

Dienstag, 20. November 2012

"Die Grünen von heute setzen sich nicht mehr mit den Verursachern der Ausbeutung und der Erniedrigung des Menschen und der Zerstörung der Natur auseinander. Was den Menschen krank macht, ihn demütigt und ihm seine Perspektiven raubt, ist nicht mehr ihr Thema. Neben der Rückführung früheren Protestpotenzials in die herrschenden Verhältnisse ist ihre zweite Funktion die von Innovationstrotteln: dem Kapital bei der Verbesserung seiner Verwertungsbedingungen zu helfen und diesen Absturz als 'ökologische Modernisierung' und 'Innovationsfähigkeit' zu verkaufen."

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Kommunismus in der Fahrgastzelle

Montag, 19. November 2012

Hat der denn gar keine Ahnung von dem, was wir als Gesellschaft brauchen? Wir brauchen nicht weniger - wir brauchen mehr! Steuerentlastung für Carsharing! Da beklagen sich die Autohersteller allerorten und Flasbarth fordert keck, man solle Carsharing fördern, auf dass noch mehr Menschen sich ein Auto teilen. Das kann man ja mal ignorant nennen. Und nebenher nimmt man auch noch Bürger in Schutz, die sich weigern, Vollzeitkunden sein zu wollen, die auf Teilzeit besitzen, obgleich die Wirtschaft auf Vollzeit- und Vollblutkonsumenten angewiesen ist.

Belohnen gefährlicher Mentalitäten

Muss nicht auch der Präsident eines Umweltbundesamtes mehr als nur die Umwelt im Blick haben? Ist es in Zeiten, da uns in jedem Kommentar, in jeder Nachrichten- und Talksendung Sportpalastansprachen gehalten werden - Wollt Ihr die totale Ökonomie? -, nicht notwendig, gewisse Ideale in die ökonomischen Vorgaben einzuordnen? Flasbarth redet sich einfach. Wenn er sich für die Förderung geteilter Autos ausspricht, dann sagt er damit doch auch: Wo zwei oder drei in einer Fahrgastzelle versammelt sind, da werden ein oder zwei Fahrgastzellen gar nicht erst gebaut! Dabei brauchen wir doch etwas zu tun, wir brauchen Beschäftigung. Nicht weniger Autos sind notwendig, sondern mehr.

Flasbarth kann doch nicht ernstlich Menschen belohnen wollen, die ökonomisch so ungebildet sind, dass sie sich ein Auto teilen wollen. Da werden falsche Akzente gesetzt, falsche, ja gefährliche Mentalitäten honoriert. Wir brauchen Steuervergünstigungen für solche, die viele Autos besitzen. Das gibt Sinn! Muss man denn nicht im Rahmen der wirtschaftlichen Vernunft Gesetzesentwürfe einbringen, die das Sharen verbieten? Dieses kleinkarierte Denken macht doch alles kaputt. Energie und Rohstoffe einsparen, lobt Flasbarth - wenn man das schon lesen muss! Es geht doch um so viel mehr. Sparprogramme sind einzig und alleine was für die öffentliche Hand, aber nicht für die Privatwirtschaft. Sonst sparen wir uns ja noch zu Tode!

Der Kommunismus in der Fahrgastzelle

Wachstum nennt sich das, was wir benötigen. Oder Expansion. Oder Märkte erschließen und Bedürfnisse schaffen. Autos gehören nicht zwischen drei oder vier Menschen geteilt. Das raubt Potenzial! Es gibt kein individuelles Recht, ein Auto besitzen zu können; wenn man kein Geld hat, muss es ohne gehen - aber jedes Auto sollte das Recht haben, nur einen Halter sein Eigen tuckern zu dürfen. Da wird Privatbesitz verspottet, da werden kommunistische Ideen für einen lumpigen Umweltschutz installiert. Wo ist die klare Linie, die harte Kante für die Ökonomie? Haben wir immer noch nicht erkannt, was Priorität haben sollte?

Maßhaltung und ökologische Denkweise sind natürlich feine Ideen. Alleine werden sie immer auf Kollisionskurs mit dem sein, was uns wichtiger zu sein hat, weil es uns Geld einhandelt, Beschäftigung sichert und damit Sachzwang ist. Mit Fahrgastzellenkommunismus punktet man vielleicht beim grünen Gemüt, aber doch nicht bei der Vernunft. Autos teilen: Als ob geteiltes Leid, halbes Leid sei - solche Teilungen kann sich keine Gesellschaft leisten, die das Wachstum benötigt, wie der Fisch das brackige Wasser. Die Vorteilssucht mancher Menschen, die die Mobilität nur temporär dann nutzen wollen, wenn sie sie gerade brauchen, ruiniert Branche und Gesellschaft gleichermaßen.

