Schweig still, bleib mir sympathisch

Freitag, 29. November 2013

Ich habe da jemanden kennengelernt. Am Fußballplatz. Haben uns oft unterhalten. Ein lustiger Mensch. Haben viel gelacht. Ne coole Socke irgendwie. Flapsig. Da stehe ich drauf. Das Leben ist bitter genug. Es war Sympathie auf den ersten Blick. Getroffen haben wir uns seither öfter. Immer am Fußballplatz. Beim Warten auf unsere Kinder. Bei Training oder Punktspiel. Haben miteinander geraucht. Das Spiel bewertet. Gewusst, dass wir es besser könnten als unsere Kinder, wenn nur der Bauch nicht wäre und die ganzen Zipperlein. Aber im Geiste waren wir beide fit.

Na ja, stimmt nicht ganz. Ich mochte an ihm, dass er den ganzen Spaß nicht so ernst nahm. Nicht so, wie der Vater eines anderen Kindes, der seine Brut als verkanntes Talent und alle anderen Kinder entweder für Bälger aus der Gosse oder für zu fett hielt. Mit dem sozialdarwinistischen Penner aus gutem Elternhause, was er uns natürlich gleich steckte, war bald Funkstille. Mein Kumpel aber blieb da ganz Mensch und das mochte ich. Und mag ich noch immer. Das macht alles viel entspannter. Und plötzlich kam uns der Bratwurstfabrikant von der Säbener Straße in die Quere.

Er hätte auch Steuern hinterzogen, wenn er so viel Geld hätte, wie der Hoeneß, sagte er. Ich weiß nicht, wie es ist, mehrfacher Millionär zu sein. Aber ich vermute, mich würde es wenig stören, von den vielen Millionen etliche entbehren zu müssen. Mir wäre das alles auch zu aufwändig. Ich würde zahlen und wollte meine Ruhe haben. Ich vermute, so bequeme Menschen wie ich kommen aber auch nicht zu Geld. Und überhaupt ist diese Entschuldigung mit der eigenen Niedertracht billig. So kann man alles entschuldigen. Selbst Konzentrationslager. Wer so argumentiert, der erlaubt keinerlei moralisches Urteil mehr, rottet die Ethik aus allen Kategorien menschlicher Wahrnehmung aus.

Jedenfalls, er sagte das und ich widersprach. Dann sagte ich, dass Hoeneß der richtige Mann für diesen Verein sei. Ich zitierte mich selbst mit einer Passage aus einem Text der letzten Woche: "Ein anständiger Mann an der Spitze dieses Vereins wäre ungefähr so, als würden sich die katholischen Kardinäle im Konklave für einen homosexuellen Stricher aussprechen." Worauf er nur lapidar antwortete: Haben sie doch. Wie? Was meinst du?, fragte ich. Na, das sind doch alles Kinderficker und Prasser. Was für ein Niveau! Hätte er doch nur geschwiegen ...

So geht es mir ja oft. Man lernt jemanden kennen, findet den gut, hat Freude an seinem Dasein. Und dann lernt man ihn besser kennen und ist irritiert. Mensch, der hat aber seltsame Anwandlungen. Kuriose Meinungen. Oder einfach nur Bildzeitung im Kopf. Und dann ist man irgendwie abgestoßen und froh, wenn die nächsten Gespräche nur noch am Lack kratzen.

Ich erinnere mich, dass ich zum Tode Peter Alexanders einen Text schrieb. Meine Güte, was trieb mich damals dazu? Es war eigentlich ein ganz beschissener Text, in dem ich ausdrücken wollte, dass ich seine unpolitische Haltung durchaus schätzte. Dafür erntete ich Ärger. Denn der Mann habe mit seiner guten Laune das System gestützt, legte man mir nahe. Sieh das doch ein Genosse, überdenke nochmal deine Positionen. Indirekt stimmt das vielleicht sogar. Nur weiß ich nichts davon, dass er für das System geworben hätte. Er blieb unpolitisch und erlaubte keine Einblicke in die Abgründe seiner Weltsicht. Das habe ich an ihm geschätzt. Er hat einfach mal sein Maul gehalten, wo andere es blöderweise aufmachten. Ich denke da an den BAP-Onkel, der sich immer gerne politisiert und dann auch schon mal im Dunstfeld zweifelhafter Kampagneros landete.

Heute höre ich gerne Max Raabe. Ich mag die Texte im Stile der Dreißigerjahre. Diese freche Art, die es da im zeitgenössischen Schlager gab. Diese Couplets haben mehr sprachliche Reife als vieles, was man von heute so kennt. Raabe macht Musik und sonst weiß man wenig von ihm und von seinen Ansichten. Ich hoffe stark, das bleibt so, sonst vergeht er mir auch noch. Er soll trällern und seine Berühmtheit nicht verpolitisieren. Dann macht er nichts falsch.

Ich finde, wenn man sich so auf Anhieb auf einem oberflächlichen Level sympathisch ist, dann sollte man das eine Weile halten. Und vielleicht sogar immer so einhalten. Dann ist Zusammenleben eindeutig leichter. Je näher man sich kommt, je offener man spricht, desto größer die Gefahr der Entzauberung. Schweig still, bleib mir sympathisch!, wollte ich schon oft jemanden zurufen. Nur war es da schon zu spät. Ich gebe ja zu, diese Haltung, gar nicht so tief gehen zu wollen, ist ein wenig biedermeierisch. Ich ziehe mich halt nicht in Zierkissen zurück aufs Sofa, um eine Tasse Kaffee zu schlürfen, sondern weile in der zwischenmenschlichen Oberflächlichkeit. Jede Zeit hat ihre Selbstschutzautomatismen und Biedermeieresken.

Klar doch, kommende Woche stehe ich wieder mit ihm am Rand des Fußballfeldes. Sicherlich werden wir witzeln. So bin ich nicht mehr, wie ich vor vielen Jahren noch war, als ich glaubte, ich müsse Leute mit dummen Ansichten irgendwie mit arroganter Verachtung strafen. Sicher, da tat sich ein Abgrund auf und ich weiß, zu mehr als zum Spielfeldrand wird es kaum je reichen. Aber warum soll ich mir und ihm das Leben schwer machen. Soll er denken, was er denken will. Und sei es noch so ein Unfug. Meinungsfreiheit und so. Nicht immer leicht tolerant zu sein. Aber noch viel schwerer, die Intoleranz gegenüber offenbar idiotischer Meinung durchzuziehen.

Heute bin ich dazu locker genug. Man wird ruhiger. Cooler. Resignierter und fauler. Falls er demnächst aber damit beginnen sollte, den Türken ein genetisches Armutszeugnis auszustellen, dann ist der Rubikon überschritten. Tut er aber nicht. So schätze ich ihn nicht ein. Bitte, schweig still, nicht noch ein Abgrund! Ab und zu zusammen eine Zigarette rauchen und sich umdrehen und gehen. Komm gut heim. Bis nächsten Donnerstag.


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Die, die laut Nein schreien und still Ja ankreuzen

Donnerstag, 28. November 2013

oder Ein Nein wäre ein Ja zum demokratischen Grundgedanken.

Am 6. Dezember ist der Tag, an dem der Typ mit dem Sack kommt. Und es wird in diesem Jahr der Tag sein, an dem der Mitgliederentscheid bei den Sozialdemokraten beginnt. Das heißt folglich: Dieses Jahr gibt es für uns nichts aus dem Sack, aber sehr wahrscheinlich auf den Sack.

Als gestern der Morgen graute, graute dem Morgen. Denn nun wussten wir, dass man sich über Nacht auf eine Große Koalition geeinigt hatte. Seither werden die Kommentatoren des Zeitgeschehens nicht müde, die Sozialdemokraten als die Sieger der Verhandlungen zu stilisieren. Das geschieht, um die SPD-Mitglieder einzuschwören, um sie auf Kurs zu bringen. Sie sollen glauben, dass das Kabinett Merkel III, musikalisch von einer sozialdemokratischen Agenda untermalt wird. Bei Maischberger konnte man schon vorher erfahren, dass Merkel eigentlich eine sozialdemokratische Kanzlerin sei. Das ist ein unglaubliches Kunststück in einer Zeit, da nicht mal die Sozialdemokraten sozialdemokratisch sind.

Wo genau liegt der sozialdemokratische Gewinn an einem Mindestlohn, der nicht für alle gilt und den man auch relativ einfach umgehen kann? Vom flächendeckenden Charakter des Mindestlohns spricht keiner mehr. Nahles scheint das Wort flächendeckend geradezu verlernt zu haben. Und wie man die soziale Schieflage ein bisschen begradigen möchte, ohne die höchste Stelle der Steigung abzusenken, sprich: ohne Steuern für Reiche zu erhöhen, das kann doch beim besten Willen kein sozialdemokratischer Erfolg sein.

Ich will den Sozialdemokraten jetzt auch nicht einreden, sie sollten Nein sagen, weil das Programm nicht richtig sozialdemokratisch ist. Ich persönlich sehe das zwar so. Aber ich glaube ja auch, dass sozialdemokratisch etwas völlig anderes als die SPD ist. Vorratsdatenspeicherung, Freiheit für Reiche und Wimperntusche auf den Niedriglohnsektor sind ja gewissermaßen seit Jahren das Konzept dieser postsozialdemokratischen Partei gewesen. So sieht halt auch die geplante Zusammenarbeit mit der Union aus.

Ach, ich bin mir sicher, die Sozialdemokraten sagen ab den 6. Dezember laut Nein. Kreuzen aber still Ja an. Wie immer. Sie werden schwere Bedenken haben, sich winden, rumeiern, sich deprimiert abwechselnd am Arsch und am Kopf kratzen und viele Argumente gegen die Große Koalition auflisten. Sozialdemokraten machen das wie andere Leute Sudoku. Als Zeitvertreib quasi. Sie sehen die These, widersprechen mit allerlei Antithesen und gehen gleich darauf die Synthese ein. Und das schaffen sie, ohne gleich Hegelianer zu sein. Sozis legen so eine Art thailändischer Höflichkeit an den Tag, sagen auch Ja, wenn sie Nein meinen.

Hätte die Merkel doch die absolute Mehrheit errungen. Rückblickend wäre mir das lieber gewesen. Dieses Szenario hätte letztlich mehr mit parlamentarischer Demokratie zu tun gehabt, als die koalitionäre Megalomanie die jetzt ansteht. Daher, Sozis, sagt Nein! Nicht, weil das Programm eine Farce ist, weil man euch einlullt mit eurem Sieg bei den Verhandlungen über die Union. Das ist alles Unsinn und nicht der Rede wert. Sagt Nein, weil das der Demokratie besser täte. Übernehmt also Verantwortung und weigert euch, in einem Land leben zu müssen, in dem es eine Opposition nur noch auf dem Papier gibt.


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Beschreibung eines Kontinents der gewollten Ungleichheiten

Mittwoch, 27. November 2013

Über Peter Mertens Kritik des neoliberalen Europas.

Quelle: Amazon
Im Grunde gibt es keinen NSA-Skandal. Und wenn man hierzulande die Rolle des BND bei den Abhöraktionen beleuchtet, dann sollte man auch nicht vom BND-Skandal sprechen. Was hier geschieht sind nämlich lediglich die geheimdienstlichen Auswirkungen eines neuen Kalten Krieges. Nicht mehr zwischen verfeindeten Blöcken, die in verschiedener Weltauffassung erstarrt sind, sondern zwischen zwei kapitalistischen Blöcken, zwischen Kontrahenten auf dem freien Markt - zwischen Wettbewerbern. Dass die Europäische Union mit den Vereinigten Staaten um die wirtschaftliche Oberhoheit auf Erden buhlt, steht für den belgischen Soziologen Peter Mertens fest. Er beschreibt in seinem Buch Wie können sie es wagen?, wie sich Europa in eine neoliberale Zone verwandelte.

Das Maastrichter Europa war nie als ein Europa der Menschen geplant. Auch nicht als ein Hort, der Bürger- und Menschenrechte als seinen größten Exportschlager erachtet. Das Europa nach Maastrichter Ausrichtung wollte wettbewerbsfähiger werden, im globalen Expansionsstreben absahnen, den Markt erobern und die Chinesen und Amerikaner im Wirtschaftskrieg ausstechen. BusinessEurope nennt Mertens dieses neue Europa der wirtschaftlichen Vorherrschaft.

