Nomen non est omen

Donnerstag, 28. Februar 2013

Heute: professionell

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack.
"Ein Dutzend anderer Zeugen, die anonym bleiben wollten, berichteten ebenfalls über professionell organisiertes Doping im Team zwischen 1996 bis 2012."
- Spiegel Online vom 19. Januar 2013 -
Das Adjektiv "professionell" ist positiv aufgeladen und leitet sich vom Nomen "Profi" ab. Als professionell bzw. Profi bezeichnet man "jemand, der im Gegensatz zum Amateur oder Dilettanten eine Tätigkeit beruflich oder zum Erwerb des eigenen Lebensunterhalts als Erwerbstätigkeit ausübt." (wikipedia)

Ähnlich wie das Schlagwort "Experte" werden mit "Profi" Menschen gekürt, die vermeintlich herausragende Leistungen und/oder Qualitäten aufweisen. Während der Experte mit vermeintlichem Fachwissen glänzt, sei ein Profi jemand, der sein Handwerk verstehe — ein Fachmann, der anpacke, statt nur zu reden. Beide Begriffe haben eine Disziplinierungsfunktion. Sie inszenieren, konstruieren und stabilisieren real existierende soziale und berufliche Hierarchieverhältnisse.

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Noch ist die freie Wahl ein Menschenrecht

"... Das ist schon die allerletzte Etappe. Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung..."
- Stéphane Hessel, Empört Euch! -

Demokratische Wahlen werden seit geraumer Zeit über den Aktienindex ausgewertet. Die ganzen Hampel, die Sitze ausrechnen und Prozentpunkte in Balkendiagramme umschreiben, die Kuchenschnitten farblich drapieren und Gewinner und Verlierer auswerten und die Wahlbeteiligung nennen, sind nicht mehr der statistische Abschluss einer Wahl, sie sind nur Vorboten für die wirklichen Sitzverteilungen, die sich "auf den Märkten" austarieren.

Es scheint zunehmend so, dass die Eliten und ihre Lohnschreiber ein gravierendes Problem mit freien Wahlen haben. Sie sind ja auch unkalkulierbarer Faktor, sind aufrührerischer Impuls an den Märkten und das in Zeiten, da Aufruhr nicht zu gebrauchen ist. Nichts zeigt so sehr den Niedergang der Demokratie, wie dieses Schielen der Eliten und ihrer in Auftrag gegebenen Kommentarspalter und Kolumnisten auf Wahlresultate, um sie dann mit den Reaktionen an der Börse zu koppeln.

Bei aller Ratlosigkeit, die der wütende Spaßguerilla Grillo zurückläßt; bei allem Widerwillen, den die geliftete Korruption namens Berlusconi erzielt; bei aller Abneigung gegenüber dem Lakai des Technokraten Bersani - alle haben sie etwas, was Monti nie hatte: Eine durch den Souverän erhaltene Legitimation.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist unter Artikel 21 zu lesen: "Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen." Stéphane Hessel wirkte bei der Erarbeitung dieser Erklärung als Mitautor mit.

Die Marktkonformen, die Finanzkapitalisten geben auch eine Erklärung ab, wenn sie sorgenvoll die Aktienkurse erörtern, die Kodizes studieren und die Entscheidung der Wähler in jenen Ländern, in denen man durch Spardiktate Krisenverschärfung betreibt, für einen irrationalen und dummen Akt deklarieren. Sie erklären: Freie demokratische Wahlen sind lästig, können in einer Phase der Krisis verschlimmern und Prozesse aufhalten, können als Unmutskundgebung Wirkungen mit sich bringen, die man in solchen Zeiten nicht haben will. Wie die Römische Republik in Zeiten des Krieges die vorübergehende Akzeptanz eines Diktators und Alleinherrschers kannte, so gab es auch heute schon zögerliche Stimmen, die meinten, man müsse den demokratischen Prozess der Wahl auf Eis legen, um Kontinuität zu ermöglichen. Denn in schwierigen Zeiten bedarf es einer starken Hand und der Planbarkeit.

Was für ein Gleichnis! Einer der letzten Bastler an der Erklärung der Menschenrechte, in der "regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen" thematisiert werden, stirbt just in jenem Augenblick, da eine weitere nationale Wahl für problematisch erklärt wird, da man ein weiteres Votum für suspekt ernennt. Der Mann hatte fast ein Jahrhundert voll gemacht, das ist kein Gleichnis, sondern natürliche Gesetzmäßigkeit, werden manche einwenden. Stimmt auch wieder. Aber der Tod Hessels und der sukzessive roher werdende Umgang mit Demokratie und Menschenrechten, zwei zentrale Themen in Hessels Leben, der nun nach der Wahl in Italien wieder aufbricht, macht deutlich: Das sind keine getrennten Themenblöcke, keine zwei isolierten News, sondern eine Botschaft. Ein Pessimist könnte nun sagen: Hessel steht für das alte Europa, für ein striktes Bekenntnis zu humanistischen Idealen - und dieses alte Europa ist mit Hessel gestorben. Was bleibt sind die Jeremiaden der Marktkonformen, was bleibt ist dieses neue Europa.

Hessel, der Empörer, der den Widerstand aus der Empörung destillierte, mag nun tot sein. Sein Imperativ hoffentlich nicht. Empört Euch! Er wollte eine Empörungswelle gegen den Finanzkapitalismus nicht anführen. Sein Alter war ihm bewusst, er leitete sein Pamphlet ja mit der anfangs zitierten Passage ein. Teilhaben lassen an seiner Erfahrung hatte er sich als Ziel gesetzt. Sein Büchlein war ein Erfolg. Und sein Imperativ? Wird der bestehen? Oder wird Empörung auch so eine heute belächelte Überspanntheit eines Europas sein, das es nicht mehr gibt? Eines Europas, das sich Kriegen bewusst war, weil es zweimal als Schlachtfeld gebeutelt ward; weil es Blutbäder und Völkermorde kannte; weil es die Auswirkungen einer auf Sparsamkeit bedachten Klientelpolitik am eigenen Leib erfuhr.

Es ist zu befürchten, dass dieses alte, dieses liberale Europa mit Hessel verstorben ist. Was zählt schon der Humanismus in einem Organismus, der mit Menschen nichts mehr zu tun hat, dafür nur noch mit Kursen, mit Graphen nach oben oder unten und Tendenzen?



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Die Geschichte des Seitenwechsels

Mittwoch, 27. Februar 2013

Quelle: Rotbuch
Wenn nun dieser Tage Joseph Ratzinger seinen Pileolus an den Nagel hängt, dann verlässt einer die Bühne, die er innerkirchlich als reformfreudiger junger Mann betreten hatte. Im Fahrwasser des Vaticanum II sprach er sich für eine transparente Kurie aus und stand der Öffnung des Katholizismus, wie es dem damaligen Papst Johannes XXIII. vorschwebte, recht aufgeschlossen gegenüber. Mit Abgabe des Fischerrings geht schließlich ein Ratzinger ab, der von seiner damaligen Offenheit nichts mehr an sich hatte, teils reaktionär und teils einfach nur verstockt an der Starrheit seiner Kirche festhielt.

Leute, die Positionen aufgeben, um das glatte Gegenteil zu verkündigen, gibt es in jeder Haltung, in jeder Weltanschauung. Vielleicht aber hat keine so viele Abweichler erdulden müssen wie die politische Linke. Heute zumal. Marco Carini hat ein Buch über diese Renegaten geschrieben. Die Achse der Abtrünnigen: Über den Bruch mit der Linken hat er es genannt.

Carini spannt darin einen weiten Bogen. Das Renegatentum hatte zu jeder Zeit andere Motive und zeitigte letztlich auch immer andere Folgen. Er beginnt mit den ersten Abweichlern, die sich dank Stalin und etwas später aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes abwandten und kommt dann zu den Abtrünnigen im Dickicht des Kalten Krieges, schwenkt sodann auf die Wechsel innerhalb der deutsch-deutschen Beziehung hinüber, um danach einige aktuelle Zeitgenossen abzuhandeln. Grüße an Broder und Fleischhauer. Zuletzt handelt er allerlei Thesen der Linken und Gegenthesen der Renegaten ab.

Schrecklich unaufgeregt und neutral wittert Carini den Folgen der Abweichung nach - und er beschreibt, wie die Renegaten selbst mit ihrem Überlaufen umgingen. Für manche war der Sozialismus zu einen Gesellschaftsentwurf geworden, den man ausrotten sollte - andere glaubten, dass mit dem Stalinismus die eigentliche Idee derart pervertiert wurde, dass eine Reform grundlegend nötig wäre oder aber gar nicht mehr denkbar. Sie nannten sich weiterhin Sozialisten, auch wenn sie nicht mehr im Sozialismus lebten, sondern rübermachten. Insofern wurden sie zu ungeliebten Mitbürgern hüben wie drüben, zu Grenzgängern zwischen den Ideologien.

Die Renegatenliteratur ist ein breites Spektrum. Es reicht von Bekenntnissen und Erweckungsrufen, die einem Augustinus alle Ehre machen, von Eingeständnissen der Verfehlung und der Einsicht, nun endlich wieder klar zu sehen, bis hin zur gnadenlosen Abrechnung mit jenem Dschugaschwili, der den real existierenden Sozialismus mit Arbeitslagern und Säuberungen ausstattete und ins Verbrechen und damit ins Absurde rutschen ließ. Die Thesen der Renegaten wurden immer auch von denen aufgegriffen, die Interesse daran hatten, ihre Ablehnung für die politische Linke von solchen untermauern zu lassen, die Einblicke in diese Linke hatten, von jenen Abtrünnigen eben. Dem deutschen Faschismus dienten die Anti-Stalinisten als Beleg für die Rückständigkeit der Moskowiter Steppenmenschen; für die Kalten Krieger des Westens waren sie der Beleg dafür, grundlegend unfehlbar zu sein - die Bundesrepublik lauschte den Berichten der Enttäuschten Ostdeutschlands mit Wonne. Und die heutigen Ex-Linken, die meist nicht mehr als reine Befindlichkeitskonservative sind, ohne irgendeinen Stalinismus je erlebt zu haben, der ihre Abneigung nach Links erklärbar und nachvollziehbar machen könnte, werden als Prediger des Neokonservatismus und Neoliberalismus rekrutiert.

Carini liefert Biographien verschiedenster Renegaten. Die einen sind Überläufer - Röhl beispielsweise. Die anderen nicht so richtig - Havemann. Die einen sind sofort gegen das, wofür sie unmittelbar vorher noch waren - Giordano zum Beispiel. Andere brauchen länger für diesen Wandel - Biermann. Manche wandeln sich nie, sondern fühlen sich als die richtigen Sozialisten, die den falschen Sozialisten nun aus der Ferne die Leviten lesen - so wie Heym. Manche eigneten sich blendend, um gegen die politische Linke in Stellung gebracht zu werden - Buber-Neumann sei hier genannt. Und andere werden auch von den Linkenhassern nicht verehrt, als sie zum Renegaten wurden - Bahro.

Es ist ein kurzweiliger und informativer Streifzug durch die Geschichte der Abweichler, die ja eben nicht alle abwichen, sondern fanden, dass der real existierende Sozialismus die Abweichung war. Carini bietet da einen spannenden und beileibe nicht trocken lesbaren Einblick in die Geschichte der politischen Linken.

Gerhard Schröder und Joschka Fischer, und dies sei nun zum Abschluss gesagt, werden im Buch nicht genannt. Wahrscheinlich konnte Marco Carini am Ex-Juso und am Ex-Sponti nichts Linkes in der Vergangenheit finden. Mal am Tor zum Bundeskanzleramt zu rütteln oder unpolitischen Krawall mit Pflastersteinen zu machen, reicht nicht aus, um als Linker in Betracht zu kommen. Da ist der scheidende Papst ihnen voraus - der hat sich wenigstens verändert, wenn auch nicht ins Gute; der Koch und sein Kellner, wie sich diese Macht- und Männerfreundschaft zwischen 1998 und 2005 mal nannte, blieben immer wie sie vorher schon waren.

Die Achse der Abtrünnigen: Über den Bruch mit der Linken von Marco Carini ist im Rotbuch Verlag erschienen.



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Lieber Hasso, laß mal stecken ...

Dienstag, 26. Februar 2013

oder Ermessen nach Laune (The Giving Pledge) wider gesetzlichen Ansprüchen (The Taxing Pledge)?

Nein, Plattners splendider Eintrag ins Who is Who des Giving Pledge ist keine gute Nachricht, keine lobenswerte Einsicht eines Milliardärs, sondern ein Armutszeugnis für das "kapitalistische Weltethos". Wenn sich Gesellschaften über die Lust und Laune von Krössusen finanzieren, dann ist das kein Grund, darüber wohlwollend zu berichten, sondern die Zurschaustellung der Misere und besorgniserregend.