Ein System ohne Visionen stößt an die Grenzen seiner Grenzenlosigkeit

Die ökonomisierte Lesart der Welt stößt an ihre Grenzen. Sie tut es dieser Tage, da sich der gute Kapitalismus nicht mit den schlechten Zuständen in den Gesellschaften dieser Welt deckt. Und sie tut es im Kleinen, wenn Regierungen einerseits die Produktion von Kraftfahrzeugen anfachen wollen, um gleichzeitig das Carsharing zu lobhudeln und vielleicht gar zu begünstigen. Die politischen Verwaltungen eines Kapitalismus', der keine Zukunftsvision außer Profit, Profit, Profit! entfacht, der ohne Nachhaltigkeit und Vorausschau aktionistisch wächst, expandiert und Profitfelder erschließt ... die politischen Verwaltungen dieses Mahlstroms handeln gleichfalls ohne Weitsicht, ohne Fernblick. Das System hat auf sie abgefärbt, hat den ihm immanenten Fatalismus auf seine Protagonisten gesprüht. Die entwickeln kein Konzept, keine Generalvorhaben, sondern üben sich in Aktionismus, ganz so, wie das System natur- und strukturgemäß abspult. So gesehen sind diese Protagonisten wirklich unideologisch.

Und diese fehlende Ideologie werfen sie gerne als Vorzug in den Ring. Was Inhalte und Vorstellungsgabe betrifft ist das wirklich so. Ihre Ideologiefreiheit ist an der Sache, an der Zukunft manifest, was die ökonomischen Verhältnisse, das Effizienzdenken, die Profitmaximierung, die Kapitalakkumulation, die sonderbare Beziehung zu Besitz- und Eigentumsdefinitionen betrifft, da sind sie jedoch wohl ideologisch. Dass man keine Zukunft planen kann, steht außer Frage; dass man aber offenbar nicht mal eine Vorstellung davon hat, an welchen Werten und Idealen diese Zukunft geschliffen werden soll, zeigt sich an Flasbarths sinnvollen Einwurf. Immer weiter so! ist die Zukunftsparole von diesem System und denen, die es stützen. Flasbarth zeigt ungewollt, dass die Grenzenlosigkeit, die der Kapitalismus in aller Bescheidenheit benötigt, um sich selbst erhalten zu können, nicht realisierbar, auch nicht vernünftig sein kann. Vernunft und die herrschende Ökonomie sind nicht vereinbar.



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Gleichnis von den Castingshows anvertrauten Talenten

Freitag, 16. November 2012

oder Eine kurze Abhandlung zu dem, was Talent sein soll und was nicht.

Der Musiker war stets Lakai. Er bot seine Künste, sei es als Betätiger eines Instruments, sei es als Sänger, feil. Zu musizieren oblag zunächst den Sklaven, später war es Berufung, manchmal auch Beruf. Angesehen war der Musikus deswegen noch lange nicht. Nicht als Intrumentalist, nicht als Sänger jedenfalls. Irgendwann war derjenige, der Musik schrieb, dann doch gesellschaftlich geachtet und allgemein umschwärmt. Reproduzierende Musiker, Sänger und Instrumentalisten also, blieben nur Medium, sah man als Leute an, die ein Handwerk beherrschten, die nach Noten sangen oder spielten, die ein anderer im Anflug von Kreativität für sie aufschrieb. Tim Blanning beschreibt das ganz anschaulich in seiner musikalischen Kulturgeschichte namens "Triumph der Musik" und meint weiter, dass die reproduzierende Gilde erst mit den Eintritt technischer Mittel die produzierende Partei (Komponisten) in der öffentlichen Gunst überflügelte. Die Möglichkeit Musik aufzuzeichnen und für ein Massenpublikum zu verstärken, gebar die Idee, dass dem Sänger und Instrumentalisten der Vorzug vor denen zu geben sei, die Music & Lyrics entwerfen.

Die Reproduktion von Musik wurde letztlich der gesellschaftlichen Verehrung überstellt, die Produktion blieb und bleibt bis heute im stillen Kämmerlein. In gewisser Weise entzieht man dem kreativen Akt, sich Musik im Kopf auszudenken, sie aufzuschreiben und zu arrangieren, sie also in die Welt treten zu lassen, die Gnade der Begabung. Musik nicht akustisch, sondern zunächst in der Vorstufe, das heißt, sie geistig zu gebären, entzieht sich der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend. Bei Talentwettbewerben und Castingshows treten Reproduzierer an und werden wild gefeiert. Noch nie hat man erlebt, dass dort jemand als reiner Produzent auftrat. Zuweilen als Komponist, Intrumentalist und Sänger in Personalunion, wobei die reproduzierenden Aspekte stets über den Verbleib entscheiden; das Produkt allerdings, das entworfene Stück, es ist stets nur Marginalie.

Wo werden Dichter, Schriftsteller, Komponisten gecastet?

Hat man denn schon erlebt, dass jemand sich zum Supertalent aufschwang, nur indem er ein Bündel loser Blätter hinwarf, darauf hinweisend, dass das Songs seien, die er sich ausdachte, die er in Noten fasste, die er schrieb, die kurz gesagt, sein ganzes Talent ausmachten? Hat man je jemanden gesehen, der dort als Schriftsteller auftrat, aus Texten rezitierend, die er ersann? Supertalent meint hier nicht jede erdenkliche Form von Begabung, sondern eine von Format und gesellschaftlicher Konvention vorgegebene Art von Talent. Die Genialität eines Dichters hat auf einer Bühne, die für Casting-Pöblikum gezimmert ist, nicht den Hauch einer Chance, das Nachsingen von Liedtexten, die aus fremder Feder stammen, findet jedoch zuweilen tosenden Applaus.

