"In Deutschland leben 2,5 Millionen Kinder in Armut. So das Ergebnis einer Unicef-Studie.
Die Reaktionen darauf sind vorhersehbar: Sofort soll der Staat wieder helfen, mehr Geld in die Sozialsysteme pumpen.
[...]
Eltern können sich entscheiden: ob ihnen Genuss und Konsum wichtiger sind als die Bedürfnisse ihrer Kinder. Als gesundes Essen, ordentliche Kleidung, Bücher und Bildung.
Wenn diese Entscheidung immer öfter gegen den eigenen Nachwuchs fällt, dann ist Deutschland wirklich arm, dann wird es immer ärmer."
Zum Gesagten sei angemerkt: Was Becker versucht seriös als Kommentar notierte, ließe sich direkter und ehrlicher so ausdrücken: Es gibt zwar unleugbar arme Kinder; die sind allerdings nicht Produkt einer Gesellschaft, die sich ihrer nicht annimmt, sie ausgrenzt und in Randbezirke abdrängt - sie sind nur arm, weil ihre Eltern sie in Armut bugsieren. Es sind ebenjene Eltern dieser armen Kinder, die ihren Nachwuchs aushungern und verarmen lassen. So einfach ist das! So unkompliziert ist die Wahrheit einer Gesellschaftselite und ihrer (Ge-)Schmier(t)finken, die ihren Reichtum mit der Leugnung der Armut rechtfertigen und letztere für einen Makel, nicht für ein trauriges Schicksal halten.
Kinder in Armut sind somit doppelt arm. Sie sind es, weil es ihnen an materiellen Grundlagen mangelt und sie sind es, weil ihre Eltern konsumgeile, rauchende und spaßgesellschaftsfröhliche Egomanen sind. Die eine Armut ist man nicht gewillt zu beenden - aber die andere, die kostenlose Armut, die nur daher rührt, dass jeder Arsch ein Kind auf die Welt werfen kann, die kann man wenigstens moralisch verurteilen. Das kostet nichts und ist politisch ausbeutbar. Die Armut von Kindern ist immer auch die Armut von Eltern - das weiß, wer das Leben oder unabhängige sozio-ökonomische Analysen kennt. Diese Kenntnis wird aber hier auf den Kopf gestellt. Die Armut von Kindern wird bei Becker als das unverzeihliche Produkt von Eltern erklärt, die eigentlich genug haben - die vielleicht nicht gerade reich, aber ganz sicher nicht arm sind.
So ist die Gesellschaft entlastet. Sie rechnet fröhlich das Kindergeld an Regelsätze an, die für ein Kinderleben nur schwerlich reichen - sie rechnet Unterhalt als Einkommen hinzu - sie zieht selbst das erarbeitete Taschengeld von Teenagern von der Bedarfsgemeinschaft ab - aber die Gesellschaft ist unschuldig, zeigt mit dem Finger auf die Eltern, die schmachvoll ihr Leben in Armut leben müssen. So bringt man die Kinder gegen die Eltern in Stellung, um sich als gönnerhafte Gesellschaft zu feiern, die zwar ab und zu Ein Herz für Kinder-Galas abhalten muß, um die Ausnahmefälle von Kinderarmut zu beheben, die sich aber ansonsten nichts vorzuwerfen hat. Das haben nur die Eltern. Selbstverantwortung in diesen Zeiten der Pest und der Cholera bedeutet, dass man für Armut selbst verantwortlich ist - bei Minderjährigen natürlich deren Erziehungsberechtigten.
Da reibt man sich die Augen aus dem Kopf. Denn heute ermittelt Wallraff - natürlich verdeckt wie eh und je. Nur das Wo, auf welchem Sender, das erzeugt Staunen? Es geschieht heute Abend bei RTL. Der Trailer zu diesem RTL Special zeigt einen cowboyesken Wallraff in Lederjacke und eitler Positur, den Rücken zum Zuseher gewandt; dann dreht er sich siegessicher um, nuschelt etwas davon, dass sich was ändern müsse und dass es ihn jetzt exklusiv bei RTL gäbe. Stolz schwingt im Genuschel mit. Mit der üblichen wallraffschen Leichenbittermiene starrt er dem RTL-Zuschauer ins vermutete Gesicht. Ein Clip ganz in RTL-Format: Dramatisch, mit brachialer Musik unterlegt, effekthaschend. Wallraff selbst wirkt hierbei wie eine illustre Mixtur aus diversen RTL-Sternchen, tut patent wie Zwegat - kokett wie Bohlen - tapsig wie Rach - blinzelt wie Klöppel dramatisch ins Objektiv - das gelingt ihm alles zusammen; Multitasking als Schmierentragödie. Was aber hat Wallraff eigentlich mit dieser Gilde zu schaffen?
Wo sonst der Undercover Boss seine Angestellten bespitzelt, dort ist nun Wallraff undercover zu bestaunen. Das sei nur konsequent, könnte man ja als Einwand bringen. RTL halt, ein Undercover-Sender halt. Im besagten Trailer vernimmt man eine Stimme aus dem Off. Die erklärt, dass Wallraff sich maskiere, um Ausbeutung zu enttarnen - der Undercover Boss ist eher der, der ausbeutet und nun auch noch seine Belegschaft aushorcht und ausspäht. Das ist nicht konsquent, denn beides gehört nicht zusammen - letzteres ist die Pervertierung von investigativen Journalismus', für den Wallraff steht wie kein anderer.
Wen will Wallraff denn eigentlich via RTL erreichen? Dieselben Zuschauer etwa, die nachmittags Mitten ins (geistige Ab-)Leben zappen und dort Laien bei ihren ersten und hoffentlich hoffentlich letzten Schauspielversuchen beobachten? Oder die, die es geil finden, wenn Rach, Int-Veen und Kollegen Menschen bloßstellen? Bedienen Wallraff und Bohlen etwa diesselbe Klientel? Oder sitzt Wallraff in einigen Jahren gar neben Bohlen in dessen Fachjury für schauerlichen Geschmack? Natürlich undercover, natürlich maskiert als Rapper oder anderer Musikus, als Fachmann demnach?
Aber mal ohne Jux. Wird denn die BILD tagsdrauf berichten, was RTL an Köstlichkeiten ausgestrahlt hat? So macht es diese Zeitung doch stets, wärmt die lahmen Geschichten um Rach, Jauch oder Bause nochmals auf, um dieselbe Kundschaft zu bedienen, die auch RTL versorgt mit diesen zu Wichtigkeiten erhobenen Nichtigkeiten. Die Ärzte sangen über die BILD, dass sie aus "Angst, Hass, Titten und dem Wetterbericht" bestehe - das könnte auch für jenen Fernsehsender gelten. RTL ist BILD in bewegten Bildern. Eine mit Kamera festgehaltene BILD-Zeitung. Gut, die Titten sind meist so bedeckt, dass man nur Warzenhöfe, nicht aber Nippel selbst sieht. Anstand wahren und so - man berichtet entrüstet über Sexskandale, empört sich klein- und spießbürgerlich über Anzüglichkeiten, reicht aber im nächsten Bericht schon die blanken Brüste einer Blondine nach. Es ist also kein Zufall, dass Springers Primus mit Bertelsmanns Verlautbarungsorgan gemeinsame Wege beschreitet.
