Bourani, du kunst mich mal ...

Samstag, 29. November 2014

Ich habe letztens den Bourani bei Gauck gesehen. Merkel war auch da. Da habe ich spontan für mich beschlossen, jedem den Status eines Künstlers abzusprechen, der mit dieser politischen Macht und Großspurigkeit auf Tuchfühlung geht. Das nenne man ruhig arrogant. Ich aber nenne es konsequent. Für mich ist das eine Frage gesunden Selbstwertgefühls.

Nein, nicht dass ich Bouranis ambitionierte Scheiße vorher auf irgendeine Weise für mich als künstlerisch wertvoll angesehen hätte. Einen solchen Anspruch hatte er bestenfalls »nur in seinem Kopf«. Aber ich war bereit, ihn als Künstler anzuerkennen, der zwar für mich leider keine Botschaft hatte, aber grundsätzlich natürlich Kunst betrieb. Der Mann war übrigens zur WM-Gedenkstunde nicht erstmals in Bellevue. Er steht mit diesem nekrophilen und überforderten Präsidenten, der sich gerne schöne Sätze drechseln hört, nahezu auf Du und Du. Zuletzt sang er ihm jenes Lied, das sie zur WM-Hymne gemacht hatten. Händeschütteln. Staatstragende Respektsbekundungen. Die Raute lächelte hinüber. Die deutsche Familie unter sich. Mitsamt den lieben kleinen Kickern, denen man ein Lorbeerblatt schenkte.

Dass die Presse natürlich von einer ganz besonderen Ehre sprach, einem glanzvollen Ereignis in Bellevue, ist eine andere Sache. Mir geht es heute mal um die Künstler, die solche Anlässe garnieren. Wenn die die Nähe zu einer politischen Macht suchen, die Ambitionen zu Militäreinsätzen und europäischer Hegemonialpolitik zeigt, die Arroganz in die Welt trägt und es dann »neues Selbstbewusstsein« nennt, dann ist das nicht einfach nur eine Chance für einen Künstler, noch mehr Publikum auf sich zu ziehen, sich interessant zu machen. Dann ist das ein Politikum und dann ist die Zusammenkunft kein privates Tête-à-tête mehr, sondern ein offizieller Akt und ein Bekenntnis zu einem Land, in dem der Rechtsruck Staatsdoktrin geworden ist.

Ich weiß, Kunst hat viele Definitionen. Keine befriedigt, denn keine ist allumfassend und allgemeingültig. Was Kunst genau ist und wo die Grenze zwischen Kunst und Krempel liegt, vermag jeder anders zu beantworten. Geht Kunst mit Kommerz zusammen? Es gibt genug Beispiele, die das bejahen. Auch kommerzialisierte Bands haben uns Songs von höchsten künstlerischen Anspruch hinterlassen. Für mich persönlich hat Kunst etwas mit dem Brechen von Konventionen und den Entkrusten von Vorgaben der real erfahrbaren Welt, also auch der Politik und der Gesellschaft zu tun. Sie sollte oppositionell sein, wenigstens aber nicht regierungstreu und auf die zeitgeistigen Erscheinungen scheißen. Ordnet sich der, der Kunst machen möchte, den gesellschaftlich-zeitgeistigen Vorgaben unter, wird es für mich schwer, ihn als Künstler wahrzunehmen. Natürlich -  man lebt als Künstler auch im Diesseits der Vorgaben und Bräuche. Man ist ja auch von dieser Welt. Doch man kann auch ohne die machtpolitische Entourage auskommen, die diesen Kontinent in den Bankrott weist und dabei munter den Neoliberalismus bedient.

Wenn ich jemanden wegen seiner Kunst besuche, dann wünsche ich, dass er a) neutral bleibt oder wenigstens b) in gewisser Opposition zur Regierung steht. Kunst, die die Regierung, den herrschenden politischen Zeitgeist oder Wirtschaftsinteressen unterstützt, ist keine Kunst für mich. All die Possenreißer, die Merkel ehrfürchtig die Hand schütteln, bei Gauck vorbeischauen oder vor Bundestagen klimpern, haben die Pfade der Kunst verlassen. Wenn Kunst überhaupt etwas bedeutet, dann der Umstand, den Prozessen der Realpolitik eine Abfuhr zu erteilen. Wer das nicht tut und sich anbiedert, den nenne ich Hofmusikant. Sings bloß nicht noch einmal, Bourani ...

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Wessi, mit dir geht es zu Ende!

Freitag, 28. November 2014

Tja, mein lieber Westdeutscher. Deine Überlegenheit beruht auf einem Interpretationsfehler. Nicht der Stärkste überlebt. Das hat Darwin ganz anders gemeint. »Survival of the fittest« nannte er sein Prinzip. »To fit in« heißt aber »sich anpassen«, »einfügen« und »sich einpassen«. Mit Stärke im eigentlichen Sinne hat das nichts zu tun. Und daher ist es so, dass du in der Struktur dieses Staates ganz klar ein Evolutionsverlierer sein wirst.

Da helfen dir deine Besserwessi-Klauen nichts; deine Reißzähne sehen nett aus, mehr aber auch nicht. Du magst stark sein, aber darauf kommt es nicht an. Dinosaurier waren Kraftpakete, aber was helfen gigantische Körperbauten, wenn die allgemeine Situation vorgibt, sich durch den engen Treppenabgang in den Keller zu schieben, um sich noch rechtzeitig vor dem Meteoriteneinschlag in Sicherheit zu begeben? Der T-Rex hatte durchaus Kraft, aber mit seinem Ärmchen konnte er keine Butterbrezel schmieren. Der Neandertaler war der kräftigere Hominide. Beim Armdrücken mit einem modernen Menschen hätte er dem den Arm gebrochen. Und was außer einen Armwrestling-Pokal hat es ihm eingebracht? Ein bisschen so bist du nun auch, lieber Wessi. Stark, potent, hast immer noch die Deutungshoheit und bist trotzdem im Nachteil. Tut mir leid, so läuft das halt mal hier unten. Gräme dich nicht. Mal gewinnt man, mal verliert man.

Als es andersrum lief, gefiel es euch doch noch. Als ihr den Osten gefressen habt, sagtet ihr noch, dass der, der zu spät kommt, vom Leben bestraft wird. War das nicht eine bisschen Evolutionsrhetorik? Ihr sagtet, ihr habt den Wettbewerb gewonnen und habt die Geschichte für beendet erklärt. Letzteres war naiv, denn wer ein selbstgefälliges Nickerchen macht, weil er glaubt, jetzt habe er alles erreicht, der kommt irgendwann auch zu spät und dann bestraft das Leben eben ihn.

Schau, du lebst jetzt in einem Milieu, in das du nicht angepasst bist. Sie bespitzeln dich, hören deine Anrufe ab, lesen deine elektronischen Briefe. Schreib mal bei Facebook, dass dein Boss ein Arschloch ist. Früher am Stammtisch konntest du das grölen. Es hat keinen interessiert. Heute notiert sich IM Facebook alles. Mit Foto. Es gibt keine nennenswerte Privatsphäre mehr. Auch deswegen reden alle mittlerweile einen vorgefertigten Einheitsbrei, eine Sprache der biederen Übereinkunft. Denn man ist ja fortwährend auf Verkaufstour für sich selbst. Man muss sich an den Mann bringen. Darf keine Kratzer haben. Und so wägt man ganz genau ab, was man sagen darf und was nicht. Wenn das die Falschen hören, oh Gott! Überall sind nun Ellenbogen. Selbst unter Kollegen sagt man nicht mehr, dass der Boss ein Arsch ist, weil der Nebenmann ja um seinen Vorteil besorgt sein könnte und man befürchten muss, dass er Meldung macht. Man spricht eine Sprache, die nur noch touchiert, andeutet, aber nichts mehr auf den Punkt bringt.

Man will schließlich nicht gegen den Kanon, gegen die allgemeine Konvention verstoßen. Pseudosprech ist das Gebot der Stunde. Reden, aber wenig sagen. Und schon gar nichts sagen, was irgendwie kritisch aussehen könnte. Konstruktive Kritik sei natürlich weiterhin erwünscht, heißt es offiziell. Sie muss aber affirmativ sein. Man muss nicken, während man höflich nachfragt, ob die Entwicklungen der Wirtschaft denn auch alternativ gestaltet werden können. Dann erklären sie einem, dass es keine Alternativen gibt und man muss immer weiter nicken und so tun, als habe man verstanden. Und lächeln. Und dann nicht mehr weiter fragen. Falls man das alles nicht tut, könnte der Arbeitgeber morgen schon einen sozialistischen Wohlstandsgefährder in einem erkennen und man wird langsam aber sicher weggelobt. Ist man nicht affirmativ, machen sie dich mundtot, drangsalieren dich und werfen dich bei Bedarf aus deinem Job.

Alles, was es im Osten an Fehlentwicklungen einer an sich guten Idee so gab, haben wir heute auf eine andere, etwas perfidere, weniger plumpe Weise wieder. Man observiert die Bürger und die Bürger werden verstärkt zu hausbackenen Biedermännern, zu treuherzigen Abnickern, die sich keine politische Meinung mehr zutrauen. Wenn doch, leisten sie sich keine eigene Meinung, sondern schwatzen nach, was karrieristische Schwätzer so von sich geben. Der Ostdeutsche kennt das schon. Für den Wessi sind das ganz neue Erfahrungen. Nicht, dass er vorher eine politische Koryphäe gewesen wäre. Du meine Güte!

Auf seinen satten Wiesen musste er das gar nicht sein. Er passte sich seiner Flora und Fauna an und war ein seliges Rindvieh. Und jetzt landet er auf mageren Wiesen, die ihm unbekannt sind und wirkt so unglücklich und so beklommen. Er reibt sich ungläubig die Augen. Scheint in Schockstarre. Man muss sich an die Ossis halten. Die haben gelernt damit umzugehen. Obwohl sie das System gewechselt haben, konnten sie nicht den Nachteilen entfliehen, die ein moribundes System so in sich trägt. Na gut, wenigstens sind sie jetzt frei. Können endlich die ganze Welt bereisen. Könnten sie. Wenn sie Geld hätten. Früher hatten sie Geld. Konnten aber nicht überall hinreisen. Der Ossi ist das Modell der Zukunft, weil er eine Vergangenheit kennt, die wie unsere Zukunft riecht.

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Die Grünen sind weiter dick im Geschäft

Donnerstag, 27. November 2014

Der Parteitag der Grünen hat mal wieder bewiesen, dass diese Partei keine klare Linie hat. Sie laviert und ist tendenziell eher für das, was die Wirtschaft von ihr fordert. Überlebt haben sich die Grünen deshalb aber noch lange nicht. Ganz im Gegenteil.

Unlängst sagte mir ein Bekannter, die Grünen hätten abgewirtschaftet. Sie hätten keine Vorstellungen mehr, leisteten keiner Utopie mehr Vorschub und eine klare Linie sei nicht mehr zu erkennen. Heute macht sie auf links, morgen ist sie reaktionär. Mal bejahen sie Waffenlieferungen und dann feiern sie sich wieder als »wehrhafte Pazifisten«. Diese Vorwürfe sind nicht neu. Das wirft man dieser Partei seit fast zwei Jahrzehnten vor. Dass sich die Grünen aber deswegen überlebt hätten, halte ich für ein Gerücht. Sie sind das Erzeugnis einer postdemokratischen Epoche, in der es nicht mehr um die Umsetzung von Zukunftsträumen und Hoffnungen geht, sondern um das Ritual des »So-tun-als-ob«. Und das haben diese Grünen mittlerweile so kultiviert, dass für sie die Zeit nicht abgelaufen ist, sondern eher erst anbricht.