Der geistige Akt der Kreativität kommt in solchen Showformaten so gut wie gar nicht vor. Die körperliche Kreativität ist hingegen fester Bestandteil des Konzepts. Die taucht immer dann auf, wenn jongliert oder getanzt wird, wenn Artisten oder Stuntmen auftreten. Einfallsreichtum ist dort aber nicht hoch im Kurs, reproduzierende Musiker bekommen zwar eine Plattform, kreative Musikschaffende, die lediglich arrangieren, schreiben und sich im Kopf denken, was auf der Bühne zu sein hat und wie es sich anhören soll, sind von solchen Talentwettbewerben aber gänzlich ausgeschlossen - und schlimmer noch, werden als Talent gesellschaftlich gar nicht wahrgenommen und geschätzt. Man versuche, wie oben gesagt, nur mal auf einer solchen Bühne zu dichten oder aus einem Text vorzulesen. Man wäre dem Spott ausgesetzt, das Talent wäre der Brüller des Augenblicks, würde als Unsinn abgetan.

Einfallslosigkeit als Talent; Kreativität als Talentfreiheit

Kreativität geht begrifflich auf das lateinische Wort creare zurück. Das bedeutet so viel wie erzeugen, erfinden, herstellen oder erschaffen. Eine Schöpfung ist wörtlich betrachtet das, was der Kreative hervorbringt. Es ist sein Produkt - was sich von producere ableitet und in etwa hervorbringen bedeutet. Unter üblichen Gesichtspunkten wertet man den kreativen Akt durchaus als etwas, was Talent voraussetzt. Da in der Kreativität, im creare, auch das crescere, das Wachsen, steckt, kann man davon ausgehen, dass das Herauswachsen eines Geschicks aus einem Menschen, durchaus eine Talentierung voraussetzt.

Die Reproduktion setzt zwar Geschicklichkeit und Begabung voraus, reduziert sich aber auf Finger- oder Stimmfertigkeit, isoliert oder absorbiert die Kreativität. Im Falle von gesuchten Supertalenten heißt das, dass sie vornehmlich unkreativ sind, ideenlos und monoton. Sie äffen fingergeschickt nach, sie kopieren stimmgewaltig - belegen läßt sich das damit, dass bei Castingshows auftretende Sänger nicht selten ihr Idol imitieren, nicht selbst stimmlich in Erscheinung treten, sondern beispielsweise einen Joe Cocker-Ersatz feilbieten. Das Singen ist hier lediglich ein im Kehlkopf lagerndes Handwerk, das den letzten Rest kreativen Gespürs aufspürt. Beifall ist aber auch hier sicher. Produzierende Talente sind von den Castingkonzepten fast völlig ausgeschlossen - bestenfalls akzeptiert, wenn der Produzent gleichzeit Reproduzent sein kann, wobei stets eine stärkere Gewichtung auf die Reproduktion gelegt wird.

Talentierte Köche sind nichts als gute Handwerker

Das Casting von Talenten, wie wir es im Fernsehen seit Jahren sehen, ist nicht wirklich die Sichtung von Begabung, sondern die Durchsicht von Fähigkeiten, die unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Konvention, was soviel heißt wie: medial vorgegeben, zum Talent erklärt werden. In anderen Zeiten wären nicht Sänger oder Pianisten vor eine Jury getreten, um ihr Talent und ihre damit verbundene Kreativität unter Beweis zu stellen. Man hätte sie nur als ausführende Organe angesehen, die nun akustisch machten, was sich ein Musikschaffender erdacht hatte. Und kein Sänger wäre in jenen Zeiten Juror gewesen, wie man das heute manchmal sieht. Man hätte einem reproduzierenden Protagonisten keinerlei fachliche Qualitäten eingeräumt. Ein Casting hätte damals sein Hauptaugenmerk auf andere Aspekte gelegt, auch, weil Musik nur eine Augenblickserscheinung war, nicht durch Aufzeichnung gesichert werden konnte. Der Sänger oder Instrumentalist war nur Momentaufnahme, derjenige, der sich der Nachwelt durch Aufschreiben erhalten konnte, erntete die Anerkennung und jenen irren Applaus, den man manchmal in heutigen Castingshows beobachten kann.