Und bei diesem Sender, bei diesem "BILD auf Kanal", bringt Wallraff einen investigativen Bericht? Der wird dort freilich Special gerufen - wie ja auch Wallraff dort kein investigativer Journalist ist, sondern ein Undercover-Spezialist. Macht ja auch mehr her. Ausgerechnet er, der mit Springer im Clinch lag und unterschwellig immer noch liegt. Erst kürzlich meldete das Axel-Springer-Hochhaus noch, dass Wallraffs Texte von der Stasi diktiert seien - da war er wieder, der olle Vorwurf, Wallraff hätte die westdeutsche Gesellschaft mit kommunistischem Klassenkampfgetöse infiltriert. Und was steht dann morgen in der BILD-Zeitung? Lobt sie den verhassten Intimus? Schimpft sie ihn und RTL? Entblößt sie ihn als Scharlatan? Oder schweigt man mal ausnahmsweise auf diesen Seiten, die das Land bedeuten?
Niveaulos ist Sender wie Zeitung. Aber nicht nur das. Dokumentationen oder Journalismus laufen dort stets mit product placement über den Äther. So brachte Punkt 12 letztens mal wieder eine "Doku" zur Rente - weitere Infos wurden online deklariert, Klicken Sie doch mal drauf!, die warme Empfehlung. Weitere Fakten gab es keine, aber einen Werbetext einer Versicherung nebst Tabellen aus jenem Hause. Das war aber zu erwarten, denn der Bericht ließ schon vermuten, dass da jemand Riester verkaufen wollte, nicht aber informieren. Information und Aufdeckung sind nicht das Metier von RTL - zu Skandalen in Unternehmen schweigt man sich aus, wie eben auch das Diekmännische Blatt. Man erinnere sich, als Lidl undercover unterwegs war und seine Mitarbeiter aushorchte und dabei ein empörter Aufschrei durch das Land ging. BILD berichtete nicht - und RTL, sonst Fan von Undercover-Aktionen, spulte das nur kurz in den Nachrichten ab, ansonsten Schweigen. Empört ist man gerne auf RTL. Über Promis, schlechte DSDS-Kandidaten, Hartz IV-Empfänger, Messis oder Bauern, die die ihr zur Seite gestellte verliebte Stadt-Trulla nicht haben wollen. Empörung zu gegenständlichen Aspekten des Lebens wird dort jedoch nicht laut.
Der kritische Sender RTL also? Wallraff, der viel geleistet hat in seinem journalistischem Leben und der, trotz aller Kritik, durchaus sauber gearbeitet und dokumentiert hat, bis an die Grenzen der körperlichen Erschöpfung - dieser Wallraff passt in etwa zu diesem Sender, wie ein Gedicht Rilkes auf die Bühne des Supertalents. Wallraff hat viel eingesteckt. Von Springer, von der CSU, als junger Mann von den Obristen in Griechenland. All das nur, um eines Tages bei RTL zu landen? Dieser Schritt ist ein eklatanter Bruch in seiner journalistischen Biographie.
Ach Günter!, will man da rufen. Warum positioniert er seine Dokumentationen neben Promi-Titten und Dschungelcamp-Starlets, die durch das RTL-Programm gereicht werden, wie der Salzstreuer beim Eieressen? Oder ist er undercover hinter den Kulissen von RTL selbst zugange? Das erklärte einiges! Warum platziert er seine Recherchen nicht mehr bei der ARD? Oder wahlweise beim ZDF? Nicht, dass da alles astrein liefe - aber dort wäre er angemessener aufgehoben. Aber doch nicht bei RTL, wo die Oberflächlichkeit Programm ist, die fehlende Freude an Tiefgründigkeit programmiert. Man darf ahnen, dass man Wallraff entschärft, wenn er nicht schon von ganz alleine so altersmilde geworden ist, dass er es gehorsam gleich selbst tut. Das Kritischste an seinen Auftritten wären dann nur noch die dramatischen Trailer, die von kritischen Journalismus phantasieren - dies vielleicht in Zukunft sogar regelmäßig, in Wallraff exklusiv. Am Folgetag gibt es Wallraff dann bei Punkt 12 nochmal aufgewärmt zum Mittagessen, zwischen "kritischen Berichten" zu Sonnenmilch und dazu gereichten Markenempfehlungen oder neu gestrafften Wangen einer F-Prominenten.
Wenn es denn wirklich stimmte, dass Die Linke ohne Lafontaine nichts mehr sei, dann wäre es um sie nicht schade. Alleine mir fehlt der Glaube. Das nenne man nun von Hoffnungslosigkeit getragene Hoffnung oder eine Jetzt-erst-recht!-Mentalität oder einfach nur naiv. Bloß wer Die Linke und Lafontaine zu Synonymen erklärt, so meine ich bescheiden, der greift die Prämissen jener bürgerlichen Medien auf, die beide, Die Linke wie Lafontaine, kujoniert haben. Und gleichgesetzt.
Lafontaine war das Zugpferd, das ist schon wahr. Ohne ihn hätten sich vermutlich die lila Balken bei diversen Landtagswahlen überall in Westdeutschland lediglich unter fünf Prozent gehalten. Gleichwohl tragen sich die Absichten der Partei doch von selbst - auch ohne Lafontaine. Wenn sie jetzt in die Bredouille geraten ist, dann muß das kein dauerhafter Zustand sein. Andere Parteien zeigen das auf, obwohl sie viel maroder und malader durch die Fährnisse irren. Keine Namen hierzu, mir graut davor.
Sicherlich sind es auch die Piraten, die das Protestpotenzial professioneller aufgefangen haben und daraus ihren Zulauf rekrutieren - das hat Die Linke verpasst. Und dann suggeriert Funk und Presse ja auch, dass linke Politik unnötig sei, weil a) die Regierung linksgerückt genug ist, und weil b) es linke Konzepte derzeit nicht braucht, weil wir c) wirtschaftlich gesund, d) bestens für die Zukunft gerüstet und e) gesund aus der Krise gekommen sind, was wir f) der Exportvizeweltmeisterschaft verdanken. Das ist jener Vizetitel, der die Löhne des Binnenmarktes stagnieren bis sinken läßt - aber man ist halt stolz darauf, jemand zu sein in der Welt. Und sei es nur derjenige Depp, der für weniger Geld dasselbe tut, wie sein europäischer Nachbar, der dafür aber kein globaler Vize sein darf.
Und dann natürlich noch dieses ernste Problem. Ernst halt. Was mich anwidert zu thematisieren, weil es das analytische Geseiere der bürgerlichen Presse ist. Führungsschwäche nennen sie das dann. Aber gut, auch das ist ein Faktor. Ernst beeindruckte mich bis er Parteivorsitzender wurde. Was danach geschah - keine Ahnung. Vielleicht ließ er sich von der Porsche-Geschichte beeindrucken, vielleicht ist der so hartgesotten wirkende Ex-Gewerkschafter doch eher zartbesaitet. Nur an Ernst alleine kann es auch nicht liegen. Personen machen Parteien, das ist schon wahr - aber sie sind nicht die Partei. Und sie lenken auch nicht den allgemeinen Zeitgeist. Weder kann Ernst alleiniger Niedergangsgrund sein, noch ist Lafontaines Abtritt vor dem Auftritt die vollumfängliche Zerstörung der Partei, wie man landauf landab, blogauf blogab, lesen kann.