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Die Vollbeschäftigung mit der Vollbeschäftigung

Mittwoch, 26. November 2014

Für den Brockhaus liegt »Vollbeschäftigung« vor, »wenn alle für eine Beschäftigung geeigneten Personen ohne längere Wartezeit einen Arbeitsplatz zum bestehenden Lohnniveau finden können«. Der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit sagte letzte Woche in einem Interview, dass sich Deutschland »langfristig der Vollbeschäftigung« nähere. Das was er meint, hat mit dieser klassischen Vollbeschäftigung per definitionem nichts zu tun.

Schon eine kuriose Vollbeschäftigung, der wir uns da nähern. 7,9 Millionen von 42,7 Millionen Erwerbspersonen arbeiten im Niedriglohnsektor. Mehr als 1,3 Millionen dieses Prekariats füllt weiterhin Antragsformulare des Jobcenter aus, um mit ergänzendem Arbeitslosengeld aufstocken zu können. Tendenz steigend. Sozialisierte Personalkosten liegen voll im Trend. Trotzdem findet dieser Personenkreis in der Arbeitslosenstatistik nicht statt. Weder die Aufstocker, noch die anderen Beschäftigten, die entweder nicht aufstocken wollen oder keinen Anspruch darauf haben, aber deshalb noch lange nicht im Wohlstand baden.

Weitere Gruppen, die nicht in der Statistik auftauchen und somit den Weg frei für eine etwaige Vollbeschäftigung schaffen, sind unter anderem kranke Arbeitslose. Konkrete Zahlen zu denen gibt es nicht. Man weiß nur, dass Arbeitslosigkeit ursächliche Auswirkungen auf die Entwicklung schwerer Krankheiten hat. Menschen, die in sogenannten »Ein-Euro-Jobs« ausharren und Personen ab dem 58. Lebensjahr fallen auch heraus. Zusätzlich streicht die Arbeitsagentur alle aus der Statistik, »die eine Vermittlung erschweren, weil sie ihre Pflichten bei der Jobsuche nicht erfüllen«. Für den September 2014 bezifferte die Arbeitsagentur diese verschiedenen Personenkreise auf annähernd eine Million Menschen.

Von den 42,7 Millionen möglichen Erwerbspersonen arbeiten lediglich 30,3 Millionen sozialversicherungspflichtig. Viele derer, die ohne Sozialversicherungsschutz arbeiten, würden gerne mehr als nur jobben. Auf die offizielle Arbeitslosenzahl von 2,7 Millionen kamen im Oktober 517.000 gemeldete Stellen. Wie man da die nach dem Brockhaus definierte Vollbeschäftigung ermöglichen will, wie man also »ohne längere Wartezeit einen Arbeitsplatz zum bestehenden Lohnniveau finden« könne, bleibt so mehr als fraglich. Man sollte Zeit zum Warten mitbringen. Überhaupt ist das so eine Sache mit dem Lohnniveau. Die Boomsparte auf dem Arbeitsmarkt ist der Niedriglohnsektor. Geringfügige Beschäftigungen ersetzen immer öfter Normalarbeitsverhältnisse. Leiharbeit schwillt zu einem Millionenmarkt an. All das drosselt das Lohnniveau und so könnte man Weise beipflichtend attestieren, dass er definitionsgemäß eine tatsächliche Vollbeschäftigung meint, denn wenn einer Arbeit findet, dann eben eine, die diesem Lohnniveau im Abschwung zupass komme.

Doch dieser Niedriglohnsektor ist ein separierter Raum, eine künstliche Billiglohnblase, die politisch immer weiter aufgepumpt wird und mit dem noch existierenden Lohnniveau gar nichts zu tun hat. Er senkt zwar das allgemeine nachhaltig, aber wer heute eine Beschäftigung in ihm findet, tritt keine Stelle »zum bestehenden Lohnniveau« an. Er liegt noch weit unter dem Wert, der einst erkämpft wurde und den es außerhalb des Niedriglohnrahmens ja noch immer gibt. Wenn auch nicht mehr so üppig. Vollbeschäftigung, die Weise in diesem Sinne des Lohndumpings meint, bedeutet heute, dass jemand »mit mehr oder weniger längeren Wartezeiten einen Arbeitsplatz zur Absenkung des allgemeinen Lohnniveaues erhält«. Dass man eine Stelle findet, die das Niveau der persönlichen Not des gerade noch Arbeitslosen lindert, ist für viele Menschen gar nicht mehr geboten. Man kommt vom Regen in die Traufe.

Vollbeschäftigung also? Wie gesagt, der Mann heißt nur Weise. Er ist es nicht. Er ist aber bestimmt voll beschäftigt. Beschäftigt, die Situation als ausgezeichnete Ausgangslage zu stilisieren. Ja, die einzigen, die heute noch voll beschäftigt sind, das sind die Blender und Beschöniger. Die haben viel zu tun. Deren Vollbeschäftigung ist eindeutig gesichert. Ohne Kniffe und Niedriglohn. Ihre Vollbeschäftigung ist echt.

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 25. November 2014

»Auf seine rhetorische Lieblingslegosteine ›Freiheit‹ und ›Verantwortung‹ verzichtete Gauck selbstverständlich zwar nicht, aber bei diesem Auftritt [Anm.: vor der Führungsakademie der Bundeswehr 2012] führte er so pathetisch wie brutal aus, was genau er damit meint. Die höchste Stufe seiner Freiheit-und-Verantwortungs-Existenz erreicht der Mensch laut Gauck, wenn er ›das Äußerste, was ein Mensch geben kann‹, dann auch hergibt: ›das Leben, das eigene Leben‹.
Ob die anwesenden Soldaten Gaucks Begeisterung für den ihnen zackzack zugedachten Heldentod teilten, ist nicht überliefert. Der Bundespräsident zeigte sich geradezu verknallt in ›deutsche Gefallene‹, die ›für unsere glücksüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen‹ seien. Tote stehen Gauck offenbar weit näher als Lebende, die er für krank erklärt, für suchtkrank nach Glück.
Gauck ließ keinen Zweifel daran, dass er sich auf Soldatenbegräbnisse freut, und keiner seiner Gastgeber war unhöflich genug, daraufhin von der Dienstwaffe Gebrauch zu machen. Der nekrophile Pastor macht nun mal so gern staatsmännische Figur beim Sprechen, und Soldaten lassen sich eben nicht nur mit Sold bestechen, sondern auch mit der Lüge von ihrem ehrenvollen Tod.«

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Morgen früh, wenn Gott will ...

Montag, 24. November 2014

oder Für jeden Medienkonsumenten gibt es ein Propagandaangebot.

Dieser Putin wollte lieber schlafen, als beim G-20-Gipfel Leviten gelesen zu bekommen. Das berichteten vor einer Woche einige Zeitungen und geizten dabei nicht mit Hohn. Sie deklarierten es als Beweis dafür, dass dieser Mann ein gefährlicher Hegemon mit Expansionsdrang ist. Denn wer aus dem Bett heraus Politik macht, muss ja eine gänzlich verlotterte Existenz sein.

»Putin möchte lieber schlafen als weiterreden«, schrieb die »Frankfurter Allgemeine«. Bei den »Tagesthemen« sagten sie, er wollte ins Bett. Schon vor Wochen berichtete »Bild« und »Welt«, »der Macho schläft bis 11 Uhr« und »der Zar schläft gern lang und frühstückt spät«. Dieses Spiel mit dem Verschlafenheit ist natürlich klassische Propaganda. Mit ihr versucht man die Bevölkerungsteile in Deutschland zu kriegen, die das »erst die Arbeit, dann das Zubettgehen« als Credo führen. Wenn einer Müdigkeit vorschützt, dann ist das für die Tugendhaften dieser Erde ein Anzeichen von unseriöser Lebensführung. Das diskreditiert beim Spießer mehr, als etwaige Straflager in Sibirien oder strukturelle Homophobie. Mein Gott, sagt er bei solcherlei Vorwürfen, das sind Dinge, die können doch mal vorkommen. Keiner ist perfekt. So war es doch immer. Aber dass er sich ins Bett flüchtet, das geht einfach zu weit. Das beweist nur, was für ein schlechter Mensch er ist. Straflager sind hinnehmbar, Nachtlager nicht.

Der Volksmund sagt, dass der, der schläft, nicht sündige. Das ist für Menschen, die so erzogen wurden, dass Müßiggang, Schlaf und Pflichtvergessenheit aller Laster Anfang ist, natürlich eine komplette Lüge. Wer schläft, sündigt. Das ist deren ganze Wahrheit. Und morgen früh, wenn Gott will, wird er wieder geweckt. Und dass er jeden Tag will, stinkt Jauch natürlich gewaltig. Die biologische Lösung will und will sich nicht einstellen. Sie wäre gerade jetzt so hilfreich. Kann man da noch an einen Gott glauben? Wie kann ein Gott nur das Böse jeden Tag erwachen lassen? Dass der Mann schlafen geht, hängt man ihm an. Dass er nicht ewig einschläft, hängt man ihm auch an. Er kann es der Propaganda einfach nicht recht machen.

Es geht bei diesen Vorwürfen nicht darum, dass man den Macho betonen will. Und dass er sich in den Schlaf des Ungerechten flüchtet, um dort seine Expansionsträume zu träumen, weiß der Propagandakonsument gemeinhin sowieso. Nein, es ist so, dass jeder Bevölkerungsteil auf ganz andere Vorwürfe anspringt. Für jeden Konsumenten gibt es ein Angebot. Selbst in der Propaganda. Der Menschenrechtler bekommt Geschichten von Putins Folterkellern vorgesetzt; für den Freund der Gleichstellung betont man sexistische Anflüge und die Schwulenfeindlichkeit; und der Leser des Wirtschaftsteils springt erst an, wenn die Märkte wanken. Tugendhaften muss man eben stecken, dass der Mann ein lotterhaftes Leben lebt, viel schläft, wenig diskutiert und seine Pflicht vernachlässigt. So kriegt man den Calvinisten in diesem Land ohne offiziellen Calvinismus. Da wird auch er wütend und nimmt Haltung an.

Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Jedem Leser sein »Geweser«. Es gibt immer ein Motiv, bei dem man auf den Gartenzaun springt, um sich zu entrüsten. Die Hartgesottenen brauchen russische Panzer an der ukrainischen Grenze, die mobilisiert werden für die Eroberung. Bei den anderen fängt die Haltlosigkeit schon an der Bettkante an. Denn der Schlaf ist ja auch etwas Teuflisches. Für Puritaner traditionell immer gewesen. Er ist verlorene Zeit. Zwar notwendig, aber irgendwie doch ein Anzeichen fehlender Disziplin. Wer ihn so betont, wie Putin es getan haben soll, der wird automatisch als Tagedieb erspäht. Nur der frühe Vogel fängt den Wurm, heißt es. Der Kerl schläft aber laut Berichten gerne lang. Würmer fängt er also keine. Und ohne einen hübschen Wurm zum Frühstück kann der Tag ja nichts werden. Wo man doch weiß, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist. Ganz klar, dieser Mann ist gefährlich, denn er schläft zu viel.