Und dieses BusinessEurope geht zwar nicht über Leichen, wohl aber über schlecht bezahlte Jobs. Die Auflösung von Sozialstandards und die Einführung eines Niedriglohnbereichs sollten Europa in der Welt stärken. Mertens nennt das den "stillen Staatsstreich von BusinessEurope". Er sieht besonders Deutschland als den ideologischen Vorreiter dieses ganz besonderen europäischen Gedankens. Und er beschreibt, wie Belgiens Konservative immer wieder nach Berlin deuten und ihren Landsleuten sagen: So müssen wir auch werden. Hartz IV war richtig. Niedriglohn ist die einzige Chance. So lernt der Leser nebenbei noch die flämische Nationalbewegung kennen, die ihre Separationswünsche mit neoliberaler Agenda unterlegt und so den Nationalismus mit Wirtschaftsradikalismus verwebt. Flame zu sein bedeute nämlich auch, die wirtschaftlich schwache Wallonie mitzuziehen.

Wir kennen das ja auch in etwas anderer Weise in Deutschland, wenn wieder mal Bayern, Baden-Württemberg und Hessen tönen, dass sie die Republik ernährten und Bundesländer mitschleifen müssten. Nach Mertens ist die Renationalisierung Europas ein Nebenprodukt dieses Kontinents in Schocktherapie. Es entstehen überall wirtschaftlich orientierte Nationalismen oder Ökonomiepatriotismen, die Solidarität zu einer Tugend degradieren, die man sich leisten können sollte.

"Das Europa des Wettbewerbs und der Ungleichheit" ist kein Abfallprodukt des Krisenpakets, das die Medien in Europa in verschiedene Tranchen zerschnitten haben. In Euro-Krise, Wirtschaftskrise, Staatsschuldenkrise oder EU-Krise - ohne einfach mal von der systemimmanenten Krise zu sprechen, von einer Krise des Kapitalismus, der sich als einziges Regularium bloß noch eine unsichtbare Hand leistet. Viele Kritiker der EU sprechen in ihrem engstirnigen Betragen oft davon, dass die Europäische Union einen neuen Sozialismus züchte, eine Gleichmacherei und ein Herabdrücken des Lebensstandards aller Menschen. Kollektivierungen gibt es wohl. Aber all das geschieht nicht aus Mangelwirtschaft heraus, sondern ist die Geschäftsgrundlage der globalen Wettbewerbsfähigkeit, die man um jeden Preis erhalten und verstärken möchte.

Mertens spricht auch von Sozialismus und setzt ihm eine 2.0 dahinter. Das ist eine klare Abfuhr für den Sozialismus, den es schon mal gab. Etwas Neues muss her. Ein Sozialismus, der Werte nicht nur besitzt, sondern pflegt und garantiert. Er schreibt, dass der Kapitalismus immer wieder durchschimmerte in den letzten Jahrhunderten. Schon zaghaft in der Republik von Venedig. Oder im Genf des Herrn Calvin. Aber er war nie so weit, sich endgültig durchzusetzen. Erst mit der Industrialisierung gelang es die kapitalistischen Versuche nachhaltig zu installieren. Die Zeit war erst im 19. Jahrhundert reif für ihn. Alle Versuche vorher mussten scheitern. Warum also, fragt Mertens nun, sollte der Sozialismus nicht auch mehrere Versuche erhalten, bis er überlebensfähig werden kann. Die Grundlagen der heutigen Wirtschaft würden Mangel jedenfalls ausschließen. Und dass man alles verplanwirtschaften müsse, sagt ja auch kein realistischer Mensch. Nur manches müsste von der Allgemeinheit verwaltet und kontrolliert werden.

Der Kapitalismus hat nicht gesiegt. Er blieb übrig. Man kann das gut erkennen, wenn man in der gesellschaftskritischen Literatur unserer Tage querliest. Wagenknecht will einen kreativen Sozialismus und Mertens den Sozialismus 2.0. Das sind die Früchte, die ein maßloses System säte.

Wie können sie es wagen? fragt Mertens. Aber sie wagen es einfach. Ohne Rücksprache mit den Menschen. Rücksprache hält die Politik nur mit dem besseren Teil der Europäer. Mit Reichen, mit Konzernen und Managern. Die sagen, was gut für uns alle ist. Ja, und wie können wir es wagen, uns das gefallen zu lassen? Und wir sollten es als ersten Schritt nicht wagen, Mertens Buch einfach zu ignorieren. Wage zu wissen! Dieser Ausspruch der klassischen Aufklärung trifft bei Wie können sie es wagen? zu. Mertens ist ein moderner Aufklärer und vielleicht wird er einst genannt, wenn man von der Ära der Aufklärung 2.0 spricht.

Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug von Peter Mertens ist im VAT Verlag André Thiele erschienen.


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Aus fremder Feder

Dienstag, 26. November 2013

"Katholiken machen mich nervös", sagte ich, "weil sie unfair sind."
"Und Protestanten?" fragte er lachend.
"Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel."
"Und Atheisten?" Er lachte noch immer.
"Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen."
- Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns -

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Absichtserklärungen, die das Gesetzgebungsverfahren ersetzen

Montag, 25. November 2013

Die Koalitionsverhandlungen und die Sprache des Zeitgeistes, mit der sie beschrieben werden.

Wir brauchen keine Regierung mehr, die Gesetzesvorlagen in den Bundestag einbringt. Es reicht ganz offenbar, dass sich zwei Parteien gegenübersitzen und Pläne in einem "Vertrag" diktieren. So kommt der Mindestlohn oder beispielsweise die Frauenquote, glaubt man dem Tenor fast aller Medien. Die beiden Sujets stehen aber erstmal nur in der Vereinbarung zwischen den Koalitionspartnern. Das heißt, was im Koalitionsvertrag steht, scheint für die Journalisten unserer kleinen postdemokratischen Republik schon so gut wie bewilligt und eingeführt zu sein.

Diese Ausdrucksweise, die man den Bürgern nun medial verabreicht, ist sehr bedenklich. Sie ist nicht mehr inspiriert vom verfassungsbasierten demokratischen Prozedere, sondern hat sich einer Sprache bemächtigt, die Demokratie als Kulisse, als erhabene Dekoration behandelt.

So wird aus Punkten in einem "Vertrag" zwischen zwei Parteien schon ein Fakt für die Allgemeinheit. Man liest dann "Frauenquote kommt" und nicht, wie es weitaus richtiger wäre "Frauenquote ist geplant" oder "Man möchte auf eine Frauenquote hinwirken". So schön es wäre, wenn ein "Mindestlohn kommt", hoffentlich nicht erst 2016, so falsch ist diese Schlagzeile auch dann, wenn er im "Vertrag" steht. Mehr als eine Absicht ist er zunächst nicht. Er kommt erst, wenn er die Positionen und Hürden des Gesetzgebungsverfahrens passiert hat.

Noch so eine postdemokratische Perle: Aus der Abstimmung über den deutschen Bundeskanzler, den ein Nachrichtenmagazin im Privatfernsehen neulich mal für den 17. Dezember eingeplant hatte, wenn denn alles so läuft, wie man es sich vorstellt, wird eine Merkel-Wahl. Aus der Abstimmung wird eine Wahl, aus dem Bundeskanzler wird Merkel. Wieviel Alternative gewährt eine solche Wortwahl noch? Da ist schon das Wer und das Was festgelegt, schon das Resultat begrifflich erfasst. Eine vieler vorauseilender Floskeln, die dem postdemokratischen Abgleiten der Gesellschaft geschuldet sind und die in Wechselwirkung, fast wie in einem Teufelskreis, dieses Abrutschen ankurbeln. Ist es das Wesen einer Abstimmung, wenn man sie mit einem Begriff belegt, der das Ergebnis schon vorwegnimmt?

Schon das Wort Koalitionsvertrag ist eine Lüge. Deshalb wurde das Wort Vertrag oben stets in Anführungszeichen gesetzt. Denn ein Geschäftsvertrag ist er nicht, höchstens eine Absichtserklärung. Einen rechtlichen Anspruch auf Durchsetzung der Vertragsinhalte, die ja auch nicht existieren, weil er kein Vertrag ist, gibt es obendrein nicht. Diese Vereinbarung zwischen Koalitionspartnern meint, dass man versuchen wird, die Abgeordneten der Fraktionen auf den Regierungskurs zu lotsen. Der Koalitionsvertrag ist also nur die Absicht, die eigenen Parlamentarier in Versuchung zu führen. Eine Garantie und eine Klausel, das irgendetwas einklagbar ist, gibt es in einem solchen "Vertrag" nicht. Und dennoch ist für die Öffentlichkeit der Koalitionsvertrag gleich schon ein gemachtes Gesetz.

Wo hat dieser Journalismus eigentlich seinen Respekt vor den demokratischen Grundregeln gelassen? Ist das überhaupt Respektlosigkeit, wenn man so tut, als habe das Gesetzgebungsverfahren unter Mitwirkung verschiedener Verfassungsorgane und unter Ausrichtung grundgesetzlicher Vorgaben quasi abgewirtschaftet, damit eine Gruppe von knapp achtzig Leuten in Koalitionsgesprächen Gesetze machen können? Oder ist das wohlweislich gewählte Sprache, die zur Aushöhlung dient? Wenn das die Vorstellung der meisten Journalisten von Demokratie ist, dann leidet dieser Berufsstand aber nicht nur an Demokratiedefizit, sondern viel mehr an Antidemokratismus.


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Wenn Kerle wie ich publizieren, nennt man es Blog

Sonntag, 24. November 2013

Zur Kenntnisnahme: Interview mit dem, der den ganzen Laden hier an die Wand fährt.

Hallo Roberto, bitte erzähle ein wenig über dich als Mensch.
Was macht dich als Person aus?
Sollte das nicht meine Frau tun? Oder besser noch: Meine Kritiker. Dann erfahrt ihr, dass ich ein ganz Schlimmer bin. Fragt nicht meine Anhänger, die verklären mich manchmal. Ich bin nämlich nicht der gute Mensch aus Heppenheim. Bloß ein ganz normaler Kerl und manchmal Kauz. Und deshalb wahrscheinlich Blogger. Ich denke, man muss schon ein komischer Kauz sein, um zu bloggen.

2.) Du bist als freier Publizist tätig.
Was bedeutet das eigentlich genau?
Ganz einfach, dass ich mit meiner Schreibe Geld verdiene. Steuerpflichtig natürlich. Publizist ist die Bezeichnung, die ich bei den Behörden führe. Wenn ich mich selbst so bezeichne, finde ich das seltsam. Das klingt so hochtrabend. Passt gar nicht zu mir. Aber es klingt besser als Blogger. Und für manche Journaille ist man als Blogger ja ein Nichts. Publizist hört sich dann doch professioneller an.
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Mein dir eine Bildung

Freitag, 22. November 2013

"Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand."
- Arthur Schopenhauer -

Ich war mal wieder unterwegs und hörte Radio. SWR 1 Rheinland-Pfalz. Den ganzen Rest kann man nicht hören. Lauter ecstasyberauschte Moderatoren, die zwischendrin ihre Tralala-Laune ins Mikro tuscheln. Jedenfalls hatte der Sender meiner Wahl mal wieder einen Thementag angesetzt. Diesmal: Sie leben mitten unter uns. Sind sie integriert oder isoliert? Moslems in Deutschland.

Ein muslimischer Experte stellte sich dem Moderator, der teils scharfe Fragen stellte und zum Dank nur schwammige Antworten erhielt. Experte wie Moderator waren sich am Ende aber einig: Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Auf diese Formel einigte man sich von Kultur zu Kultur. Damit konnten beide leben. Der Moderator, weil damit bestätigt war, dass Moslems in Deutschland größtenteils ungebildet sind - und der Experte, weil er so eine Entschuldigung hatte für seine Glaubensgeschwister, die der Leitkultur nicht folgen. Das Stereotyp des Moslems in Deutschland ist also nicht bösartig, sondern einfach nur nicht gescheit genug. Immerhin: Dass ein Miteinander von beiden Seiten gewollt sein muss, das leugnete auch der Moderator nicht.