Ist es Großzügigkeit, wenn man die Hälfte seines Vermögens weggibt und immer noch beinahe drei Milliarden Euro besitzt? Oder ist das nicht das Eingeständnis einer Umverteilungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, die auf ganzer Linie gescheitert ist? Wer braucht drei Milliarden zum Leben? Oder lohnt sich Leistung unterhalb dieser Summe etwa nicht mehr?

The Giving Pledge ist nicht das Eingeständnis einiger Milliardäre, dass Abgeben notwendig ist, sondern der Beweis dafür, dass etwas mit der Umverteilung nicht stimmt, dass die Akkumulation solch horrender Summen möglich ist, während auf der anderen Seite die Armut galoppiert.

Was soll denn an der frohen Botschaft, die man nun über Plattners Beitritt in den exquisiten Klub liest, so besonders fröhlich sein? Dass der hemmungslose Reichtum sein Geld für jeweils das spendet, was er gerade für würdig hält, mit Geld ausgestattet zu sehen? Der moderne Sozialstaat als eine von Magnaten delegierte Organisationseinheit? Die Wiederkunft der Mäzene? Geld für erlesene Einrichtungen - und die Schule in Wedding, der Kindergarten im Münchner Westend oder Notunterkünfte im Frankfurter Bahnhofsviertel, kriegen die auch was davon ab? Ist es also eine gute Nachricht, wenn Milliardäre publikumswirksam mit dem Geld, das sie so großzügig abtreten, zu Schirmherren mit Verfügungsgewalt werden?

Die Aufgabe eines Finanzministers wäre es nun, Plattner anzuschreiben: Lieber Hasso, laß mal stecken - wir holen uns Dein Geld über erhöhte Steuersätze für Vermögende. Und wir setzen das Geld breitgefächert ein, nicht nur für Projekte, die dir gerade gefallen. Viele Grüße und vielen Dank für den Kuchen ...

The Giving Pledge ist das Ranking ökonomisch saturierter Gestalten, die Wohltätigkeit als Wettbewerb zwischen eleganten Herrschaften verstehen, wie andere Freundeskreise es sich zum Wettbewerb machen, sich gegenseitig unter den Tisch zu saufen. Es ist überdies der Versuch, den Zugriffen der Gesellschaft auf Reichtümer in Form von Abgaben und Steuern zuvorzukommen, das schwer verdiente Geld nicht im Orkus des Staates verschwinden zu lassen, ohne zu wissen, was genau damit geschieht. Am Ende alimentierte man damit Armut und das Geld fehlt dann dort, wo Innovationen geschaffen werden, denkt man sich. So nimmt der Krösus und Mäzen sein Geld selbst in die Hand, spendet es für dies und das und ist dabei noch als splendide Person geadelt.

The Giving Pledge ist kein Anspruch, den eine Gesellschaft stellen kann. Es ist die gelebte Suppenküche, die man im Anflug von Edelmut eröffnet, willkürlich verteiltes Geld. Plattner meinte, er wolle der Gesellschaft etwas zurückgeben, sie habe ihm ein kostenfreies Studium als Grundstein seines Erfolges ermöglicht. Das ist ja auch richtig. Aber gibt man der Gesellschaft denn nichts zurück, wenn man höhere Steuern auf Einkommen und höhere Abgaben auf Vermögen leistet? Wenn Milliardäre und ihre Funktionseliten aus diesem Grund das The Giving Pledge loben, dann ist es eine verlogene Tour, denn auch mit einer drastischen Vermögenssteuer gibt man der Gesellschaft etwas zurück.

Über Systeme, die als gesellschaftliche Finanzierungsgrundlage die Laune reicher Damen oder Herren kannten, wollten wir doch irgendwann mal hinweg sein. Jetzt erleben wir den Rückfall in Gesellschaftsmodelle, die mehr und mehr abhängig sind von den Spendierhosen bestimmter Gönner. Mein Gott, hoffentlich hat er heute gute Laune, sonst gibt es nichts für unser Projekt! Genau davor graute es den Menschen mal. Jetzt scheint es wieder in Mode zu sein, launige Spender zu feiern. Deren Unternehmen schöpfen den Rahm ab, zahlen kaum (Körperschafts-)Steuern und sie geben aus ihrem Privatreichtum einige Groschen ab - die Idee staatlicher Umverteilung rückt in den Hintergrund; Umverteilung ist nun die Privatsache des privaten Reichtums. Und dann liest man immer mal wieder, dass diese Art der Umverteilung viel gerechter, viel wirkungsvoller sei. So voller Noblesse.

Was ist gerecht an verwaisten Bildungseinrichtungen, an geschlossenen Jugendzentren, an aufgegebenen Schwimmbädern und Kulturangeboten, an Personalarmut und Mittelknappheit, während gleichzeitig irgendein ach so freigebiger Milliardär ausgesuchte Einrichtungen unterstützt? Was ist wirkungsvoll daran, wenn ein Mäzen mit Faible für Technik, Studenten einer TU in den Genuss seiner Großherzigkeit kommen läßt, während Kinder aus Familien, deren Eltern im Niedriglohnsegment herumkrebsen, in Schulen gehen, die chronisch an Mittelknappheit zu leiden haben?

The Giving Pledge ist durch ein allgemeines The Taxing Pledge zu ersetzen. Das wäre zu bejubeln, das wäre ein Versprechen mit Tiefgang, das wäre nachhaltig. Und gerecht. Und wirkungsvoll.



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De dicto

Montag, 25. Februar 2013

"Ohne freie Presse wäre Deutschland kein freies Land."
- Ernst Elitz, BILD-Zeitung vom 20. Februar 2013 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Wenn die Heizung läuft, dann scheint morgen die Sonne. Wenn Stuhlgang, dann Posteinwurf. Das sind Wenn-Dann-Sätze wie der oben zitierte. Was hat Presse mit Freiheit gemein? Was mit freien Menschen in einem freien Land? Gut, der Mann schreibt ja explizit von freier Presse. Aber frei und Presse sind ein unabänderliches Liebespaar. Jede Presse war noch immer frei. Nach Selbsteinschätzung war selbst jede Presse in etwaigen Diktaturen frei. Auch gleichgeschaltete Presse stattete sich mit frei aus. War das Land, waren die Menschen darin deshalb aber frei?

Diesem Wenn-Dann-Satz, der, weil er nicht zu plump sein möchte, ohne Wenn und ohne Dann auskommt, liegt der Glaube zugrunde, dass die freie Arbeit der Presse immer auch freiheitliche Tendenzen in der Gesellschaft abbildet. Hier schimmert das Leitmotiv der vierten Gewalt durch. Wenn die Presse nur frei berichten kann, ist das demokratische Konzept erfüllt. Hier wird ehrlich oder unabhängig durch frei ersetzt. Leben freie Menschen in einem freien Land, wenn darin die freie Presse ein kriminelles Wirtschaftssystem kaschiert, schützt und Entwicklungen vertuscht, wenn sie geschönte Arbeitslosenzahlen verbreitet und rassistische Vertuschungsaktionen kaum hinterfragt, wenn sie auf ihre Agenda Nebensächlichkeiten setzt, während Sozialabbau befürwortet und beschlossen wird? Wenn zum Beispiel bei einer Europameisterschaft Gesetze heimlich abgesegnet werden und man viel vom Turnier, wenig aber aus nächtlichen Bundestagssitzungen zu lesen bekommt? Macht es die Menschen frei, wenn sich die Presse frei bewegen kann und frei auswählt, wovon sie berichten will und wovon nicht?

Wenn sich heute die Presse entschlösse, geschlossen nur noch über Modelleisenbahn und das Wetter zu berichten, täte sie das aus eigenen Antrieb, also aus freien Willen. Steckgleise und Nieselregen als Ausdruck eines freien Landes? Das ist natürlich überspitzt. Aber wer hat die Presse dazu gezwungen, die herrschende Ökonomie zu verteidigen? Tat man es nicht aus freien Stücken? Und ist diese Freiheit, die man sich da nahm, nicht vielfach die Unfreiheit von Menschen, die in dieser Ökonomie am unteren Ende darben müssen? Freies Land, freie Menschen, wenn die Presse geschlossen von der Arbeitslosen Faulheit oder der Roma Unbenehmen berichtet? Freiheit, wenn sie ganz freiweg Reputation für Bundeswehreinsätze im Ausland schafft? Ist es freiheitlich, wenn sie sich die Freiheit nimmt, Niedriglohnverhältnisse oder Lohnkürzungen für etwas hinzustellen, das unbedingt vernünftig ist?

Was Elitz meint ist, dass es ohne dieser freien Presse keine freien Machthaber gäbe. Für sie ist es ein freies Land - für die Menschen darin wird es immer mehr unfrei, auch wenn der Oberguru aus Bellevue von einer Freiheit spricht, die man in Verantwortung leben müsse. Er meint damit, man müsse die unverbindliche Freiheit auch dann stillschweigend und zufrieden genießen, wenn der Magen knurrt oder das Dach ein Loch hat. Freiheit sei nämlich keine Geldfrage.



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Seine erste große Rede

Samstag, 23. Februar 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hielt seine erste große Rede im Schloss Bellevue. Es ging ihm darin um die Perspektiven der europäischen Idee. Die zurecht vielgeachtete und vielgelobte Rede soll auch hier gewürdigt werden.

Bundespräsident Joachim Gauck hat die Deutschen zu großen Schritten aufgerufen. Wörtlich sagte er: "Wir ziehen los mit ganz großen Schritten." Ein Teil der Menschen in Deutschland müsse nun endgültig wissen, dass sie jetzt losgehe, "unsere Polonäse", sagte Gauck in seiner ersten Rede in Bellevue. Er sehe das zugleich als Ausdruck von Freiheit in Verantwortung.

"Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse", sagte Gauck. Die Menschen seien von "Blankenese bis hinter Wuppertal" in tiefer Sorge. Denn "das Orchester auf der Bühne packt der Wahnsinn, der Pianist reißt alle Tasten 'raus". Angesichts dessen brauche Deutschland wieder eine Kultur der "Polonäse" und nicht nur tatkräftige Politiker, sondern auch engagierte Bürger, die "die Post geht ab, wir machen jetzt 'ne Sause" als ihre freiheitliche Verantwortung erkennen.

Gauck wünscht sich eine Rückbesinnung auf die menschliche Zuwendung zueinander. Es sei daher notwendig, das mancher "der Heidi, von hinten an die Schulter" faßt. Denn "das hebt die Stimmung, ja da kommt Freude auf." In der politischen Sprache nenne man das Solidarität - in der Sprache des Glaubens heißt genau das: Nächstenliebe. Deutschland müsse ein Land sein, das Europa sein Gelingen auferlegt und als "Dirigent weint und schreit: Licht aus!", fuhr Gauck fort. Er beschloss: "Das Chaos tobt, der Boden schwankt - wir auch."

Der Wendehals hat ausgesungen
 
Der Bundespräsident ging in seiner Rede auch auf die Kritik an der deutschen Europapolitik ein. "Der ganze Saal soll heute abend brodeln, laß' jucken, Jungs, die Nacht ist viel zu kurz. Bis morgen früh sol'n hier die Elche jodeln, was danach kommt ist uns jetzt ganz schnurz." Das sei notwendig und vernünftig. Er könne zwar die Kritikpunkte nachvollziehen, man dürfe sich aber nicht von emotionalen Impulsen tragen lassen. "Hier geht was los, hier bleibt kein Auge trocken", riet er den Kritikern. Für politische Wendehälse sei trotz allem keine Zeit mehr, sie hätten ausgesungen.

Zur Schuldenkrise in Europa sagte der Bundespräsident, die europäische Idee habe mehr als 60 Jahre lang den Frieden in Europa gesichert. Jetzt aber sei die Frage: "Unten tobt das Volk bereits im Laufschritt, die Bänke fliegen tief, die Tische auch" - was tun? Deutschland habe die Krise bisher gemeistert und sollte als leuchtendes Beispiel in Europa vorangehen. "Wir ziehen los mit ganz großen Schritten", ermunterte er nochmals.

Stilwechsel im Vergleich zu vorigen Präsidenten
 
Anders als sein Vorgänger, der bei seinen Reden im Berliner Amtssitz Schloss Bellevue jeweils bürgernahe Sprache verwendete, verzichtete Gauck auf einfache Wendungen und bemühte eine gezielt pastorale Sprache. Das sollte die unbedachte Lockerheit seines Vorgängers ein wenig tilgen und dem Ernst der Situation gerecht werden - eben dem Amt des ersten Mannes im Staat angemessen sein. Zum Schluss betonte Gauck nochmals, dass die Menschen "von Blankenese bis hinter Wuppertal" mit Zuversicht an Europa herangehen sollten, denn die Kanzlerin bemühe sich, "mit ganz großen Schritten", die Stimmung zu heben und Freude aufkommen zu lassen.



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Nur an Montagen

Freitag, 22. Februar 2013

oder Erfahrungen aus dem sozialistischen Jetset.