Vergleichbar wäre diese Umdeutung von Talent und Kreativität damit, dass man jemanden, der Gerichte aus einem Kochbuch eines Sternekochs gut und schmackhaft nachkochen kann, durchaus attestieren würde, er könne ausgezeichnet kochen - ein Sternekoch ist er deshalb noch lange nicht. Hierzu bedarf es mehrerer Qualitäten, das Kochen alleine, das Handwerk also, es ist nur ein Punkt im Spektrum der Fachlichkeit. Man kann beim Laien, der schmackhaft kocht, vielleicht nicht mal von Begabung sprechen, denn was er da tut, es ist Handwerk, ist erlernbar. Nuancierte Geschmacksabstimmungen beispielsweise beherrscht er normalerweise nicht. Er kann ein guter Handwerker sein, so wie ein reprodukzierender Musiker ein guter Hand- und Stimmwerker sein kann. Niemand käme aber auf die Idee, einen solchen Laienkoch zum Superstar oder Supertalent erklären zu wollen.

Talentierte Fragen

Der Talentbegriff beinhaltet heute so gut wie nur noch Reproduzierer. Der kreative Akt ist beschränkt auf das Kopieren von schon vorhandener Musik. Sie singen zwar mit eigener Stimme, aber fremde Kompositionen. Die Castingshows, die das Fernsehen füllen, kennen keine Talente, die produktiv und letztlich kreativ sind. Sieger solcher Shows bringen Alben heraus, auf denen sie Musik anderer Leute nachsingen. Dennoch gilt als Talent, was eigentlich den kreativen Akt entbehrt. Talentshows verweigern sich dem produzierendem Part - wahrscheinlich auch, weil dieser Aspekt das Publikum langweilte. Dennoch bleibt die Frage: Kann man von Supertalenten sprechen, wenn sie nur organische Tonbänder und Abspielmechanismen sind? Und: Veredeln wir nicht bestimmte Seiten der Musik mit außerordentlichen Talentpotenzial, während die andere Seite zu Unrecht vernachlässigt und vergessen wird? Vergessen wir mit dieser Agendasetzung in Sachen Talent nicht die Wurzeln aus denen Musik kommt - den Geist nämlich, diesen ideellen Antrieb, die rhythmische Verarbeitung von Erfahrung, Erleben und Sorgen? Eine ganze Branche also als Anhängsel von so genanntem Talent, das ohne diese Branche nichts weiter als das Pfeifen im Walde wäre?

Talent, wie wir es heute begrifflich verwenden, leitet sich vom Gleichnis von den anvertrauten Talenten ab, nachzulesen bei Matthäus und Lukas. In dem erhalten Diener einige Talente Silbergeld und mehren diese. Talent zu haben, so rekrutierte es sich aus diesem Gleichnis, bedeutete also vornehmlich, Nutzen aus materiellen Gütern zu erzielen. So gesehen ist der Talentbegriff, wie man ihn in Castingshows verwendet, doch nicht ganz falsch. Man darf Talent vermutlich nicht mit Beseelung und Begabung verwechseln, mit der Kunst, etwas formvollendet zu beherrschen, mit einem geistigen Akt - dort wo wir unseren Talentbegriff her haben, ging es nicht um Geist, sondern um Materielles.



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Du sollst nicht!

Donnerstag, 15. November 2012

Nicht mal Köhler war so ökonomisiert wie der jetzige Bundespräsident. Seine neulich gehaltene Rede vor Manager legt davon Zeugnis ab. Wieder mal war die Rede von "blanker Gier", wieder mal ging es um die "Zivilisierung von Gier", um einen "aufgeklärten Kapitalismus" zu schaffen. Der Mann klingt nicht wie jemand, der auch nur ansatzweise begriffen hat, worum es dieser Tage geht. In einem System der Deregulierung kann man nicht von Gier sprechen. Das wäre verlogen und dumm. Gauck äußert sich genau so.

Es ging beim Zusammenbruch des Finanzsystems doch nie um Gier. Natürlich war die auch Antrieb. Aber wo keine Barrieren aufgestellt werden, um diese widerwärtige menschliche Eigenschaft einzugrenzen, da darf man sich nicht wundern, dass sie rücksichtslos zuschlägt. Gauck spricht natürlich pastoral. Versteht der Mann eigentlich, dass Wirtschaftssysteme nicht mit frommen Du sollst nicht...!-Imperativen klappen? Dass Du sollst nicht...! etwas ist, was nur in einem Rahmen greift, in dem dieses Verbot auch verboten ist? Der deregulierte Finanzmarkt hat die Gier aber doch nicht verboten. Die Politik seit jener ominösen geistig-moralischen Wende hat doch in diese Richtung nur Lockerungen erlassen, die die zur Sprache gebrachte Gier entketteten.

Aber nicht nur Manager seien gierig, meinte er weiter. Auch Kunden sind es. "Wie lange greifen Europäer noch zur Jeans für zehn Euro...", fragt der Mann doch ernsthaft. Welche Europäer sind es denn, die derart billige Hosen bei Discountern kaufen? Doch nicht die, die es sich leisten können, auch eine Hose für zweihundert Euro zu tragen. Glaubt der Mann wirklich, dass diejenigen, die billigste Ramschware kaufen, das nur aus Gier tun? Hat er überhaupt eine Ahnung davon, mit wie wenig Geld manche Menschen über den Monat kommen müssen? Und dann kommen ungeplante Ausgaben hinzu, muss man sich zum Beispiel eine neue Hose kaufen. Welche kauft man sich da wohl?