Ich aber fragte mich ratlos: Ist das so? Ist Bildung ein Schlüssel? Ich konnte und kann das nicht glauben. Sarrazin gehört zu jener Gruppe von Menschen in diesem Lande, die sich als Bildungsschicht ansieht. Buschkowsky auch. Und der eine oder andere Journalist von Springer soll sogar Journalismus studiert haben, munkelt man. Was hat der Bildungsbürger mit seiner Hetze gegen Araber und Muslime eigentlich zur Integration beigetragen? Hat er das Zusammenleben entspannt?

Gebildete Menschen sind kein Gradmesser für ein friedliches Miteinander. Es waren gebildete Leute, die Menschen in Konzentrationslager steckten und an ihnen "wissenschaftliche" Versuche vollzogen. Es waren gebildete Menschen, die die Atombombe entwickelten. Gebildete Schichten verhinderten lange die Gleichstellung von Schwarzen und Frauen. Es waren gebildete Ökonomen, die den Neoliberalismus als Lehre entwickelten und gebildete Philosophen predigen im libertärem Geiste die Freiheit des Marktes. Breivik war kein ungebildeter Mensch. Broder wird es auch nicht sein. Müller-Vogg und Hahne haben eine höhere Bildung absolviert. Lucke ist Professor und Mahler Rechtsanwalt. Jurist, wie fast alle Politiker der letzten Jahre, die viel für die Desintegration von Armen in der Gesellschaft getan haben. Ich denke dabei an Schröder oder Westerwelle.

Kurz gesagt: Es waren immer auch gebildete Leute, die die Welt zu einem schlechteren Ort machten. Leute mit hohen Abschlüssen und beruflicher Reputation. Wenn Bildung ein Schlüssel sein soll, das Leben der Menschen hienieden zu entspannen, dann muss ihr irgendwie der Schlüsselbart abgebrochen sein. Die Türe scheint mir doch meist zu zu bleiben.

Ich weiß natürlich schon, was gemeint war. Bin ja nicht blöd. Wenn Menschen ohne Bildung bleiben, dann sagt man ihnen nach, sie hätten einen begrenzten Horizont. Sie kariolten lediglich im trüben Raum ihres Mikrokosmos umher und müssten gezwungenermaßen engstirnig bleiben. Das ist auch irgendwie richtig. Aber richtig ist es hingegen weniger, dass gebildete Menschen irgendwann mal verantwortungsvoller in der Gesellschaft aufgetreten wären. Der Mob mag ja, salopp gesprochen, blöd sein - aber es gab im Mob und an dessen Spitze immer gebildete Blödiane. Gstudierte Deppen, wie man in Bayern schön verächtlich sagt. Leute, die in irgendeinem Fach gut ausgebildet sind, aber eben nicht gebildet. Hier bestätigt sich traurigerweise, was schon die Studenten 1968 postulierten: Wir brauchen Bildung und nicht nur Ausbildung.

Kann sein, dass Bildung den Zugang zum besseren Miteinander ausmacht. Einerlei ob damit nun das Miteinander von Christen und Moslems, Deutschen und Türken oder eben ein ganz generelles Miteinander von Mensch zu Mensch gemeint ist. Wenn die These stimmte, dann müssten wir feststellen, dass es sowas wie Bildungsbürger oder Bildungsschichten gar nicht gibt. Es gibt bestenfalls ausgebildete Bürger und Ausbildungsschichten, die keinesfalls einer "höheren Intelligenz" zugehören.

Bildung ist keine Garantie. Eher Glückssache. Gebildet zu sein im Sinne dessen, was wir heute unter Bildung verstehen, muss gar nichts bedeuten. Was nicht heißt, dass Bildung grundsätzlich abkömmlich wäre. Dem Menschen, der eine höhere Bildung erfahren durfte, einen besseren Stand im Bezug auf soziale Kompetenz anzudichten, ist so ein Fetisch, den sich das bürgerliche Spektrum in dieser bildungsfernen Bildungsrepublik angeeignet hat. Das schmeichelt irgendwie und macht Hoffnung. Irgendwie merkt keiner, dass die größte Scheiße meistens Leute anstellen, die zu den bildungsnahen Schichten gehören. Also ein Patentrezept zur besseren Welt, zu mehr Glück und so weiter, ist der gebildete Mensch nicht.

Ich staune sowieso sehr oft über irgendwelche Prominente, die aus PR-Gründen ihren progressiven Geist zur Show machen, davon salbadern, dass Bildung das beste Mittel gegen Armut und Not sei. Das mag stimmen, wenn man den Analphabeten zum Leser bildet. Aber in einem Land, in dem der Alphabetisierungsgrad gegen 100 Prozent strebt, ist das eine leere Parole. Der Sudanesin, die lesen gelernt hat, werden neue Horizonte eröffnet. Sie wird beispielsweise Geburtenkontrolle betreiben, weil Lesefähigkeit und Fertilität korrelieren. Aber der Arbeitslose in Deutschland, der ist ja nicht arbeitslos, weil er nicht lesen kann. Auch nicht, weil er nicht weiß, wie die Schlacht von Trafalgar endete oder wie der Bassist von Queen hieß. Und aus der Unterschicht befreit man sich nicht, weil man seine Lesefähigkeit verbessert hat.

Durch bessere Zensuren im Leistungskurs Mathematik wird man ohnehin kein besserer, kein weltoffenerer Mensch. Manchmal eher das Gegenteil, wenn man zum Beispiel seine Mitmenschen wie Zahlen behandelt. Herzensbildung ist kein schulischer Leistungskurs, sondern charakterliche Angelegenheit. Weder werden aus Türken plötzlich türkischstämmige Deutsche, wenn sie einen höheren Bildungsstand erreicht haben, noch wird der Rassismus und die Ausländerfeindlichkeit von Deutschen plötzlich verschwinden, wenn der allgemeine Bildungsstand steigt.

Und in einem Netz aus föderalistisch bedingt verschiedenen Schulsystemen, die sich strikt an Wirtschaftsvorgaben orientieren, ist mit einem gesteigerten Bildungsniveau ohnehin keine charakterliche Schulung vorprogrammiert. Ja, nicht mal eine erhöhte Vermittlung von Wissen ist damit zu machen. Das Niveau wird intellektuell angepasst. Aber das ist wieder eine andere Geschichte, die hier und heute nicht hergehört.


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WDSDWWL oder Die Linke müsste ostdeutscher werden

Donnerstag, 21. November 2013

Sigmar Gabriel ließ vor der Bundestagswahl verlauten, dass er die Ost-Linken für koalitionsfähiger als die West-Linken hält. Das gab einen Aufschrei. Er wolle Die Linke spalten, las man von erzürnten Linken. Völlig falsch lag er mit dieser Einordnung jedoch nicht.

Im Roman "Neue Vahr Süd" leistet die Hauptfigur Frank Lehmann unter der Woche seinen Wehrdienst ab und pennt am Wochenende in einer jener links angehauchten Wohngemeinschaften, wie es sie in den Achtzigern noch gab. Bei einem abendlichen Gespräch lobt ein offensichtlich linker Kerl die Friedfertigkeit des Sozialismus und die pazifistischen Absichten der NVA. Als Lehmann recht naiv fragt, wie man dann die erhöhte Bereitschaft zum Wochenenddienst erklären könne, die die Soldaten aus Ostdeutschland angeblich an den Tag legten, springt der linke Kerl entrüstet auf und erklärt, dass unter diesen Umständen der Dialog für ihn beendet sei. Das sei ihm zu faschistisch. Schönen Abend noch.

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Wieder einer der fehlen wird

Mittwoch, 20. November 2013

Mit 86 Jahren kann man schon mal sterben. Insofern überrascht der Tod Dieter Hildebrandts nicht besonders. Da muss man realistisch sein. Keiner lebt ewig und nicht alle haben eine Garantie auf einen vollen Hunderter. Und trotzdem ...

Die besten Tage des Kabarettisten Hildebrandt habe ich nicht erlebt. Dazu bin ich zu jung. Was ich rückblickend oder als sein Spätwerk sah, war voller kabarettistischer Grandezza. Ein Clown war der Mann, der seinem Publikum unvollendete Sätze in den Geist legte, ganz sicher nicht. Er sagte mal, dass er keine Witze mache, sondern Pointen. Und das sei eine ernste Angelegenheit. Das merkte man ihm an. Er witzelte und frotzelte sich nicht durch die Kabarettszene, sondern hatte ein Anliegen: Der Macht auf die Finger und auf das Maul schauen. Es ins Groteske ziehen, Denkanreize liefern und den Ernst der Lage komödiantisch kenntlich machen. "Politik muss man nicht achten, man muss auf sie achten", hat er mal gesagt. Das tat er auf seine ganz spezielle Weise.

Hildebrandt trat gerne als Naivling auf, der viele Fragen stellte und sich die Antworten selbst gab. Manchmal auch, ohne den Antwortsatz zu beenden. Mit dem Ansatz solcher Antworten ließ er seine Zuhörer zurück. Kabarett war für ihn keine Lektion, die er den Leuten erteilen wollte, sondern ein Denkanstoß.

"Politik ist nur der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt", hat er mal festgestellt. In den letzten Jahren hat er würdige Nachfolger gefunden. Man denke nur an Schramm. Auch eine grandiose Gestalt des politischen Kabaretts. Aber Sätze auf diese oben genannte Weise so sehr auf das Wesentliche zu reduzieren, das konnte wahrscheinlich nur Dieter Hildebrandt. Manchmal habe ich ohnehin den Eindruck, dass es im deutschen oder deutschsprachigen Kabarett keine Äußerung mehr gibt, die es nicht schon vorher als Zitat von Hildebrandt gab.

In den letzten Tagen und Wochen geisterte immer wieder ein treffliches Zitat über die Sozialdemokratie durch meinen Kopf: "Die SPD hat sich noch in jede Hose gemacht, die man ihr hingehalten hat." Es stammt natürlich auch von Hildebrandt und es passt aktuell ganz ausgezeichnet. Dieser Satz bringt die Koalitionsverhandlungen der Sozialdemokraten mit der Union auf den Punkt. Und damit wären wir beim Punkt: 86 Jahre ... erfülltes Leben ... schon alt - der übliche Quatsch, den man so sagt. Wir hätten diesen Dieter Hildebrandt noch nötig gehabt. Dringend sogar. Die Zeiten, die da kommen, wären eine schöne Spielwiese für ihn gewesen.

Wieder einer der fehlen wird. Ich denke da an Kreisler, an Degenhardt, an Semprún und Saramago. Ausgerechnet jetzt, da ihr kritischer Verstand im Verbund mit ihrer künstlerischen Kraft so notwendig gebraucht würde. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass wir in unserer neoliberalen Zukunft mehr und mehr auf uns selbst gestellt sein werden. Ganz alleine ohne eine künstlerische Inspiration. Sie sterben uns alle weg.


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Sich selbst gegenüber selbstgerecht

Fußballer und ihre Fans seien alle irgendwie nicht ganz auf der Höhe. Das ist jedenfalls eine populäre Meinung bei Leuten, die Fußball nicht mögen. Jeder Fußballhasser, der die Bilder von der die Mitglieder-Versammlung des FC Bayern gesehen hat, muss nun annehmen: Das ist nicht nur ein Gerücht oder eine böswillige Behauptung, sondern die absolute Wahrheit.

Europas Krone des Vereinsfußballs und ihre Protagonisten haben eindrucksvoll bewiesen, aus welchem Weichholz sie geschnitzt sind. Das Vereinsmitglied, das aus der Versammlung stürmte und einem Reporter "Super is a, unsa Chef!" ins Mikro mähte, war da lediglich ein Höhepunkt des geistigen Tiefflugs oder ein Tiefpunkt des anti-intellektuellen Höhenflugs. Und das Hochleben des Steuerhinterziehers, das "Uli, Uli, Uli!"-Gerufe war auch nicht gerade von klugen Eltern. Nach dem Ende der Veranstaltung war deutlich, dass sich selten eine so riesige Masse von lauter Dummköpfen in Münchens Straßen ergoß. Und es haben sich schon oft dumme Massen aus Münchner Bierkellern an die frische Luft bewegt.