Hartz IV bedeutet für die Öffentlichkeit nur bedingt Arbeitslosigkeit und schon gar nicht Armut. Hartz IV ist gleichlautend mit Faulheit. Bezieher des Arbeitslosengeld II sind nicht arbeitslos, sie sind ganz einfach nur faul und bequem. Das Arbeitslosengeld ist letztlich für die öffentliche Wahrnehmung nichts anderes als eine Faulheitsalimente; die Stütze heißt gemäß dieser Lesart nicht Stütze, weil man sich von der Armut ermattet auf sie stützt, weil man sie sich unter den Arm klemmt, um nicht in die Gosse hineinzufallen, sondern weil man sich untätig auf ihr lümmelt.

Für mich war die mir unterstellte Faulheit eine schwere psychische Situation. Mir wurde sie nicht mal direkt nachgesagt, wahrscheinlich nur hinter dem Rücken. Aber medial zum faulen Sack verzerrt zu werden, ständig darüber zu lesen, wie ich in meiner Faulheit Betrugsideen entwerfen würde, wie ich mich vor Arbeit drückte und ganztägig auf dem Sofa verweste, das nahm ich persönlich. Vielleicht zu persönlich.

Möglicherweise auch, weil ich natürlich immer wusste, dass Fleiß nicht mein persönliches Alleinstellungsmerkmal war und ist. Ich bekenne mich durchaus zur Faulheit. Wie so viele andere auch. Wie all jene, die einen Arbeitsplatz hatten und von der Bummelei im kühlen Schatten oder wahlweise unter warmen Bettdecken träumten. Nur die durften ja ihre Faulheit verbal zur Schau tragen, am Arbeitsplatz untereinander ihren Faulheitsphantasmagorien nachhängen. Ich nicht. Ohne Arbeitsplatz gibt es keinen Anspruch darauf, die persönliche Faulheit zu verkündigen. Für die einen ist die Faulheit der verdiente Lohn; für Hartz IV-Bezieher ist es ein unterstellter ekelhafter Charakterzug, der sittliche Untergang des Abendlandes.

Anekdote: Als ich etwa zehn Jahre alt war, plante ich nach meiner Schule, in einer ganz speziellen Werkstatt mit meiner Ausbildung anzufangen. Ich hatte keine Ahnung, was dort gemacht wird, welche Berufe sie ausbilden oder ob sie überhaupt ausbilden. Mehr als dass es sich um eine Werkstatt handelte, um eine Werkstatthalle um genauer zu sein, wusste ich nicht. Bis heute weiß ich nicht mehr darüber. Was mir imponierte war ein Schild, das an der Fassade angebracht war. Auf dem stand Nur Montage. Und ich stellte es mir großartig vor, nur montags am Ausbildungsplatz erscheinen zu müssen. Mein Vater erstickte meine Absichten in Ernüchterung. Woher hätte ich wissen sollen, dass nicht Montage sondern "die Montage" gemeint war - das Montieren also und keine Ein-Tage-Woche.

Die menschliche Faulheit ist kein Makel. Sie durchbricht bereits in archaischen Texten und späteren Erzählungen die Sphäre des Fleißes. Das Paradies, dieser Urzustand, den der Mensch verlassen musste, wird als Hort des Müßiggangs, als anstrengungsloser Topos beschrieben. Das Schlaraffenland begegnet uns bereits in der griechischen Antike, später im Mittelalter und in der Renaissance. Gebratenes Geflügel, das schlicht in offene Münder stürzt, sind das wiederkehrende Motiv menschlicher Sehnsucht, eine historische Konstante. Die Faulheit ist heute geächtet, sie gilt als Ausdruck menschlicher Schlechtigkeit, als Gegenteil von Fortschritt. Dabei ist es ausgerechnet die Faulheit, die Arbeitsschritte effektiver gestaltet, die Anstrengungen tilgt und Fertigungsprozesse von Schweißperlen befreit. Es wäre vermessen zu behaupten, dass die Industrialisierung und die darin enthaltenen Rationalisierungen, der Taylorismus insbesondere, auf Grundlage der menschlichen Faulheit entstanden sind. Aber Arbeitende selbst erleichtern sich den Werktag ja durchaus, treiben den Impuls der Faulheit vor sich her, um etwaige Arbeitsschritte zu simplifizieren oder gar zu vermeiden.

Dass Faulheit zur Humanitas gehört, war mir immer bewusst. Später sollte ich darüber ein Essay schreiben, mich auf Lafargue stützen, diesen, meinen heimlichen Helden der Faulheit. Auch wenn er Faulheit natürlich nicht als Hängematte beschreibt, sondern mit modernen Worten gesagt: als Entschleunigung. Und zur Erklärung, ich definiere Faulheit auch nicht mit Rumhängen, sondern damit, nicht zwanghaft produktiv sein zu müssen.

Der berufstätige Mensch, so bemerkte ich, als ich noch Bescheide im Postkasten fürchtete, weiß genau wie ich, dass Faulheit etwas ist, das in ihm ist. Weil er aber wenig Zeit findet, seine Faulheit auszutoben, hat er vermutlich einen verbal lockereren Umgang mit ihr. Aber diejenigen, die theoretisch Zeit dazu hätten, die werden auf instruierte Gewissensbisse zurückgeworfen. Überdies, wenn die Medien zielgerichtet von der Faulheit eines ganzen Standes berichten und man diesem Stand zugehört.

Gewissen. Mit dem hat man zu tun, wenn man so in den Zeitungen liest, was für ein Kerl man eigentlich ist. Man liest von Faulpelzen mit Regelsatz. Dann Zwiesprache mit dem Gewissen. Bin ich auch einer? Haben die vielleicht doch recht? Das Gewissen. Selbst beim Füttern meiner Katze. Arm sein und Haustier haben. Unverantwortlich! Oder nicht? Vormittags in der Bücherei. Dreist! Die anderen arbeiten. Gewissen, eine Scheißsache ist das. Noch dazu, wenn es sich so unnütz meldet, wenn es laut wird, wo es ruhig leise sein dürfte, wenn es ertönt, weil man es stichelt.

Hat man den modernen Menschen, der durch die Schule der Industrialisierung und der Arbeitsteilung gegangen ist, schon vor langer Zeit von der in ihm ruhenden Faulheit entfremdet, ihn moralisch zu ihr abgeschottet und ihm erklärt, dass Faulheit immer schon verwerflich war, so ist der moderne Massenmensch ohne ökonomische Teilhabe, der mit seinen moralischen Richtern täglich bei der Zeitungslektüre zu tun hat, noch eklatanter in diese Zerrissenheit geworfen. Denn derjenige, der ökonomisch nicht teilnimmt, der also arbeitslos ist, der trägt die Charakterlosigkeit der Faulheit nicht mehr nur in sich, er wird jetzt zur fleischgewordenen Faulheit, wird zum Makel in corpore, zur Faulheit auf zwei Beinen, die allerdings wiederum nur hochgelegt werden.

Bevor gleich die Historiker auftauchen und sagen, dass die Faulheit auch schon vor dem industriellen Zeitalter etwas war, was nicht geliebt wurde, eine Klarstellung: Ja, das stimmt. Gleichwohl, und Lafargue weist auch darauf hin, gab es im Jahresablauf der Kirche, und die regelte den ganzen Zirkus ja mehr oder minder, eine Unmenge an Feier- und Ruhetagen. Fleiß war etwas für den Werktag, dort war die Faulheit eingeschränkt. An Ruhetagen war sie jedoch die Herrin. Und überhaupt gestalteten sich Jahresabläufe für Menschen, die noch an die Natur und an die Witterung gebunden waren, in einem anderen Takt. Im Winter schmachtete man in der Hütte, war gezwungenermaßen faul. Lafargue greift Weber voraus, wenn er beschreibt, dass erst der Protestantismus diese Flut an Feiertagen aufhob, dem Fleiß ein erdrückendes Übergewicht per annum verlieh.

Von Natur aus, von der conditio humana her faul, geriet dieser Makel für mich zur seelischen Belastung. Ich vermied Anstrengung schon immer gerne. Wenn ich etwas tue, möchte ich es effektiv und kraftsparend erledigen, wenig schwitzen, wenig Zeit dafür aufwenden. Das ist mein Faulheitsanspruch. Jedenfalls bei Dingen, die mich nicht erfreuen. Ich wusste von meiner Faulheit, seitdem ich Kind war, seitdem ich nur an Montagen arbeiten wollte. Und dann kriminalisierten sie die Faulheit einer Gesellschaftsschicht, zu der ich plötzlich gehörte. Hatten sie etwa recht? Bin ich Hartz IV-Bezieher geworden, weil ich immer schon den Impuls zur Faulheit in mir trug? Ist meine Situation eigenes Verschulden? Bin ich zu lahm, zu bequem? Aber als ich Arbeit hatte, war ich ja gar nicht faul in deren Sinne. Entkräftete das deren These? War der Rückzug mit einem Buch in der Hand, was sie faul nennen und ich Bildung, nicht Attribut des Großenganzen meiner sozialen Stellung gewesen? Wer gerne faul ist, das Scheuen von Mühen nicht leugnet, sondern offen zugibt, landet der nicht folgerichtig im Hartz-Vollzug? Oder kriminalisiert man da eine Haltung, die völlig normal ist, die in jedem schlummert? Vulgärpsychoanalytisch gefragt: Ist die Pathologisierung der Faulheit, der man Arbeitslosen aussetzt, nicht der unbewusste Trieb der Werktätigen - und der, die glauben, tätig zu sein -, ihre im Inneren verborgene Faulheit auf Dritte abzuwälzen? Ist es etwa wie beim Penisneid - nur ohne Penis?

Es gab andere Faktoren, als meine innere Faulheit. Die sind aber hier und heute nicht wichtig. Gleichwohl ich das damals wusste, ließ die Demagogie mit der Faulheit mich leiden. Und wenn dann Stimmen zu vernehmen waren, dass sich Arbeitslose, speziell natürlich Langzeitarbeitslose, zu beweisen hätten, dann war ich nicht etwa erleichtert, weil ich das als gegebene Chance ansah, sondern ich wurde bockig. Sich beweisen meinte da Dinge wie Praktika, kostenfrei Arbeitskraft anbieten, von Geschäft zu Geschäft wandern, Pappschild um den Hals, ein Bewerberprofil mit sämtlichen Kontaktdaten im Datensatz des Jobcenters hinterlassen - das übliche Repertoire eines Sozialstaates, der auf Workfare setzt. Die in mir erkannte Faulheit, die nun plötzlich eine Charakterlosigkeit meinerseits, vielleicht sogar eine kriminelle Handlung an der Gesellschaft sein sollte, trieb mich nicht zu solchen Maßnahmen, sondern vertrieb mich von jeglichen guten Willen. Glauben die Initiatoren der Faulheitsstigmata denn, sie würden damit Menschen animieren, sich zu beweisen? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall.

Also bewarb ich mich auf traditionelle Art, Bewerbungsschreiben ohne Floskeln des Überschwangs und Einleitungen wie "Sie suchen einen hervorragenden Mann und so weiter und so weiter - Sie haben in mir den richtigen Mitarbeiter gefunden!" Ich blieb formal, trocken, freundlich und korrekt zwar, aber ohne Ambitionen auf Bewerbungsprostitution. Wer jemals eine dieser Bewerbungen gelesen hat, der musste fast automatisch denken, das sei eine Alibibewerbung und endlich schlussfolgern: Faules Schwein.

Also doch faul? Also doch in dieser Misere, weil ich faul war? Meine Bewerbungsschreiben konnten als Beleg dafür missbraucht werden. Was war zuerst da, das faule Ei oder die Henne? Wer hätte mir abgenommen, dass diese unbeseelten Bewerbungen nur Folge waren, nicht aber Beleg? Ist die augenscheinliche Faulheit, die man unbedingt und händeringend bei Menschen sucht und findet, die keiner Arbeit nachgehen können oder dürfen, nicht auch als Folge dieser faulen Kampagne zu sehen? Löst die Angst davor, als faul gekennzeichnet zu werden, nicht Phlegma aus? Eine schwerfällige Lethargie, die man mit böser Absicht und bar von Empathie mit Faulheit verwechseln könnte?

Es ist perfide, was man mit der Dogmatik des Stigmatisierens durch das Nachsagen von Faulheit anrichtet. Man macht nicht nur einen menschlichen Wesenszug zu einem Makel des Charakters oder gar zu einem Anschlag auf gesellschaftliche Werte, sondern man bugsiert betroffene Arbeitslose in ein Dilemma zwischen ihrer völlig normalen menschlichen Regung (besser: Regungslosigkeit) und einer Erwartungshaltung, die jeder Menschlichkeit spottet. Jeder Erwerbstätige kann sich seiner gelegentlichen Faulheit brüsten - ein Arbeitsloser niemals. Jeder Anflug theoretisch denkbarer Faulheit löst den sozialen Ausschluss aus, bringt dumme Sprüche mit sich. Und selbst wenn die nicht kommen, ist die Vorstellung, dass diese Sprüche kommen könnten, schon schlimm genug. Die unterstellte Faulheit, die natürlich in einem gewissen Ausmaß deckungsgleich ist mit jedem Menschen, ist ein soziales Gefängnis, ein Ausgrenzungsmechanismus und ein Stressor.