Keine Frage, die Geiz ist geil!-Mentalität ist verbreitet. Aber sie wird politisch unterstützt. Durch Sozialabbau, durch Kürzungen und Einsparungen, durch Förderung des Niedriglohnsektors. Man hat in diesem Lande Hartz IV-Empfängern mehrmals von politischer Seite her empfohlen, die Angebote bei Discountern zu studieren, um mit dem Geld auskommen zu können. War da Geiz geil oder einfach nur die einzige Möglichkeit, den gesamten Monat hinzukommen mit dem bisschen Armut, das einem bleibt? Dieser Mann tut ja gerade so, als hätten die meisten Menschen, die er bezeichnenderweise Kunden nennt, eine große Wahl. Er ist ein Bundespräsident, der die Lebensumstände der Menschen in Deutschland und Europa nicht kennt. Armut ist diesem Theologen kein Schicksal, sondern vermutlich eine Schande, ein Makel, der zudem die Gier anfacht.

"Mit dem Kassenbon kann man schlimme Zustände zementieren", sagte er. Eloquent ist Gauck ja, das muss man ihm lassen. Man kann aber auch beredt Quatsch verbreiten. Und er tut das freilich. Er sollte nur nicht so tun, als hätte die Großzahl an Menschen eine Möglichkeit, sich dieser Mittäterschaft zu entziehen. Soll er mal die elitären Geizhälse, die auf dem Weg zur Arbeit in einem der Obergeschosse eines Versicherungsunternehmens, noch schnell zu Aldi spurten mit ihrer S-Klasse, um dort eine günstige Steppdecke zu erstehen und um gleich noch Eier und Milch zum Selbstkostenpreis mitnehmen, schelten.

Aber er kennt nur Ökonomie, die er vermutlich als wesentlichsten Pfeiler der Demokratie ansieht. Immer wenn er von Demokratie spricht, fallen bei ihm Worte wie Markt oder Marktmacht, Kunden und Konsumenten, Angebot und Nachfrage. Demokratie ist für ihn dieser Kapitalismus, der nur ein wenig von Einzelfällen aus dem Ruder gebracht wurde. Wenn er demokratische Fragen erläutert, nähert er sich stets von der ökonomischen Perspektive her. Grundsätzliche Ethik, die vor dem Sachzwang der Ökonomie kommt, kennt dieser Bundespräsident gar nicht. Ethik ist für ihn zuallererst eine wirtschaftliche Frage. Irgendwie hat man bei ihm den Eindruck, er spricht die Menschen bald nicht mehr mit Liebe Bürgerinnen und Bürger an, sondern mit Liebe Kundinnen und Kunden oder Liebe Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmer ...

Der Mann klingt wie ein Unternehmer, den über Nacht die protestantische Erweckung ereilte, und der nun vor seine Belegschaft tritt, um in salbungsvollen Reden für einen christlichen Kapitalismus einzustehen, um für Anstand in einem System der Unanständigkeit, für Bescheidenheit in einem Kodex der Habsucht zu werben. Wäre er doch nur auf der Kanzel geblieben!



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Facie prima

Heute: Der ehemalige "Hurensohn, aber unser Hurensohn"

Mit dieser Betitelung soll gar nicht der abgebildete, uns wohlbekannte Herr gemeint sein, sondern ein genereller Typus. Das heißt, er ist damit nicht mal selbst gemeint, wenn er hier abgebildet ist, sondern er repräsentiert nur seine Art. Mit dem Hurensohn, der aber unser Hurensohn sei, wird auf jenes berühmte Zitat Reagans angespielt, dass er auf Saddam Hussein münzte. Als das hier abgebildete Stereotyp noch unserer war, da winkte er freudig lächelnd aus hiesigen Gazetten. Jener rechts zumindest; andere seiner Art schüttelten deutschen Kanzlern freundschaftlich die Hand, standen dem Westen nahe, mal ökonomisch und geopolitisch, mal im Anti-Terror-Kampf. Zwielichtige Gestalten, die aber plötzlich gefällig gezeigt, mild und aufgehellt präsentiert wurden.


Vorher waren seine Geheimdienste, die mit Folter Geständnisse erzwangen, noch begehrt. Hiesige Minister beteuerten unschuldig, dass im Kampf gegen den Terrorismus keine falsche Scham herrschen dürfe, man auch erfolterte Aussagen verwenden sollte. Irgendwann ist er nur noch ein Hurensohn gewesen, nicht mehr unserer, nur noch einer. Er verliert sein Lächeln, seine charmant gehaltene Aura verwelkt, zurück bleibt ein knöcherner, ein staubtrockener Typ, teilweise verbiestert wirkend. Die Fotografien, die ihn nun darstellen, sind so anders als vorher. Im exemplarischen Falle wird aus dem sympathischen Autoritären von einstmals, ein linear auftretender Technokrat - und manchmal wird aus einem einnehmenden Händeschüttler und Freund, ein phantasievoll gewandeter Diktator, den man seine Diktatur schon aus den Krähenfüßen ablesen kann.