Komisch, dass andere Propagandisten ihn für einen ausgeschlafenen Burschen halten. Da geht nichts zusammen. Aber das muss es ja auch nicht. So geht Propaganda. Da muss nichts passen. Stichhaltig war die nie. In keiner Zeit. Vor keinem Krieg. Es ist ein Sammelsurium an Nichtigkeiten, von denen man annimmt, dass sie trotzdem die Leute in Rage versetzen.

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Postkarten aus Arkadien

Samstag, 22. November 2014

Und dann war wieder eine im Briefkasten. Eine Postkarte meiner Tante. Aus ihrem Feriendomizil in Ungarn. »Leute nett. Wetter schön. Essen gut. Bis bald, eure Tante«, stand auf der Rückseite einer Naturaufnahme des Balaton. Wir lachten. So klangen alle ihre Karten. Aus Barcelona schrieb sie uns ein halbes Jahr zuvor: »Leute nett. Wetter schön. Essen gut. Bis bald, eure Tante.« Und als sie im Schwarzwald war, lautete ihr Text ... ihr könnt es euch ja denken.

Diese Postkarten, die unsere allgemeine Stimmung hoben, weil sie uns kündeten, was wir erwarteten, dieses wiederholte Abspulen fester Kurzsätze, die Gewissheit, dass man adäquat einen Überblick über die Lage bekam, wie man sie ohnehin vorzufinden glaubte, all das war ein Mosaiksteinchen unserer Kindheit. Eine lustige Konstante, die mir als blöde Erinnerung bleibt. Diese Postkarten hatten Kultcharakter. Sie machten Spaß, weil sie eben gar nicht spaßig gemeint waren. Wir lachten, weil es ihr voller Ernst war. Das erzeugte Laune. Keiner fragte vorher was sie wohl geschrieben haben könnte; wir wussten es ja eh. Aber wir lasen trotzdem voller Spannung. Wollten die Erwartung bestätigt haben. Und nebenbei kam so die weite Welt zu uns. Eine Welt, die ja überall gleich zu sein schien. So erfuhr ich als Kind recht schnell, dass es überall Leute, Sonne und Nahrungsmittel gibt. Die Welt war letztlich auf diese drei Dinge reduzierbar. Man hatte einen netten Überblick.

Ich denke in letzter Zeit wieder oft an Tantes Karten. Sie kommen mir in den Sinn, wenn ich die Verlautbarungen zu Merkel-Deutschland höre. »Leute glücklich. Klima mild. Alle satt. Alle finden Arbeit. Bis bald, eure Kanzlerin.« Ja, diese Wasserstandsmeldungen sind nichts anderes als Postkarten aus dem hiesigen Arkadien. Sie klingen alle immer gleich. Beständig dieselben Sätze, derselbe kurze Überblick über die Lage. Ich lausche den Klängen und denke an die Karte vom Balaton. Tante fuhr weg und wollte vielleicht nicht protzen, aber sie wollte unsere und ihre Erwartungen zementieren. Alles war gut und das musste auch fixiert werden. War es mal nicht so gut, schrieb sie es nicht. Auch das ein Vorgriff auf die Postkarten, die man uns heute wöchentlich reicht. Man schreibt nur auf, was jeder zu erwarten hofft. Bestätigung, nicht Information.

Der Chef der Arbeitsagentur erzählte diese Woche, dass Hartz IV das beste Programm aller Zeiten sei. Und Vollbeschäftigung stehe auch vor der Türe, fügte er hinzu. Ach, der Chef der BA. Der Weise. Der heißt nur so. Aber Postkarten aus Merkel-Deutschland kann er schreiben. Das ist seine Qualifikation. »Leute glücklich. Klima mild. Alle satt. Alle finden Arbeit. Bis bald, i.A. der Kanzlerin, euer Frank-Jürgen.«

In Arkadien gab es mal einen, der versprach, er würde die Steuererklärung auf Bierdeckelgröße schrumpfen. Das ist Jahre her und mittlerweile haben die Mikrokosmologen diesen geplanten Sprung ins Winzigkleine getoppt. Sie reduzieren jetzt den Gesamtzustand der Republik auf Postkartengröße. Mal schreibt der Weise eine, mal der Wirtschaftsweise, mal jemand auf unnachahmliche Weise. Selten waren Nomen so wenig Omen. Aber wir haben uns entwickelt. Von Höhlenmalern zu Kartenschreibern, von Postkartenmalern, die früher mal Amtsgeschäfte übernommen haben, zu Postkartenschreibern, die sie heute erledigen.

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Katzen und Hunde und Resignation

Freitag, 21. November 2014

Anni hat mir einen entsetzlichen Schreck verpasst. Anni ist eigentlich eine ziemlich ruhige Kollegin. Die gute Seele, die immer ein offenes Ohr hat. Zurückhaltend, aber nicht schüchtern. Sie ist sanft. Hört zu. Ich habe nie erlebt, dass sie unter die Gürtellinie geht. Ich mag sie. Wenn alle so wie Anni wären, dachte ich mir, dann wäre die Welt einen Schritt weiter. Aber letzte Woche hat sie mir dann wirklich zugesetzt.

Wir waren mehrere Kollegen, standen im Pulk zusammen und quatschten. Ich hatte mir gerade eine Zigarette angezündet und irgendwie landeten sie thematisch bei den Rumänen, die in Deutschland angeblich nur Sozialhilfe abstauben möchten.
   »Die Richter haben da ganz richtig entschieden«, sagte Anni.
   Ich spitzte die Ohren, wollte es aber nicht vertiefen und inhalierte den Rauch.
   »Kommen alle zu uns, nur um Leistungen zu kassieren.«
   »Mensch, Anni, bist du etwa rassistisch«, fragte sie Joe augenzwinkernd. Joe zog immer alles ins Lächerliche.
   »Na hör mal, es herrscht immer noch Meinungsfreiheit«, rief ein anderer dazwischen.
   »Ich meine ja nur, dass eine Katze unter Katzen und Hunde unter Hunden bleiben sollten«, rechtfertigte sich Anni.
   »Mein Kampf«, sagte ich.
   »Bitte?«
   »Die Passage musst du aus ›Mein Kampf‹ haben. Man könnte fast meinen, dass dieser Satz genau so drin steht. Ich glaube allerdings mit Hasen und Füchsen.«
   Es waren Füchse, Gänse, Tiger, Katzen und Mäuse. Ich habe später nachgeschaut. Eine kommentierte Ausgabe habe ich mir mal auf dem Flohmarkt gekauft. In einer Passage zur Rassenreinheit gibt sich der Bestsellerautor tierlieb.
   »Achso?«
   Anni gab sich ratlos und lächelte und eilte wieder an die Arbeit.
   Alle anderen schauten mich bedröppelt an und wechselten dann das Thema. Ich drückte meine Kippe aus und ging weg und klemmte mich über die Schüssel.

Nein, ich unterstelle Anni nicht, dass sie solche Bücher liest, sich ihre Freizeit mit Biologie, der Evolutionstheorie oder Rassenkunde vertreibt. Was ich sagen will: Das Gift wirkt. Es fließt durch alle Adern, dachte ich mir, als ich später nochmal über sie nachdachte. Es zeigt sich täglich mehr. Anni war letzte Woche auch nur so ein Symptom des allgemeinen konservativen Rollbacks, des Abgleitens der Gesellschaft ins rechte Lager.

Unter meinen vorletzten Text für das »Neue Deutschland« notierten einige Leute bei Facebook ihre Kommentare. Leute, die ganz offenbar ein »linkes Feedback« haben und sich trotzdem beim Thema Integration in Vorurteile suhlen. Einer schrieb, dass Boko-Haram wörtlich »westliche Bildung ist Sünde« bedeute. »So denken die meisten von denen«, beschloss er. Ein anderer schimpfte auf das Bild, das den Text flankierte. Man sehe ja, wie integriert die beiden Frauen mit dem Kopftuch seien. »Gülcan Kamps und Nazan Eckes als Beispiel, daran sollten sich diese Frauen orientieren.« Der Mann ist Linker, in einem anderen Kommentar zu einem anderen Thema betrauert er, dass es im Bundestag zwar eine linke Mehrheit gäbe, die aber nicht genutzt würde, um soziale Gerechtigkeit durchzusetzen.

Das sind freilich nur Auszüge. Aber sie werfen ein Bild auf den Zustand in diesem Land. Auch Linke stecken sich an. Ja, die Linke gerät mehr und mehr ins Hintertreffen. Sie verliert im alltäglichen Kampf um die Deutungshoheit beständig an Boden. Ich mache mir da nichts mehr vor. Wir sind am Verlieren. Der Rechtsruck ist doch schon lange kein zögerlicher Ruck mehr. Er rückt uns aber förmlich auf den Pelz. Anni ist bestimmt keine Linke. Aber eine Frau, von der man denkt, dass sie eher linken Positionen zugeneigt ist. Selbst diese milden, diese eigentlich guten Menschen, die unpolitisch sind, verfallen diesem Wahnsinn.

Überall geht es rechts um. Rechte Straftaten mehren sich. Hakenkreuze sind wieder öfter zu sehen. Antisemitismus und Islamophobie sind die neue Eleganz. Neonazis mobilisieren Fußballfans und Wutbürger. Halten Mahnwachen ab und kriminalisieren Döner-Verkäufer und türkische Gemüsehändler. Die »Alternative für Deutschland« zeigt, dass Rassismus und Spießertum wohl die Alternativlosigkeit für Deutschland sind. Dieses Land kommt früher oder später immer wieder darauf zurück. Die europäische Freizügigkeit ist schon das Opfer dieser Haltung. Auf der Grundlage der Xenophobie werden die letzten Brocken von europäischer Völkerverständigung zertrümmert. Es ist einfach nur grauenhaft, was da passiert.

Und dann kam auch noch Anni, die milde Anni um die Ecke. Da möchte ich resignieren. Wenn schon Leute wie du ... ja, wenn schon die netten Leute Hass versprühen und nichts dabei finden, dann falle ich vom Glauben ab. Täuscht sich die Linke wirklich so sehr, wenn sie glaubt, dass Wissen und Aufklärung die Methoden sind, die die Welt etwas erträglicher machen? Oder haben wir Linken uns getäuscht und der Mensch bleibt denkfaul und dumm, selbstgerecht und schlecht? Ist alles umsonst? Emotional intelligent ist Anni ja durchaus. Aber auch diese Intelligenz stößt an ihre Grenzen und haut dann Sätze raus, die aus des Führers Repertoire zu kommen scheinen.

Der Rechtsruck ist keine steile These. Er ist da. Mitten unter uns. Fängt an unser Leben zu bestimmen. Da rauchste eine Zigarette und du hörst Passagen über die Rassenreinheit. Hörst sie und hörst nicht, wie jemand dagegen was sagt. Alles ganz normal mittlerweile. Wir haben gelernt, diesen Hass in unserer Mitte zu akzeptieren. Ich werde lernen müssen, dass auch die guten Seelen den Duktus der Bosheit annehmen. Der Rechtsruck integriert fast alle. Auch die netten Leute, die man so kennt. Wenigstens eine Integration, die in diesem Lande eine Erfolgsgeschichte ist.

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Die Freizügigkeit und die neoliberale Soziologie

Donnerstag, 20. November 2014

Der »Sozialtourismus« hat sich nicht bewahrheitet. Trotzdem hat diese unbegründete Angst einen juristischen Erfolg davongetragen. Ein Urteil, das die Freizügigkeit nicht eingeschränkte, hätte auch keine Auswanderungswelle bewirkt. Denn Emigration ist keine Kosten-Nutzen-Frage.