Dass Menschen Menschen wählen, das ist binsenweise. Sie suchen sich Köpfe aus, die sie ertragen können. Wahlen sind nichts anderes als das Sondieren des Erträglichen zwischen all dem Unerträglichen. Was dabei jeweils erträglich oder unerträglich ist, ist persönlicher Geschmack. Die Hölle sind immer die Anderen - es gilt, die zu wählen, die etwas weniger nach Schwefel riechen. Aber eine Person alleine macht nicht die Partei - und schon gar nicht das Konzept, das Programm und die Leitidee einer Partei aus. Es finden sich doch immer wieder Köpfe, die erträglich genug erscheinen, ihre Partei neu abzuspulen.
Die Idee einer linken Alternative ist doch nicht gescheitert, nur weil ein ehemaliger Sozialdemokrat diesmal nicht zurückkehrt. Ich will niemanden zu nahe treten, aber Lafontaine ist bald Siebzig. Selbst wenn er es nochmal gemacht hätte: Wielange wäre das gegangen? Gesund scheint er nur bedingt zu sein; seit seiner Erkrankung sieht er ausgemergelt und abgekämpft aus. Das Alter? Der Krebs? Wielange also wäre es gegangen? Und was wäre dann gewesen? Vielleicht ist nicht nur Bartsch der Grund seines Nein, vielleicht ist es auch so, dass er einfach nicht mehr gesund genug ist, kraftvoll genug. Wäre dann irgendwann mit Lafontaine auch Die Linke gestorben? Wäre dem so, so wäre Die Linke ohnehin nicht mehr zu retten gewesen und die Idee einer linken Alternative nicht erst dann, sondern schon in ihrer Ursprünglichkeit gescheitert.
Bartsch macht natürlich Sorgen. Er wird als Reformlinker gerufen. Und das von der Bürgerpresse! Das will was heißen. Nichts Gutes natürlich. Allerdings gibt es doch genug Köpfe, die Die Linke tragen können, ohne Lafontaine zu bemühen. Wagenknecht, Kipping, Gysi. Lafontaine ist doch kein absolutes linkes Wesen, keine rötliche Gottesgestalt.
Die Zeit für linke Politik wird kommen. Hollande hat mit solchen Vorschlägen seine Präsidentschaft gemacht. Mal sehen, was daraus wird - und in Griechenland steht der Sinn auch nach Linksruck. In Spanien wird er kommen - in Italien vielleicht auch, Berlusconi kann nicht die Antwort Italiens auf jedes Problem sein. Das wird jedenfalls dann geschehen, wenn die EU bis dahin noch freie Wahlen erlaubt. Und wenn die Zeit reif ist, dann klappt es auch hierzulande mit einem Nicht-Lafontaine an der Spitze.
Dass Personen die Geschichte machen, stimmt nur bedingt. Wer den Niedergang einer Partei an Namen heftet, der hat - tut mir leid, das so zu formulieren - ein sehr statisches geschichtliches, oder sagen wir lieber: soziologisches Verständnis. Das galt auch bei der FDP - der Niedergang ist nicht Westerwelle zu verdanken. Er kam aus vielen Gründen. Es sind Bewegungen, Strömungen, Empfindungen, allgemeine Gefühle und Erregungen, Enttäuschungen oder Euphorie, die Geschichte machen. Zeitgeist könnte man das nennen - oder wie Hegel: den Weltgeist. Es sind Denk- und Fühlweisen, die sich aufgrund ökonomischer, technischer, religiöser oder juristischer Vorbedingungen absondern. Das Sein, das das Bewusstsein macht. Die Kunst nimmt hier ihren Anfang - nebenbei bemerkt. Dieser Überbau schärft die systemimmanenten Absichten - Personen führen aus, aber sie sind nicht die Schmiede, sie sind die Träger des Zeitgeistes. Bonaparte war für Hegel die Reinkarnation des Weltgeistes zu Pferde - er war nicht der Antreiber des Weltgeistes, sondern der berittene Erfüllungskaiser. Was für die große Geschichte gilt, kann auch auf kleine Parteien angewandt werden.
Man neigt dazu, die Geschichte zu personalisieren. Lincoln führte Krieg gegen den Süden, Hitler gegen die Welt und Bush gegen den Irak. Aber sie waren nur Träger allgemeiner Stimmungen und Bereitschaften - sie führten an und aus, das ist wahr. Jedoch wäre die Geschichte vielleicht ganz ähnlich verlaufen, hätte es sie nie gegeben. Wenn Zeiten reif werden, wenn Stimmungen schwappen, dann geschieht, was sich anbahnt, ob mit oder ohne einzelne Personen. Es gibt genug Menschen hienieden, auf die "zurückgeriffen" werden kann. Ein anderer Krieg, den Bush führte, war der gegen den Alkoholismus. Das scheint ein persönlicherer Kampf gewesen zu sein; einer, bei dem er nicht Träger allgemeiner Stimmungen war, sondern Hauptperson, ausführendes Subjekt - und vielleicht ist nicht mal das richtig. Denn in einer Gesellschaft, die den Suff nicht verurteilt, ihn vielleicht sogar toleriert oder gar glorifiziert, hätte Bush niemals einen Entzug gemacht. Der Mensch ist in seinem Milieu, im Sturm der Geschichte, nicht unbedingt von freien Willensentscheidungen gesteuert. Was nicht heißt, dass er keinen freien Willen an sich hätte. In einem gewissen Rahmen existiert er.
Lafontaine ist nicht Die Linke - war er nie. Der linke Niedergang der letzten Monate macht natürlich desillusioniert. Doch Die Linke ist nicht auf dem Weg zum Tode. Daran glaube ich nicht. Nicht, weil ich links denke. Dazu braucht es keine Partei. Nicht für mich. Ich bin wie ich bin, ob mit Die Linke oder ohne - ob mit Lafontaine an der Spitze oder mit Bartsch - ob sie, wie in Berlin, den Sparkurs mitträgt oder keynesianisch predigt. Sie ist für mich nicht unerheblich - aber eben auch nicht geheiligter Boden.
Die Linke ist zweifellos krank. Mehr als Schnupfen fürwahr. Ihr Umfeld macht sie krank. Aber sie wird doch gesunden, denn es gibt einen Bedarf für linke Politik, auch wenn man davon derzeit wenig vernimmt. In Deutschland glaubt man noch, es gehe rechtskonservativ weiter, der Neoliberalismus könne dort, quasi wie in einem Biotop, überleben, während er in Europa immer mehr in Bedrängnis gerät und von linken oder linksliberalen Alternativen torpediert wird. Schöne oder geschönte Zahlen unterstreichen die Erkenntnis, wonach das Weiter so! alternativlos richtig sei. Die Linke kommt noch ins Spiel - der Neoliberalismus tobt sich hier noch aus; ein Weilchen noch, hoffentlich kürzer als befürchtet. Seine Hinterlassenschaften werden die Aufgaben von Die Linke. Wie immer in diesem Land, wenn das rechte Spektrum in die Scheiße gegriffen hat, dann sollen es die Linken richten, die Suppe auslöffeln, die andere schlecht gekocht haben - Ebert, übernehmen Sie!