Die Hand ist ein zentraler Bestandteil seiner Dargestelltheit. Ist er unser Hurensohn, so zeigt man die Hand winkend oder schüttelnd; sie ist die helfende Hand, die freundschaftlich gereichte. Wird aus ihm ein ordinärer Lump, ein Hurensohn ohne vorangeschobenes besitzanzeigendes Fürwort, so zeigt man seine Hand als Werkzeug der Beteuerung, als Sinnbild des Gelöbnisses, gar kein schlechter Mensch zu sein. Die Hand wird zur Rechtfertigung, die ins Bild gebannt wurde. Der in Ungnade Gefallene, dessen Unmenschlichkeit plötzlich zum Thema wird, nachdem sie vormals kein Thema wert war, wirkt nun wie einer, der eine Ehrenerklärung zu seiner Person abzugeben hat. Bei dem Technokraten, der hier exemplarisch abgebildet ist, wird die Hand zum Gegenstand eines Ertappten, der sich zu erklären sucht. Bei anderen seiner Art, wurde aus der Hand, die Kanzlerhände schüttelte, eine Orden und Lametta liebkosende Pranke, ein an die Schirmmütze angelegtes Despotenmerkmal.




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In der Natur des Marktes

Mittwoch, 14. November 2012

Neulich wieder ein Gespräch geführt mit jemanden. Weniger ein Gespräch, mehr so zugehört, was er stammelte. Bisschen Widerstand geleistet, es dann aufgegeben. Brachte nichts. Säue tragen keine Perlen. Zugehört also, gelauscht, wie er meinte, dass der Markt zuerst war, bevor der Staat kam. Sinngemäß etwa so: Am Anfang schuf Gott den Menschen. Und der Mensch war wüst und finster. Und Gott sprach: Es werde Markt. Und Gott sah, dass der Markt gut war. Dann übersprang er die Schöpfungsgeschichte, holperte zur Vertreibung. Er sagte weiter: Weil du auf die Stimme des Marktes nicht gehört hast und den Staat gegründet hast, von dem ich dir geboten habe: Du sollst ihn nicht gründen! - so sei der Erdboden verflucht. Im Schweiße deines Angesichts sollst du deine Steuern zahlen, dich vom Staat knechten, unterdrücken und ausbeuten lassen. Denn Markt bist du, und zum Markt wirst du zurückkehren. Er hat es vielleicht doch weniger theatralisch formuliert. Mir war aber so, als hätte er es genau so gesagt. Quintessenz: Erst Mensch, dann Markt und später erst kam der Staat.

Kurzum, er sprach von einem Naturzustand, aus dem der Mensch ausbrach. Die gute Natur des Marktes hat der Mensch umgepflügt, hat sie mit künstlichen Bedingungen ausgestattet und wundert sich nun, dass er nicht gesund und natürlich leben kann. Der Typ war ein bisschen irre, man hat es gesehen, er ließ dauernd seine Pupillen kreisen und kippelte nervös mit dem Kopf. Nicht nur deswegen fand ich seine These heiter, sondern auch, weil sie so plump und durchsichtig war. Wie ein Kind, das unaufgefordert und ungefragt zur Mutter läuft und bestätigt, es habe nichts Verbotenes getan, wäre nicht am Süßigkeitenschrank gewesen.

Die gute Natur ist doch ein Kalauer traumverlorener Romantiker. Wenn wir schon vom allgemeinen Lob auf natürliche Lebensformen sprechen: Der edle Wilde und die verlorene Natur, das sind doch lediglich fromme Herzenswünsche, lustige Halluzinationen. Thoreau war eine Weile so ein romantischer Naturbursche, bis er am Mount Ktaadn die Kargheit und die Ödnis dieser natürlichen und urwüchsigen Landschaft am eigenen Leibe spürte. Danach fühlte er sich von der Natur verstoßen, sich in ihr fremd und auf sich alleine gestellt. Die wundersame Einheit zwischen Mensch und Natur erschien ihm jetzt realitätsfern. Es wurde ihm klar, dass er kein Stück Natur in der Natur ist. Wer schon schlecht ausgerüstet durch einen morastigen Wald stapfte, der ahnt die Gemütlichkeit, die der Naturzustand sein kann. Der Einbruch in die Natur, ich rede nicht von ihrer Zerstörung und Ausbeutung, die Schaffung von künstlichen Lebensräumen, das Nebeneinander von Natürlichkeit und Künstlichkeit macht den Reiz hienieden aus - und ist das künstlich natürliche Lebensumfeld des Menschen.

Überhaupt ein seltsames Denken. Erst war der Markt, dann der Staat. Wie hat denn dieser Markt ausgesehen? Ich stelle ihn mir so vor, dass Menschen untereinander handelten. Wenn man den Tausch von Steinen, die aussahen wie Pfeilspitzen gegen Steine, die aussahen wie Hämmer, überhaupt als Markt bezeichnen kann. Alleine dass man bei einem archaischen Tauschhandel schon den Markt wittert, macht, dass ich eine gehörige Portion Beschränktheit bei dem wittere, der das argumentativ aufführt. Das wäre, als würde ich beim Anblick eines Speichenrades aus der Bronzezeit ehrfurchtsvoll Automobil oder Rudolf Diesel vor mich her sabbern.