Richtigstellung zum Ende: Diese Zeilen bestätigen nicht, dass Arbeitslose faul sind. Sie beschreiben nur den Umgang mit einer Faulheit, die in jedem von uns mehr oder minder verkappt ist. Manche Faulheit, die man leicht und locker unterstellt, ist bei genauem Hinsehen nicht weniger als soziale Lähmung. Andere gibt es, die sind faul auch am Arbeitsplatz. Was sagt der soziale Status also über Fleiß oder Nicht-Fleiß aus? Arbeitslose sind nicht fauler oder fleißiger als andere - sie haben nur das Problem, dass man ihre per Humanitas eingespeicherte Faulheit viel genauer beobachtet und prüft. Bei Erwerbstätigen überwacht nur der Arbeitgeber - bei Arbeitslosen tut dies eine ganze Gesellschaft.



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Grün ist die Täuschung

Donnerstag, 21. Februar 2013

Die Grünen sind linkes Geschmeide; sozialer und ökologischer Putz. Wer sich mit der Nähe zu den Grünen auftakelt, den nimmt man ein sozial-ökologisches Gewissen ab. So wie neulich dem Herrn Kramm. Den kennt man unter seinen Kose- und Künstlernamen Heino besser. Und der meinte ganz keck, nachdem man ihn in einem Radiointerview (bei Radio FFH) fragte, ob er denn tatsächlich politisch rechts einzustufen sei, dass das blanker Unsinn wäre. Er habe nämlich eine Nähe zu grün, sagte er. Ja, er war sogar der erste Grüne, weil er schon von Wiesen, Bergen und Almen gesungen hat, als es die Grünen noch gar nicht gab. Dieser typisch romantisierte Öko-Schmus ist natürlich Quark. Von Tannen und Waldesfrieden und nebenbei im gleichen Text von "Odalrune auf blutrotem Tuche" sang schon die HJ. Keiner käme da auf die Idee, in der HJ die ersten grünen Jungmannen sehen zu wollen. Seine zweite Aussage dazu war dann jedoch schon interessanter.

Kramm sagte nämlich, dass es im Zuge der grünen Parteigründung gegenseitigen Kontakt gab. Die sich formierenden Grünen klingelten nämlich einfach so an seiner Türe und wollten ihn ins Boot holen, boten ihm die Parteimitgliedschaft an. Aber da er ein parteiloser Mensch sei, habe er ablehnen müssen. Das klingt wirklich nach Reinigung aller braunen Flecken und ein bisschen auch nach Adelsschlag, haben doch die Grünen selbst Heino als einen der ihrigen erkannt gehabt. Nur welche Grüne waren das damals eigentlich?

Denn wer da klingelte, sagte er natürlich nicht. Waren es die Leute um Baldur Springmann, diesem ehemaligen SA- und SS-Mann, die einen grünen Blut- und Bodenmythos nachliefen und die aus Gründen der völkischen Erbgesundheit gegen Atomkraftwerke waren? Oder handelte es sich um den ökosozialistischen Flügel um Ditfurth, Trampert und Ebermann, die ins beschauliche Bad Münstereifel pilgerten, begeistert von Heinos Naturverbundenheit? Klopfte gar Herbert Gruhl samt Entourage an die Türe und bat um Mitgliedschaft, während er synchron seine steile These von den "überzähligen Bevölkerungen" rezitierte? Später sah Gruhl das zu linke Programm der Grünen - der soziale und ökologische Flügel hatte sich zunächst durchgesetzt - als zu materialistisch beseelt an, weswegen er austrat. Wie hätte er sozialen Ausgleich schaffen wollen? Durch esoterische Selbstgenügsamkeitslehren? Oder bat vielleicht die Aktion Unabhängiger Deutscher, die auch im Gründungsprozess verwickelt war, um Kramms Mitwirkung? Ob es wohl eine von Haustür zu Haustür wandernde K-Gruppe war? Waren es am Ende vielleicht sogar Feministinnen, die seine Texte von der "schwarzen Barbara" und etwaigen "feschen Maderln" für emanzipatorisch so wertvoll hielten, dass sie sie parteilich einbinden wollten?

Wer erinnert sich heute noch an die verschiedenen Pole und Richtungen, die im Parteigründungsprozess der Grünen eingebunden waren? Dass die Ökosozialisten sich anfänglich durchsetzten, progressive Parteistrukturen durchrangen und damit tatsächlich eine gänzlich neue Parteikultur schufen, gehört heute zum Mythos, von dem die heutigen Grünen noch zehren. Sie und all diejenigen, die sich in der Nähe zu den Grünen wähnen. Zwar weiß das kollektive Gedächtnis nicht mehr sicher, was genau damals geschah, aber ein dumpfes Gefühl, dass seither das Soziale und Ökologische in den Parlamentarismus einzog, hat sich bisher erhalten können, im kollektiven Über-Ich verfestigt.

Wenn Kramm nun meint, er habe seine Gesinnung damit bewiesen, als trällernder Naturbursche für die Grünen irgendwann mal in Frage gekommen zu sein, dann stellt sich die Frage, für welche Grünen das gewesen sein könnte. Wenn die Erzählung stimmt und es waren Leute wie Springmann, die ihn anquatschten, was hätte das schon zu sagen? Doch wohl eher das Gegenteil dessen, was er beweisen möchte.

Da die Geschichte aber von den Siegern geschrieben wird, haben die heutigen Grünen folgende Geschichte anzubieten: Wir waren eine soziale und ökologische Gruppe von Männern und Frauen, die durch die Institutionen marschierte. Und wir sind es heute noch. Marschierend. Und sozial. Und ökologisch. Und haben immer Bauchweh. Die anderen Flügel sind heute vergessen. Und dass das Soziale und Ökologische heute auch vergessen ist und die so genannten Realos, die übrigblieben, mehr Nähe zu Gruhl und Springmann haben, teilweise auch zu den Spontis, die sich überwiegend eine apolitische Attitude aneigneten und hernach (siehe Fischer, siehe Cohn-Bendit) als Karrieristen herausstellten, wird hinter der historischen Verklärung versteckt.

Es soll dem Deutschlandlied-in-allen-Strophen-tremolierenden Barden nichts unterstellt werden. Auch wenn sein grünes Gewissen, das er mit dem Absingen von Naturburschenliedern gleichsetzt, mittlerweile auch bei rechtsextremen Parteien befriedigt werden könnte - ob nun Republikaner oder NPD, alle sind sie grün geworden, haben sich mit einer Mischung aus Esoterik und Blut- und Bodenrhetorik wieder ihrer Wurzeln erinnert. Aber das muss im Bezug auf Kramm freilich nichts heißen. Vielleicht ist er ja tatsächlich nicht der, für den man ihn hält.

Sein im Interview genannter Beweis ist hingegen keiner. Die Geschichtsklitterung der Grünen wertet nicht nur die heutigen Protagonisten dieser grünen FDP auf, sondern sichert Leuten, deren politische Ausrichtung doch wenigstens zweifelhaft ist, ein grünes Deckmäntelchen. Wer sich mit den Grünen herausputzt, der muss doch geradezu sozial und ökologisch - und natürlich pazifistisch sein. Selbst dann, wenn er verklärte Landser-Romantik besingt.

Nachtrag: Ich habe Jutta Ditfurth gefragt, ob sie etwas vom grünen Heino weiß.

Jutta Ditfurth hat die Grünen ab 1980 mitgegründet, sie war 1984-1988 deren Bundesvorsitzende. Sie sagt: "Niemals habe ich, nicht einmal als Gerücht, gehört, dass irgendeiner mit dem Schlagersänger Heino über eine Mitgliedschaft in den Grünen geredet hat. Er wäre damals auch nicht aufgenommen worden. Vielleicht nehmen sie ihn ja heute? Vielleicht hat Heino in den 1980ern mit kleinen rechtskonservativen bis ökofaschistischen Grüppchen in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen Kontakt gehabt. Wenn, dann haben die das wohlweislich für sich behalten.

Er müsste Namen sagen, wenn es nicht nur ein PR-Gag sein soll. Ich erinnere mich aber umso deutlicher daran, wie Heinos Fans bei den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda den mörderisch bedrohten und verletzten MigrantInnen höhnisch 'Muss i denn zum Städtele hinaus' hinterhersangen."



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Facie prima

Mittwoch, 20. Februar 2013

Heute: Der eigentlich ex cathedra unzurücktretbare Zurückgetretene, Joseph Ratzinger alias (noch) Benedikt XVI.

Kürzlich war er noch ein tatkräftiger Greis. Jedenfalls auf all den Bildern, die Artikel zierten, die päpstliche Themen zum Inhalt hatten. Ein fröhlich wirkender, bei Sinnen seiender Pontifex, den mancher Senior für seine Agilität beneidet haben mochte. Prompt mit der Bekanntgabe des baldigen Rücktritts und den einhergehenden Meldungen von den Altersgebrechen und den Krankheiten dieses Mannes, wechselten auch die Fotos, die man von ihm reichte. Aus dem noch kürzlich vitalen und geschäftigen Hirten, von dessen geistiger Emsigkeit man ohne weiteres überzeugt sein konnte, wurde nun ein schwacher, müder aussehender Mann, der gramgebeugt mit leerem Blick durch die Gemächer des Vatikans schlurft. Einst aufrecht, jetzt zusammengesackt. Vorher durch Sonne belichtet, jetzt im Dunkel vatikanischen Schattens. Ehedem zentrale Position des Bildes einnehmend, nun abseits, an den Bildrand arrangiert, aus dem Zentrum gedrängt.


Der Papstkult, die Wir-sind-Papst-Gemeinde, die selbst in der evangelischen Kirche Anhänger fand, machte einen Pontifex voll Elan, kraftstrotzend im Alter, geradezu zur Voraussetzung. So einen betagten Kraftprotz erwartete man. Nun aber tritt der Papst und die Papamanie dem Ende entgegen und mit ihm versiegen auch die Bilder dieses energiegeladenen Papstes. Keine ausgebreiteten Hände mehr, das Standardmotiv dieses Papstes der Rührigkeit. Ausgebreitete Hände, die mit wenig Phantasie auch mehr als Segen bedeuten konnten. Hände, die sagten, Hier bin ich!, die augenscheinlich fraternisierten und von Fitness zeugen, Mir geht es gut! suggerieren sollten. Jetzt hebt der Ratzinger-Papst seine Hand übernächtigt, schläfrig ist er abgelichtet. Die Hand zu heben kostet ihm Mühe, kann man da sehen. Mit Eintritt seiner Krankheit in die Öffentlichkeit ist aus der Segenshand eine kraftlos gehobene Greisenhand geworden. Der optimistische Blick ist der Miene einer ins Demente weisenden Traurigkeit gewichen. Aus dem vitalen Nestor ist urplötzlich ein Tattergreis geworden.

Das Amt drückt. Er, im voller Montur, mit Bischofsstab und Mitra ornata, ist offenkundig zu schwach für sein Position. Das war er vermutlich schon vor dem Tag, an dem er seinen Rückzug bekanntgab - gleichwohl bot man trotzdem einen Papst an, der voller Tatendrang schien, einen lustigen Alten gab. Just mit seinem verkündeten Rücktritt legen die gereichten Fotographien Zeugnis davon ab, dass er völlig überfordert zu sein scheint. Wie sonst könnte man das Amt als erdrückend karikieren, wenn nicht im vollem Ornat, mit schwerem Stock, mit drückender Stola? Es heißt nach schwerem Schicksalschlag sprichwörtlich, man altere über Nacht. Fotojournalistisch betrachtet ist dieser Mann, der Benedikt XVI. war, wirklich über Nacht alt geworden.



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Schandmäuler!

Dienstag, 19. Februar 2013

Dass in Eckkneipen das Wort Kinderschänder regen Gebrauch findet, ist wahrscheinlich kaum zu ändern. Weshalb bedienen sich aber Periodika und Radioansager dieses Wortes? Und was benutzt man da eigentlich für ein Wort?

Die Schande mit der Schande

Jemanden zu schänden ist gleichbedeutend mit "in Schande bringen" - die Schande trägt demnach fortan der mit sich, der "geschändet" wurde. Der Kinderschänder ist also jemand, der ein Kind in Schande bringt. Hier stigmatisiert man das Opfer, vermittelt sprachlich, es hätte die Schande mit nach Hause gebracht. Eine Schande ist das!, sagte man gemeinhin, wenn ein Mädchen außerehelich schwanger wurde. Außereheliche Kinder wurden umgangssprachlich in Schande geboren. Und in Schande geboren war man gesellschaftlich noch sehr lange. Noch Willy Brandt musste mit dem Vorwurf leben, ein in Schande geborener Emigrant gewesen zu sein. Statt auf Verständnis und Zuspruch der Eltern zu hoffen, musste sich manche junge Frau anhören, sie hätte die Familienehre geschändet, Schande über ihre Leute gebracht.