Wir brauchen einen Gedenktag für Heimatvertriebene, meint Seehofer derzeit. Nicht irgendwann, sondern jetzt - kippt er als Motiv nach. Für wen der gelten soll, gibt er derweil nicht bekannt. Ob er wohl Zahlen liefern kann, wieviele deutsche Vertriebene aus Osteuropa es noch gibt? Die meint er nämlich! Und wieviel von denen sind denn eigentlich persönlich vertriebene Vertriebene? Zählt er die Vertriebenen in zweiter Generation, die nur die sentimentalen wie traurigen Erzählungen der Eltern kennen, auf der Flucht aber noch gar nicht existent waren, auch mit? Doch was heißt das schon! Steinbach, Obervertriebene, war selbst dabei auf der Flucht vor den Kommunisten. Sie wurde aus jener Heimat vertrieben, die ihr Vater vorher als Wehrmachtssoldat für seine Familie besetzt hatte - dafür will sie Gedenktag und Entschädigung. Seehofer pflichtet indes dem Gedenktag grundlos bei.
So viele Vertriebene...
Der Mann liegt aber womöglich gar nicht falsch. Wir sollten uns als Gesellschaft an die Vertreibung aus der Heimat erinnern müssen. Der Verlust der Heimat ist doch tatsächlich einer der gravierendsten Brüche, die man als Mensch erleben kann. Sie ist sprichwörtlich der Entzug des Fundaments. Wir sollten daher an jene denken, die dieses Schicksal erlitten haben. An manchen Ostdeutschen, der seine Heimat verlassen musste, weil die einziehende Marktwirtschaft dort keine Nachfrage nach ihn entfachte. Oder an all die Wanderarbeiter, die zu Sklaven des Arbeitsmarktes flexibilisiert wurden und ihre Heimat aufgeben mussten. An Erwerbslose, die im Zuge der Zumutbarkeit jeder Arbeit, aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Oder da sind noch die vom Fluglärm vertriebenen Autochthonen - oder aus Wohnungen und gar Stadtvierteln geworfene Hartz IV-Empfänger...
Der hiesige Kapitalismus vertreibt aus Heimaten. Nicht nur der Kommunismus, der überdies ja als Reaktion auf den Nationalsozialismus vertrieb. Der Kapitalismus macht heimatlos - er lobt und empfiehlt niemanden aus seiner Heimat weg: er vertreibt gnadenlos, er verscheucht und verjagt. Ohne Soldateska, ohne Pogrom - er tut es mit Perfidie, raubt Infrastruktur, stiehlt Lebensgrundlagen, verunmöglicht Verdienstmöglichkeiten; er erhebt Effizienz und Fortschritt, Rentabilität und Profitismus zu absoluten Ideen, neben denen der Mensch keinen Bestand hat.
... und noch mehr Vertriebene...
Es war schwierig für die Deutschen, die aus Polen und der Tschechoslowakei kamen. Die Heimat verloren zu haben, in der Fremde nicht gerade mit offenen Armen empfangen worden zu sein, das tat ihnen weh. Dass auch die zweite Generation, die unter der Vertreibung nicht direkt litt, ebenso davon geprägt war, wenn die Eltern mit glasigen Augen in die Vergangenheit entflohen, das kann man sich denken. Sich dieses schwerwiegenden Verlustes in Gedenken stellen zu wollen, das ist nicht zu beanstanden - ob man allerdings entschädigen soll, steht auf einem anderen Blatt. Hier soll nicht darüber sinniert werden, ob man Kindern sudetendeutscher Flüchtlinge Entschädigungen zahlen sollte. Auch nicht zu viel Wort darüber, dass im Sudetenland besonders fanatische Nazis lebten; dort wurde ja auch eine Trauerfeier für den gefallenen Führer abgehalten, wie Hans-Jürgen Eitner zu berichten wusste - auch das soll nicht Gegenstand sein. Hinweisen sollte man darauf aber schon. So wie darauf, dass die Vertreibung aus diesen Gründen natürlich nicht zimperlich ablief - aber deshalb gleich entschädigen und somit falsche Impulse aussenden?
Gedenken wir dann eigentlich auch jenen Europäern, die durch Deutschlands neoliberale Europapolitik aus ihren Heimatländern vertrieben wurden? Den Griechen, denen die Basis für eine Zukunft gestohlen wird? Ist es nicht auch eine Art von Heimatvertreibung, wenn man Menschen in den Selbstmord treibt? Ist das nicht auch eine Form der Flucht aus der Heimat? So wie damals auch Deutsche den Selbstmord wählten - wie manche Juden sich schon Jahre zuvor töteten, weil sie sich der deutschen Kultur zugehörig fühlten und weil sie aus diesem Kulturkreis vertrieben wurden? Überhaupt die Juden! Soll man an die nicht auch denken an so einem Tag? Waren sie nicht auch Heimatvertriebene, ehe die Mehrzahl von ihnen auch noch von dieser Erde vertrieben wurden?
... und gedachte Vertriebene
So viele aus der Heimat vertriebene Gruppierungen - fraglich nur, warum diese eine Gruppe von deutschen Heimatvertriebenen glaubt, sie hätte einen alleinigen Anspruch auf Mitgefühl und Andenken. Ein solcher Gedenktag ist nicht grundsätzlich falsch. Aber ihn auf Initiative des mittlerweile fadenscheinigen BdV hin zu fordern, der heute für eine verquere Blut- und Bodenideologie steht, ohne sich der historischen Verantwortung stellen zu wollen, das ist mehr als bedenklich. Zumal der BdV auch solche "Vertriebene" vertritt, die sich ihre Vertreibung nur gedachte oder erdacht haben - die Vorsitzende Steinbach ist das Paradebeispiel hierfür...
"Berlins Bürgermeister Wowereit zufolge
ist Die Linke nicht regierungsfähig. Dafür sind seiner Ansicht nach die
mangelnde Realisierungschancen ihrer Politik und auch der Druck der
Parteispitze auf die individuelle Politik der Partei in den
Bundesländern verantwortlich."
Die Regierungsfähigkeit bezeichnet das Talent bzw. den Willen Regierungsverantwortung übernehmen zu können. Wie bei der sogenannten Ausbildungsfähigkeit
wird diese Charaktereigenschaft nicht selbst definiert, sondern von
Wirtschaftsvertretern, Politikern, Interessenverbänden, den Massenmedien
und von Unternehmern "verliehen". Weder Jugendliche, noch Politiker
oder Parteien sagen von sich aus, dass sie nicht ausbildungs– oder
regierungsfähig seien. Das Fähigkeits-Attribut ist somit politisch
instrumentalisiert, um eigene Positionen und Interessen zu
verdeutlichen.