Und dann die Vereinsoberen, diese sich in plumper Selbstgerechtigkeit suhlende Mischpoke aus unverzollten und unversteuerten Herren, die sich gegenseitig die Eier schauckelten und den gebeutelten, ungerecht behandelten Wurstfabrikanten zu Tränen rührten. Ein Dokument bayerischer Geistesträgheit gab es ja schon Tage zuvor, als der ewige Kaiser (der zwar im Verein nichts mehr tut, der aber aus dem Kielwasser dieses Vereines ungefähr so nicht wegzudenken ist, wie Katzenstreu als Hinterlassenschaft kätzischen Tatzenabstreifens vor dem Katzenklo) die Sklavenarbeit in Katar ausschloss, weil er keine Ketten und Eisenkugeln mit eigenen Augen gesehen hatte.

"Mein Problem ist, dass ich immer sehr selbstkritisch bin, auch mir selbst gegenüber", sagte Andreas Möller mal. Das Problem der FC Bayern-Führung ist eher, dass sie selbstgerecht ist, auch sich selbst gegenüber.

Wenn man Hohlköpfen ein Forum gibt, wird es entweder peinlich oder, wenn sie sich besonders wichtig nehmen, gefährlich. Diese Kavaliere heulen sich nicht nur ihre Flecken von der Weste, sondern fördern ganz kalkuliert eine Staats- und Steuerverdrossenheit, nehmen es ihn Kauf, dass ihre Vereinsmitglieder mit ihnen gegen einen Staat wettern, der dem armen Uli an seine leistungsbezogenen Gelder will. Und wenn erstmal alle eingeschworen sind, dann kann man auch ganz großzügig seine Mitglieder nach Verbleib oder Abtritt befragen. Diese Abfragerei ist nicht nur ein kurioser Witz, sondern eine großspurige Liebesbezeugung auf Abruf, die sich diese Bande von feinen Herren mal schnell selbst gönnt.

Wobei eine Abwahl des Herrn Hoeneß gar nicht notwendig ist. Dieser Mann ist genau der richtige Vereinsboss für genau den richtigen Verein. Er ist das Gesicht der bayerischen Verquickung von Sport und Politik, von elitärem Dünkel und Nepotismus, von Begünstigung und selbstgefälliger Inszenierung. Ein anständiger Mann an der Spitze dieses Vereins wäre ungefähr so, als würden sich die katholischen Kardinäle im Konklave für einen homosexuellen Stricher aussprechen.

Der FC Bayern erlebt einerseits seine sportlich erfolgreichste Zeit, scheint unschlagbar, und gleichzeitig sitzen dem Verein Macker vor, die so elegant sind, wie manche ihrer Spieler. Nur auf etwas andere Weise. Wie Ribery antäuscht und sich vorbeidribbelt, so täuschen auch sie und dribbeln schnell zu ruchlosen Lobeshymnen und Beteuerungen weiter, so wie Beckenbauer neulich, als er sagte, dass "da Uli" eigentlich nicht bestraft werden sollte, weil er einen Fehler nicht nur gemacht, sondern eben auch zugegeben habe und weil man verzeihen können sollte. Und freilich, der Mann hat doch auch so viel Gutes gemacht. Bratwürste zum Beispiel. Man sollte diesem intellektuellen Offenbarungseid auf zwei Beinen namens Franzl mal gehörig in den Arsch treten und gleich feststellen, dass dieser Tritt ein Fehler war. Beckenbauer wird dann sicherlich verzeihen und nicht wollen, dass man bestraft wird.

Ich werde jedenfalls den Eindruck nicht los, dass der Erfolg eines Vereins wie es der FC Bayern München ist, bei gleichzeitigem Auftritt einer moralisch verwilderten Führung, irgendwie kein Zufall ist. Ich glaube, das muss so sein, ist nur folgerichtig.

Für mich, seit Kindesbeinen Anhänger des ehemaligen Arbeitervereins Münchens, der Löwen, und notorischen Bayernhasser (was sich aus der Sympathie zum TSV 1860 ergibt), wäre diese Ära des unschlagbaren FC Bayern eigentlich ein Alptraum, würde ich mich noch ausreichend für das Metier interessieren. Tue ich aber nicht. Die weitverbreitete Dummheit von Spielern, Funktionären und Fans hat mich weggeekelt. Und die Mitgliederversammlung des FC Bayern hat mich bestätigt: Fußball ist ein toller Sport. Aber wie schön wäre dieser Fußball ohne Fußballer und ohne Funktionäre und ohne viele Fans.


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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 19. November 2013

"Der Bundespräsident soll eine Frau sein - das soll ein Zeichen werden. Aus dem Osten, noch ein Zeichen. Warum nicht nich alleinerziehend und im Rollstuhl, weil man ein Zeichen setzen will? Der Urnenpöbel wird mit Zeichen abgespeist."

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Der einsame Mensch am rechtsrheinischen Ufer

Montag, 18. November 2013

Die Stimme des Konservatismus in Deutschland, die Frankfurter Allgemeine, leistet sich einen Auslandskorrespondenten in Frankreich, der nicht objektiv berichten braucht, sondern der die französische Gesellschaft nach Art des Marktes querlesen soll. Christian Schubert heißt der Mann, der seit Wochen die Unfähigkeit des Sozialisten Hollandes beschwört und von dessen altbackenen Methoden berichtet. Dabei geht es vor allem um die höhere Besteuerung großer Einkommen und um die Körperschaftssteuer, was er sämtlich als Rückschritte deklariert.

Die Macher von heute in Europa scheinen den Mann regelmäßig zu lesen. Jedenfalls berichten sie in demagogischer Beharrlichkeit von einem steuergeplagten Land, das von einem Sozialisten alter Schule zugrundegerichtet wird. Eine andere Sicht auf die Dinge gibt es beim ZDF nicht. Mit dabei ist auch stets der beliebte Vorwurf, die Sozialisten würden alte Heilmittel feilbieten, die in der modernen Welt des freien Marktes nicht mehr greifen. Ganz so plump sagen sie es dann zwar nicht, aber wer zwischen den Zeilen lauschen kann, der höre mal genau hin.

Deutschland, so hat man den Eindruck, wenn man den publizistisch organisierten Konservatismus so beobachtet, steht als Wacht am Rhein, um die Interessen des Marktes zu wahren, um zu mahnen, bloß nicht vom richtigen neoliberalen Weg abzukommen. Und diese konservative Deutungshoheit geht täglich mehr in die Denkweise der Bürger über. Selbst der Müllmann, der seit Jahren keine merkliche Lohnerhöhung mehr kennt, fühlt sich jetzt mehr und mehr von Europa umzingelt. Die Europäer nehmen ihn nicht mehr nur aus, sie werden nun auch noch unvernünftig und wollen nicht mehr sparen in dieser Not, sorgt er sich.

Überhaupt scheint Deutschland ein Land im Kampfstellung zu sein. Nicht eines, das Marschbefehle ausgibt und mobilmacht, Grabenkämpfe durchplant und taktische Winkelzüge studiert. Eher eines, das sich in einem heraufziehenden Wirtschaftskrieg befindet und in einen Kessel zu geraten droht. Neben den Franzosen, die das als Klassenkampf diffamierte Steuererhöhen wiederentdeckt haben und die damit die Interessen der öffentlichen Hand stärken und den Privatisierungspionieren das Wasser abgraben, gibt es weitere feindliche Angriffe.

Da ist zunächst die mittlerweile bekannte Abneigung gegen alles Deutsche im mediterranen Europa. Mehr so eine emotionale Geschichte, die aber auch das neoliberale Konzept als Wurzel enttarnt und letztlich die antideutschen Neigungen zu einer anti-neoliberalen Haltung sublimiert. Und dann sind da neuerdings noch die Vereinigten Staaten, die der deutschen Wirtschaft einen ausufernden Exportismus unterstellen. Mit all seinen Folgen für die Länder, die deutsche Waren importieren. Denn die Lohnzurückhaltung und der größte Niedriglohnsektor Europas schaffen bei den Importeuren Lohndruck, Arbeitslosigkeit und demontieren dort letztlich auch den Sozialstaat.

In der jüngeren Vergangenheit haben mehrere Länder, nicht die USA alleine, diese Problematik Deutschland zum Vorwurf gemacht. Reagiert hat man wie üblich. Man fühlt sich unverstanden und despektierlich behandelt. Man gönne uns nichts, tönt unseriös wie immer die Bildzeitung. Die starke deutsche Wirtschaft stemme die Krise fast alleine und soll nun Krisenursache sein, fragt sich seriös die FAZ. Nur vereinzelt äußern sich Kommentatoren beipflichtend, geben zu bedenken, dass die Binnennachfrage lange wie ein Stiefkind behandelt wurde. Das sind aber Raritäten, die im Mainstream untergehen.

Die ökonomische Schieflage Europas, die wesentlich zur Krise im Euroraum beitrug, die dem exportlastigen Deutschland einen zollfreien Absatzmarkt schenkte und den Rest Europas zu Schuldnerzone werden ließ - diese Schieflage erkennt man innerhalb Deutschlands nicht als Faktum an, sondern wertet sie als fingierte Neiddebatte, die die anderen Nationen den Deutschen aufs Auge drücken wollen. Die seien auf das Land von Hartz IV und Reformgeist, von Niedriglohn und Flexibilität nur neidisch. Man gönnt dem hässlichen Deutschen, zu dem man gemacht wird, nur nicht seine Leistungen als Folge von Fleiß und Intelligenz. Und selbst die Franzosen verlassen nun das Boot und geben die Errungenschaften der letzten Jahre auf, erhöhen Steuern und machen das ganze schöne Konzept kaputt.

Der konservative Deutsche scheint in einem Gefecht zu stehen. In einem gegen den Vorwurf der Exportlastigkeit und gegen jeden Anflug von nicht-neoliberalen Konzepten oder dezenten Versuchen des Entzugs von neoliberalen Rezepten. Er isoliert sich selbst in seinem Wahn, der Welt die richtige Ökonomie zeigen und auferlegen zu wollen. Und er wirkt pikiert, wenn man seinen Anleitungen nicht folgt und sie kritisiert. Der konservative Deutsche ist in diesen Tagen mal wieder ein Mensch, der überall Verrat und Brüche mit der Vernunft wittert. Seinem Plan folgt niemand so, wie er ihn sich ausgedacht hat. Das nimmt er persönlich. Da er auch noch kritisiert wird, igelt er sich ein. Er spielt mal wieder den einsamen Menschen am rechtsrheinischen Ufer.


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Bloß kein Gedenken daran verschwenden

Donnerstag, 14. November 2013

oder Über Gedenktage und ein kurzes In eigener Sache.

Da kamen sie am Wochenende wieder zusammen, die feinen Damen und Herren und ihr Betroffenheitsmob. War ja Jahrestag des Pogroms von 1938. Da musste man Bekenntnis ablegen, veranschaulichen, dass man immer daran denkt, nie vergisst, das Nie wieder! verinnerlicht hat. Eigentlich wäre das ein Gedenktag typisch linken Kolorits gewesen. Aber ich tue mich als Linker heute schwer damit, mit gediegener Miene diese Gedenkelei zu begleiten.

Für mich kann das keine Gedächtniskultur sein. Sie ist durchdrungen von Verlogenheit. Man gedenkt völlig richtig der Übergriffe, unter denen damals Juden zu leiden hatten, verhält sich aber ruhig, wenn aktuell die geistige Vorbauarbeit geleistet wird, die auch damals den Aktionen zuvorkamen. Wo sind denn die standhaften Gedenkenträger, wenn wieder mal ein blöder Hund Abhandlungen zu Kopftuchmädchen schreibt oder man zeitungsübergreifend gegen Roma und deren blonden Nachwuchs keift? Was da in manchem Kommentarbereich der Online-Ausgaben zu lesen war, das waren theoretische Pogrome, Stimmen wie aus jenem Blatt von Julius Streicher, das schon vor 1938 Stimmung machte. Wir leben halt immer noch in einem fruchtbaren Schoß.