Sei es so, zurück zum Tauschhandel, der später mit Äquivalent, mit Münzen, also Geld, ausgestattet wurde. Haben die Teilnehmer dieses Marktes denn keine Regeln gehabt? Ware gegen Ware beispielsweise? Prüften die Teilnehmer nicht vor Tausch oder Kauf, ob die Ware in Ordnung ist? Liest man nicht schon in vorkapitalistischer Literatur, dass man dem Händler, der Schrott verkaufte, ans Leder ging? Vertrieb man Betrüger nicht, legte sie lahm, sperrte sie ein, schlug sie tot? Finden sich in der Geschichtsschreibung nicht unzählige Berichte über den Hass gegen Wucherer und Maßnahmen gegen sie? Gab es also nicht immer schon, als der Staat dem Markt noch nicht übergestülpt wurde, vereinbarte, stillschweigende und allgemein akzeptierte Regularien, deren Nichteinhaltung nicht toleriert wurde? Ich stelle mir vor, dass kräftige Teilnehmer ihre Kraft auch gebrauchten, sich ihr Monopol mit der Faust sicherten. Das erntete sicher Empörung, empfand man als ungerecht, aber so war das manchmal in der Natur des Marktes.

Dann kam der Staat, so meint es jedenfalls der schrullige Typ. Der sei ein künstliches Gebilde. Er hat in seiner geistigen Eingezäuntheit nicht verstanden, dass sein Marktbegriff auch nichts weiter ist, als ein Kunstgriff, ein künstlicher Kniff, um seine ideologischen Präferenzen irgendwie philosophisch zu legalisieren. Den Markt gibt es gar nicht, er ist ja nur eine terminologische Vereinfachung, eine Simplifizierung zur Verarbeitung komplexer Prozesse, die alles sind, aber sicher nicht natürlich, sondern in von Menschen gemachten Bahnen und Abläufen geschehen. Überhaupt kann Staatlichkeit viele Gesichter haben, ich werde hier keine Staatstheorien breitklopfen. Sie ist aber in jedem Falle, vereinfacht gesagt, ein modus vivendi. Das heißt, der Staat regelt das Zusammenleben, das Überleben. Das geschieht manchmal schlecht, aber hin und wieder auch gut. Statt Staatlichkeit könnte man auch Vergesellschaftung meinen.

Bleiben wir mal beim Bild eines Staates, der künstlich über die Marktnatur gewickelt wurde. Der Staat hat das, was an Regeln im natürlichen Markt schon vorherrschte, übernommen und an ihnen gefeilt, sie zu Rechtsansprüchen gemacht, Gerechtigkeit, die in der Natürlichkeit immer ein Kräftemessen war, zu einem Gut gedrechselt, das jedem widerfahren kann. Bevor die Kritiker kommen: Ich rede nicht von diesem oder jenem Staat, sondern von Staatlichkeit, von einer Theorie, nicht unbedingt von der Praxis. Dass die Staatlichkeit unter der herrschenden Ökonomie Gerechtigkeit für viele Menschen einfach ausklammert, ist ein gravierendes Problem. Deswegen muss die Lösung des Problems nicht sein, die Staatlichkeit aus der Wirtschaft zu bannen, sondern eine Staatlichkeit zu schaffen, die die Wirtschaft so mitgestaltet, dass jeder etwas davon hat.

Jetzt könnte der Typ eingewendet haben, wenn ich es ihm so erklärt hätte, dass es vorher ja keine Regeln gab, bevor der Staat war. Dann hätte ich geantwortet: Na, dann wurde es ja Zeit dafür! Oder er könnte es bestätigt haben und hätte mir somit zugestimmt, es habe auch da Regelungen zwischen den Teilnehmern gegeben, dann hätte ich gesagt: Dann hat der Staat nichts getan, was nicht schon war! Ich habe nichts dergleichen gesagt, ich schreibe besser als ich rede. Ich habe ihn gelassen, zweimal angesetzt, zweimal aufgelaufen. Mir war nicht nach Hartnäckigkeit.

Ich hätte überhaupt antworten sollen, dass der Naturzustand, dieses tolle Ideal, beinhaltet, auch mal jemanden erschlagen zu dürfen. Gott hat nicht nur den Markt erschaffen, sondern auch Kain und Abel. Das ist doch Beweis genug. Staatlichkeit bedeutet ja auch, dass man Mord und Totschlag zu rechtfertigen hat, dafür bestraft wird. Meistens jedenfalls, denn es gab schon Staatlichkeiten, die mehr Naturzustand waren als Zivilisation, die Mord und Totschlag zur Doktrin erhoben. Aber von denen rede ich ja nicht. Da finden die Anti-Etatisten den Staat natürlich wieder toll, denn da schützt er sie, erschwert das Erschlagen der Gierigen und Starken. Und eine Staatlichkeit, die das Stehlen ahndet, finden sie auch nicht übel.