Habe ich mir billig genug den Arsch gewischt? Eins-Neunundsechzig acht Rollen. Einundzwanzig Cent die einzelne Rolle. Ein Zehntel von einem Cent ein Blatt. Ich brauche zehn, zwölf, vierzehn Blätter. Ganz nach Schiss. Ginge es nicht noch günstiger? Könnte ich mir die im Darm verwandelte Fleischwurst, Eins-Neunundsechzig und am Ring, und das Baguette, neunundsechzig Cent und knusprig gebacken, nicht mit weniger monetären Aufwand abwischen?
Das Wischen, es kostet den Durchschnitt von Blättern, verdauter Wurst und durch Magensäure zersetztes Brot und könnte sicher günstiger zu haben sein. Oder wische ich mir den Hintern mit dem Stapel Prospekte, den ich mit zum Scheißen genommen habe? Die waren kostenlos im Briefkasten. Aber was, wenn ich eine günstige Offerte durch meine Arschritze ziehe? Kaffee Drei-neunundsechzig beispielsweise oder Lachsfilet, vierhundert Gramm zu nur Zwei-Neunundsiebzig. Kommt es mir dann nicht teurer, wenn ich mich mit einen Gratis-Prospekt abwische? Lieber vier Cent in einen sauberen Arsch investieren, um dann beim Kaffee oder beim Lachs abzusahnen?
Und sollte das Klopapier im Angebot sein, dann wird die übliche Wischpauschale ja auch günstiger. Überhaupt frage ich mich, ob teurere Produkte auch die Reinigung meines Enddarms verteuern. Kann ich Klopapier sparen, wenn ich bei Lebensmitteln spare? Verursacht das Steak zu unschlagbaren neunundneunzig Cent je hundert Gramm weniger Reststoffe, weniger abzuwischende Rückstände, als eines für wucherische Zwei-Fünfunddreißig? Könnte ein sagenhaftes Angebot, das man mir Steak für neunundsiebzig Cent je hundert Gramm unterbreitete, die Folgekosten senken? Warum gibt es eigentlich kein Komplettpaket, kein Rundum-sorglos-Päckchen? Wer Essen liefert, sollte sich auch um die Folgen kümmern und Klopapier vertreiben müssen. Jedem Stück Frischfleisch sollten zwölf Blätter Toilettenpapier beiliegen - jedem TK-Fleischersatz zwölf TK-Papierstreifen.
Was aber, wenn es genau umgekehrt ist? Wenn das Cordon bleu vom Metzger, Zwei-Neunundzwanzig je hundert Gramm, weniger Folgen zeitigt, als das TK-Cordon bleu, Zwei-Neunundzwanzig für vier ganze Fleischbrocken zu insgesamt sechshundert Gramm? Vielleicht sparte ich mir dann auch den Verdauungsschnaps, der pro halben Liter zu Acht-Neunundachtzig zu haben ist - und die Tablette gegen Sodbrennen, sechsunddreißig Stück knapp Acht-Nullnull. Wenn ich dann aber effektiver scheiße und wische und vielleicht sogar schneller vom Topf runterkomme, könnte ich wiederum Angebote verpassen. Denn Angebote lese ich immer am Klo. Zeit sinnvoll nutzen, ausfüllen, gewinnbringend investieren. Zeit ist Geld - mehr Zeit: mehr gespartes Geld. Drei Fischkonserven zum Preis für zwei oder zwanzig Prozent mehr Apfelsaft für denselben Preis wie ohne zwanzig Prozent mehr. Das könnte ich dann verpassen. Könnte blöd für mich ausgehen, könnte teuer werden. Eine lange, schwere Verdauung könnte förderlich für meinen Geldbeutel sein - wenn ich leidend kacke, spare ich mehr, weil ich mehr Angebote studieren und durchrechnen kann.
Das sind Überlegungen, die man anstellen muß. Schinkengulasch ist morgen für Eins-Neunundneunzig fünfhundert Gramm zu haben. Klopapier ist aber nicht im Angebot. Das nennt man Geschäft. Dort Angebot, Folgekosten nicht vergünstigt. Auf der einen Seite sparen, auf der anderen die Hand aufhalten. Wie soll man da jemals bewusst einkaufen? Irgendwo zahle ich immer drauf, habe ich das Gefühl...
oder: ein verfrühter Aufruf, Steffen Seibert kein öffentlich-rechtliches Engagement mehr zu gewähren.
Der Mann hat sich diskreditiert. Bereits mit seiner Entscheidung, Regierungssprecher zu werden. Nicht explizit jetzt, nicht ausdrücklich in den letzten Tagen oder Wochen. Seine Diskreditierung geschah schon vormals. Aber nun könnte es sein, dass die Ära Merkel ins Endstadium geht - und damit gehen auch jene ins finale Stadium, die durch ihre Regierung zu Posten kamen. Erfahrungsgemäß! Hoffentlich! Steffen Seibert ist so einer, dessen Tage gezählt sein dürften - dessen Zeit als Regierungssprecher dann passé sein wird.
Allerlei Regierungsabsichten, -vorhaben, -schweinereien und -halbheiten hat er verteidigt. Meist adrett, "Der nette Herr Seibert", meist vornehm und manierlich - manchmal hingegen zynisch. Willfährig war er immer. Gutwillig gefügig gegenüber seinem Brotgeber. Unkritisch ohnehin. Natürlich entspricht das dem Aufgabenfeld eines Regierungssprechers. Er selbst sprach damals, als er den Posten antrat, von"einer faszinierenden neuen Aufgabe für einen Journalisten" - damit rechtfertigte er den Schritt. Das war natürlich Unsinn; Journalisten sollten kritisch sein, objektiv sowieso. Nichts davon bietet so ein Regierungssprecherposten. Er ist das glatte Gegenteil. Er ist parteiisch, gutgläubig und subjektiv gestaltet. Der Regierungssprecher spricht, was man ihm aufschreibt - das ist nicht journalistisch: das ist propagandistisch!
Man kann Seibert keinen Vorwurf machen, dass er seine Rolle so ausfüllt, wie er sie ausfüllt. Man kann ihm aber einen Vorwurf machen, dass er es hat so weit kommen lassen, sprich: dass er diesen Posten jemals angetreten hat. Wer für eine Regierung oder ein Unternehmen vor die Presse tritt, der glänzt nicht mit journalistischen oder kritischen (Sach-)Verstand - dessen Rolle ist es, mancher Hässlichkeit ein schönes Gesicht und wohlklingende Worte zu verleihen. Unternehmens- oder Regierungssprecher sind Deeskalierer - sie kleiden allgemeine Unzufriedenheit, Anfragen und Neugier in deeskalierende Phrasen, üben sich in Widerlegen und Bestreiten. Die Sorge des Journalisten ist jedoch nicht die Deeskalation, die allgemeine Beruhigung der Gemüter - er ist, jedenfalls in der Theorie, der Wahrheit verpflichtet, nicht seinem Dienstherrn.