Die Schande ist also ein Stigma. Nicht nur für denjenigen, der sie begangen oder fabriziert haben soll, sondern für eine Gemeinschaft. Die Schande beschreibt ein gruppenspezifisches Gefühl für Verstoß oder Ungehorsam, für eine Haltung des Das gehört sich aber nicht! - sie ist insofern immer ein Affront desjenigen, der sie herstellt gegen Regeln und Kodizes eine Gruppe oder einer Gesellschaft. Erinnert sei hierbei an die Blut- oder an die Rassenschande, die in Zeiten der Nürnberger Rassengesetze als Ehrverletzung und Kränkung des damals geltenden guten Geschmacks galt. Man schändete die Volksgesundheit und die Kraft des reinen Volkes, wenn man sexuellen Kontakt mit rassen- oder volksfremden Personen hatte. Die Schande war hier bestimmt nicht als Trost oder Verständnis gemeint.

Das kindliche Opfer eines sexuellen Übergriffs wird mit der Schande belegt, wenn man vom Kinderschänder spricht. Dies ist folglich ein Mensch, der das Kind in Schande stellt. Zwar mag gemeint sein, dass sich ein solcher Mensch schändlich benimmt - gleichwohl verlagert sich sprachlich gesehen die Schändlichkeit auf das kindliche Opfer.

Rückgriff auf die Lingua Tertii Imperii

Ursprünglich hatte die Neue Rechte den Begriff Kinderschänder salonfähig gemacht. Das Thema sexueller Missbrauch von Kindern nutzten Neonazis dafür, um als für eine Mehrheit akzeptabel zu wirken, sich zum ehrlichen Makler zu machen. Das Thema soziale Gerechtigkeit und Ökologie sind weitere Aufhänger, mit der man die so genannte politische Mitte zuweilen ködert, Anknüpfungspunkte für eine schrittweise Akzeptanz des Neonazismus. Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird dabei emotionalisiert und aus dem rational zu betrachtenden Täter, der der Rechtssprechung zu überstellen ist, wird in der sprachlichen Dramaturgie des Dritten Reiches ein Kinderschänder.

In der Terminologie von Der Stürmer, jener hetzerischen Wochenzeitung der Nationalsozialisten, fand der Schänder oft Niederschlag. Im August 1925 titelte er, man habe erneut einen jüdischen Mädchenschänder erwischt. Im Juli 1926 fragt er Wer ist der Kinderschänder von Breslau? Und im Februar 1930 berichtet er von Frauenschändern aus Leutershausen. Nur Beispiele, die nichts beweisen, außer natürlich einen wahnhaften Antisemtisimus. Dennoch wird deutlich, dass der Schänder sprachlich reichlich bemüht wurde.

Der Schänder, gleich ob er Kinder, Mädchen oder Frauen in Schande setzte, war letztlich ein Generalangriff nicht auf Kinder, Mädchen oder Frauen, sondern auf das deutsche Kollektiv, auf die Sittenregeln der Volksgemeinschaft. Wenn eine Person als Kinderschänder bezeichnet wurde, dann zeichnet der Begriff des Kinderschänders nicht die Opferrolle des jeweiligen Kindes nach, sondern den Angriff eines Menschen auf ein Kind aus der Volksgemeinschaft. Er hievt das Kind und damit dessen Eltern in die Schande, läßt sie von anderen Volksgenossen mitleidig oder auch abwertend anblicken. Da hat jemand nicht ein Kind sexuell missbraucht, sondern einen Angriff auf das Kollektiv lanciert, den Volkskörper nicht den Körper des Kindes zur sexuellen Befriedigung gebraucht. Hier trifft die Blut- und Rassenschande auf die Kinderschande.

Sexueller Missbrauch als wider die Gesellschaft sublimierter Akt

Der sprachlich benutzte Kinderschänder setzt das Opfer zurück. Es ist kurios, dass gerade diejenigen, die vorgeben, die Belange der Opfer vehement zu vertreten und gleichzeitig diesen Begriff gebrauchen, sich sprachlich vom Opferdiskurs verabschieden. Und unbewusst (oder nicht) erhöhen sie die kriminelle Handlung zu einem Verbrechen nicht nur gegen eine Person oder eine Gruppe potenzieller Opfer, sondern zu einem Verbrechen gegen die gesamte Gemeinschaft. In diesem Rahmen sind Menschen- und Bürgerrechte folglich zunächst ausgeblendet, so wie beim Kampf gegen den Terror diese Rechte die Nachsicht haben. Der Terrorismus gilt ja ebenso als ein Akt gegen die gesamte Gesellschaft, wie begrifflich nun die Kinderschänderei ein Verbrechen nicht gegen Einzelne, sondern gegen alle sein soll. "Verbietet Tierversuche - nehmt Kinderschänder" (Anm.: in der Recherche entdeckte ich, dass das ein beliebter Slogan ist) ist beispielsweise auf Aufkleber gedruckter Ausdruck einer rechtsstaatvergessenen Gesinnung, die sich des Phänomens sexuellen Missbrauchs an Kindern mit Losungen nähert, die a) menschenrechtswidrig und volksverhetzend und b) begrifflich vergesellschaftend sind und folglich rechtsstaatlichen Maximen entgegenstehen.

Verbrechen sind nach rechtsstaatlicher Lesart stets individuelle Akte einer Person an einer oder mehreren Personen. Alles andere wäre Feindstrafrecht, so wie es die Hardliner des Anti-Terror-Kampfes gerne sähen. Das Verhältnis Täter-Opfer ist nicht öffentliche Sache, sondern ein ganz spezielles privates Beziehungsgeflecht - die Straffindung kann zwar öffentlich stattfinden, das Täter-Opfer-Verhältnis ist jedoch kein generell auf die Gesellschaft übertragbarer Akt. Der sexuelle Gebrauch von Kindern ist kein schandtätiger Akt gegen die Gesellschaft, sondern eine kriminelle Handlung im privaten Rahmen gegen Einzelpersonen oder einen zu definierenden Personenkreis, der nicht potenziell, sondern realiter betroffen sein muss. Die Erhöhung der Tat in einen metaphysischen Verbrechensakt gegen jedes Kind der Gesellschaft, gegen alle Eltern dieser Kinder, hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, sondern mit fast schon esoterischer Schande-Rhetorik, wie sie eben dem Nationalsozialismus zu entnehmen war.

Der schmale Grat

Die Medien greifen indessen diesen Begriff auf. Sie benutzen damit einen Begriff, den die Neonazi-Propaganda hoffähig gemacht hat. Bürger- und Elterninitiativen warnen namentlich vor Kinderschändern. Vor Kindergärten sind sich Mütter darüber einig, dass Kinderschändern das Handwerk gelegt gehört. Es gab Berichte, wonach Eltern mit örtlichen Neonazis gegen so genannte Kinderschänder marschierten - Neonazis als Kümmerer elterlicher Sorge. Die Grenzzäune zwischen Besorgnis und faschistoiden Parolen scheinen wirklich sehr durchlässig zu sein.

Und es sind Zeitungen und Radioanstalten, TV-Sender und Magazine, die auf Seite drei den Kampf gegen Neonazis beschreiben und zögerlich, teilweise aber auch vehement befürworten, die allerdings gleichzeitig mit dem Wort Kinderschänder mobilisieren und eine kriminelle Handlung zu einem Verbrechen gegen die Volksgemeinschaft umfunktionieren. Eltern, die normalerweise keine Nähe zu Neonazis haben, rufen Kinderschänder raus! Mütter vor Kindergärten sind betroffen ob der Verbrechen der NSU und sprechen dennoch von Kinderschändern.

Es ist ein schmaler Grat zwischen rückhaltloser Aufklärung nazistischer Verbrechen und dem Benutzen von Vokabular, das aus dieser Sphäre stammt.



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Die neue Mitte im südlichen Norden

Montag, 18. Februar 2013

Im Süden jenes Nordlandes, das von den Südländern Europas ausgesaugt wird wie kein zweites, formieren sich innerdeutsche Südländer, die gegen die Verschwendungssucht und die Bummelei des deutschen Nordens aufbegehren. Was europäisch der Süden, ist innerdeutsch der Norden. Und so wettert als aufgeblasenes Paradebeispiel ein gewisser Südländer namens Söder europäisch gegen die Südländer, synchron er im Inneren die Nordländer als anreizlose Zone tituliert.

Dieser Süden, der innen nach Norden und außen nach Süden tritt, definiert sich letztlich als ein Zentrum der Geldverteilung, als Mitte zwischen faulem Süden und sich aushalten lassenden Norden. Dies ist auch so eine neue Mitte, die sich auftut. Die Mitte der Entsolidarisierung mit allen, die einer Gemeinschaft "nicht für sich selbst sorgen" wollen.

Eingekesselt zwischen Norden und Süden kündigt sich die Auflösung gemeinschaftlichen Denkens an. Man hat vom Länderfinanzausgleich profitiert und profitiert heute noch von einer Europäischen Union mit Euro - man mauserte sich von Agrarland zum Technologieplatz, wuchs durch rege Mithilfe des Länderfinanzausgleichs heran, profitierte durch den Euro exportüberschüssig und jetzt sollen der Süden wie der Norden parasitäre Himmelsrichtungen sein.

Nicht gleichermaßen. Es ist nicht vorstellbar, dass der innerdeutsche Südländer den Nordmenschen so tituliert, wie den Südländer draußen. Faule Schmarotzer, korrupt, arbeitsscheu - so weit will man die Vorwürfe nicht gehen lassen. Im Norden ist man nur an der Anreizlosigkeit erkrankt, fehle es an Anreizoptionen, aus Schulden auch mal Überschüsse zu machen. Wenn der Südländer von außerhalb mal wenigstens so weit wäre, wie der Norden im Inneren, dann wäre doch schon was erreicht.

Die neue Mitte des Südens lebt die Entsolidarisierung, sie betreibt lauthals und söderianisch die Auflösung des Gemeinsinns, will die EU vernordlichen und den Finanzausgleich versüden, will Gemeinschaften und Bünde auflösen oder wenigstens straffen, Unkostenfaktoren auslagern und schwächere Teilnehmer drücken. Das definiert sich als Gerechtigkeit. Wer zahlt, soll das Sagen haben. Schön betriebswirtschaftlich in Bündnisse treiben, denen nicht das Prinzip der Gleichheit und des Ausgleichs zugrundeliegt, sondern die Herrschaft der Starken über diejenigen, die gerade ein solches Bündnis benötigen, um gestärkt daraus hervorzugehen.

Süden und Norden sind dabei Metaphern für ein Weltbild voller Grenzen, in denen Gemeinschaften nur erwünscht sind, wenn sie profitabel sind, wenn man etwas davon hat. Südländer wie Söder haben dieses dem Neoliberalismus anzurechnende Gesellschaftsbild, in dem es nur Vereinzelung gibt, so sehr auf Lunge gezogen, dass sie es nun aus jeder Pore ausdampfen. Die Aufkündigung der Solidarität ist demnach sinnvoll, wenn man davon keinen Profit mehr ziehen kann. Wir kümmern uns um unsere Leute, wollen die Söders aus dem Süden sagen. Was kümmern uns Solidargemeinschaften, wenn wir doch genug Geld haben! Wir brauchen ja keinen Ausgleich, wir gleichen uns selbst aus!

Was da im inneren Süden gärt und sich gegen Norden und den noch südlicheren Süden richtet, ist die Kultivierung einer Denkweise, die erst die Gesellschaft entsolidarisierte. Es gäbe keine Gesellschaft, sagte mal eine aus Eisen geschmiedete Britin, es gäbe nur Männer und Frauen. Das war die Initialzündung. Es gibt insofern auch keine Bündnisse und Staatengemeinschaften mehr, nur noch wir und die anderen. Vereinzelung ist das Prinzip auf allen Ebenen. Die betriebswirtschaftliche Denke machts...



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Ein kolossales Monument als megalomanes Dokument

Freitag, 15. Februar 2013

oder Suttgart 21 taugt immer noch als Hochaltar ambitionierten Durchhaltens.

Da haben sich die Eliten zu Stuttgart ein Jahrhundertprojekt ausgedacht, etwaige Amigos mit Aufträgen bedient, öffentliche Gelder zur Befriedigung ihrer Maßlosigkeit verprasst. Da hat sich dieser Filz ein Prestigeobjekt verwirklichen wollen, aus dem die Leistungsfähigkeit und die Grandezza dieses alternativlosen Systems und dessen technologische Ausgebufftheit hervorgehen sollte. Da wollte sich die Hautevolee aus ihrer Mittelmäßigkeit winden und der Nachwelt etwas auftischen, das wie Monumentalität des Geistes und der Tatkraft aussieht. Megalomanie des Mittelmaßes. Und nun ist nicht mal sicher, wann und ob das unterirdische Fiasko je fertiggestellt wird.