Sicher, die Gedenken sind frei. Man kann Gedenktage begehen wie man mag. Aber was nützt da ein Gedenktag, wenn man den Inhalt des Gedenkens im Alltag vergisst? Heute in sich gehen und morgen wieder wegschauen, wenn Schwarze in der Bahn kontrolliert werden, nur weil sie schwarz sind? Ist es das? Hat das Gedenken nicht sprachlich etwas mit den Gedanken zu tun? Und kann es eine Gedenkkultur in allgemeiner Gedankenlosigkeit überhaupt geben? Ich denke, man sollte bloß kein Gedenken daran verschwenden, wenn man es nicht alltäglich lebt.

Apropos Gedankenlosigkeit. Im Ersten lief am Jahrestag der Reichspogromnacht der Film Rommel. Schönes Gedenken, mit dem anständigsten aller deutschen Generale. Mittags Kranzniederlegung und Bekenntnis zum Nie wieder! und abends dann Zeitvertreib mit einem Nazi, der Mensch geblieben ist.

Das ist, als ob man jährlich den Hochzeitstag feiert, im alltäglichen Leben allerdings ohne einem Bewusstsein von Partnerschaft lebt. Wer sein Eheleben alltäglich (er-)lebt, der muss seinen Hochzeitstag auch nicht zu einer metapysisch verquasten, fast schon transzendenten Schicksalsstunde verklären. Verheiratet ist man schließlich das ganze Jahr und nicht nur an irgendeinem Tag im April, Juli oder November. Ihn mit der üblichen Romantika zu würdigen ist letztlich nur dann gehaltvoll, wenn man die Ehe mag, in der man lebt. Wenn man sie (und gar den Partner) hasst, dann ist der Strauß Rosen nur wohlriechende Verlogenheit oder eben die traditionelle Eintrittskarte zum jährlichen Gedenksex.

Als Antifaschist ein ursprünglich antifaschistisches Bekenntnis nicht teilen zu wollen, weil es so ausgehöhlt und entleert ist, dass es den bitteren Erfahrungen unseres zeitgenössischen Alltags gar kein ethischer Ratschlag mehr sein kann, das ist schon ein dolles Kunststück unserer Zeit. Wenn das Gedenken nicht an den 365 Alltagen des Jahres als verinnerlichtes Lebensgefühl stattfindet, dann findet es auch zu festem Datum nicht statt. Dann ist es nur gesellschaftliches Ereignis, zu dem man sich gut anzieht und nett spricht. Dann ist es eine schöne Tradition, die man gerne hat, weil sie so einen guten Eindruck vermittelt.

Das wollte ich heute noch loswerden, bevor ihr mich loswerdet. Für diese wenigen Sätze hatte ich noch etwas Zeit. Aber nun ist der Laden dicht. Ab heute geschlossen. Für einige Tage. Aus familiären Gründen. Gedenktage schaffen.


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Den Bock melken und ein Sieb drunterhalten

Mittwoch, 13. November 2013

Die Vermessung des Glücks, um es in eine Landkarte eintragen zu können.

Denissowitsch ist Häftling eines Gulags. Als Leser gestattete uns Solschenizyn einen Tag im Leben eines Inhaftierten, vom Weckruf bis zum Löschen der Lichter. Ein harter, ein arbeitsreicher Tag. Die Kälte setzt ihm und seinen Leidensgenossen zu. Mittendrin aber kurze Momente des Glücks. Ein weiches Brot, eine halbe Stunde Entspannung oder kurze Zeitspannen der Einsamkeit. Auch Jorge Semprún erzählt in seinem Roman Die große Reise vom Glück im Güterwaggon, der nach Buchenwald gezogen wird. Als der junge Kommunist durch die Ritzen des Wagens schaut und auf dem Schild eines Bahnhofs, an dem sie pausieren, den Namen den Stadt Trier liest, stellt sich paradoxes Glück ein. Das also ist sie, die Geburtsstadt Marxens, lächelte er in sich hinein.

Zweimal Glück im Unglück aus der Extreme des 20. Jahrhunderts. Kleinere "Glücksstudien" innerhalb der Literatur gab es freilich auch: Das Verbrecherglück, das Mario Puzo episch beschrieb; das Glück der Bonvivants bei Capote; Bukowkis Säuferglück - oder das von Thomas Mann beschriebene Glück im bürgerlichen Niedergang. Und natürlich auch das anspruchsvollere Gedankengebäude über das Glück im Fatalismus, das Camus beschrieb.

In einem Satz: Glück ist subjektiv. Es gibt nicht das Glück. Deshalb gab es in Diktaturen wie im anarchistischen Barcelona gleichermaßen Menschen, die behaupteten, sie seien glücklich. In noch keiner Gesellschaft gab es ein geschlossenes Kollektiv von völlig Unglücklichen. In Fritz Langs Metropolis gab es Massen griesgrämig dreinblickender Gestalten. In Realität ist eine solche Konzentration von Glücksbereinigung gar nicht denkbar. Dazu ist der Mensch gar nicht begabt. Er sucht sein subjektives Glück auch im objektiven Unglück.

Drogensüchtige kennen Glücksmomente. Andere finden ihr Glück beim Shoppen. Oder auf der Couch. Oder beim Bungee Jumping. Fragte man all diese Leute im richtigen Augenblick, so sagten sie: Ja, ich bin wirklich glücklich. Kurz nach oder vor dem Schuss, dem Kauf, dem Gammeln oder Sprung heißt es dann eher: Ach, was ist schon Glück? Aber ich bin zufrieden. Kann nicht klagen.

Wenn mir der Zahnarzt meine Schmerzen der letzten drei Tage und Nächte (besonders die Nächte sind höllisch!) nimmt, dann sage ich unmittelbar danach (währenddessen geht es ja nicht, weil der Mund offen steht): Mensch, ich kann mich glücklich schätzen, in einer Gesellschaft zu leben, in der es ein Gesundheitswesen gibt. Am nächsten Tag, mit etwas Abstand und zweimal Zähneputzen mehr auf dem Buckel, sage ich dann: Sicher, es ist nicht alles schlecht, aber die Entwicklung, die das Gesundheitswesen nimmt, die macht mich schon unglücklich.

Dieser Glücksatlas, der alle Jahre wieder durch die Presse irrt, ist ein Musterbeispiel an heißer Luft. Was ist denn Glück? Philosophen zerbrachen sich den Kopf darüber und kamen nie zu einem befriedigendem Ergebnis. Lange Spaziergänge waren Kants alltägliches Glück. Den an Bronchialbeschwerden leidenden Jaspers machten sie unglücklich. Heidegger fühlte sich phasenweise glücklich, in einer Zeit zu leben, in der eine große Bewegung die deutsche Revolution ausrief. Der unglückliche Tucholsky floh deshalb. Glück ist alles und nichts. Und selbst im größten Unglück, so lehren uns nicht nur Solschenizyn und Semprún, sondern beinahe alle große Literatur des letzten Jahrhunderts, finden sich Augenblicke des Glücks. Meist Banalitäten, das kleine Glück im großen Morast. Aber auch das ist eine strittige Frage: Ist das kleine Glück reell oder nur das große Glück? Gibt es letzteres überhaupt? Ist es nicht eine Summe kleinerer Glückspositionen?

Wie will man also Glück vermessen? Auf welche Zahlen kann man bauen? Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichverteilung innerhalb von Gesellschaften beurteilt, kann sich wenigstens auf Auswertungen berufen, auf Ziffern und Berechnungen, nimmt offizielle Zahlen aus Ministerien unter die Lupe. Und der Glücksatlas? Er baut auf subjektives Empfinden? Auf die Gefühlslage von Menschen, für die Glück die eigene Couch sein kann oder aber ein Flug zum Mars. Für die Glück zwischen Hurra, ich habe endlich einen Minijob! oder Endlich geschafft: Entgeltgruppe 15! liegt.

Glück ist insofern die heiße Luft eigener Empfindungen. Flüchtig wie Liebe, die ja auch nur schwer als Gradmesser heranzuziehen ist. Was soll denn wahre Liebe sein? Die Liebe gibt es nicht, es gibt nur so viele Lieben, wie es Menschen gibt. Man kann Glück nicht ausmessen und als Zahl kenntlich machen. Das ist, nach einem berühmten Ausspruch Carnaps, fast so, als würde man den Bock melken und dabei ein Sieb drunterhalten. Glück ist kein Landstrich, den man einfach in eine Landkarte skizzieren kann. Es ist subjektiv, verschiedenartig, unsichtbar, paradox und manchmal auch skurril. Man denke an das Glück des Masochisten. Und das schimmelbefallene Schlafzimmer, das einen am Morgen unglücklich macht, kann ein Hort des Glücks sein, so kurz nach dem Geschlechtsakt.

Wie es keine Indizes gibt, an die man Glück nageln kann, so gibt es auch kein Patentrezept, wann Glück zum Glück wird und wann nicht. Wie glauben die Atlantenproduzenten denn das Glück der Menschen festhalten zu können? Und wann haben sie die Leute gefragt? Nach einem Streit mit ihrem Boss oder nach dem Sex? Das zeitigt durchaus Unterschiede. Fragten sie am Monatsanfang oder am Monatsende? Reiche oder Arme? Dicke oder Dünne? Für jemanden, dessen Glück und Zufriedenheit es ist, am Nachmittag das Programm von RTL ohne Störung konsumieren zu können, ist auch das deutsche Sozialwesen eher noch eine glückliche Fügung. Man kann das Glück nicht fassen, es geht immer durch das Sieb hindurch, das man drunterhält.

Was soll der Glücksquotient denn ausdrücken? Macht es das System besser, wenn es im Zustand allgemeinen Glücks an die Wand fährt? Werden gekürzte Sozialausgaben legitimer, wenn sie mit Glück im Rücken geschehen? Es ist schon ein lustiges Stück Postdemokratie, das wir jährlich neu erleben, wenn dieser Atlas das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Fragte man einen Herausgeber des Glücksatlas nachdem sein Produkt bei Bildzeitung und Focus thematisiert wurde, ob er denn glücklich mit den Chancen sei, die diese Gesellschaft ihm biete, dann würde er sich viel positiver äußern, als nach einer generellen Nichtbeachtung seines Presseerzeugnisses. Insofern ist dieser Glücksatlas keine Dokumentation über den Aggregatszustand des Glücks, sondern selbst nur Glücksbringer oder -nehmer, also auch nur heiße Luft.


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Zu Ohren gekommen

Dienstag, 12. November 2013

Nein, eine Zentralstelle für den Umgang mit Ereignissen gibt es dort, wo es Pressefreiheit gibt, ganz sicher nicht. Aber stille Absprachen vielleicht? Komisch ist es schon, dass verschiedene Radioanstalten in dieselbe Kerbe schlagen. Bei den Berichten über den Stand der Koalitionsverhandlungen kommen jetzt gehäuft Nebensätze und kurze Einwürfe vor, die ungefähr so lauten: "... die Große Koalition, an der kaum noch jemand zweifelt ..." oder "Wer zweifelt noch an der Entstehung dieser Koalition?" Das ist komisch, denn eigentlich hieß es doch, dass die Sozialdemokraten noch ihre Belegschaft befragen wollen.

Aber diese Mitgliederbefragung scheint im öffentlichen Dialog immer weniger vorzukommen. Dieses "... an der keiner mehr zweifelt ..." ist nicht einfach so dahingesagt. Es soll den Mitgliedern der Partei einheizen. Soll sagen: Die Öffentlichkeit hat sich mit der Großen Koalition abgefunden. Jetzt macht das, was man von euch erwartet. Die rhetorisch geschaffene Faktenlage hämmert den Stimmberechtigten medial in die Köpfe, wie das Ergebnis bei der Abstimmung auszufallen hat. Im Grunde ist diese so unscheinbar klingende Zweifelsfreiheit schon die Vorbereitung auf den Sturm, der auftreten würde, sollten es die Sozialdemokraten wagen, sich gegen den vorgelegten Koalitionsvertrag zu stellen. Darin schwingt ein wenig Drohung mit.