Wie oft hat Seibert die Unwahrheit gesagt, seitdem er Merkels hübsches Mediengesicht ist? Wie oft hat er gelogen und geschönt? Herumgedruckst und Sachlagen verkürzt und vereinfacht? Wahrheit gebeugt, dekliniert und so dargestellt, dass sie wahrer, schöner, besser klang? Nicht aus Boshaftigkeit - nein, weil sein Posten es verlangte. Wie oft hat er das Journalistische nicht nur abgelegt, sondern mit Füßen getreten?
Schon damals, als er vom ZDF in die Dunstkreise der Regierung wechselte, fanden sich Statements, wonach Seibert zurückkehren könnte, nach seiner Adelung, nach seinem Gastspiel im Kielwasser der Politik, seiner Anbiederung an die Regierung. Zurück ins öffentlich-rechtliche Fernsehen; zurück in eine Existenz auf Gebührengrundlage; zurück ins politische Ressort; zurück ins journalistische Fach - von dem er ja meint, sich nie entfernt zu haben. Da soll er dann wieder Politik erklären - er, der die Politik jener Regierung, die ihn als Sprecher engagierte, erklärte und sie somit verklärte. Er, der stichhaltig machte, warum Atomenergie notwendig und der hernach stichhaltig machte, warum der Atomausstieg alternativlos sei. Alternativlos - wie so vieles in der Agenda jener Regierung. Alternativlos - wie der Posten des Regierungssprechers alternativlos unjournalistisch ist. Er könnte nach seinem Zwischenspiel wieder GEZ-finanziert erklären. Er, der parteiisch Positionen verklärte.
Wie kann man einem Mann, der Positionen bezog, der glasklare politische Ranküne mittrug und vor der Presse rechtfertigte, klein- und schönredete - wie kann man einem solchen Mann noch jemals abnehmen, er sei nun wieder journalistisch unterwegs? Wie kann er jemals beispielsweise objektiv Deutschlands Europapolitik begleiten, wo er doch eindrücklich zur Schau stellte, dass er nur Merkels angeblich alternativlosen Kurs für verteidigenswert befindet? Man nimmt ihn doch nichts mehr ab - als Journalist ist es diskreditiert; die Gefahr, dass er Objektivität für etwas hält, was die Politik zu verordnen hat, ist bei ihm immens. Man kann nicht "verbieten", dass er bei privaten Fernsehsendern anheuert nach seiner Zeit als Regierungssprecher - aber bei dem öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ist es eine Angelegenheit des res publica, da geht es uns alle etwas an!
Seibert hat dort nichts mehr verloren! Er kann unter vernünftigen Gesichtspunkten nicht mehr im dortigen politischen Ressort anheuern. Diese faszinierende neue Aufgabe, die er einst antrat, sie ist kein Einstellungskriterium - sie sollte eher abschrecken. Noch ist Zeit, noch liebäugelt niemand mit Seiberts Rückkehr - nicht laut, wahrscheinlich nur hinter vorgehaltener Hand. Aber die Zeit wird kommen, da man seine Rückkehr lobend formuliert. Schon jetzt wird man vermutlich in den Chefetagen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten mit der Aussicht liebäugeln, dass er zurückkommt, der verlorene Sohn; wird man sich klammheimlich freuen über Verstärkung, über einen Mann mit Beziehungen. Daher dieser Aufruf schon jetzt, daher diese verfrühten Zeilen. Man kann nicht früh genug warnen!
Dies war also ein Aufruf. Ein stiller Aufruf. Ein vielleicht zu früher Aufruf - der aber in Zeiten des Internets immer wieder kopierbar, neu aufrollbar, stets nochmals zitierbar ist. Ein Aufruf, Seibert kein öffentlich-rechtliches Engagement mehr zu gewähren. Ein Aufruf, einem Verklärer nicht mehr die Rolle des Erklärers zuzugestehen!
"Es ist schon tragisch: Die SPD verwechselt ihre Dummheit dauernd mit staatstragendem Verantwortungsgefühl. Nach dem Motto: Die Kanzlerin macht alles falsch, aber wir unterstützen sie dabei – aus Sorge um Deutschland."
Sarrazin wurde damals Nähe zur NPD unterstellt. Eine Unterstellung, die mehr Feststellung war - Weichenstellung vielleicht auch. Weniger für ihn selbst als für den politischen Diskurs in diesem Lande. Hand in Hand mit den einschlägigen Presseorganen fixierte er eine Diskussionskultur, die sich gütlich an der Zurschaustellung niederträchtiger Impulse und Reflexe frottiert, die sich aufgeilt an solchen Biedermännern, die angeblich "mutige Wahrheiten" verkünden, die genauer betrachtet aber nicht mehr als feiges Stammtischgeschwafel sind, der Sud geselliger Sangesabende in schwüler, pappiger Hitze.
Deutschland könnte auch gut ohne Sarrazin leben
Eine dieser stammaufgetischten Realitäten ist die Geschichte des Euro. Der blute Deutschland aus. Griechenland sei nur die Krone dieses Skandals. Die Strafe für die Niederlage im Zweiten Weltkrieg sei das - das ist die verschwörerische Erkenntnis von reaktionären Stammtischen, aus rechten Zirkeln und von NPD- oder Republikaner-Kundgebungen - und freilich von Sarrazin, der neulich in der Jauchegrube in eben diese Kerbe eindrosch und den Euro als Folge für den Holocaust einstufte. Strafe für den verlorenen Weltkrieg - das klingt auch wie: Ach, hätten wir nur gewonnen!"Rechtskonservatives Geschäftsmodell" nennt Erdmann das. Mit diesen braunen Devisen zu kokettieren: Das nennen wir heute Mut oder Zivilcourage - es ist aber nicht weniger als die Trivialisierung deutscher Geschichte, die Banalisierung politischer oder gesellschaftlicher Erscheinungen; und es ist überdies kein Mut, denn die Forderung, der Euro möge verschwinden, ist so alt wie der Euro selbst und somit Allgemeinplatz. Es ist flaches, phrasenhaftes Gestammel, wie seinerzeit, als der Herr eugenische Maßstäbe auspackte und reanimierte, was schon zu Zeiten Hindenburgs als wissenschaftlich überholt galt.
Dass Europa auch ganz gut ohne den Euro leben könnte, ist eine Einsicht, die man ja gar nicht verneinen kann. Das ist Tatsache. Alles ist ohne alles vorstellbar - alles kann sein, ohne dass es so ist, wie es gerade ist. Deutschland könnte auch gut ohne Sarrazin leben - er ist aber nun mal da und man muß ihn ertragen. Man muß aber doch fragen dürfen, warum man ihn hofiert, warum man ihn pusht, seine Stammtischiaden mit Zuneigung und Verleihung eines öffentlichen Forums adelt. Das wird man doch fragen dürfen, so wie die Sarrazinösen stets rhetorisch fragen, dass man dies oder das doch mal sagen dürfe.