Der Europäische Gerichtshof hat geurteilt, dass Deutschland EU-Ausländern keineswegs Hartz IV gewähren muss. Die Freizügigkeit innerhalb Europas ist damit nachhaltig geschädigt, wenn nicht sogar deaktiviert. Denn das Urteil zieht die Gräben einer kontinentalen Zweiklassengesellschaft noch tiefer. Während die starken Industriestaaten die Vorzüge der europäischen Zollunion genießen können und sich die »Wettbewerbsvorteile« der ärmeren EU-Staaten sichern, werden die Menschen ohne Mittel aus schwächeren Ländern des Kontinents faktisch festgesetzt. Jetzt wäre der richtige Augenblick, über eine europäische »Sozialunion« zu verhandeln. Sie muss auf die Agenda. Denn ein Europa, das die Freizügigkeit als bloße Theorie führt, ist nur ein weiteres gebrochenes Versprechen, dass das europäische Projekt zu Grabe weist. 

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... dann fahre darein mit gepanzerter Faust

Mittwoch, 19. November 2014

oder Die deutsche Weltpolitik, die stets etwas Gutes will und stets das Böse schafft.

Der mit dem »Platz an der Sonne«, den die Deutschen sich sichern müssten, das war der von Bülow. Der vierte Reichskanzler. Seiner berühmten Äußerung schob er allerdings vor, dass man »niemand in den Schatten stellen« wolle. Handel wolle man treiben, keine Händel beginnen. Wirtschaftsimperialismus eben. Und der braucht den Frieden und nicht den Krieg. Aber eines war klar, »sollte es irgendeiner unternehmen«, die Deutschen an ihrem »guten Recht zu kränken oder schädigen [...], dann fahre darein mit gepanzerter Faust.«

Alles wurde im wilhelminischen Zeitalter zur Weltsache. Weltpolitik trieb man jetzt. Denn man wollte Weltgeltung. Eine Weltmacht werden. Ein Weltreich. Verantwortung in der Welt sozusagen. Darunter ging nichts mehr. Man sagte, dass man die Lebensart der Völker in potenziellen Kolonien und in denen, die man schon hatte, gar nicht besonders antasten wolle. Es ging ja um Rohstoffe, um das Geschäft. Aber »das Evangelium [...] im Auslande zu künden, zu predigen jedem, der es hören will, und auch denen, die es nicht hören wollen«, war doch wohl das Mindeste. Mit Evangelium war nicht unbedingt die Bibel alleine gemeint. Eher den Kanon, den man damit verband, all die calvinistischen Tugenden, die man der Welt zu bringen trachtete. Sie waren viel eher der Exportschlager. Vortrefflichkeiten wie Sparsamkeit, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit. Wir kennen diesen Katalog noch immer. Man spricht ja wieder Deutsch in Europa.

Die Deutschen scheinen mehr oder weniger immer dieselbe Haltung anzunehmen, wenn sie in die Welt hinaustreten. Sie tun es mit der Rede von Frieden und Wohlstand, von Partnerschaft und Freundschaft und setzen immer noch Nebensätze dran, wie jenen von der gepanzerten Faust. Sie geben sich friedlich, aber warnen gleich vorab, falls das Objekt der Friedensliebe nicht wie gewünscht spurt. Bellizisten sind sie nicht. Sie benötigen den Frieden ja. Unter Kanonendonner machen sich Geschäfte nicht gut. Es ist ihnen also mit Sicherheit ernst. Und daher sind sie gewissermaßen »Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.«

Merkel klingt ein wenig wie Bülow, wenn sie die Zukunft der Ukraine plant. Gauck trägt keinen Zwirbelbart, man muss ihn sich hinzudenken. Steinmeier oder von der Leyen wollen die Welt bestimmt nicht in den Krieg tunken, aber sie fahren darein, wenn notwendig. Man darf diese Leute nicht so einseitig sehen. Mit dem Krieg gehen sie nicht hausieren. Sie wollen das Gute, oder sagen wir, damit es eher stimmt: sie wollen »etwas Gutes« - aber ihre Nebensätze klingen bedrohlich. Deutsche Weltpolitik bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass man die volle Eskalation möchte. Bei dem Kriegsmaterial ja auch völliger Unfug. Sie kommt als Anwalt der guten Sache daher. Und wie ein windiger Anwalt nimmt sie gleich eine gespannte Haltung ein, setzt zur Drohung an, wenn die Gegenseite nicht darauf eingeht.

Man sollte die Figuren des heutigen Deutschland nicht mit SS-Jacke karikieren. Das passt inhaltlich nicht so gut. Sie sind Gestalten, die aus dem Wilhelminismus erwacht scheinen. Bülows und Tirpitzens. Kalte Krieger, die es ja auch schon im Zeitalter des Kolonialismus gab. Kraftmeier, die Welttheater spielen wollen. Ihnen gehört eine Pickelhaube und ein gewichster Bart verpasst. Keine Runen. Ihr Auftreten gleicht den Zeitgenossen, die vor dem ersten Weltenbrand die Zügel in der Hand hielten. Wir blicken auf das Hunderjährige dieser Urkatastrophe zurück, begehen Gedenkstunden, sprechen uns gegen ein Europa unter Waffen aus. Aber das wären nicht die primären Lehren, die wir ziehen sollten. Denn der Krieg war lediglich die Konsequenz. Dareinfahren und pathetisches Parolieren führten zu ihm. Und genau das zu erkennen wäre aller Lehren wert.

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Auf den ersten Blick

Dienstag, 18. November 2014

Heute: Der diktatorische Fiesling, Claus Weselsky

Quelle: manager-magazin.de
Der GDL-Vorsitzende war mit Sicherheit trotzdem nicht der meist gehasste Mann im Land. Der Zuspruch vieler Menschen war enorm. In den sozialen Netzwerken konnte die Gewerkschaft Lob ernten. Viele zeigten sich solidarisch und nannten Weselsky einen aufrechten Gewerkschafter, einen fähigen Funktionär. Aber es sollte für eine einflussreiche Interessensgruppe und ihre Lohnschreiber und -berichterstatter so aussehen, als würde der Mann gehasst, wie keiner sonst. Neben veröffentlichen Telefonnummern und Bildern seines Hauses, musste man den Chef der GDL daher so in Szene rücken, dass er wie ein überheblicher, snobistischer Fiesling wirkte. Wie einer, der barfuß über Leichen steigt und es einen Verdauungsspaziergang nennt. Und aus diesem Grund lachen er und seine Mitstreiter fies im Gerichtssaal, weil sie »durchgekommen« sind. »Deutschland darf Einheit feiern - Weselsky gestattet es«, steht drüber.

Quelle: n-tv.de
Das Ebenbild eines feixenden Diktators, der großherzig einen kleinen Gnadenakt erlässt, hat viele Bilder gehabt in der vorletzten Woche. Mit der Arroganz einer Person auf Diskreditierungstour zu gehen, ist nicht besonders schwer. Wenn man den vermeintlichen Großkotz aber als jemanden vorstellt, der heiter in die Welt blickt, der schmunzelt oder gar lächelt, dann ist es fast ein Selbstläufer. Denn dann sieht die Person selbstgefällig, triumphierend aus, als ob sie sich ins Fäustchen lacht, um es sprichtwörtlich zu nehmen. Ein arroganter Typ widert einen an. Ein Snob, der fröhlich kokettiert, weckt das Gefühl, dass er einen verarschen will. Dass also bestimmte Medien Weselsky als lachenden Gewerkschafter abdruckten, das war kein Zufall. Sie wollten vermitteln, dass er ein gemeiner Mensch ist, der Freude an seiner Gemeinheit hat und auch noch damit durchkommt.

Quelle: Tagesspiegel
Und wenn er seine Gemeinheit nicht gerade genießt und das Land mit seiner fiesen Mimik verspottet, dann zeigt er stolz auf sein Werk. Auf die Anzeigetafel, die das Resultat seiner Abscheulichkeit notiert. »Schaut mal da, das war ich«, scheint er zu sagen, während unter dem Bild steht, »kein Erbarmen«. Das Bild und der dazugehörige Artikel ist schon drei Jahre alt. Schon damals las man: »GDL-Chef Weselsky nimmt eiskalt in Kauf, dass Millionen Fahrgäste nicht zur Arbeit kommen oder Fabriken der Nachschub ausgeht.« Schon damals wusste man, wie man das Bild eines gnadenlosen und eiskalten Gewerkschafters zeichnet. Schon damals kein offizielles Pressefoto, sondern ein Bild, das provokativ die niedersten Instinkte von Leser und Betrachter ansprechen soll.

Man muss Weselsky gar keine Hörner auf den Kopf setzen, so wie es »Der Postillon« tat, um ihn zu verteufeln und als Person zu charakterisieren, die man hassen sollte. Die, die ihn hassen, hassen vermutlich nur das Abbild, das man in den Medien sah. Das Konterfei, das fröhlich Zähne zeigt. Sie hassen wieder mal eine Kunstfigur, wieder mal einen Mann, den es so gar nicht gibt.

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Strippenzieher des sauberen Lebensgefühls

Montag, 17. November 2014

»Dass Gott eben Gott ist, des bin ich Ursache«, schrieb Meister Eckhart schon im Mittelalter. »Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht Gott.« Der Ursprung dessen, der über uns steht, ist immer der, der darunter ist und vor allem: seinen Status als »der, der darunter ist« akzeptiert. Manchmal habe ich mich schon ertappt, wie ich das Zitat auf all die Niedriglöhner beziehe, ohne die die »Leistungsträger« und »Eliten« nicht so wären, wie sie gerne wären. »Dass die Leistungsträger eben Leistungsträger sind, des sind die Niedriglöhner Ursache; wären sie nicht, so wären diese Eliten nicht Eliten.«

Nun ist natürlich »Leistungsträger« und »Eliten« recht hoch gegriffen. Es handelt sich ja auch meist nur um Leute aus der besser betuchten Mittelschicht, die vom Heer des Prekariats zehren. Auch sie treffen in ihrem täglichen Leben auf Menschen, die für niedrigen Lohn, mit wenigen Arbeitnehmerrechten oder in Scheinselbständigkeiten arbeiten. Der ganze Apparat würde zusammenbrechen, wenn es diese Armee an billiger Arbeitskraft nicht gäbe. Und damit soll nicht gesagt sein, es wäre vernünftig gewesen, dass seinerzeit ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Damit soll ausgedrückt werden, dass die Ursache für diesen mittelschichtigen Wohlstand - nach Art von »Geiz ist geil« und  »Unterm Strich, zähl ich« - diejenigen sind, die an diesem Wohlstand nur in Form von Gesinde teilnehmen dürfen.

Sie sind der Grund dafür, dass sich Deutschland einer »stabilen Wirtschaft« erfreut. Diese vermeintliche Stabilität ist nur durch die Instabilität der Prekarisierten gewährleistet. Man hat dafür gesorgt, das diese Arbeiterschaft am Tropf der Sozialhilfe hängt, die von der besitzenden Klasse immer wieder neu zur Diskussion gestellt und von der Mittelschicht als überflüssig und zu teuer empfunden wird. Darüber vergisst diese Mittelschicht, dass sie von dieser Sozialhilfe so abhängig ist, wie der Empfänger dieser Transferleistungen selbst. Denn wer verkauft ihr sonst die Brötchen? Wer bringt Pakete? Die, die an der Kasse sitzt, lebt sie etwa rein vom geringfügigen Gehalt ohne Zubrot? Einer muss doch dreimal die Woche im Landgasthof Schnitzel an Tische tragen. Und wer soll das für mickriges Geld machen, wenn nicht Leute, die nebenher noch vom Jobcenter aufstocken lassen?