Das Projekt einstellen kommt jedoch nicht in Frage. Es wird weitergeführt und Gelder werden aufgebracht werden, um das große Durchhalten zu einer formvollendeten Partitur zu modellieren. Unterstellte man einst den Sozialisten, sie würden chiliastisch auf den "großen Kladderadatsch", die Weltrevolution warten und vielleicht sogar fatalistisch hoffen, es käme nie dazu, um weiter darauf hoffen zu können, so werden diese Klüngelkapitalisten ihren eigenen Fatalismus mit Phrasen von Standhalten und Dranbleiben schmücken.

Der Blick ins Jahr 2025 verrät ein Jubiläum. 15 Jahre Bauarbeiten an der Zukunft, an der visionären Standortstärkung, am Ausbau von Arbeitsplätzen und Wohlstand. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird ein Vertreter der grün-schwarzen Koalition künden, müsse das Projekt weiter gefördert und subventioniert werden. Das Projekt ist als Impuls auch für Unternehmen, die in den Standort Deutschland investieren wollten, zu sehen. Die vielen Milliarden, die schon heute gut in die Baustelle investiert wurden, könnten nicht einfach verschleudert werden, indem man nun aufgebe. Durchhalten sei nun nötig, das Projekt zu einem Ende zu führen dringlich.

Nein, es darf nicht zum Mahnmal von Eliten werden, die nur in ihrem Versagen und in ihrem Korruptionstrieb, in ihrer Verfilzung und in ihrem Geltungsbedürfnis elitär sind. Nicht zu einem Monument, das diese Eliten zu dem erklärt, was sie sind: eine Horde pseudoakademischer Titelerschleicher, kleinkarierter Klassisten und karrieristischer Windbeutel. Da soll lieber aus dem Projekt ein Hochaltar für Durchhalteparolen werden, ein fatalistischer und ambitionierter Versuch, das Scheitern über Jahre hinweg mit weiteren Mitteln zu kaschieren, hinauszuzögern, in eine nie eintretende Zukunft zu verschleppen.

Ein Eingeständnis des Scheiterns wäre mehr als zuzugeben, man habe sich überschätzt am Projekt, man habe etwas zu groß gedacht, etwas zu vermessen geplant. Es wäre das bedauerliche Eingeständnis einer Klasse, die zwischen Kommunal- und Bundespolitik und regionalen wie überregionalen Unternehmen verleimt ist, die zwischen Mandat und Sessel im Aufsichtsrat, zwischen Allgemeininteresse und Profitabsichten nicht unterscheiden kann. Eine Klasse die meint, es sei Politik, wenn man öffentliche Aufträge in die Tasche von Unternehmen bugsiert, deren Obmänner man gut kennt und deren Obmänner glauben, es sei der freie Markt, wenn sie Kostenvoranschläge runterschrauben, um sich hernach von der öffentlichen Hand über Jahre sanieren zu lassen.

Das Scheitern gehört nun verschleppt, um diese Eliten aus öffentlicher Hand und privaten Unternehmertum, diese mandatierten Unternehmensberater und -auftraggeber zu erhalten, vom Verdacht zu befreien, sie seien nicht nur mittelmäßig, sondern in ihrer Verfilzung sogar noch ausgesprochen blöde und idiotisch. Stuttgart 21 hätte ein Monument geistiger Herrlichkeit, ein architektonisches Lob auf diese Zeit der Effektivität, des Denkens in allergrößten Maßstäben, der Anpacker- und Schaffermentalität sein sollen. Und nun mit der Aussicht auf Scheitern schrumpft es sich auf die Wahrheit zurück, wird es zum Hochaltar eines Zeitalters, das postdemokratisch Politik mit den Interessen privater Unternehmen verwechselt hat, in dem Größenwahn eine Möglichkeit war, seiner Karriere einen Hauch von Visionsfähigkeit zu verleihen, in der das Mittelmaß als elitärer Zirkel wütete.

Aus dem Denkmal der postdemokratischen Größe unserer Zeit, könnte letztlich ein Denkanstoß werden, dass diese Größe nie vorhanden war, fürchtet man nun. Deshalb heißt es jetzt für die Granden dieser irrtümlichen Epoche: Durchhalten. Weitermachen. Subventionieren. Und immer wieder beschwören.



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Sit venia verbo

Donnerstag, 14. Februar 2013

"Wenige Wochen vor seinem Tod habe ich ihn gefragt, womit er sich – gesetzt den Fall, er sei halbes Jahrhundert jünger – unter den gegebenen Zeitumständen beschäftigen würde. Er reagierte auf diese Frage in einer Weise, die ich bei ihm noch nicht kennengelernt hatte, nämlich mit Unverständnis und spöttischer Ungeduld. Er sagte, zum erstenmal in der Geschichte der Gattung hätte die technische Entwicklung ein Niveau erreicht, das ein Leben ohne physische Not und entfremdete Arbeit, ein Leben in Würde und Freiheit für alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft objektiv möglich macht. Zugleich sei die Politik in der Ersten und der Zweiten Welt darauf konzentriert, durch immer umfassendere autoritäre Kontrollen die Menschen davon abzuhalten, diese weltgeschichtliche Chance zu erkennen und praktisch zu ergreifen. Er wisse gar nicht, worüber man sonst arbeiten sollte, wenn nicht über diesen ungeheuerlichen Widerspruch."
- Helmut Dubiel über Herbert Marcuse -

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Ein Plädoyer gegen Selbstgefälligkeit

Mittwoch, 13. Februar 2013

Hinter der Hochglanzfassade dieser Gesellschaft hat die postdemokratische Wirklichkeit schon lange eingesetzt. Dort hat sie ethische Kategorien ausgehöhlt und das wirtschaftlichen Interesse zur alleinigen Prämisse der Entscheidungsfindung auserkoren. Die Medien sind dabei nicht mehr als die in Anspruch genommene PR-Abteilung eines demokratischen Lebensgefühls, das sich damit zufrieden gibt, ritualisierte Prozesse zu goutieren und vorher schon ausgehandelte Abstimmungen als lobenswerten Akt der demokratischen Mitbestimmung zu küren. Wer heute Gerechtigkeit einfordert, der wagt den geistigen Tanz mit einer Demokratie, die an sich selbst ermüdet ist und der es völlig genügt, wie eine auszusehen.

Lutz Hausstein, Wegbegleiter der (leider immer noch) kleinen linken Bloggerszene dieses Landes - und somit auch immer Begleiter ad sinistrams -, hat einige Texte, die diese Postdemokratie widerspiegeln zu einem Buch gebunden. Dies liegt nun unter dem Namen Ein Plädoyer für Gerechtigkeit vor.

Zentral ist für Hausstein einerseits der Umgang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 - und die eigene Demontage, die es betrieb, um in der Folge des Urteils mit all den Stimmen aus den Medien, der Politik und der Wirtschaft kompatibel zu werden. Damals befanden die Verfassungsrichter, dass die Berechnung des Regelsatzes nicht transparent genug sei und man nicht schlüssig erklären könne, weshalb man den errechneten Warenkorb per Abschlag mindert oder den Regelsatz für Kinder minimiert. Außerdem sprachen sie deutlich an, dass ein sorgfältig und transparent errechneter Regelsatz das absolute Existenzminimum sei, das nicht unterschritten werden dürfe. Hier hätte die Interpretation nur einen Schluss zugelassen: Die Sanktionen, dieses Herzstück der Hartz-Reformen, sind verfassungswidrig. Und genau diese Folgerung traf so gut wie niemand. Nicht die Politik. Nicht die Medien. Und selbst Verfassungsrichter Papier entblödete sich nicht, in einem Interview das eigene Urteil umzukehren, in der Sanktionspraxis keinen Widerspruch erkennen zu können.

Hausstein sieht die logische Konklusion jedoch sehr wohl und erklärt sie. Und erklärt so nebenher, wie eine Demokratie mehr und mehr in einen Prozess der scheinbaren Reibungslosigkeit hinübergleitet, wie Verfassungsurteile zum weihevollen Ritus werden, nur um nachher durch das Gefeilsche und die ideologisch bedingte Exegese der politischen Parteien modelliert und teilweise entfremdet zu werden. Die Quasidemokratie, die als Kulthandlung abgespult wird, und die dem eigentlichen Souverän, dem big business, dient, schwingt bei Hausstein ständig mit.

Ein Plädoyer für Gerechtigkeit meint letztlich auch: Ein Plädoyer gegen Selbstgerechtigkeit, die dieser zum Krämersystem umgemodelten Demokratie als Grundprinzip innewohnt. Demokratie als Label zu führen ist ihr und ihren Vertretern in geradezu selbstgerechter, selbstgefälliger Arroganz genug. Hausstein erlaubt sich nur einen Querschnitt durch diese Republik, deren res publica es ist, öffentlich so zu tun, als seien Arbeitgeberwünsche und Konzernvorlieben in unser aller Interesse. Er liefert damit aber nicht weniger als einen Ausblick auf eine Demokratie, die sich selbst an ihrem einst auferlegten Anspruch stört, jeden Menschen zu hören, zu schätzen, zu unterstützen. Jeder von Haussteins Texten ist somit ein trauriger Gruß aus einem postdemokratischen Topos.

Ein Plädoyer für Gerechtigkeit von Lutz Hausstein ist in der Edition Bildstein erschienen.



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Chronist seines eigenen Versagens

Dienstag, 12. Februar 2013

oder Das Scheitern der Soziologie.

Der Mann im Schatten Sarrazins schreibt nun regelmäßig für jenes Blatt, dass Sarrazins Schatten ins Licht rückte. Wöchentlich. Berichte aus Neukölln. Seinem Revier. "Bei mir stehen" die Hälfte aller Leute Mitte zwanzig in Arbeitslosengeld II-Bezug. Genau so schreibt er das - bei mir. Dieser König von Neukölln berichtet über Gesocks, faules Gesindel, ausländische Arbeitslose, arbeitslose Ausländer und den aussichtslosen Kampf anständiger Bürgersleut' wie ihn, diese Zustände irgendwie zu korrigieren. Seine Berichte sind Litaneien an Vorwürfe. Alles ist eigenverantwortlich. Fehlende Integrationsbereitschaft, Arbeitslosigkeit und Lethargie, Lustlosigkeit auf Leistung und natürlich die diesem Trauerspiel immanente Gewaltbereitschaft. Nichts scheint von äußeren Einflüssen in diesem Bezirk entstanden zu sein - alles kommt aus diesen Menschen selbst.

Für diesen kauzigen Chronisten ist Neukölln ein Pool an Menschen, die ihre Misere selbst verursacht haben und aus freien Stücken in ihr harren. Sie haben nur die Chancen nie ergriffen, die Angebote angenommen, die die Gesellschaft ihnen in reichlicher Zahl gab. Selbst wenn sie mal eines dieser Angebote annehmen, eine Lehre beginnen, dann würden sie sie bald wieder abbrechen. In seinem Bezirk sei die Abbruchrate besonders hoch, schreibt er. Wie überhaupt alles in seinem Revier besonders schlecht sei. Trotzdem lautete sein verwirrender Appell, dass Neukölln überall sei - und das, obgleich er doch nun wöchentlich festhält, dass es ausgerechnet in diesem Neukölln besonders ungeordnet, chaotisch und schlecht zugehe.

Was der Mann da schreibt, sind weniger die Beschreibungen einer Klientel, die unbelehrbar ist, als die Skizzierung einer Gegend, die von der Politik schon lange verlassen und aufgegeben wurde. Einer Gegend, die politisch gewollt zum sozialen Brennpunkt hinabgereicht, in die nicht mehr investiert, soziale Einrichtungen nicht mehr geschaffen wurden. Eine vernachlässigte Gegend, wie man sie in allen Metropolen Europas findet. Ein Banlieu, das kommunalpolitisch totgespart wird. Dieser Chronist schreibt von einem Stadtteil, der von den Geldern der öffentlichen Hand fast nur in Form von Polizeieinsätzen etwas hat.

Diese wöchentliche Kolumne ist nicht der Bericht eigenverantwortlich gescheiterter Lebensentwürfe. Es ist die Chronik politischen Versagens, klassistischer Klientelpolitik. Es ist die Aufzeichung des Gegenteiles von Hochglanz- und Trendvierteln, die mit öffentlichen Geldern ausgestattet werden, die dann in Stadtteilen wie Neukölln fehlen. Der Chronist beschreibt insofern nicht das Versagen der Menschen in seinem Bezirk, sondern er erfasst das politische und somit auch sein eigenes Versagen.

Natürlich sind die Normen des Verhaltens in einem solchen Milieu andere. Sie unterscheiden sich zu den bürgerlichen Werten, die ja auch dieser selbstgerechte Berichterstatter lieber sehen würde. Wenn er schreibt, dass Kellner-Azubis schneller ihre Ausbildung hinschmeißen als Bankkaufleute, dann zeigt das selbstverständlich die klassistische Lesart. Und wenn man sich dann vorstellt, dass der feine Zwirn in irgendeinem Neuköllner Establishment unterkommt und sich bedienen läßt, um dort gegen den sozialen Abfall des Bezirkes zu wettern, dann ist schon nachvollziehbar, warum man da nicht kellnern will. Man merkt als angehender Kellner recht schnell, wie ehrabschneidend so ein Job manchmal sein kann, wie schroff man von der Laufkundschaft abgetan wird - sicherlich auch von Bankkaufleuten, die in der Regel nicht erfahren, was Entwürdigung im Beruf bedeutet.