Natürlichkeit nur für den Markt - ansonsten haben sie es gerne künstlich ...



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Abschreckend sozial

Dienstag, 13. November 2012

Die FDP feierte sich letzte Woche als Partei sozialen Ausgleiches. Sie erklärte diesen sozialen Ansatz damit, dass sie sich für eine Abschaffung der Praxisgebühr aussprach. Zehn Euro pro Quartal ist der FDP ein sozialer Anstrich schon wert. Es ist für sie eine Investition, die ihr nicht schwerfällt, denn sie sieht die Praxisgebühr ohnehin für gescheitert an. Sie habe nie erfüllt, was man sich von ihr versprochen habe, denn sie hat nicht ausreichend vor Arztbesuchen abgeschreckt. So sagte das jedenfalls irgendein FDP-Landesminister nach dem sozialen Entschluss. Eine Erklärung, die deutlich macht, welches soziale Herz in der Brust dieser Partei pocht.

"Wie viel Bekenntnis zum Sozialstaat steht etwa hinter Aussagen wie beispielsweise jener, dass die Praxisgebühr gescheitert sei, weil sie leider keine abschreckende Wirkung gezeigt hätte? Ist es etwa sozialstaatlich, Patienten vorm Arzt zurückschrecken zu lassen? Und was schlussfolgert man daraus? Etwa höhere Gebühren, die effektiver verschrecken sollen? Eine Rechnung für jeden Arztbesuch? Wäre das der Krankenschreck schlechthin? [...] Wird erst mal mit abschreckenden Wirkungen über Patienten verfügt, so ist es um den Gehalt von Demokratie und Sozialstaat schlecht bestellt. Zum Arztbesuch ermuntern - das wäre sozial, das würde Verantwortung zeigen! Aber Erkrankte abschrecken - das ist, wie gesagt, rüpelhaft und verantwortungslos", schrieb ich vor etwa zwei Jahren in meinem Essay Worte.

Klar, sie haben die Gebühr nicht erhöht, so wie es mir im obigen Text schwante, sie sind gegenteilig von ihr abgefallen. Aus taktischen Gründen. Nichtsdestotrotz machen sie eine verbitterte Miene, sind sichtlich enttäuscht, weil sie nicht so wirkte, wie sie sich das vorgestellt hatten. Kranke vom Gesundheitswesen fernzuhalten ... oder halt, seien wir doch mal detailverliebter, sagen wir es richtig: Arme Kranke vom Gesundheitswesen fernzuhalten, das war die Absicht. Nun war die Gebühr ein Rohrkrepierer.

"Das Schlechte und Verhindernswerte, das Verbrechen, bedarf der Abschreckung - wenn Patienten abgeschreckt werden sollen, konnotiert man sie mit dem Schlechten und Verhindernswerten. Nicht die Krankheit soll verhindert werden, sondern der Kranke. Plötzlich sitzen die Abgeschreckten im gleichen Boot. Der Verbrecher wird nicht Patient, aber der Patient wird unterbewusst zum Verbrecher. Krankheit als Verbrechen! Krankheit als Schuldfrage! Willkommen im Mittelalter, in dem Krankheit als Strafe, Gesundheit als Bedrohung über einen kam. Dies lässt sich auch etymologisch zurückverfolgen: Das etwas aus der Mode gekommene Synonym für Qual oder Leid, das Wörtchen 'Pein' (englisch pain, spanisch pena, französisch peine), es entstammt dem lateinischen poena, 'der Schuld'. Der von Schmerz, Übelkeit, Fieber Gepeinigte, er trägt die Schuld also schon begrifflich mit sich herum. Abschreckende Wirkungen besinnen sich dieser Wortherkunft ...", schrieb ich damals weiter.

Obgleich die FDP die generöse Sozialpartei mimt, schlägt doch ihre Weltanschauung hervor. Es läßt sich nicht leugnen, nicht verbergen. Man kann einem Schimpansen Hosen anziehen und ein Hemd überwerfen, er bleibt doch immer ein Schimpanse. Wenn diese Partei ihre wichtigtuerischen Minister auflaufen läßt, die einheitlich die fehlende abschreckende Wirkung bedauern, unter der die Praxisgebühr litt, dann zeigt sie sehr genau die soziale Beschaffenheit, mit der sie nun vorgibt, eine Partei für die Menschen sein zu wollen.

Die Abschaffung ist insofern nicht als Erleichterung für die Bürger gedacht, sondern als Beendigung eines erfolglosen Konzepts, das dafür ersonnen wurde, kranke und sieche Menschen mit ihrer Not alleine zu lassen. Und das verkauft die FDP als soziales Gewissen. Ich nannte das im damaligen Essay "ein schamloses Gemeinwesen, das seine Kranken abzuschrecken versucht" - die FDP ist der offizielle Vertreter dieser Schamlosigkeit. Auch wenn sie momentan versucht, dieses Weltbild bis zur nächsten Wahl nicht zu sichtbar zu vertreten ...



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