Irgendwie haben sie es geschafft, dass sich dieser »Ursprung der Mittelschichtszufriedenheit und des sorglosen Lebens« schämt und versteckt, statt sich selbstbewusst wahrzunehmen. Ein solcher Umgang mit der eigenen Stellung kommt nicht vor. Obgleich sie das »Rundum-Sorglos-Paket« für Menschen mit guten Einkommen sind, wollen sie nicht auffallen, ziehen sich zurück und kommen als Faktor in der Arbeitsmarktpolitik so gut wie nicht vor. Falls doch, geht es aber nicht um wirkliche Verbesserung ihrer Situation, sondern um Makulatur. Man will schließlich denen, die man als Leistungsträger lobt, keine Sorgen bereiten. Auch morgen muss die Gouvernante noch erschwinglich, der Typ, der den ganzen erkauften Haushalt in Pakete an die Türe schleppt, noch billig genug sein, um »unsere Art zu leben« nicht zu gefährden.

Diese deutsche Sorglosigkeit ab dem oberen Segment der Mittelschicht weiter aufwärts, die wir heute erleben, erinnert fatal an die Selbstzufriedenheit der amerikanischen Gesellschaft in den Fünfzigern. Sie ist ein urbanes Vorortidyll ohne Veranda. Schon damals geschah dieser Wohlstand auf Kosten einer Schicht von Menschen, die für wenig Geld viel taten. Die jede Zumutung als Arbeit annahmen und sich aufrieben für eine fröhliche Schicht von guten Bürgern, die nicht mal ansatzweise Verständnis für die Nöte ihres »indirekt gehaltenen Gesindes« hatten. Bukowski berichtet unter anderem darüber. Céline und Fante ebenfalls auf ihre Art und in ihrer Zeit.

Einer wie Bukowski war der Macher des amerikanischen Traums. Auch wenn in der Beschreibung dieses Traums keine entstellten Gesichter wie seines zu sehen waren. Er und das »befreite Gesinde des freien Marktes« kamen in den Hochglanzprospekten des Wohlstandes nicht vor. Sie waren die Strippenzieher dieses sauberen Lebensgefühls mit weißem Kragen. Eine Gattung, die auch heute immer mehr im Kommen ist. Leute, die für wenig Geld viel machen, dreckig werden, Widrigkeiten auf sich nehmen, unternehmerisches Risiko auf ihre eigene Kappe privatisieren, arbeitend ins Elend abgleiten, während die feine Gesellschaft auf ihre Kosten frisst und ihre Kinder versorgen lässt. Sie pennen nicht mehr in der Treppenkammer, so wie damals bei seiner Lordschaft. Das ist der Fortschritt. Aber sie sind immer noch eine Schicht entrechteter, kleingehaltener, in ihrem Milieu gefangengehaltener Personen. Das ist der Stillstand.

Am Ende bröselte das Idyll und die Schicht derer, die das gute Leben genießen konnten, schmolz dahin. Tut sie auch heute in Deutschland schon. Noch leugnet man es gekonnt weg. Die Wachstumsprognosen klingen ja immer recht hübsch. Und wenn Experten sagen, dass das Wachstum nun doch nicht so anschwelle, wie man zunächst meinte, dann berichtet man davon einfach so gut wie nicht. Darauf kann man doch bauen. Schießlich wachsen wir als Wirtschaft, als Wohlstandsgesellschaft, als Prekariat. Stets zu Diensten ...

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Ein anderes Wort für Sabotage

Freitag, 14. November 2014

Fast täglich erfährt man, wie Menschen unter diesem Regulierungsterror, der sich Zeitmanagement nennt, leiden. Ich schrieb kürzlich darüber und nannte es »den Plan«. Im Kleinen, wie im Großen spielt er sich ab. Viele überspielen das. Merken es selber kaum. Sie schauen nur immer auf die Uhr. Gehen im Geiste schon den nächsten Termin durch und gelten alles in allem trotzdem als ausgeglichene Menschen. »Agenda-Menschen« nannte Friedhelm Hengsbach diese Leute mal. Sie leiden mal bewusst, mal unbewusst im täglichen Dickicht der Ereignisabfolge ebenso, wie in der gesamten Lebensverplanung. Kinder leiden unter dieser Planungswütigkeit besonders. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der AOK ist nur ein weiteres Indiz dafür.

Schon der Tagesablauf von Kindern soll heute im optimalen Falle Struktur haben. Weil alles getaktet sein soll, schicken viele Eltern ihre Kinder schon vorzeitig in die Schule, wehren sich gegen die Zurückstellung und ordnen ihre Kinder schon frühzeitig dem Ernst des Lebens unter. Sie haben sich eben ihre Vorstellungen gemacht und wollen jetzt nicht aus dem Plan geraten. Frühe Einschulungen, so sagt die oben genannte Studie aber, führen häufiger zur Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Nicht etwa, weil diese jungen Schüler wirklich eine »psychische Störung« mit diesem Namen hätten, sondern lediglich, weil sie noch zu verspielt sind, noch nicht schulreif. Eltern wie Schulen gehen auf den Spieltrieb nicht ein. Der Zeitplan ist straff, für Spielereien bleiben da keine Zeitressourcen. Konventionen verlangten zudem funktionierende Kinder. Für Kindereien sichert auch die Politik keine Räume. Kindliches Spiel ist schließlich Sabotage am Mehrwert, an der Wertschöpfung, an der Ökonomie. Also wirft man den Spielkindern Ritalin in den Schlund, damit es ohne Störungen planvoll weitergehen kann.

Aus meiner langjährigen Karriere als Vater eines schulpflichtigen Kindes weiß ich, dass es bei Elternabenden immer in erster Linie darum geht, die Kinder untergebracht und eingeplant zu wissen. Wie und wo ist zweitrangig. Wie zum Beispiel der Ablauf von Ganztagsklassen geschieht, ist weniger wichtig, als dass es zu einem solchen Ganztagsklassenangebot überhaupt erst kommt. Der Plan macht die Vorgaben, er diktiert den Eltern, dass sie nicht über Qualität zu sprechen haben, sondern nur darüber, dass es überhaupt zur Planungssicherheit kommt.

Bei einem Treffen der Klassenelternbeiräte musste ich mich zum Beispiel mal anfeinden lassen. Es ging um eine Abstimmung, die der Rektor vornehmen wollte. Wäre eine Mehrheit für eine Ausweitung der Ganztagsklassen entstanden, hätte er beim Kultusministerium Gelder beantragen können. Ich war der einzige, der nach seinen Vorstellungen gefragt hat. Ich wollte wissen, ob er beabsichtige, die nächste Stufe des Ausbaus des Ganztagsangebotes auch noch zu nehmen. Das hätte weitere Gelder bedeutet und einen durchgehenden Unterricht bis in den späten Nachmittag hinein. Freizeit- und Spielangebote wären in einem solchen Modell nicht mehr vorgesehen. Ich nervte ihn und die anderen Eltern sichtlich. Aber ich wollte es genau wissen. Sie aber wollten abstimmen, sich nicht weiter mit Informationen aufhalten. Und so gaben sie ihm seine Mehrheit, ohne auch nur etwas erfragt zu haben.

Als er mich nach getaner Abstimmung fragte, weshalb ich dem Vorhaben keine Ja-Stimme verlieh, legte ich ihm dar, dass das nicht meine Vorstellung von Kindheit sei. Wir reden ja nicht von kleinen Kindern, die man dauerüberwachen müsste, sondern von Teenagern, die auch mal Freiheit genießen sollten. Rausgehen, ein bisschen selbstbestimmt sein. Das hat Kindern vor einem Vierteljahrhundert auch nicht geschadet. Heute tun wir gerade so, als seien unbetreute Phasen einer Kindheit irgendwie eine Gefahr für die geistige und moralische Entwicklung. Er nickte und akzeptierte meine Einwände. Seine Mehrheit hatte er ja schon. Er konnte deswegen großzügig auftreten. Die Eltern keiften mich aber an. Sie wurden wütend. Gifteten. Sie konnten nicht akzeptieren, dass da einer etwas gegen die Verplanung von Kindern hatte.

Dass diese Leute natürlich auch unter Zugzwang litten, weil sie ihre Kinder untergebracht haben müssen, während sie ihrem Tagwerk nachgehen, kann ich rein von den Sachzwängen aus betrachtet ja nachvollziehen. Wobei da immer auch Hysterie dabei ist. Teenager können auch mal auf sich alleine gestellt sein. Dass sie aber einem, der ihren Zugzwang grundsätzlich hinterfragt und nicht für angebracht hält, als den Überbringer schlechter Nachrichten »lynchen« wollen, ist etwas anderes. Ich habe sie doch nicht in die Lage gebracht. Bin doch unschuldig. Wir alle haben es so weit kommen lassen; wir alle als beschleunigte und auch hysterische Gesellschaft.

Wann hat das eigentlich angefangen, dass man sich der Diktatur des Schemas und des Plans unterworfen hat? Das war doch nicht immer so, dass das alltägliche Leben nach einer Skizze gelebt wurde. Ganz zu schweigen von der Frage, ob es so besonders gut ist, lückenlos ausgebucht zu sein. Wo bleibt denn da Kreativität und Selbstbestimmung? Was für Kinder ziehen wir da heran, denen dieser Drang nach Auslauf genommen wird?

Ich finde es witzig, wenn mir Leute, die zur Verschwörungstheorie neigen sagen, dass es da einen großen Plan des Kapitals gäbe, die Menschheit an Fäden zu nehmen. Daran glaube ich nicht. Interessen sollte man nicht mit Plänen verwechseln. Der Plan ist eine ganz andere Sache. Er ist nicht Ausbeutung von oben, sondern die in Kauf genommene Selbstausbeutung der Ressource Mensch. Die Eile, das Kalkül, der Trott des Schemas.

Vielleicht ist das momentan nicht aufzuhalten. Der Zeitgeist ist so, kann sich aber wandeln. Meine Hoffnung ist daher, dass die Kinder, die in diesem Klima heranwachsen, sich als Erwachsene Gedanken machen werden über das Treiben der Alten. Und dann sagen sie »Halt!« und »Gemach!« und denken um. Warum sollte die Beschleunigung nicht auch wieder entschleunigt werden können, wenn es nur genug Menschen wollten? Und dann klagen sie gegen Ärzte, Eltern und eine Gesellschaft, die ihnen Ritalin verabreicht haben, wo sie einfach nur kindliche Freiheit gebraucht hätten. Wenn der Richter selbst so ein Kind war, stehen die Chancen nicht mal schlecht.

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Die Integration hat ihren Preis

Donnerstag, 13. November 2014

Die Debatten zur Integration bauen meist nur auf Vorurteilen. Man stellt sich Ausländer auf ganz bestimmte Weise vor und wälzt zum Beispiel die allgemeine Bildungsverdrossenheit auf sie als Gruppe ab. Wer solche Ressentiments verfestigt, erhält dann auch noch einen Integrationspreis.