Dass Menschen an Orten wie Neukölln tatsächlich andere Normen besitzen, hat natürlich soziologisch begründbare Erklärungen. In einem Klima der Entwürdigung und der Mittelknappheit, mit der man als dortiger Bürger immer und immer wieder konfrontiert wird, entwickelt sich ein anderer Verhaltenskodex. Das hat nicht viel mit Faulheit zu tun, auch nicht mit fehlender Leistungsbereitschaft. Man wird für Entwürdigung nur dünnhäutiger, man schmeißt lieber hin; man ist nicht lethargisch, weil man müde, sondern vor allen Dingen, weil man abwägend, vorsichtig und misstrauisch geworden ist. Man hat Gesellschaft nie als Zusammenhalt, sondern immer nur als Krieg reicher Klassen gegen den eigenen Stand erlebt. Und dass der Chronist eine Kellner-Lehre als eine der großen Chancen ansieht, die die Gesellschaft seinen Neuköllnern bietet, sagt im Grunde alles. Kellnern als Berufung? Ausgerechnet in einer Branche, in der geringfügig und scheinselbständig gearbeitet wird, in der Qualifikation immer weniger gefragt wird! Und solche Chancen nicht zu ergreifen, wirft dieser Kerl den Menschen vor?

Chronisten wie er zeigen: die Soziologie als respektierte Wissenschaft ist wahrscheinlich gescheitert. An solchen und an einem breiten Publikum, bei dem er Zuspruch findet, weil er ein scheinbar schwärendes Gefühl bedient. Soziologische Zusammenhänge und Vernetzungen, dass Verhalten nicht einfach in der Gesellschaftsschicht ist, sondern gemacht wird, dass Dynamiken nicht frei wählbar entstehen, sondern durch gesellschaftliche Momente determiniert sind - all das ist als wissenschaftlicher Ansatz in einer Gesellschaft, die dem Bullshit frönt und dem Boulevard als Massenphänomen huldigt, famos gescheitert. Die Eigenverantwortlichkeits-Rhetorik der Marktradikalen, mit ihren Sentenzen, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, hat der Soziologie als Lehre von den Gefährten (lat. socius, der Gefährte), die um uns herum sind, das Wasser abgegraben. Neukölln wird somit nicht als (kommunal-)politisch vernachlässigter Ort wahrgenommen, der auf seine ganz eigentümliche Weise sozialisiert, sondern als ein Platz, an dem Menschen selbstbestimmt den Weg der Sozialhilfe, der Arbeitslosigkeit und falscher Moral- und Lebensvorstellungen wählen.

Diese offiziösen Chronisten unserer Zeit, die Einblicke nehmen in die Lebensrealität unterer Schichten, entfremden das Verständnis von Gesellschaft und der in ihr immanenten Prozesse von der soziologischen Wissenschaft. Sie karikieren ein Gesellschaftsverständnis, in dem Individuen unbeinflusst und unberührt von ihren jeweiligen Umfeldern Lebensentscheidungen treffen. Andere dieser Art erklären soziologische Sichtweisen insofern für überholt, dass sie Gene für verantwortlich küren. Schwarze Soziologie ist dabei als Begriff nicht mal zutreffend, denn es wird gar kein Bild von gesellschaftlichen und politisch konzipierten oder erzeugten Dynamiken entworfen, sondern die Vereinzelung sozialer Opfer betrieben. Dass es keine Gesellschaft gibt, nur Männer und Frauen, wie Thatcher mal meinte, prangt hier als Motto dieses Gesellschaftsbildes. Vielleicht haben sie diese Lehre vom Gefährten, vom Socius, einfach nur falsch gelesen und statt Gefährte Gefahr entziffert. Denn was hier chronologisch erfasst wird, ist tatsächlich mehr eine Lehre der Gefahr.

Die Soziologie dieses Neuköllner Menschen ist jedenfalls so eine Gefahrenlehre. Aufgebauscht und dramatisiert. Denn trotz dieses Abgesangs auf eine dringend benötigte soziologische Schau auf die gesellschaftlichen Strömungen und Ausformungen, so ist die deklarierte Leistungsverweigerung und Faulheit nur eine marginale Erscheinung. Von der Hälfte aller Leute Mitte zwanzig, die "bei ihm" im Hartz IV-Bezug stehen, dürfte die Mehrzahl händeringend nach Arbeit suchen oder teilweise sogar arbeiten und dennoch vom Jobcenter abhängig sein. Das schreibt der Chronist freilich nicht, denn das wäre das Eingeständnis des Scheiterns seiner politischen Klasse und letztlich auch die Beichte darüber, als Mitglied dieser ehrenwerten Klasse selbst gescheitert zu sein.



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Vielleicht mal einer ohne Geldbeutel

Montag, 11. Februar 2013

Jetzt ein Befreiungstheologe. Jetzt einer, der die Bibel von der Lebenserfahrung der Armen her auslegt. Jetzt ein Südamerikaner, der die Favelas kennt, die imperialistischen Versuche des Neoliberalismus, die Ausbeutung von Ressourcen zuungunsten derer, die über oder neben diesen Ressourcen darben.

Man darf freilich nicht glauben, dass der dann die Welt verändert. Aber als moralisches Regulativ könnte er dienen, als sittliche Instanz in einer Welt der Krämer und Händler. Jetzt einer, der einen Syllabus Errorum formuliert, wie weiland einer seiner Vorgänger. Nur dass er darin den Neoliberalismus als einen Irrweg aufnehmen sollte, als die unerträgliche Arroganz, Menschen zu verzwecken und zu Warenwerten aus Fleisch und Blut zu machen. Jetzt einer, der nach Lesart der Befreiung, die organisierte Religion nicht als Feigenblatt irdischer Gewalten missbraucht, sondern als Unterstützer der Armen, als Stimme der Entrechteten nutzt.

Eine Prophezeiung des Malachias soll lauten, dass der 266. Papst (er zählt einen heute nicht mehr anerkannten Papst mit) nur relativ kurz im Amt sein werde - nach ihm komme nichts mehr, ende die Katholische Kirche. Nach dem eitlen Theologen, der jetzt abtritt, soll als keiner mehr kommen. Wer sagt denn, dass man diese Prophezeiung nicht dazu nutzen könnte, mit einer Katholischen Kirche, wie es sie seit Jahrtausenden gibt und wie sie Stück für Stück vor die Hunde geht, zu brechen, um einen neuen Stil zu ermöglichen, eine Kirche, die sich als Organ der globalen Armut versteht und gegen die 0,01 Prozent in Stellung geht?

Umberto Eco berichtet in Der Name der Rose bildreich von Streit derer, die Jesus mit Geldbeutel sahen und denen, die ihn bar der Möglichkeit des Geldsammelns sehen wollten. Kurie gegen Minderbrüder. Reich gegen arm. Diese Option haben die Kardinäle erneut. Wollen sie nochmal einen Reaktionär, der den Exorzismus unterstützt und als Pfeiler der Kirche anerkennt? Oder dann doch lieber einen, der die Probleme dieser Welt nicht in Phantasiekonstrukten wie Linksruck und dergleichen sieht, sondern im beschleunigten Kapitalismus?

Katholische Kirche Seit' an Seit' mit linken Bewegungen? So ein Wahnsinn, nicht wahr? Ich habe Leser, die sich christlich nennen und deshalb Die Linke wählen. Böll war Katholik und engagierte sich aus diesem Grunde sozial. Wie viele andere hoffte er stets, dass der Katholizismus seiner sozialen Verantwortung nicht nur in Fürsorgeeinrichtungen, sondern auf der politischen Bühne, Nachdruck verleihen würde. Der scheidende Papst hat jedenfalls die historische Chance verstreichen lassen, als deutscher Papst ein Europa unter Kuratel deutscher Tugendhaftigkeit lauthals zu verurteilen. Die Befreiungstheologie Südamerikas gilt als eine Wurzel des südamerikanischen Linksrucks, als Inspiration des Bolivarismus. Leute wie die beiden Boffs haben sich nicht trotz ihres Glaubens sozialistischen Projekten genähert, sondern gerade wegen ihres Glaubens.

Man darf kein Hohelied auf den sozialen Katholizismus anstimmen. Zu viel hat er versaut, seine Päpste waren alte, phantasielose Männer, die die Erscheinungen der Welt mit einer Theologie aus Augustinus' Zeiten beantworteten. Und auch die Befreiungstheologie ist noch immer Theologie, also eine Lehre von Gottes Wort und damit für viele vorab diskreditiert. Aber was könnte ein Katholizismus, der näher an Occupy! ist als an der Wall Street, der sich mehr an leeren Reisschalen und Regelsätzen orientiert als an Bankette und Aufwandsentschädigungen für Aufsichtsräte, denn schaden? Wenn Menschen einen Gott zur Stützung ihres sozialen Gewissens benötigen, dann soll es doch gut sein.

Wenn all die eingepflanzten Lehren des Neoliberalismus, der beständige Wettbewerb von Unternehmen und Angestellten, von Kindern in Schulen und Ärzten vor Ort, die Ich-, Meins- und Das-gehört-mir!-Doktrinen, die Privatisierungswut und die genetisch verbrämte Ungleichverteilung, überhaupt noch erschüttert werden können, dann vielleicht von dieser Instanz, die vielen Menschen immer noch ein wenig Respekt einflösst. Was wäre denn, wenn aus Rom eine Enzyklika über Europa käme, in der diese Entwicklungen gebrandmarkt werden? Und was, wenn ein solcher Papst seine Schwester Angela scharf kritisieren würde? Könnte das nicht Wirkung auf die Menschen haben? Oder spickt der Neoliberalismus in so einem Falle bei Bismarck und entfacht einen neuen Kulturkampf gegen diesen gefährlichen und fast schon sozialistischen Ultramontanismus?

Dem noch amtierenden Papst lobte man konfessionsübergreifend auch, weil er die deutsche Staatskirche des Neoliberalismus, die EKD und ihre Hohepriester, nicht antastete und sich stattdessen auf antiquierte Fragen der Ökumene versteifte. Ein in Befreiungstheologie sozialisierter Papst, der seine Herkunft weiterhin pflegte, würde umgehend die Antipathie der deutschen Öffentlichkeit nach sich ziehen - die Meinungsmache liefe auf Hochtouren. Gründete Angela gleich noch ihre Anglikanische Kirche? Abspaltung von Rom? Ein Papst der Befreiung könnte sie nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen. Aber er könnte sie zwingen, immer unverschämter zu lügen.



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Ridendo dicere verum

"Die Öffentlich-Rechtlichen machen sich in jede Hose, die man ihnen hinhält, und die Privaten senden das, was darin ist."

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Ehe der Hahn kräht ...

Freitag, 8. Februar 2013

Was diesem Hahn in den Sinn kam, kann nicht genau erklärt werden. Die Entrüstung dazu ist geheuchelt. Wenn er denn nun "allerdings gerne wissen" möchte, "ob unsere Gesellschaft schon so weit ist, einen asiatisch aussehenden Vizekanzler auch noch länger zu akzeptieren", dann kann ich nur dazu sagen: Ich würde es auch wissen wollen. Hypothetisch jedenfalls - praktisch wäre mir die FDP außerhalb des Bundestages dann doch lieber. Hahn fühle sich nun jedenfalls missverstanden. Und ich kann ihn, trotz aller politischen Differenzen, durchaus verstehen.

Ich will nicht der Frage nachgehen, ob man aus diesem Satz einen etwaigen rassistischen Grundtenor Hahns ableiten kann. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Dazu kenne ich ihn zu wenig; wenn ich ehrlich bin, habe ich diesen Mann vorher nicht mal wahrgenommen. Er nimmt sich jetzt seine 15 minutes of fame.

Seitdem Rösler die bundespolitische Bühne betreten hat, war er qua seiner Position Gegenstand der Berichterstattung und des Kabaretts. In vermeintlich seriösen Sendungen hörte man Sätze wie, es fielen ihm - dem Rösler - wahrscheinlich die Stäbchen aus der Hand. Seine Parteikollegen sprachen vom Bambus, der im Wind wiegt - was einer Eiche nicht passieren könne. Vermeintlich linksliberale Kabarettisten verstiegen sich immer wieder dazu, Röslers asiatischen Hintergrund zu verkalauern. Ich erinnere mich mal gehört zu haben, dass Rösler auch dann ein Gelber geworden wäre, wenn er nicht bei der FDP aufgeschlagen wäre. Oder irgendwelche Verkosungen, die man rassistisch auflud. Oder man erklärte, dass Westerwelle doch noch zu einem Kind gekommen sei - zu einem vietnamesischen Findelkind. Sein asiatisches Aussehen war neben seiner neoliberalen Ausrichtung leider immer Sujet.