Es sind diese vermeintlich unachtsamen Nebensätze, die im Medienbetrieb zuweilen mehr aussagen, als all die Hauptsätze voller Informationen. Vor Wochen berichtete man noch zweifelnd und erklärte den innerparteilichen Prozess, den die Sozialdemokraten bezüglich GroKo verabschiedet hatten. Man sprach auch den möglichen Verlust der politischen Zukunft der Parteispitze an, sollte sie die Koalition wollen, nicht aber die Gesamtpartei. Nun hat sich die Stoßrichtung der Berichterstattung gewandelt. Jetzt wird nicht mehr nur beschrieben, jetzt wird sprachlich gefeilt, tropfenweise ausgehöhlt, in Richtungen gewiesen und "Politik gemacht".

Da sitzen dann stimmberechtigte Leute aus der SPD vor dem Radio und werden vor gemachte Tatsachen gestellt. Und so fragen sie sich dann: Warum überhaupt noch abstimmen? Die Sache ist doch schon so gut wie fix. Oder: Wie kann ich es nur wagen dagegenzustimmen? Und für alle anderen bleibt eine eher generelle Frage: Wie frei sind eigentlich Entscheidungen in einer Mediokratie?


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Getollschockter Kontinent und ein Hoffnungsschimmer

Montag, 11. November 2013

Wir erleben hier im alten Europa gerade den vielleicht größten und dreistesten Raubzug in der menschlichen Historie. Die Flanken des Kontinents werden vom Norden her gemolken und geschächtet. Europa wird von Außen her schocktherapiert. Im Inneren ist die neoliberale Rosskur bislang noch in dezenteren Dosen verabreicht worden. Doch es kommt sicherlich auch da noch dicker.

Die Schocktherapie von IWF, Weltbank und Europäischer Zentralbank wurde schon in Lateinamerika erprobt. Wer wissen will, was kommt, der braucht nur die jüngere Geschichte des südlichen Amerika studieren. Die Rezeptur besteht aus: Lohn- und Rentenkürzungen, Entlassung von Staatsbediensteten, Versteigerung öffentlicher Unternehmen und Marktderegulierungen im großen Stil. Der argentinische Politologe Borón verglich die Programme in Griechenland, Irland und Portugal mit denen, die man einst lateinamerikanischen Ländern aufbürdete und kommt zu dem Fazit: "Es ist die gleiche Wirtschaftspolitik, es ist die gleiche Schocktherapie, und es sind auch die gleichen Hauptakteure."

Naomi Klein hat den Begriff der Schock-Strategie oder Schocktherapie im Zusammenhang mit dem global agierenden Neoliberalismus und seinen Institutionen geprägt. Immer wenn ich den Begriff höre, kommt mir jedoch Anthony Burgess' Nadsat in den Sinn, eine künstliche Modesprache, die er den Figuren seines Romans Clockwork Orange in den Mund legte. Die deutsche Nadsat-Übersetzung kennt zum Beispiel roboten als arbeiten und tollschocken als schlagen. Letzteres passt als Wort besonders gut in die europäische Szenerie, finde ich. Ja mir scheint, dieses Europa in schocktherapeutischer Behandlung wird ordentlich getollschockt.

Lateinamerika war lange Zeit eine solch getollschockte Weltregion. Teilweise ist es das immer noch. Egal ob in Chile, Venezuela, Bolivien, Argentinien oder Brasilien: Überall waren die Vorgaben oder gar Eingriffe seitens der Troika dieselben. Die Völkerschaften wurden immer ärmer, die nationalen Eliten immer reicher. Man gewährte Unterstützung, wenn man die Sozialausgaben kürzte, empfahl aber nie Steuererhöhungen für die Reichen des Landes. Die Gewinne aus Bodenschätzen schoben sich Eliten und zu noch größeren Teilen multinationale Konzerne ein. Ein berühmtes Paradox, das den Fatalismus deutlich macht, lautete dort: Rohstoffe unter den Füßen zu haben bedeutet Armut. An eine Verbesserung der Lebenssituation konnte man nicht mehr glauben. Es fielen Konzerne ein, die sich Privatarmeen hielten und die örtlichen Eliten schmierten und sich den Rahm abschöpften. Für die Menschen blieb nichts außer schlecht bezahlte Jobs und Dörfer, die plötzlich, sofern nicht plattgemacht, so doch im Orbit unkontrollierter Umweltbelastungen lagen.

Diese Erfahrungen haben das lateinamerikanische Selbstbewusstsein aber rückblickend auch gestärkt. Es entstand ein südamerikanischer Mythos, der durchdrungen ist von Simón de Bolivárs Streben nach südamerikanischer Einheit in Freiheit, José Martís humanistischen Kampf gegen Imperialismus und von Che Guevaras egalitaristischen Gedanken in seiner Latinoamericana. Nicht zuletzt deshalb spricht man in Venezuela und Bolivien von der bolivarianischen Revolution, um die geistige Herkunft der Bewegung zu unterstreichen. Es destillierte sich unter der Knute nach und nach ein Bewusstsein heraus, in dem sich Lateinamerika nicht nur als Konkursmasse imperialer Reiche oder deren Global Player einstufte, sondern als eine Wertegemeinschaft, die durch Geschichte, Völkermixtur und Unterdrückung entstand.

Die Befreiungstheologie ist durchaus als eine religiöse Vorhut der späteren politischen Bewegungen zu bewerten. Beides baute auf diese kontinentale Erfahrung. Der Nobelpreisträger García Marquéz arbeitete dieses gemeinsame Bewusstsein einer lateinamerikanischen Gesellschaft, die auf gemeinsame Erfahrungen im Angesicht des Katastrophen-Kapitalismus baute, in seinen Büchern heraus. Der Nobelpreisträger Mario Vargas ist allerdings die Kehrseite dieser Medaille. Er sah sich stets als Nachfahre der alten spanischen Aristokratie und verwehrte sich gegen die Ansprüche, die ein gemeinsames Erbe von Schwarzen, Indigenen, Europäern und Asiaten stellte.

Im getollschockten Europa spricht man viel von der Wertegemeinschaft, die Europa sein soll. Davon ist seit geraumer Zeit immer weniger zu spüren. Es befindet sich im Prozess der Renationalisierung und es formiert sich eine Entfremdung zwischen den Nachbarn. Die Erfahrungen mit dem Neoliberalismus, den neoliberalen Diktaturen und Programmen, den Enteignungen und Privatisierungen, haben ein lateinamerikanisches Bewusstsein gemeinsamer Herkunft und Ideale entstehen lassen. Plötzlich war man mehr als ein Kontinent voller Nationen. Man nahm sich als Schmelztiegel wahr, in dem die lateinamerikanische Ethnie entstand. In dem man die Grenzen als Produkte des Imperalismus entlarvte, als künstliche Linien, die das gemeinsame Erbe spalten sollten, um letztlich dem neoliberalen Kapitalismus, der dem Imperalismus folgte, ein durch divide et impera geschwächtes Terrain zu hinterlegen.

Dieses aktuelle Europa könnte im Angesicht der Schocktherapie vielleicht endlich die Wertegemeinschaft werden, die es nie war, die es aber seit dem Vertrag von Maastricht als rhetorisches Füllsel, als Sonntagsrede und Plattitüde führt. Die Abschottung in ein Europa der Nationen, die sich gegenseitig aufhetzen, verspotten, diffamieren und entweder für Menschenfresser oder Faulpelze halten, dient nur dem Neoliberalismus.

Nein, in Südamerika ist nicht alles gut geworden, nachdem der neoliberale Kapitalismus dort abgegrast hatte. Aber man weiß nun wenigstens, wohin es gehen soll, für wen und was Notwendigkeiten auf den Weg in eine bessere Zukunft sind. Kein Kontinent gehört Konzernen und Finanzjongleuren. Auch Europa nicht. Dass der Neoliberalismus nicht das letzte Wort hat, könnte man von Südamerika lernen. Kein Raubzug kann ewig dauern. Irgendwann ist er zu Ende oder ihm gehen die Menschen aus, die er berauben kann.


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Deutsche dem Deutschland!

Samstag, 9. November 2013

Wieder mal zu wenig. Immer noch nur ein Ganzes und zwei Fünftel Kinder pro Frau und Leben. Einfach nicht ausreichend. Da ist bald kein Staat mehr zu machen. Das scheint von Jahr zu Jahr und von Jahresstatistik zu Jahresstatistik immer offizieller zu werden.

Betretene Mienen, als neulich die geschlossenen Anstalten, die sich öffentlich-rechtliche Anstalten nennen, darüber sprachen. Die Französinnen werfen immerhin zwei Komma zwei Kinder, sagte man dort. Die sterben schon mal nicht aus. Na ja: Weniger schnell. Und hier bemühen sich Fertilitätspolitiker parteiübergreifend um bessere Wurfbedingungen und ernten keine Früchte. Kitas haben sie ausgebaut, Elterngeld eingeführt, jetzt gehe es darum, den schulischen Ganztagsvollzug zu sichern, sagte eine familienpolitische Sprecherin. Ob die wohl schon mal geworfen hat? Ein Ganzes oder nur zwei Fünftel? Und es liegt wohl auch an den Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt, wusste eine Stimme aus dem Off. Nichts Genaus weiß man aber nicht. Die familienpolitische Sprecherin, die versprach, auch bald den Arbeitsmarkt so zu bestellen, dass Sicherheiten Elterngefühle wecken, hatte wahrscheinlich gerade Mittagspause.

Bekommt doch endlich wieder mehr Kinder! Deutsche dem Deutschland! Wegen der Rente? Quatsch. Um die geht es schon lange nicht mehr. Wir haben uns damit abgefunden, dass Rente ein Privatvergnügen zu werden hat.

Aber wer soll denn noch einkaufen gehen, wenn es immer weniger Menschen gibt? McDonalds braucht Laufkundschaft. Und es wäre doch schlimm, wenn die Tafeln schließen müssten, weil die Kundschaft ausbleibt. Überhaupt muss doch auch irgendwer die Hosenscheißer der verbliebenen Eliten kutschieren, waschen, abwischen, in den Schlaf rütteln, überbemuttern, betreuen und füttern. Außerdem gehen Pöstchen verloren und dann gibt es keine familienpolitischen Sprecherinnen mehr. Das wäre besonders schade. Und wer soll denn sonst in Zukunft abgehört werden? Geheimdienste brauchen eine konstante Masse an potenziellen Terroristen. Und Jauch abendliches Massenpublikum. Sonst zahlen die Sponsoren weniger. Und dann würde auch er weniger erhalten und langsam verarmen. Wir brauchen dringend eine zahlreiche Hälfte der Armen, die die andere zahlreiche Hälfte der Armen in Schach hält.

Wenn doch die deutsche Mutter wenigstens zwei Fünftel Kind mehr aus ihren Lenden pressen würde. Da wäre uns doch schon geholfen. Die Wirtschaft wächst und wir haben mitzuwachsen. Kann man die Fertilitätsrate nicht per Gesetz an die Wachstumsraten koppeln? Wir leben doch im Wirtschaftswunder, liest man allethalben. Die guten Indizes müssen doch irgendwie ins Bett zu bekommen sein.

Aber die Überbevölkerung ist ein Problem. Es bekommen nämlich die falschen Leute Kinder. Neger und so. Leute, die kaum bei McDonalds essen, die nur relativ wenig Geld in unsere Fußgängerzonen tragen. Wir brauchen Menschen, mit denen wir was anfangen können. Sieben Milliarden sind endgültig genug. Besonders, weil sie keine Deutschen sind.


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Wie eine Halsgeige, die lähmt und Selbstvertrauen absorbiert

Freitag, 8. November 2013

oder Nicht der Hartz IV-Empfänger ist psychisch krank, psychisch krank ist der Kontext, in dem er leben muss.

Ein Drittel aller Hartz IV-Empfänger leidet unter neurotischen und affektiven Störungen, depressiven Phasen und daraus resultierenden körperlichen Leiden. Nach Einschätzungen von Fallmanagern könnte sogar die Hälfte aller Bezieher psychische Probleme haben. Das sagt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur, schätzt die Lage so ein, dass lange Arbeitslosigkeit eben psychische Folgen zeitige. Davon, dass die grobschlächtigen und teils taktlosen Methoden, die Jobcenter und ihre Mitarbeiter anwenden, wenigstens eine Mitschuld tragen könnten, wollte er nicht sprechen.