Es lief mal wieder das Radio. Eine begeisterte Stimme erzählte mir, dass der diesjährige hessische Integrationspreis an einen Verein gehe, der junge Migranten mit einem hohen Bildungsabschluss in Schulen schicke, um Kinder mit Migrationshintergrund zum Lernen zu motivieren. Auf diese Weise würden die Migrantenkinder erfahren, dass sich Bildung lohne. Die Paten hätten schon manchen schweren Fall auf Kurs gebracht. Als positives Beispiel dafür, wie es in Deutschland als Ausländerkind laufen kann, wären sie glaubhaft und entwickelten schnell einen Draht zu den Kindern. 

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Aus fremder Feder

Mittwoch, 12. November 2014

»Sobald du geboren bist, machen Sie dich klein.
Sie lassen dir statt dessen keine Zeit,
bis der Schmerz so groß ist, dass du gar nichts mehr fühlst.
Ein Held der Arbeit – das sollte man sein.
Held der Arbeit soll man sein.
Sie verletzen dich zu Hause, in der Schule wirst du geschlagen.
Wenn du klug bist, hassen Sie dich, bist du ein Narr, wirst du verachtet.
So lange, bis du so verdammt verrückt bist, dass du ihren Regeln
sowieso nicht mehr folgen kannst.
Ein Held der Arbeit – das sollte man sein.
Held der Arbeit soll man sein.
Nachdem sie dich 20 seltsame Jahre gequält und verängstigt haben,
erwarten sie, dass du Karriere machst.
Aber du kannst nicht wirklich funktionieren, bist so voller Angst.
Ein Held der Arbeit - das sollte man sein.
Held der Arbeit soll man sein.
Bleibt nur auf Droge mit Religion, Sex und Fernsehen.
Ihr glaubt, ihr seid so klug, passt in keine Klasse und seid frei,
aber soweit ich sehen kann, seid ihr immer noch verdammte Bauern.
Ein Held der Arbeit – das sollte man sein.
Held der Arbeit soll man sein. 
Es gibt Platz da oben, das sagen sie immer noch.
Aber zuerst einmal musst du lernen, wie man beim Töten lächelt,
wenn du sein willst wie die Herrschaften dort auf dem Hügel.
Ein Held der Arbeit – das sollte man sein.
Held der Arbeit soll man sein.
Also, wenn du ein Held sein willst – folge einfach mir.
Folge einfach mir.«

- John Lennon, »Working Class Hero«, deutsche Übersetzung -

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Nicht der Streikende ist erpresserisch, sondern die Situation, in der er streikt

Dienstag, 11. November 2014

Als Anfang Oktober die Lokführer nachts streikten, da hieß es, dass die morgendlichen Nachwehen dieses Streiks all die braven Bürger treffe, die zur Arbeit wollten. Man sollte solche Mätzchen also nicht machen. Mitte Oktober streikten sie dann zwei Tage und alle riefen: »Muss das jetzt sein, wo doch der Urlaub beginnt? Die Leute haben sich doch so gefreut!« Danach kam es bekanntermaßen zu weiteren vier Tagen im Ausstand - die »wegen guter Führung« nach zwei Tagen endeten - und der Bahn-Vorstand gab sich empört, weil sich die Menschen so gefreut hätten, am Jahrestag des Mauerfalls zu feiern. Diese letzte Aussage gefiel mir besonders, denn sie war eine Erklärungsnot, die die Wortlosigkeit überwunden hatte und in voller Blüte des Schwachsinns über uns kam. Sie liest sich so hilflos, dass ich fast Mitleid mit dieser rhetorischen Null aus der Vorstandsetage bekommen habe.

Ab nächster Woche wäre es übrigens auch etwas ungünstig für einen Streik, denn die Leute wollen in die Großstädte pilgern. Sie freuen sich doch schon so un geheuer auf die Weihnachseinkäufe und die Sonderangebote, die man jetzt schon vorbereitet, indem man die Preise, die man senken will, zunächst mal erhöht. Und in drei Wochen ist es noch schlechter, denn da eröffnen die ersten Weihnachtsmärkte, auf die sich alle Glühweintrinker und Menschen so sehnsüchtig freuen. Es gibt immer noch einen Grund zur allgemeinen Freude, den man sich durch etwaige Spaßbremsen nicht vermiesen lassen will. Irgendwas fällt denen immer ein. Und wenn es der Kanzlerinnengeburtstag ist, auf den sich alle so mächtig freuten und den sie nun nicht standesgemäß in einem Waggon mit Blümchen in der Hand Richtung Berlin begehen können.

Wenn man diesen Streikgegnern so zuhört, dann stellt man sich regelrecht vor, wie die Lebensfreunde der Menschen verwelkt, weil da eine Handvoll Menschen nicht am Arbeitsplatz erscheint. Eine wirklich absonderliche Vorstellung. Zur Freude brauchen andere Völker ein Gläschen Wein, ein Stück Schinken oder das nackte Gegengeschlecht. In Deutschland reichen schon Lokführer aus, die ihre Arbeit tun. Ist das nun bescheiden oder selbstsüchtig?

Aber in all dem steckt mehr als nur Banalität. Diese Vertrösterei trägt in nuce das Freiheitsverständnis dieses neuen Liberalismus alter autoritärer Schule in sich. Man verbietet nichts, lässt jede Freiheit bestehen. Aber sie muss natürlich theoretisch verbleiben. Etwas fürs Papier zu sein. Weil jedoch ständig etwas dazwischenkommt, was zum Gebrauch von Freiheiten weist, verlangt man dann einen »verantwortungsvollen Umgang« mit ihr. »Seid doch vernünftig!«, rufen sie genau immer dann, wenn es ernst werden soll. »Verzichtet doch auf eure Freiheit, ihr lieben Leut'.« Im gewissen Sinne ist es eine Freiheit ganz im orwellianischen Sinne; eine, die man nur als Sklaverei und Unterordnung begreift. Sie ist ein paradiesisches Jenseits oder besser noch, eine göttliche Tugend, von der man hofft, dass sie bitteschön nie hinterfragt wird. Gott ist eine gute Idee, solange man ihn nicht hinterfragt. Mit der Freiheit in diesem System ist es nicht viel anders. Man lässt den Begriff und die Aussicht darauf über den Köpfen schweben. Denn das inspiriert. Macht Mut. Ist Zuspruch. Mehr aber auch schon nicht.

Wir haben in diesem System fast alle Freiheiten, wir sollen sie uns nur nicht (oder immer weniger) nehmen. Um das zu erlangen, erpresst man. Aber natürlich ist es keine Erpessung, sondern ein Hinweis auf alle Türen, die einem offenstehen.

Was, du hältst das hier für ein sittenwidriges Arbeitsverhältnis? - Dann geh doch! Geh doch! Du bist frei. Aber sei schön vernünftig und bedenke die Sperre, die dir das Amt aufbrummt.
   Sie wollen eine Story über Leiharbeiter in den Motorenwerken schreiben? - Gerne doch, wir haben Pressefreiheit, aber halten Sie doch mal inne und fragen sich, was geschieht, wenn die Motorenwerke als Kampagnenkunde abspringt. Nützt es Ihnen etwas, wenn Ihre Kollegen und dann auch Sie arbeitslos werden?
   Ob Sie sich die Haare färben dürfen? - Oh, Sie können sich jederzeit die Haare blau färben, Herr Linke ... aber hier arbeiten Sie dann leider nicht mehr!
   Mafiabosse klingen nicht viel anders. Sie legen den Arm und deine Schulter und haben Verständnis: »Junger Freund, du bist ein freier Mensch. Wenn es wider deiner Natur ist, den Ratschlägen zu folgen, die ich dir gebe, dann musst du tun, was du tun musst. Aber denke doch mal an deine Kinder.«

Das ist die neoliberale Matrix. Sie kennt nur eine abstrakte Freiheit, die immer gerade dann nicht genossen werden soll, wenn sie genossen werden will. Schon der alte Knochen Burke meinte, dass wahre Freiheit sei, wenn man sich der amtierenden Ordnung füge. Dieses Sachzwang-Vertrösten ist ja auch nichts anderes als eine besonders perfide Ordnung. Und der alte Knochen, der derzeit in Bellevue nächtigt, nennt denselben Schmarren »Freiheit in Verantwortung«. Was für ein Zufall. Oder auch nicht. Denn wie die Sache liegt, ist der Mann genau aus diesem Grund ins Amt kooptiert worden. Und man darf annehmen, dass auch er gegen den Streik ist. Vielleicht outet er sich ja noch. Sag du doch auch mal was dazu, Joe ...

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Als die Mauer fiel und die Geschichte endete

Montag, 10. November 2014

Ein Vierteljahrhundert ist der Fall der Mauer nun her. Grund genug für viele Medien, eine Rückschau zu halten. Das Jubiläum war aber nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Attitüden und Klischees, Ossi-Bashing und Wessi-Kür, von fukuyamascher Ende-der-Geschichte-Arroganz und eschatologischer Anbruch-einer-neuen-Welt-Rhetorik.

Die Gänsehaut war eine häufig benutzte Redensart dieser Tage. Viele hatten nämlich vor 25 Jahren eine. Natürlich, man konnte nur schwer kalt bleiben, als man die Bilder der Menschen sah, die aus ihrem Land strömten. Man freute sich für sie. Ganz sicher war das ein historischer Moment. Gänsehaut inklusive. Eine Rückschau aber fast nur mit Gänsehäuten zu gestalten, jeden befragten Zeitgenossen auf den damaligen Zustand seiner Epidermis zu reduzieren, ist dann doch etwas wenig. Aber der Mauerfall scheint im Rückblick keine historische Größe mehr zu sein, sondern ein emotionaler Zustand. »Wo waren Sie, als die Mauer fiel«, war die zu klärende Frage schlechthin. Gerade so, als könnte man aus dem individuellen Standort von befragten Nostalgikern irgendetwas Gehaltvolles ableiten. Die Emotion war der Hauptgegenstand des medialen Jubelfestes.

Doch die Inhalte, die das Jubiläum in den Medien gebar, waren aber nicht ausschließlich was fürs Herz. Man machte eindeutig, dass die Ostdeutschen nun die Ankunft in einem Status Quo erreicht hätten, der der beste aller bisherigen Status ist. Für sie sei endlich eine neue Welt angebrochen. Die Bevormundung endgültig überwunden. Sie hätten ihr Ziel erreicht. Also den Westen, die Bundesrepublik. Seien aufgenommen worden. Als ob die Zusammenführung der beiden Deutschländer unter westlicher Ägide immer schon das letzte Ziel gewesen sei. An dieser Sichtweise hält man so krampfhaft fest, dass es schon fast wie ein Glaubensbekenntnis wirkt. Insofern ist der Gebrauch des theologischen Begriffes »Eschatologie« durchaus berechtigt. Und was war denn Fukuyama anderes als ein eschatologischer Prophet des Kapitalismus, einer, der die endgültige Ankunft des Menschen am Ende seiner Geschichte postuliert hat?

Und genau dieser Fukuyama schimmerte dieser Tage überall durch. Wie das Ende des kommunistischen Blocks das Ende der Weltgeschichte markierte, so verklärt man retrospektiv die Ankunft des Ostens in der Bundesrepublik mit einem Ende der deutschen Geschichte. Jetzt gäbe es keine Kämpfe mehr, denn wir haben ja bekanntlich das beste Deutschland aller Zeiten erreicht. Wir müssten in diesem Land keine Zukunft mehr machen, wir sind schon in ihr angekommen. Klassenkampf ist daher unnötig geworden, denn am Ende der Geschichte gibt es ja nichts mehr zu sagen, zu streiten, zu verändern. Die Lokführer wissen das noch nicht. Sie werden es lernen. »Ostdeutsche, jammert nicht, ihr habt es doch geschafft. 25 Jahre nach dem Mauerfall geht es euch so gut wie nie.« Die Deutschen sind so glücklich wie nie. Haben Vertrauen wie nie. Die Regierung ist die beste aller Zeiten. Wenn das mal keine Erfolgsgeschichte ist.