Kurzum, der Spott mit dem man Rösler durchaus zurecht begegnete, glitt immer gerne ins Rassistische, wenigstens aber ins Rassistoide ab, in so ein Gefilde gutgemeinten und leutseligen Augenzwinkern-Rassismus. Und der erzielte tatsächlich auch Applaus und Lacher. Als Lerchenberg am Nockherberg mal erklärte, dass die FDP am liebsten Hartz IV-Bezieher in ein Lager sperren wolle, "bewacht von jungliberalen Ichlingen im Gelbhemd", da empörte man sich aber vehement. Witze über gelbe Hemden sind nicht angebracht - Witze über den gelben Chef der Gelben waren aber jederzeit vor Kritik gefeit.

Ob Hahn den nicht sehr beliebten Gelbhemden-Chef einfach nur zur Disposition stellen wollte, kann ich nicht beantworten. Man kann das so sehen. Man kann in seinen Aussagen auch die Weltanschauung eines Mannes sehen, der im schwarz-gelben Milieu seines Bundeslandes rassistische Impulse erlernt haben mag. Alles denkbar. Aber diese Aussage, die man da zu lesen bekommt, sie kann natürlich auch anders gemeint sein. Hat diese Gesellschaft diesen asiatisch aussehenden Vizekanzler denn nicht nur ertragen, wenn sie immer wieder mal auf seine Herkunft deuten durfte? Wurde der Spott an seiner Person nicht erst dann besonders beißend, wenn sein exotisches Aussehen, seine schwarzen Haare und asiatischen Augen (so schrieb es sinngemäß mal die BILD-Zeitung), Gegenstand der Häme wurden?

Man bewahre mich davor, einen Mann der FDP in Schutz zu nehmen. Aber die Reflexe, die seinen Äußerung jetzt folgen, die gehen von geheuchelt bis einfach nur Hauptsache, ich habe mich mal empört.

Eine Debatte wollte er anstoßen, sagt er nun. Debatte anstoßen - das ist die Modeausrede derzeit. Immer wenn einer ertappt wird, wollte er nur debattieren. Und welche Debatte wollte er anfachen? Eine über eine etwaige Nachfolge? Oder eine über den rassistischen Konsens in der Bevölkerung? Letzteres muss doch nicht erst debattiert werden. In Zeiten von Judengenen und Kopftuchmädchen weiß man davon ausreichend auch ohne angestoßene Debatten. Wahrscheinlich weiß Hahn selbst nicht mehr, was er damit sagen wollte. Er wird auch einer von der Sorte sein, die unbedingt etwas sagen müssen, wenn man ihnen ein Mikro ins Gesicht steckt.

So wie all die Typen, die ja unbedingt etwas sagen mussten und Entgleisung! und Verfehlung! riefen. Da wünscht man sich doch mal jemanden, der sagt, Ach wissen Sie was, ich habe keine Ahnung, was der Hahn da gesagt hat. Fragen Sie mich in drei Tagen nochmal, vielleicht habe ich mir dann eine Meinung dazu gebildet. Aber in drei Tagen kümmert es ja niemanden mehr. Deshalb ruft man Zeter und Mordio, wenn ein Journalist einem ein Statement serviert und liefert gleich noch ein Statement hinterher und entfacht einen solchen Shitstorm an Statements, die keiner braucht und die ungefähr so vorhersehbar sind wie Dinner for One. Noch ehe der Hahn kräht, gibt es schon acht Entrüstungen, vierzehn geschüttelte Köpfe, drei Rassismusvorwürfe, sieben Rücktrittsforderungen und achtzehn Empörungsschreie.

Und schließlich leben wir in einer Meinungsindustrie. Jeder sollte da eine Meinung haben müssen - auch um die Absatzzahlen dieser Industrie zu fördern. Und dann gibt es Themen, da sollte man nicht eine Meinung haben, sondern die eine Meinung haben. Weil es besser ankommt.

Ich nehme das persönlich, dass dieser Medienbetrieb mit seiner Statementjonglage und seinen Aufbauschungen, seiner Deutungshoheit und seiner Attitude, Scheiße zum Sittlichkeitsthema zu erheben und Rassismen die offenbar sind zu kaschieren, während sie Sätze, die gar nicht rassistisch gemeint sein müssen, dramatisert ... ich nehme es persönlich, dass mir dieser Journalismus genannte Affenzirkus jetzt mal wieder eine Rolle zuschustert, einen wie Hahn zu rechtfertigen. Nicht dass mir der Mann sympathisch wäre - ich kenn' ihn ja nicht mal. Aber man kann es auch übertreiben ...

Rösler nimmt es ihm nicht krumm, hieß es heute. Sie seien befreundet. Was bedeutet Freundschaft schon in der Politik? Aber das ist eine andere Geschichte. Im Zuge der Recherche zu diesen Zeilen fand ich einen Kommentar in irgendeinem Forum. Da ging es um Brüderle, wie er Rösler wohl vor zwei, drei Jahren angriff, ich glaube es handelte sich um das Bambus-Zitat, das ich oben ansprach. Auch da hat Rösler reagiert wie bei Hahn. Er habe keinen Streit mit Brüderle, sagte er. Ein Forumsteilnehmer wusste scheinbar warum. Er vermute, schrieb er, dass diese Freundlichkeit seiner asiatischen Herkunft geschuldet sei.

Wie das wohl gemeint war? Wohl als das bediente Klischee von einem Asiaten, der selbst dann noch lächelt, wenn man ihn ausbeutet. Was Europäer halt für ein Lächeln halten wollen. Die lächeln doch immer so freundlich. Land des Lächelns heißt es noch, nicht wahr? Was, Rösler ist kein Japaner? Achwas, so genau geht es doch nicht! Vielleicht waren es ja eben genau Aussagen wie jene in diesem Forum, die den Hahn krähen ließen.



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Die ausgebeuteten Säulen des Himmels

oder Über ein Manifest reicher Leute.

Just an dem Tag, da ich eine Abhandlung über den Anarchismus und wie ich ihn sehe, in den Raum stellte, übergab mir der Postbote eine Buchsendung. Das ist zwischenzeitlich viele Wochen her. Im Karton enthalten war Das libertäre Manifest Blankertz'. Geschickt hatte es mir jemand, ein Libertärer, den ich schon länger kenne - er hatte mir schon vorab angekündigt, mir ein Exemplar zur Beurteilung zu schicken. Mit Zur Neubestimmung der Klassentheorie war das Manifest vielversprechend untertitelt. Indes eine solche Neubestimmung vermochte ich dann doch nicht zu finden. Schnell war mir klar, dass meine Gedanken zum Anarchismus grundsätzlich nicht mit diesem Manifest vereinbar sind, auch wenn die Libertären und die Anarchisten irgendwo mal zusammen in einer Ecke gestanden haben mochten. Beides passt heute unter keinen Umständen mehr zusammen.

Das libertäre Manifest strotzt vor Ekel vor dem Staat. Er - der Staat - ist darin ein Konstrukt der Gier, der Gewaltbereitschaft, der Unterdrückung und der Einschränkung. Vieles davon stimmt manchmal oder in homöopathischen Dosen - anderes ist einfach nur übertrieben und ideologisch konstruiert. Es ist ein Manifest des unterdrückten Kapitalismus und die unterdrückte Klasse scheint für Blankertz der Kapitalist zu sein. Der wird von allen Seiten ausgesaugt, seine Antriebskraft von überall her gedämpft. Das erinnert fatal an Ayn Rands haarsträubenden Roman von 1957, Atlas wirft die Welt ab hieß der, in dem sich die kapitalistischen Unternehmer in die Berge zurückzogen, weil sie sich stetig von Staat und Gesellschaft bevormundet und in ihrer Schaffenskraft behindert fühlten und weil sie dabei zusehen wollten, wie die Welt ohne Unternehmer an den Abrgund taumelt. Rand ordnete den Unternehmern die Rolle des mythologischen Riesen Atlas zu, der das Himmelsgewölbe schulterte und der nun seinen Dienst versagte. Die Unternehmerklasse war also nach Rand diejenige, die die Menschheit vorantreibe.

Möge uns also nicht der Himmel auf den Kopf fallen, weil Herr Atlas eine Schnute zieht, weil wir unsere Kapitalisten zu sehr in "sozialistisches" Bürokratentum hineinleiten, ihnen Zaumzeug anlegen. Blankertz' wie Rands Bestreben ist letztlich die Ideologie eines freien Marktes, in dem der Stärkere den Schwächeren erdrückt. Ist dieser nicht dergestaltet frei von staatlichen Eingriffen, so können die Mitspieler auf dem Markt nicht regellos frei handeln, so fällt uns der Himmel auf den Schädel, den die Kapitalisten auf ihren Schultern ruhen haben. Sie sind das Gewölbe einer für sie freien, einer für sie guten Welt. Zwar ziehen sie sich nicht wie in jenem Roman in eine Parallelwelt des Selbstmitleides zurück, aber ihre Reglementierung schade uns immens, will Blankertz sagen. Selbstmitleid schwingt freilich trotzdem mit. Denn es sei der teuflische Etatismus, die okkulte Lehre vom Staat, die die Befreiung des Kapitalisten nicht zulasse.

Natürlich ist diese Anschauung nicht mehr als ein Gag reicher Leute. Was Blankertz an Reichtümern hat, steht dabei nicht zur Debatte. Es interessiert mich auch nicht. Bloß wenn er nicht reich ist, so macht er sich zum Hausneger reicher Leute, um es mit Malcolm X zu sagen.

Andersherum gäbe alles Sinn, denn der Himmel fällt uns deswegen nicht auf den Kopf, weil es Regeln und Staatlichkeit gibt. Fielen die jedoch weg, bliebe denen, die nicht stark genug sind, nur ein flehender Blick hochwärts zum Himmel - denn der wäre kostenlos. Mehr bliebe jedoch nicht, denn alles andere wäre unerreichbar und unerschwinglich und von den Dominatoren des Systems der vermeintlichen Systemlosigkeit behindert. Natürlich wäre all das keine Systemlosigkeit, sondern hätte System. Es handelte sich in dieser marktkonformen Demokratie ohne etatistische Regelsetzungen um eine systematische Exklusionsgesellschaft, um ein System des gnadenlosen Missbrauchs von Eigentum und Produktionsmitteln und Machtstellungen. Und was ist das überhaupt für eine Metapher, den Himmel Säulen zu unterstellen? Das dünkt ja mittelalterlich!

So mittelalterlich, wie die Aussicht auf eine Gesellschaft, in denen kraftvolle Raubritter in den Reihen der Leibeigenen plündern und brandschatzen dürften. Man kann ja an der Staatlichkeit viel Kritik üben. Die einfachste Sorte Kritik ist die, dass er die Schuld für Kriege trage, weil er sich in seiner nationalistischen Ausformung nicht anders artikulieren könne. Der Zugriff des Staates auf seine Bürger im Kriegsfall ist das dramatische Paradebeispiel für einen Etatismus, der skrupellos und menschenverachtend seinen Selbstzweck erfüllt. Wer wollte dem etwas entgegensetzen? Gleichwohl ist der Staat Regelsetzer, schafft Rechtsgrundlagen und -ansprüche, in seiner leider ins Hintertreffen geratenen sozialstaatlichen Variante, versucht er Gleichstellung und rudimentären Wohlstand zu sichern. Fiele der Staat, in welcher Weise auch immer, plötzlich weg, werden zwar Gewaltakte wie Kriege nicht verschwinden, die Überwachung und der Vollzug von Regeln für ein akzeptables Zusammenleben jedoch wären verloren - was wiederum Gewalt nach sich zöge. Trotz Staat und auch weil der schöne Traum vom freien Markt immer mehr verwirklicht wurde und der Staat sich selbst deregulierte, was heißt: seine ureigenste Aufgabe abgab, gibt es heute Ungleichverteilung in exorbitantem Ausmaß. Ginge diese ungleiche Partizipation am Wohlstand der gesamten Menschheit eins zu eins in eine allgemeine Staatenlosigkeit über, so wartete für die meisten Menschen die Knechtschaft am Ende aller Träumerei.

Der Klassenkampf sei nicht vorbei, schreibt Blankertz. Und damit hat er natürlich recht. Die Theorie vom Ende aller Klasseninteressen hat sich als Einlullungstaktik erwiesen. Es ist aber nicht das, was Blankertz vorgibt. Er macht Kapitalisten zu den Opfern des unterdrückten Klassenkampfes. Man stelle sich mal Warren Buffett als unterdrückten Klassenkämpfer vor - und all die marktradikalen Mantras repetierenden Kapitalisten gleich dazu!

Kurzum, es ist ein Abgesang auf den Staat, wie ihn nur reiche Leute anstimmen können. Oder wie ihn nur Leute anstimmen, die reicher Leute Dogmen wiederkäuen. Das libertäre Manifest ist allerdings für diejenigen, die einen starken Mitspieler benötigen, leider kein erhellender Beitrag. Es vernebelt und dient der Sache einer Freiheit, die Knechtschaft bedeutet.



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