Der gemeine Hartz IV-Empfänger ist also im Durchschnitt zu etwa einem Drittel psychisch krank. Weil er nicht arbeiten darf. Weil er nicht beschäftigt ist. Der Kontext ist offenbar nicht dafür haftbar zu machen. Nicht der Druck der Behörde, die Vorsprachen vor einem anklägerischen Sachbearbeiter, die stets drohende Verknappung der finanziellen Mittel und das Gefühl der Ohnmacht und Wertlosigkeit machen nach offizieller Deutung arbeitslose Menschen zu psychisch kranken Langzeitarbeitslosen. Es ist die Langeweile eines Tages ohne Erwerbsarbeit, die jemanden zum Fall für einen Psychologen werden läßt. Arbeit macht geistig gesund, würde über den Toren der Anstalten stehen, wenn sie denn Tore hätten und nicht nur lumpige Drehkreuzeingänge.

Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass das Menschen- und Gesellschaftsbild hinter den Hartz-Gesetzen psychisch verstörend sein kann. Wer sich plötzlich als nicht mehr selbstbestimmt, sondern nur noch als reine Verfügungsmasse eines Technokraten und als Unkostenfaktor begreifen muss, gerät schnell in seelische Kalamitäten. Dieser Technokrat managt den Fall, der man selbst geworden ist. Aus dem Menschen, der man vorher war, wird ein Fall.

Plötzlich musste ich mein Privatleben mit Leuten teilen, die am anderen Ende eines Schreibtisches Fencheltee tranken. Mit Sachbearbeitern aus der Leistungsabteilung und Vermittlern, mit Personen von der Widerspruchsstelle und vom Medizinischen Dienst. Allerlei wollten sie von mir wissen, interessiert haben sie sich für mich aber nicht. Stattdessen Eingliederungsvereinbarungen, die mit Sanktionsandrohungen glänzten, bevor überhaupt der Gegenstand dieser Vereinbarung, die "Vertragsgrundlage", erläutert wurde.

Ich schrieb in jener Zeit Geschichten, die diese psychische Belastung namens Hartz IV erfassen. Besonders in meinem Buch Unzugehörig finden sich Grotesken aus jenen Jahren. Geschichten von Personen ohne Namen und ohne Background. Protagonisten, die ich absichtlich im Grauen ließ, um zu zeigen, dass sie nichts mehr sind, nichts mehr bedeuten, sozial abgelebt haben. Organische Masse, die in mancher Story als Krüppel auftritt. Nicht anerkannt von den von mir beschriebenen Bütteln. In Der gute Wille oder Erhobenen Hauptes war das so. Und mein Text Auffassungen eines Gewalttäters zeigt die andere Seite, die explosive Kraft, die in einer solchen Belastung stecken kann, die pure Wut, die Gewissheit, dass manchmal bloß noch ein, bloß noch ein einziges falsches Wort fallen muss, damit die Fassade der Zivilisation fällt.

In Auf der Tretmine tritt ein Anonymus beim Waldspaziergang auf eine Mine. Er kann nicht mehr weg, will er nicht in die Luft gehen. Also richtet er sein Leben, immer mit einem Fuß auf dem Ding, auf einem Quadratmeter Wald ein. Diese Tretmine war mein Leben in Hartz IV. Man nistet sich ein in dieser Ungerechtigkeit, geht zwangsläufig Kompromisse ein und redet sich ein, man sei noch wer. Aber man weiß, auf der Tretmine ist man nicht mehr als ein Bündel Fleisch das noch leben will. Wenn ein solches Leben nicht das Innenleben eines Menschen angreift, dann weiß ich auch nicht.

Das sind Texte aus anderen Tagen. Und es gab noch mehrere, die man noch heute bei ad sinistram finden kann. Ich erinnere mich an einen, bei dem ein Fallmanager feststellt, dass der Arbeitslose vor einigen Tagen nicht zur Maßnahme erschienen sei. Am ersten Maßnahmetag war aber das Schulungszentrum, in dem die Veranstaltung stattfinden sollte, eingestürzt und viele Menschen unter sich begraben. Seine Abwesenheit hat dem Arbeitslosen das Leben gerettet. Trotzdem muss Sanktion natürlich sein. Die Behördenkreatur erklärt außerdem, dass nun die Staatsanwaltschaft auf dem Plan gerufen sei, denn wäre der Arbeitslose dort erschienen, würde er jetzt nicht mehr anspruchsberechtigt sein, sprich: Eigentlich ist er nun im Zustand des Erschleichens von Sozialleistungen. In jenem Text spricht der Arbeitslose kein Wort, wörtliche Rede verlieh ich nur dem Behördenmenschen. So wollte ich den Mundtod einer ganzen Gesellschaftsschicht dokumentieren. Ein hilfloser literarischer Versuch, den man auch nur eine Kurzgeschichte lang durchhalten kann.

Ich hatte das Glück, mich in Buchstaben verlieren zu können. Habe mich, ob schlecht oder weniger, in Literatur geübt. Habe darüber verarbeitet und vergessen - oder jedenfalls verdrängt. Wurde mir darüber bewusst, dass ich kein Nichtsnutz bin, wie es die Hartz-Gesetze als Indoktrinierung vorsehen. Welche Wunden schlägt diese psychische Gefährdung bei Menschen, die nicht den Luxus besitzen, sich adäquat darüber auszulassen?

In jenen Jahren schwebte mir noch ein weiterer Text im Kopf herum, der nie Wirklichkeit wurde. Es war eher ein Gedankensplitter, zu dem mir nicht ausreichend Handlung einfiel. Ich stellte mir Hartz IV oft bildlich als Halsgeige vor, als einen Kranz, der sich eng um den Kragen schmiegt und der irgendwelche lähmenden Impulse unter die Haut jagt. Ich imaginierte mir Hartz IV als eine Krause, die wahlweise auch das Selbstvertrauen aus einem zieht. Überdies dachte ich, dass die Halsgeige als metaphorische Vorrichtung besser geeignet ist, als ein Pflaster, das statt Nikotin, irgendwelche paralysierenden Hormone in die Haut einsickern läßt. Denn eine Halsgeige ist für jeden sofort sichtbar. Und als Hartz IV-Empfänger glaubt man sich stets enttarnt. Irgendwann denkt man, die ganze Welt weiß es. Gerade so als trage man ein Stigma. Dass einige Arbeitsloseninitiativen sich Logos gaben, die leicht als Abwandlung des berühmten Sterns auf der Brust oder dem Arm von Juden zu entlarven waren, verwunderte mich nie. Das habe ich immer als Ausdruck dieses tristen Lebensgefühls empfunden.

All diese kafkaesken Texte zeigen, welche Gedankenwelt ein Leben in Hartz IV erzeugt. Das Bild, das ich von mir selbst hatte, hat sich in jenen Jahren schwer gewandelt. Gefühle der Minderwertigkeit kehrten ein. Phasenweise streikte ich gegen mich selbst, gegen diese Ruine meiner selbst, ohne natürlich zu einem Ergebnis zu kommen. Verfolgungsbetreuung und Gängelung hat sich bei mir in Grenzen gehalten. Das Bisschen, was es davon gab, hat mir aber wahrlich gereicht. Wer merkt, dass er eine Karteileiche oder ein Prämientopf für sanktionswütige Fallmanager ist, gerät ganz automatisch in eine seelische Krise. Dazu kommt die Angst. Die fehlenden Perspektiven und die fatalistische Haltung, nur noch von Tag zu Tag zu leben. Wo sehen Sie sich in fünf Jahren? kann man einen Langzeitarbeitslosen in einem Bewerbungsgespräch nicht fragen. Er hat sein perspektivisches Denken aufgegeben oder verlernt. Würde er es sich bewahren, müsste er sich schmerzhaft ausmalen, dass er in einem, zwei oder drei Jahren immer noch so tief in der Scheiße hockt. Wer das zu oft tut, spielt sein Ableben durch. Ach, wenn es nur schnell vorbei gehen würde ...

Ob ich nun meine gescheiterte Ehe noch mit auflisten soll? Eher nicht, Hartz IV kann nicht für alles haftbar gemacht werden. Aber mitgewirkt hat es. Man darf bei diesen Drittel an psychisch erkrankten Langzeitarbeitslosen durchaus annehmen, dass viele wegen einer belasteten Partnerschaft zum Psychologen gehen. Geld ist ein leidiges Thema. In allen Beziehungen. In armen Bedarfsgemeinschaften wird dieses Thema allerdings zum fast unüberwindbaren Härtefall.

Hartz IV ist vieles: Ungerecht, durchtrieben und zu wenig. Und nicht nur deswegen zu guter Letzt psychisch belastend und verstörend. Und das ist kein Nebeneffekt, den man abstellen möchte, wie Heinrich Alt so nett verspricht. Er sieht darin ganz telegen einen Anreiz zur Verbesserung. Aber die kann gar nicht gewollt sein. Man braucht eine Schicht von Menschen, die so wenig Selbstbewusstsein hat, dass sie jeden Scheißjob annimmt. Man will die Moral dieser Leute zerstören, damit sich kein Protest, keine Bewegung formiert. Sie sollen mit ihrer Seele ringen, nicht mit Sozialrichtern oder gar bei Demos mit Polizisten. Innere Einkehr und Emigration statt extrovertiertes Bewusstsein der eigenen Misere.

Sie haben dieses Konzept ganz bewusst so ausgewählt. Die Erkrankten sind kein Kollateralschäden, sie werden auch nicht in Kauf genommen - man will sie. Ein Sozialgesetzbuch, das die Menschen, für die es gelten soll, vorab skeptisch als potenzielle Betrüger und Kriminelle betrachtet, will doch nicht menschliche Würde erhalten und Leid erträglich machen, sondern eigentlich das glatte Gegenteil davon. Es ist das neoliberale Menschenbild, das da verankert ist. Mit dem Menschen als apriorischen Kriminellen, der immer geprüft, kontrolliert und bewacht gehört, damit er auf der rechten Bahn bleibt. Dazu die kleinkarierten Paragraphenreiter und Menschenschinder auf Behörden (Ausnahmen gibt es!) und eine Presse, die in der Hochzeit der Hetze, fast schon zu sozialen Pogromen aufrief. Dieses Klima war ein Selbstläufer, es musste auf Grundlage dieses Programmes namens Hartz-Konzept entstehen. Anders ist es in einer Gesellschaft, die sich neoliberalen Schlachtplänen unterworfen hat, auch gar nicht denkbar.

In so einer Gesellschaft sind letztlich nicht nur Erwerbslose depressiv, sondern alle auf ihre Art. Die Variante der Arbeitenden nennt sich Burnout, ein Gemisch aus Depression und Kraftlosigkeit. Und Schüler schlucken Pillen. Jeder nach seinen Möglichkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen! Nicht der Mensch im Neoliberalismus ist psychisch krank, sondern die Situation, in der er lebt.


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Enttäuschte Randgruppen

Donnerstag, 7. November 2013

Obama hat viele Schwarze enttäuscht, denn er hat ihre Lebenswirklichkeit kaum verbessert. Dass ein Mitglied einer marginalisierten Gruppe keine Politik "für seine Leute" macht, kennen wir in Deutschland auch.

Hierzulande sind wir schon seit einigen Jahren ernüchtert. Die ostdeutsche Frau, die das Amt des Kanzlers übernahm, hatte einigen Optimisten Hoffnungen gemacht. Durch eine Kanzlerin, die in der DDR sozialisiert wurde, so meinten sie erwartungsfroh, würde auch die Integration der Ostdeutschen vorangetrieben. Mittlerweile haben wir sogar einen ostdeutschen Bundespräsidenten. Aber daran, dass der flächendeckende Mindestlohn für manche Großkoalitionäre nicht im Osten des Landes gelten soll, hat es nichts geändert.