Dass Westdeutschland und seine Weltanschauung der verdiente Sieger nach dem Mauerfall sind, ließen die Medien bei ihrer Rückschau allzu deutlich werden. Dass die Menschen im Osten etwaige andere Pläne hatten, weiß heute kaum noch jemand. Für die Klitterung zum Jubiläum hat es so auszusehen, als habe man die Ossis mit offenen Armen empfangen und sie wie Flüchtlinge aufgenommen. Als habe man sie langsam integriert und demokratiefest gemacht. Und als wollten sie genau diese Folgen, als haben sie im Osten damit angefangen, auf die Straßen zu gehen, um im Westen anzukommen. Wo gedenkt man derer, die ihren Staat auf reformierte Weise erhalten wollten? Wo denen, die eine Konföderation anstrebten? Warum gibt man nicht Grass das Wort, der Tagebuch über die damaligen Ereignisse führte und als damaliger Zeitgenosse längst nicht so überzeugt, so selbstsicher und optimistisch war?

Aber das hieße natürlich auch, einen anderen Blick auf die Ostdeutschen zu werfen. In den Rückblicken waren sie nur als Klischee vorhanden. Entweder so blöde wie die Volkspolizisten im ARD-Film »Bornholmer Straße« oder zu Rebellen mutierte Dummköpfe, die endlich für ihre Freiheit aufstanden. Über die Lebensleistungen der Menschen jenes Staates, der vor einem Vierteljahrhundert den Anfang seines Endes nahm, verloren sie kein Wort. Wieder mal nicht. Auch die DDR hatte unter viel schlechteren Vorzeichen einen Krieg zu verdauen. War das keine Leistung? Zumal die geographischen Nachteile nicht unbeträchtlich waren? Monika Maron fragte sich in einem Essay, warum die Westdeutschen ihr »eigenes Wohlergehen nur noch als eine gerechte Folge ihrer ehrlichen Arbeit ansahen, nicht aber auch als einen geographischen Glücksfall. Läge Schwaben an der Oder, läge Leipzig am Rhein« wäre alles anders gelaufen. Sähe Deutschlands Karte so aus, hätte es 1989 vielleicht Demonstrationen nicht in Leipzig, sondern in Stuttgart gegeben.

Die geschichtliche Verarbeitung des Mauerfalls, die die Medien da betrieben, war ein klassischer Fall von Geschichte, die der Gewinner nicht nur schreibt, sondern auch zu seinen Gunsten ausnutzt. Der Kapitalismus, wie er heute ist, sei nach dieser Lesart das Ziel aller Träume gewesen. So und nicht anders wollten es die Menschen damals haben. Und man erzählte von damals und ließ durchscheinen, dass man mit dem Zustand der jetzigen Republik kein Problem habe. Nur vielleicht mit der Linkspartei und einem Ministerpräsidenten in Wartestellung, der zwar aus dem Westen kommt, aber auch aus dem SED-Sumpf stammen könnte. Die soziale Schieflage, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, der deutlich wachsende Atlantizismus und die Kriegsbereitschaft, alles kein Problem. Denn früher war alles noch viel schlimmer für die Deutschen. Jetzt aber ist alles stimmig. Es geht voran ... rückwärts nimmer.

Es war ein bisschen so, als habe der Westen seinen Triumph über den Osten gefeiert. Der Kolonialherr die Annexion glorifiziert. Dem Osten wurde man nicht gerecht. Er kommt in solchen Rückschauen nur als ein Entwicklungsland vor, das dankbar sein sollte, Anschluss gefunden zu haben. Die Ostdeutschen mögen zwar als Helden gefeiert werden in der Stunde des Jubiläums, aber zum Heldentum gehört ja bekanntlich kein Intellekt. Mut alleine reicht. Obgleich Helden, sind sie als Witzfiguren angelegt, als Menschen, die ein falsches Leben führten, alle ihre Alltagsziele in einem heute ungültigen Parallelkosmos erreichten und daher für die heutigen Beobachter wie tragische Figuren wirken, die ein großes Leben im Nichts führten. Die viel größeren Helden sind deswegen nämlich die Westdeutschen, die ihre Brüder und Schwestern erlöst haben aus ihrem Elend, aus ihrer unwirklichen Spielzeugwelt.

Man wirft den Ostdeutschen auch deswegen oft vor, dass sie ostalgisch befangen wären. Aber was waren die letzten Tage anderes als Westalgie? Die gegenteilige Verklärungspraxis dessen, was mancher Ostdeutsche auf seine Art betreibt? Ostalgie ist nur noch eine Sehnsucht, ein menschlicher Reflex, gerade wenn man gesagt bekommt, dass die eigene Vergangenheit nichts gegolten hat. Westalgie ist mehr als das. Sie ist keine Sehnsucht mehr, sondern Geltungssucht und Großmannssucht. Eine wirkliche Gefahr. Denn wer mit dem Nebel dieser Ideologie erklärt, dass die Geschichte ein Ende gefunden habe, der versucht den Menschen einzuflüstern, dass es keine fortschrittlichen Dynamiken mehr gibt. Der sagt ihnen auch, dass sie stillhalten können, weil sich bereits alles zum Besten gefügt hat.

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Biermann und das Lachen

Samstag, 8. November 2014

Richy und ich lauschten einem Radiobericht zu Biermanns Auftritt im Bundestag. 
   »Der Biermann, ganz der alte Pathetiker und Dramaturg, wie man ihn kennt. Mir kommt gleich der Kaffee aus der Nase«, sagte ich meinem Kollegen.
   Er lachte herzlich mit und fragte mich: »War der nicht mal selbst Sozialist?«
   Ich nickte und Richy sagte: »So ein Heuchler. Wendegewinner, was?«
   In letzter Zeit reden wir in diesem Land ja viel von Konvertiten, die angeblich die schlimmsten Hardliner seien. Zum Islam Konvertierte ebenso wie zur Nichtraucherei Gekommene. Und der Renegat, den die SED damals nicht aufnehmen wollte, obwohl er scharf auf eine Mitgliedschaft war, ist da auch nicht besser. Der Seitenwechsel gebiert immer Scheuklappen.
   »Der ist ja wie meine Alte«, sagte Richy nach einer Weile, »seitdem sie nicht mehr qualmt, hält sie alle Raucher für Verbrecher.«
   Wir lachten wieder.

Wir kamen gar nicht mehr raus aus dem Lachen. Der Bericht war vorbei, aber für uns noch nicht. Die Heuchelei und das Anbiedern des Barden empörte uns nicht etwa. Wir fanden es peinlich, so dermaßen zum Fremdschämen, dass wir nur noch lachen konnten.
   Fast unisono stellten wir fest, dass Biermann ohne die »Drachenbrut« gar nicht im Bundestag zugegen gewesen wäre. Nur weil die SED so kleinkariert war, ihn aus diesem »besseren deutschen Staat« (sein O-Ton damals) zu werfen, wurde er ein bekanntes Gesicht für die breite Öffentlichkeit. Wer war denn dieser Biermann vorher schon? Ein Musikus, der im Westen ein kleines Publikum hatte. Wer Poesie und Pathos mochte, der kannte den späteren SED-Nachfolgekünstler schon vor seiner Ausweisung.
    »Kanntest du den etwa schon vorher, Richy?«
   »Nee, erst nachdem er nicht mehr rüber durfte. Plötzlich hatten die im Westen einen neuen Star.«
   Hochpopulär war er also davor nicht. Ein breites Publikum lernte ihn erst kenne, als er zu dem Mann wurde, den die SED nicht mehr bei sich haben mochte. Hätten ihn diese Windbeutel damals nicht vor ihren Schutzwall geschmissen, heute wüsste keine Sau mehr, wer er war. Im Bundestag wäre zur Feierstunde stattdessen Ralph Giordano als DDR-Kritiker von drüben aufgetreten und hätte gleich noch erwartungsgemäß ein bisschen gegen die Moslems in diesem Lande gehetzt. Insofern ganz gut, dass er da war. Das Politbüro hat weise entschieden.
   »Was wäre aus dem wohl ohne die SED geworden?«, fragte Richy.
   »Vielleicht Straßenmusikant. Oder ein richtig guter Musiker.«
   Richy wieherte. Aber ich meinte das ausnahmsweise mal ernst. Denn durch die Ausweisung machte er sein Schicksal zu einem Kunstprodukt und eben nicht mehr Kunst. Fortan reichte es, dass er der Biermann war, der von der Diktatur hinausgeworfen wurde. Was er konnte, war zweitrangig.

»Die jungen Leute von der Linkspartei im Parlament werden sich fragen, wer der alte Onkel ist«, spöttelte Richy.
    Wir lachten, als wir uns die ratlosen Gesichter vorstellten.
   »Hey Gregor, wer isn der Zausel«, sagte ich mit verstellter Stimme. Und ich ließ Gregor antworten: »Ick gloob, der is von die Puhdys.«   
   Der Musikus war in Wahrheit ein politischer Luftikus, bis ihm die Heimat entzogen wurde. Er sagte nicht immer Amen zu allem, das stimmt schon. Aber so richtig im Widerstand gegen das System war er nicht. Er wollte ja bleiben und mitwirken, SED-Mitglied werden und musizieren. Der Rauswurf wurde zu dem Moment, da aus dem Künstler einer wurde, der ja schon immer volle Kraft dagegen war.
   Ich habe vor einiger Zeit was zu Chodorkowski geschrieben. Das fiel mir nun wieder ein. Den haben sie auch zu einem Oppositionellen aufgebaut, weil er zufällig, wie einst Chaplin in »Moderne Zeiten«, zu einem Fähnchen gekommen war und mit einem Anführer verwechselt wurde. Der Biermann ist letztlich auch nur so ein durch chaplinesken Zufall begünstigter Glücksfall. Die kleinen Tramps aus dem Politbüro machten aus ihm das, was er heute zu sein vorgibt.
   »Die jungen Linken werden gedacht haben, dass das Gaucks Stellvertreter ist«, sagte Richy nach einer Weile.
   »Mit Klampfe?«
   Wir kriegten uns nicht mehr ein.

Und dann noch diese schnodderige Antwort von ihm. Die war echt ne Nummer. Eine Wahl sei doch »kein Gottesurteil«, sagte er.
   »Den Wählern der Linken vorwerfen, sie wüssten nicht wie Demokratie geht, das können die«, sagte Richy, »aber selber ein Problem damit haben.«
   »Oh, gewagte Aussage für einen, der Union wählt.«
Richy zeigte mir den Stinkefinger.
   Gottesurteil ist eine etwas unglückliche Wortwahl. Aber in einer Demokratie ist die Wahl schon so etwas in der Art. Wie die alten kommunistischen Kader, die Die Linke in Thüringen und überall sonst in die Landtage und den Bundestag wählen, und sein Bundespräsident, hat Biermann dieses demokratische Grundelement wahrscheinlich immer noch nicht begriffen.
   »Kennst du das Paradoxon von Epimenides«, fragte ich meinen Kollegen, »das mit den Kretern, die alle lügen?«
    Er schüttelte den Kopf und winkte ab. Ich sagte ihm, dass das nicht so wichtig sei.
    Wenn alle demokratisch Ahnungslosen die Linkspartei wählten, dachte ich mir nur, dann ist Biermann wohl auch einer ihrer Wähler. Oder die Wähler sind eben nicht ahnungslos und damit Demokraten.