Feigheit, die er anderen vorwirft
Europa kann ohne den Euro leben - hat es ja die meiste Zeit getan. Wie könnte man nur dagegenhalten! Diese Aussage, die ja auch die Aussage seines gesamten neuen Buches, seines "Mein Kampf II" - (mein Kampf gegen die Aufrichtigkeit, mein Kampf gegen Seriosität, mein Kampf gegen solidarisches und aufgeklärtes Denken etc.!) - ist, ist so gestrickt, wie es am Stammtisch gerne vernommen wird. Einfache Slogans, einfältige Weltsicht. Sicher könnte Europa ohne Euro - jetzt ist er aber mal da, in der Welt... in Europa, besser gesagt... und existent. Europa hat sich vor Jahren darauf verständigt und die deutsche Wirtschaft war begeistert davon, vereinfachte es doch einiges. Aber das Elend, womit das griechische, das spanische, das italienische und manches andere Volk zu ringen hat, verschwindet nicht, wenn man den Euro verschwinden läßt. Sarrazin wirft der politischen Zunft Feigheit vor - auch so eine Erkenntnis, der man zustimmen kann, wenn auch aus anderen Gründen. Mit solchen Phrasen dockt Sarrazin immer wieder in der bürgerlichen Mitte an.
Politische Feigheit also. Und er fordert das Ende des Euro, wovon die Not der krisengeschüttelten EU-Mitgliedsstaaten nicht schwindet, sondern lediglich aus unserem Blickfeld verlagert wird. Das ist die Logik, mit der jene politischen Feiglinge Arbeitsmarktstatistiken schönen oder Kinderarmut neu verrechnen. Aus den Augen aus den Sinn - dieselbe Feigheit, die er Politikern vorwirft, postuliert er hier als seine mutige Wahrheit. Es ist die Feigheit eines Mannes, der von der Lebenswirklichkeit muslimischer Mitbürger nichts weiß, der aber rege darüber schreibt - es ist die Feigheit eines "Schreibtischtäters", der wieder einmal mehr vom Stamm- als von Schreibtisch aus theoretisiert und den politischen Diskurs mit Tiraden vergiftet, die abermals zur Entsolidarisierung beitragen sollen. Diesmal nicht alleine in Deutschland - diesmal in Europa.
Entsolidarisierung und Hass sind der Kitt seines Weltbildes
Das "Prinzip Sarrazin" ist das "Prinzip entsolidarisierte, zerrissene Gesellschaft". Sein "Markenkern: Fremdenhass, Revisionismus, Nationalismus, Geiz, Missgunst" schreibt Erdmann. All das trägt zur Entsolidarisierung bei. Und zum Hass. Auch das ist eines seiner Prinzipien. Er beschreibt eine Welt, in der es keinen Zusammenhalt geben soll. Kein Zufall, dass er genetische Kaffeesatzleserei und Zuchtwahl mit seriösen Wissenschaftsfeldern verwechselt. Sozialdarwinismus passt ins Konzept - oder es ist vielmehr die Basis einer solchen Auffassung. Sarrazins Provokationen sind einfache Kopfgeburten eines Mannes, der Solidarität für etwas unnatürlich Künstliches hält, für einen zivilisatorischen Schnickschnack, der uns mehr schadet als hilft. Wer sich mit dem "multikulturellen Gedanken" solidarisiert, ist demnach schädlich, wie jene, die den Erhalt des Euro solidarisch begleiten. Sarrazin arbeitet mit Entsolidarisierung, mit Zerrüttung, mit "Krieg aller gegen alle" - das ist der Kitt, der sein brüchiges Gebäude zusammenklebt. Ein Kleber, der in politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten viele Verbraucher findet - zukunftsweisend ist ein solcher Klebstoffverkäufer allerdings nicht. Manchmal sehen windige Vertreter wie Visionäre aus - aber irgendwann merkt man dann auch, dass er einem etwas angedreht hat, was man so nie kaufen wollte - hoffentlich...
Sie sei nicht die Kanzlerin Europas, vernahm man unlängst aus Frankreich. Genau so verhält sich Merkel aber nun abermals, auch wenn sie es dementiert. Ein Dementi, dass man glauben kann, jedoch nicht muß. Mit dem Vorschlag, ein Referendum bezüglich des Verbleibes Griechenlands in der Euro-Zone abzuhalten, versuchte sie vielleicht die Reißleine zu ziehen. In der Hoffnung, die Griechen würden einem Ausstieg beipflichten und sie von einem Krisenherd entfernen, der sie wahrscheinlich die Wiederwahl kostet - dass sie den Kopf verliert, bestätigt nur die Causa Röttgen. Ein solcher Vorschlag passt da nur ins Bild. Kopf aus der Schlinge: egal wie!
Das Referendum scheint aber überflüssig. Die Frage ob Euro oder nicht, ist nicht das Problem. Es ist die Ablenkung von Problemen. Die Mehrzahl der Griechen wollen den Euro behalten - das wurde mehrmals repräsentativ erfragt. Man fürchtet auch, dass ein Ausstieg das Elend verstärkte. Der Euro soll bleiben - aber unter welchen Konditionen, das soll verhandelt werden. Und das griechische Volk hat bei der letzten Parlamentswahl gezeigt, dass es darüber verhandeln will - höchstwahrscheinlich wird die politische Linke eine Mehrheit nach den Neuwahlen stellen können. Das ist als Zeichen des Verhandelns zu werten. Dieses noch fiktive Wahlresultat zeigte: Da verhandelt ein Volk über das Wie des Verbleibes in der Eurozone - nicht über das Ob.
Noch vor einem halben Jahr hatte Papandreou zu einem Referendum geblasen. Damals regte sich Europa, Sturmspitze Deutschland, Merkel und deren Quartiermeister Kauder, mit lauten, mit hochrotköpfigen Tiraden auf. Seinerzeit wollte Papandreou wissen, ob das griechische Volk den Kurs tragen möchte - das hielt man für einen Affront, für eine Frechheit gegenüber Europa. Entschieden haben die Griechen vor zwei Wochen - und sie werden nochmals darüber entscheiden, dass sie diesen von Europa aufgezwängten Sparkurs, der in suizidale Enden stürzt, in Elend und in Obdachlosigkeit, nicht eins zu eins ertragen möchten. Wie man mit der Krise umgeht, ist das Thema - nicht ob man überhaupt damit umgeht und flüchtet.
Merkels Vorschlag ist somit zunächst Augenwischerei. Die Griechen werden sich nicht gegen den Euro entscheiden. Und wenn sie sich dafür entscheiden, wird Europa das Ergebnis als Pistole benutzen, die man auf die Brust setzen kann. Ihr wolltet - also spurt! Wenn ihr es wollt, dann so wie wir es genehmigen! Das Volk liefert sich der Pistole aus - so sieht Merkel Volksentscheide. Und Wetterfähnrich Merkel bestätigt mit diesem Hin und Her, mit der Verurteilung von Referenden hie, mit der Schaffung von solchen da, dass sie Europa nicht als Raum selbstbestimmter Völker betrachtet, sondern als ihre Spielwiese, als deutschen Einflussbereich - dass sie als Monroe-Doktrinistin durch Europa wandelt, durch ihren eigenen kontinentalen Vorhof.
Sich äußernde Völker sind nur dann erwünscht, wenn sie es vorher genehmigt hat. Europa ist für sie kein Europa der Völker, die selbstbestimmt entscheiden, deren Regierungen solidarisch miteinander umgehen - für sie ist Europa etwas, das unter Verwaltung gehört, unter deutsche Kuratel. Europa besteht demnach nicht selbst, es baut auf deutsche Vorgaben und deutscher Kanzler ist somit auch inoffiziell Vorsteher seines europäischen Dominions.