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Kurz kommentiert

Mittwoch, 6. November 2013

"Hollandes Irrweg, die Staatsfinanzen über Steuererhöhungen zu sanieren, rächt sich nun bitter.[...]
Die versuchte Sanierung der Staatsfinanzen über Steuererhöhungen statt Ausgabenkürzungen ist ein Irrweg, den eingeschlagen zu haben sich für Hollande nun bitter rächt. Die Franzosen drohen mit Steuerstreik..."
- Christian Schubert, Frankfurter Allgemeine am 1. November 2013 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Schubert findet, es sei bedenklich, wenn man Staatsfinanzen durch Steuererhöhungen bei Reichen ausgleichen möchte. Dass diese Erhöhungen vor allem Vermögende traf, hat Schubert ja auch galant übersprungen. Das Spiel mit dem Feuer, das er da rhetorisch bemüht, läßt sich viel simpler erklären: Wenn man Reiche höher besteuert, werden sie staatsverdrossen, lehnen es verstärkt ab, gute Staatsbürger sein zu wollen. Wenn sich Reichtum nicht mehr lohnt, dann läuft der Staat Gefahr, von irgendeiner Tea Party erpresst zu werden. Man muss sich seine Reichen eben bei Laune halten.

Die Steuerstreiker, die Schubert anspricht, sind übrigens Leute wie Depardieu oder der Unternehmer de Thomas oder einige raffgierige Fußballer aus der Ligue 1. Menschen aus dem oberen Segment der Einkommensstatistik, die es für ungerecht ansehen, dass ihr Vermögen zur steuerlichen Umverteilung herhalten soll. Und es sind überdies Menschen, die nicht selten von einem durch Steuern finanzierten öffentlichen Sektor in Kunst und Sport, aber auch Wirtschaft und Bildung, profitiert hatten. Ihre heutigen Einkünfte sind für sie allerdings nicht Produkt dieser Strukturen, sondern die folgerichtige Konsequenz ihrer persönlichen Leistung. Daher sollten sie ja auch unantastbar sein. Dass sich diesen Eliten freilich auch Mittelschichtler anschließen, ist nicht verwunderlich. Ähnliches erlebt man auch in Deutschland, wenn sich irgendein Versicherungsangestellter vor der Millionärssteuer fürchtet, weil die ja vielleicht irgendwann auch auf ihn abstrahlen könnte. Sei die realistische Aussicht auf eine eigene Million auch noch so gering, man hält sie sich in der Mittelschicht gerne offen. Man weiß ja nie.

Was Schubert eigentlich sagen will ist, dass der moderne Staat seine Leistungsträger nicht zu sehr belasten sollte. Er sollte sich von deren Abwanderungs- oder Streikdrohungen erpressen lassen und die Frage des Allgemeinwohls der Situation unterordnen. Schließlich ist dieses postulierte Wir wollen weniger Steuern zahlen! auch eine demokratische Äußerung. Die Reichen sind ja auch Bürger. Besser ist es doch da, den demokratischen Weg der Ausgabenkürzung im Sozialwesen zu gehen. Das wäre dann kein Irrweg, um bei Schuberts Terminologie zu bleiben. Er spricht sich hier (ganz offen zwischen den Zeilen) für die Beibehaltung des neoliberalen Weges aus: Niedrige Steuern (besonders für Reiche) und dezimierte Ausgaben (wo es Arme trifft). Ein Rezept, das zu immer mehr Sparprogrammen führt, Probleme im Inneren verschärft und den Reichtum aus der Haftung entläßt.

Mag sein, dass Hollande viele Irrwege eingeschlagen hat - die Erhöhung der Steuern war aber keiner. Diese Maßnahme ist für jedes Land notwendig, das wieder handlungsfähig werden will. Wenigstens das scheint Hollande erkannt zu haben. Schubert jedoch nicht. Oder er hat es erkannt und wünscht sich gar kein handlungsfähiges Gemeinwesen mehr, sondern will den deutschen Traum von der marktkonformen Demokratie weiterträumen.


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Die Hure wieder zum Miststück machen

Dienstag, 5. November 2013

oder Wie die Emma Prostituierte durch Ächtung befreien will und damit nichts als die Verachtung dieser Frauen in Kauf nimmt.

Dass gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution dringend vorgegangen werden muss, ist überhaupt keine Frage. Dass die Zuhälterei dringend einen gesellschaftlichen Skeptizismus unterordnet werden muss, ist auch völlig eindeutig. Es ist nämlich wahrlich unerhört, dass die Boulevardmedien dieses Landes einen Bordellbetreiber (Wollersheim) als ulkiges und verplantes Kerlchen darstellen, um die eigenen Trash-Kanäle zu füllen. Was Emma und prominente Unterstützer aber einfach mal als frommen Ratschlag in den öffentlichen Raum hinausblasen, hat weder Hand noch Fuß, sondern verdeutlicht die Hilflosigkeit, mit der man sich diesem Thema annähert.

Alice Schwarzer schreibt unter anderem, dass das älteste Gewerbe der Welt in Deutschland "nicht länger für selbstverständlich gehalten werden [darf], sondern geächtet werden [müsse]". Mit anderen Worten sollen Prostituierte wieder in den Ruch von Schmuddeligkeit und Schweinkram geraten. Sie sollen als Schlampen wahrgenommen werden. Als Weiber, die braven Ehefrauen die Männer entziehen. Sie sollten sich überdies schämen und verstecken, bloß kein Selbstbewusstsein entwickeln und sich stattdessen selbst verleugnen. Prostituierte sollen sich letztlich wieder darüber bewusst werden, einem dreckigen Gewerbe nachzugehen. Am besten nicht mehr sozialversichert. Kurzum, Schwarzer möchte wieder geraderücken, was unter Rot-Grün, als man die Prostitution in den Rang eines Berufsstandes rückte, in Schieflage geriet. Sie rät dabei zum Gebrauch des moralingetränkten Mittelchens namens Ächtung und klingt fast so reaktionär wie jene, die in den Siebzigerjahren gegen "die Emanzen" zu Felde zogen.

In diesem durch Ächtung erzeugten Spießerklima soll den Huren dann gewahr werden, dass sie ja auch auf Sekretärinnen oder selbstständige Eventmanagerinnen machen könnten. Es liegt ja nur an ihnen selbst. Die moralische Keule soll ihnen lediglich ganz "liberal" die Augen öffnen und sie so aus dem "deutschen Sexparadies" (Schwarzer) führen.

Gleich ein Einwand gegen zu viel Horizontal-Romantik: Viele rechtfertigen ja die Prostitution mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen. Weil es Huren gibt, entlade sich viel gefährliche sexuelle Energie professionell, sagen sie. Prostituierte sorgten somit für inneren Frieden und absorbierten sexuelle Anspannung. Diese Verherrlichung ist Bullshit - sie sieht die Frauen als Erwerbsfaktor und klammert den Mensch aus, fragt zudem nicht mal mehr, warum Frauen das tun und was sie dazu zwingt. Auch wenn man manches dieser Nutzen-Argumente nachvollziehen kann, so bleibt es doch ein enthumanisierter Ansatz. Dieser Scheißjob bleibt ein Scheißjob - egal wie man ihn dreht und wendet. Beim Blasen eines alten und unsympathischen Sacks pusht sich die Hure sicherlich nicht, indem sie sich immer wieder einbläut, sie tue das für die Gesellschaft. Sie wird wohl nur schauen, dass es möglichst schnell vorbeigeht. Besser wäre es für Frauen in jedem Falle, ihr Geld anders zu verdienen. Aber woher bessere Verdienstmöglichkeiten nehmen, wenn nicht herbeiphantasieren? Es gibt ja oft nicht mal ausreichende Mini-Jobs "zur Alternative".

Die Frauen, die diesem Gewerbe nachgehen, sind ja keine Frauen, die eine freie Wahl hatten. Wer meint, sie hätten Freude an dieser Tätigkeit, hätten ihre Nymphomanie adäquat in den Arbeitsmarkt integriert, der hat keine Ahnung von den Lebensumständen, die zur Prostitution treiben. Kaum eine Frau hat sich je bewusst für eine Karriere am Bordstein entschieden. Aber der Angriff der Emma zielt genau in diese unaufgeklärte Richtung. Sie klingt dabei ein wenig eingeschnappt. Als sähe sie in den Huren Schwestern, die sie enttäuscht haben, weil sie die emanzipatorischen Errungenschaften noch immer nicht umgesetzt hätten. Die Schwestern müssten nur wollen, dann könnten sie ihr Leben auch anders leben und finanzieren.

Prostitution abschaffen - schön und gut. Und dann? Beziehungsweise: Und was denkt man sich schon davor aus, um die Frauen abzufangen? Welche Perspektiven bietet man ihnen? Bietet dieser Arbeitsmarkt voller Niedriglohn-Chancen und Zeitarbeit-Alternativen denn Perspektiven? Dient es überhaupt, wenn man aus dem "anerkannten Beruf" eine schmuddelige Angelegenheit macht? Oder macht es die Situation nicht nur schlechter? Wer Prostitution abschaffen will, der muss gleichzeitig ein Ende der neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen fordern. Beide Aspekte haben miteinander zu tun. Wie so oft. Das gilt auch für die, die Stresserkrankungen bekämpft sehen wollen. Wer das will, muss gegen die Deregulierungen am Arbeitsmarkt aufstehen. Man kann nicht nur eine Seite haben, man muss das gesamte Konzept anfechten.

Und wer Prostitution abschaffen will, der muss überdies deutlich sagen, dass er Prostituierte abschaffen will. Und das ist an sich ja nicht schlecht. Moralisch ächten darf man sie dann aber nicht. Das verschlimmert nur die Situation, drängt sie in eine moralische Illegalität. Und man muss vor allem mehr bieten als nur diese ethische Verunglimpfung.

Das erinnert alles ein wenig an jene Liberalen der Nordstaaten, die den Schwarzen des Südens die Sklavenschaft ersparen wollten, aber wenig bis gar nichts zur sozialen Gleichstellung in Freiheit beitrugen. Die Freiheit stand als Wert für sich. Aber dass Freiheit ohne die Mittel, sich frei zu halten, keine richtige Freiheit ist, merkten viele befreite Schwarze sehr schnell. Sie verbürgten sich fortan als bezahlte Arbeitskräfte ihrer vormaligen Herrn - und nicht selten zu weitaus schlechteren Bedingungen.

So ähnlich ist die Forderung der Emma jetzt. Und diese Haltung passt perfekt in den Zeitgeist. Im gauckianischen Deutschland ist die Freiheit an sich groß in Mode. Sie darf nur nicht konkret werden. Und sie sollte nichts kosten, sonst nimmt die Freiheit ja schon wieder die Geldgeber in Haftung. Es ist eine Freiheit, die dieses Motto hat: Komm, die Ketten sind ab, jetzt genieße deine Freiheit - übrigens: Die Benutzung dieser Straße der Freiheit, auf der du gerade stehst, die kostet Maut. Kannst du zahlen? Gauck spricht gerne von Freiheit in Verantwortung. Je länger man ihn hört, glaubt man aber, er meine eigentlich die Verantwortlichkeit der Freiheit - nach der Losung: Du bist für die Finanzierung deiner Freiheit selbst verantwortlich.

Wer über die Befreiung der Frau von der Prostitution spricht, wenn es einen solchen historischen Auftrag überhaupt gibt, der sollte konkret genug werden und nicht einfach nur Freiheit! rufen. Oder wahlweise Verbot! oder Ächtung! Dazu gehört schon wesentlich mehr. Und er sollte besser zwischen den Frauen trennen, die verschleppt wurden und "unfreiwillig" anschaffen müssen und denen, die sich aus ihrer sozialen Perspektivlosigkeit dazu "freiwillig" bereiterklärten. Nicht hinter jeder Hure steht ein tyrannischer Zuhälter.

Wer die Acht aussprechen will, der will auch, dass Prostituierte von Vertreterinnen eines Berufsstandes zu Schlampen gemacht werden, auf die man mit dem Finger zeigt. Bravo, liebe Emma! Das ist schwarze Aufklärung par exellence. Ist das nun alles was vom emanzipatorischen Auftrag blieb: Ein Blatt von moralinaufstoßenden Jakobinerinnen? Hatte man nicht mal mehr Verständnis für die Lebenswirklichkeit gesellschaftlicher Randgruppen? Nennt man diese Radikalität nun Altersstarrsinn oder handelt es sich doch noch um Aufklärung?


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