»Stell dir vor, ich hätte heute vor dem Bundestag gesprochen und hätte den Abgeordneten der Union vorgeworfen, seinerzeit auch ordentlich Stimmung gegen Dutschke gemacht zu haben«, habe ich mit Richy dann noch fabuliert.
   Er hat laut gelacht.
   »Warum habt ihr Hitler zugelassen?«, rief er mit lang gedehnter Stimme, als halte er eine Ansprache in Richtung Unionsblock.
   Wir stellten uns vor, wie die Abgeordneten sich angeschaut und den Kopf gekratzt hätten. Wie sie mich verspottet hätten, weil ich mich mit meiner Ansprache zeitlich ein wenig vertan habe. Wer zu spät kommt, den bestraft vielleicht nicht unbedingt das Leben. Manchmal folgt nur Hohngelächter. Aber das straft auch.

Und dann haben wir noch einmal gelacht. Über die Abgeordneten von Die Linke, weil die so wenig gelacht haben über diesen Bajazzo, der ihnen Dinge vorwarf, mit denen kaum einer von ihnen etwas zu tun hatte. Mensch, sagten wir, sind das wieder mal verbiesterte Leute. Deswegen sage ich euch im Vertrauen, Genossen: Man sollte lachen, wenn einem der Hofnarr des Systems begegnet. Empörung ist in so einen Fall in etwa so lächerlich, wie der Lächerliche selbst. Danke Wolf, für den amüsanten Vormittag. Nur singen hättest du nicht müssen. Das war ja nicht zum Aushalten.

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... auf ins letzte Gefecht?

Freitag, 7. November 2014

oder Es soll dem letzten Rest klassenkämpferischer Identität an den Kragen gehen.

Beim Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer geht es mittlerweile um mehr, als nur um höhere Löhne und die Festigung der eigenen Gewerkschaft. Das Schicksal des gewerkschaftlichen Grundgedankens hängt mittlerweile an diesem Streik. Es geht um nicht weniger als um die Vorstellung davon, wie sich Lohnabhängige organisieren und gegen schlechte Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen dürfen und wie nicht. Es sind aktuell ja bezeichnenderweise auch nicht die Lohnforderungen, die man der GDL vorwirft, sondern der Umstand, dass sie sich das Recht herausnimmt, selbstbestimmt für ihre Auffassung aufzutreten.

Wenn man den Stimmen aus der Wirtschaft und der Politik so lauscht, dann könnte man glauben, dass man jetzt endgültig bereit ist, dieses »letzte Gefecht« mit einer aufmüpfigen Gewerkschaft anzugehen. Natürlich soll es Gewerkschaften auch weiterhin geben, sagen uns die Streikgegner. Aber sie meinen damit natürlich: »Streikrecht ja, aber unter unseren Prämissen, die das Streikrecht ad absurdum führen.« Gewerkschaften sollen handzahm und harmlos sein. Ergeben und widerstandslos. Keine Opposition, eher schon ein Partner der Regierung, der Konzerne und des herrschenden Austeritätssystems. Es klingt ein wenig so, als flüsterten die Gewerkschaftszersetzer der Deutschen Bahn jetzt ein, dieses »letzte Gefecht« für sie alle auszutragen. Wenn sich die Bahn stur zeige, jeden Streik ignoriere, auf Frau Nahles baue und munter die Lokführer kriminalisiere, dann breche man der »Tyrannei von Arbeitnehmervertretungen« hoffentlich endgültig das Genick.

Das erinnert alles an eine unblutige Version des Miners' Strike von 1984/85. Damals beabsichtigte die britische Regierung Zechen zu schließen und damit ganze Regionen ökonomisch verwaisen zu lassen. Die Bergleute, von jeher gut gewerkschaftlich organisiert, kämpften dagegen an und wurden von Regierung und den Medien als Quertreiber bezeichnet, die eine klammheimliche Freude am Streik und am Stören der öffentlichen Ruhe hätten. Es ging für die Thatcher-Regierung von Anfang an nur zweitrangig darum, die eigenen Pläne durchzusetzen. Erstrangig fokussierte man die Schlacht gegen die Gewerkschaftsbewegung als solche. Ihr das Rückgrat zu brechen, sah die Regierung als ersten Schritt zur sozialen Umgestaltung des Landes an. Wer gegen die Bergarbeiter standhaft blieb, der würde die gesamte Bewegung nachhaltig beeinflussen können und schwächen. Dazu erfand sich die Regierung ein Szenario: Sie dramatisierte sich ein Großbritannien herbei, das quasi in Geiselhaft von allmächtigen Gewerkschaften gehalten würde. Eine maßlose Übertreibung. Die Regierung versprach selbstverständlich Abhilfe, sie würde sich dieses sozialistischen Problems annehmen und wieder Vernunft einkehren lassen. Propaganda und Polizei zerrieben dann nach und nach die Streikmoral. Von Beginn an war klar, dass man den Bergleuten die Schuld für die Auseinandersetzung geben musste.

Owen Jones schreibt, dass »das Schicksal der Arbeiterbewegung [...] an dem Streik« hing. »Von der Niederlage hat sie sich nie erholt.« Befürworter und Gegner des Streiks seien sich bis heute einig, dass »die Gewerkschaften diese Lektion nicht vergessen werden.« Der britische Journalist Simon Heffer merkt an: »Für viele Linke ist der Bergarbeiterstreik weiterhin ein Alptraum. Jede große Arbeiterorganisation weiß jetzt, dass man sich mit der Regierung auf eigene Gefahr anlegt.« Kein Wunder, denn die Regierung hat damals Gesetze erlassen, die es erlaubten, aufmüpfige Gewerkschaften zu enteignen. Noch heute ängstigten sich Gewerkschaften deshalb Streiks anzusetzen. Gewerkschaftsfunktionäre behaupten bis heute, dass Niedergeschlagenheit und Defätismus das Erbe jenes Ereignisses seien. Wahrscheinlich war es das letzte Gefecht der Arbeiterklasse auf der Insel. Owen: »Am Vorabend von Thatchers Kreuzzug war die Hälfte der Arbeiterschaft gewerkschaftlich organisiert. 1995 war es nur noch ein Drittel.« Fortan galt es in Großbritannien als schmuddelig, mit der »alten Arbeiteridentität« selbstbewusst hausieren zu gehen.

Um diese Zerstörung des gewerkschaftlichen Selbstbewusstseins geht es auch jetzt im Augenblick in der Bundesrepublik. Die Massenorganisationen haben sie bereits erlegt. Es gibt sie zwar noch, aber sie sind domestiziert. Als man die Mär vom Gewerkschaftsstaat in die Welt setzte, zog man sich verdattert zurück und machte seinen Frieden mit einer Wirtschaftspolitik, die den Reichen diente und die Armut forcierte. Der Deutsche Gewerkschaftsbund gibt sich seit Jahren so staatstragend, dass er nicht mal beim größten Sozialabbau der bundesdeutschen Geschichte aufmuckte. Einige kleine Spartengewerkschaften haben sich ihr Selbstbewusstsein allerdings bewahrt. Und das möchte man nun dringend unterbinden. Dazu wird dieselbe alte Leier bemüht wie zu Zeiten Thatchers. Die, von einer Öffentlichkeit, die von einer Minderheit in Haft gehalten wird. Und man verabschiedet durch die Hintertüre Verbote und enteignet kleine Gewerkschaften, raubt ihnen die rechtlichen Mittel, um für die Interessen ihrer Mitglieder einzustehen. Die Arbeiterbewegung mag zwar schon hinüber sein in diesem Land, aber diese letzten Reflexe des Klassenkampfes, die aus der GDL züngeln, die will man jetzt auch unter Kontrolle bringen. Wenn das mit aller Härte durch die Indoktrinierung der öffentlichen Meinung gelingt, hat man ein schönes Exempel statuiert.

Deshalb ist jedes Mittel recht. Auch die Hetzkampagne gegen die GDL und ihren Vorsitzenden. Die geht nicht mal mehr unter die Gürtellinie, sondern schlägt völlig ungeniert ins Gesicht eines jeden rechtsstaatlich gebildeten Menschen. Aber im Krieg ist ja alles erlaubt, nicht wahr. Einen Mob mit Fotos vom Wohnsitz von Verantwortlichen anzufüttern und ihn zum Telefonterror aufzurufen, ist nicht einfach nur ein journalistischer Fehlgriff. Hier streift man mindestens den Straftatbestand der Volksverhetzung. Kann schon sein, dass einer auf Dutschke schoss, nachdem das Revolverblatt fragte »Wer stoppt den roten Rudi?« Aber der Zweck heiligt mittlerweile wohl alle Mittel.

Doch das sind, wenn man es mal ohne falsche Sensibilität sagt, tatsächlich Nazi-Methoden. Und wie es der Zufall so will, war auch denen damals die Zerschlagung der freien Gewerkschaften wichtiger, als das Ende der Demokratie. Oder anders gesagt: Freie und selbstbewusste Gewerkschaften waren für sie ein Sinnbild intakter demokratischer Gesinnung. Und das widerte sie ja bekanntlich an. Aber das führt an dieser Stelle etwas zu weit.

Nur so viel: Gewerkschaften, die man an die Leine nimmt, sind bestimmt kein Ausdruck von Vernunft, wie man das zuweilen jetzt in der Zeitung lesen kann. Es ist Demokratieabbau der drastischsten Sorte. Denn wer Menschen die Chance nimmt, mit einem Akt der Verweigerung von Arbeitsleistung für ihre Interessen einzustehen, der hält sie gefangen, der macht ihren Arbeitsalltag zu einem Knast, aus dem es kein Entrinnen gibt. Und nun sage keiner, dass das Gesetz zur Unterordnung kleiner Gewerkschaften ja immer noch den großen Gewerkschaften die Chance erhalte, in einen Streik zu lotsen. Dieses Streikmonopol ist doch tot, eine große arbeitskämpferische Mobilmachung hat es seit Jahren nicht mehr gegeben. Bei denen herrscht bloß noch Eiapopeia und man plappert die positiven Wasserstandsmeldungen der Regierung unkritisch nach und klopft sich auf die Schulter.

Die GDL tritt jetzt nicht mehr nur gegen die Deutsche Bahn (und damit dem Bund) an, sondern auch gegen die Regierung und ihre Gewerkschaftspläne; gegen eine Öffentlichkeit, der man suggeriert, dass Streik etwas Verwerfliches sei, was in ein anderes Jahrhundert gehöre, nicht aber in eine fortschrittliche Zeit. Es geht um so viel mehr. Ja, es geht um alles. Um das Selbstwertgefühl der Arbeitnehmer, um ihre Würde und ihre Selbstbestimmung. Man ahnt, dass es den neoliberalen Gegnern des Streiks nur darum geht, diese Angelegenheit zum letzten Gefecht aufrechter und souveräner Arbeitnehmervertretungen werden zu lassen. Danach soll endlich und endgültig Ruhe sein. Wie einst auf der Insel, als nach dem Miners' Strike nichts mehr nennenswert Gewerkschaftliches kam. Wir sehen dabei zu, wie sie unter dem Applaus anderer Gewerkschaften ihre neue Ordnung fixieren.

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