Diese Arroganz ist es, die Deutschland und Merkel in Europa disqualifiziert - die Griechen stellen das auf ihre Art dar, wenn sie Merkel und Quartiermeister in SS-Uniformen zwängen; die Franzosen haben auch deshalb einen Sozialisten gewählt, weil sein Vorgänger nur einen gegelten Pudel der Kanzlerin abgegeben hat. Das Dementi, das schroff kam, es mag nicht sehr glaubhaft sein - wer Merkels Haltung zu einem deutschen Europa kennt, wer weiß, wie sehr ihr ihr Machterhalt am Herzen liegt, der ahnt, dass der Vorschlag gemacht wurde, auch wenn man das nun leugnet.
"Wir Liberale wurden gewählt, weil wir für Seriosität und Verantwortung stehen." "Und wir Konservative sind für seriöse Verantwortung eingetreten, Herr Kollege." "Uns Grüne wählte man, weil wir für verantwortungsvolle Seriosität stehen." "Wir Sozialdemokraten konnten zulegen, weil wir als Alternative seriöse Verantwortlichkeit ausstrahlen." "Die Piraten wollen seriös und verantwortlich neue Wege beschreiten." "Neue Wege wollen wir Liberale auch gehen - kompetent in Finanzen und Bildung." "Wir Konservative stehen ebenfalls für finanzierte Bildung." "Da müssen wir Grüne aber widersprechen: Bildung und Finanzen! Nicht Finanzen und Bildung!" "Doch doch, Finanzen und Bildung - nur in dieser Reihenfolge, werte Kollegin." "Wir Sozialdemokraten machen deutlich, dass wir gebildete Finanzen anstreben." "Wir Linken..." (Unterbrechung des Moderators, kündigt einen Einspieler an) "Wir Liberale konnten punkten, weil wir seriöse Finanzen und verantwortungsvolle Bildung thematisierten." "Mit uns Konservativen ging es diesmal schlecht, weil wir verantwortungsvolle Finanzen und seriöse Bildung zu stark betonten." "Wir Sozialdemokraten stehen für gebildete Verantwortung und finanzierte Seriosität - der Wähler hat das verstanden." "Grüne Leitlinien sind es, seriös mit Bildung und Finanzen verantwortlich zu sein - und mit Umwelt verantwortlich seriös!" "Mit uns Konservativen ging es diesmal auch schlecht, weil wir verantwortungsvolle Finanzen und seriöse Bildung zu schwach betonten." "... vor allem Umwelt..." "Es ist auch ein konservativer Wert, für die Umwelt zu sein, Frau Kollegin!" "Liberalismus und Umwelt gehören zusammen - eine seriöse Umwelt für alle!" "Wir Linke..." (Unterbrechung des Moderators, ruft zur Contenance auf)
"Ja, wir Konservative sind für ein Europa der seriösen Finanzen." "Liberal ist, was Finanzen schafft - für eine finanzierte Seriosität!" "Herr Kollege, wir Sozialdemokraten sagten immer, dass Europa über Finanzen seriös wird - und verantwortungsvoll!" "Verantwortung für Europa: Wir Grüne sehen das so!" "Und für seriöse Finanzen, Frau Kollegin, stehen die Grünen nicht?" "Für Verantwortung und Seriosität: das ist grüne Politik, Herr Kollege." "Und für solide Finanzen, Frau Kollegin?" "Für Verantwortung und Seriosität - und das alles solide: das ist grün, Herr Kollege!" "Es stimmt nicht, dass die Piratenpartei nicht seriös und nicht verantwortungsvoll ist." "Auch die Sozialdemokratie steht für solide Finanzen und finanziert Solidität." "Wir Linke..." (Unterbrechung des Moderators, ein Gast aus dem Publikum wird vorgestellt)
"An diesem Beispiel aus dem Publikum sehen Sie, dass wir Freiheit benötigen - daher sagen wir Liberale: Freiheit!" "Freiheit und Bildung, Herr Kollege!" "Ja, Freiheit und Bildung - und Verantwortung! Wir Liberale betonen daher: Freiheit und Bildung und Verantwortung!" "Und Seriosität!" "Auch die: Freiheit und Bildung und Verantwortung und Seriosität! Und natürlich Gerechtigkeit!" "Wir Sozialdemokraten stehen für Gerechtigkeit! Und für Mut! Mut zu schwierigen Reformen!" "Die Grünen bringen es knapp auf den Punkt: freie Bildung und verantwortliche Seriosität!" "Die Piraten sagen: verantwortete Bildung und seriöse Freiheit. Haben wir immer gesagt!" "... und Umwelt habe ich vergessen - auch Umwelt ist grün!" "... und konservativ, Frau Kollegin - wir stehen für gebildete Umwelt und freiheitliche Seriosität." "Wir Linke... (Unterbrechung des Moderators, schlägt einen Themenwechsel vor)
"Der Kampfeinsatz ist notwendig. Konservativ ist, der Welt die Demokratie zu bringen." "Auch wir Liberale sprechen uns dafür aus - Freiheit muß manchmal gewaltsam entstehen." "Aber Herr Kollege, das ist ja brachial - wir Grüne sind daher nicht dagegen, aber auch nicht bedingungslos dafür. Mit Bauchschmerzen stimmen wir zu - damit die Frauen dort frei werden. Und umweltfreundlich!" "Bedingungslos dafür: wir Sozialdemokraten drücken uns nicht vor Verantwortung!" "Und Bildung bringen wir der Welt auch - Demokratie und Bildung!" "Und Freiheit, Herr Kollege." "Vergessen Sie mal die Gleichberechtigung nicht." "Und freie Märkte!" "Der Kampfeinsatz ist alternativlos." "Wenn wir abziehen, entsteht Chaos - unverantwortlich wäre das!" "Wenn ich unterbrechen dürfte - wir Linke..." (Unterbrechung des Moderators, Aufruf zur Eile, die Sendung geht dem Ende zu)
"Kurzes Statement zum Schluss: Wir Liberale habe bewiesen, dass uns Umwelt und Sozialpolitik am Herzen liegt." "Uns Konservativen auch: wir sind sozial und politisch und haben Herz." "Wir Sozialdemokraten herzen sozial die Politik." "Wie wir Grünen, Herr Kollege, wir politisieren herzlich sozial." "Die Piraten twittern sozial und politisch und herzlich - und wir sind freiheitlich." "... wir Liberale auch - natürlich sind wir für Freiheit!" "... und Umwelt habe ich vergessen; wir stehen auch für Umwelt bei den Grünen." "... wir auch, Frau Kollegin, wir Konservative können auch Umwelt!" "Wir Linke..." (Unterbrechung des Moderators, entschuldigt sich dafür, aber die Sendung ist am Ende)
"Um die Irrungen zu korrigieren, muss man die Vorstellung von Fortschritt als eine permanente und endlose Anhäufung von materiellen Gütern hinter sich lassen. Das stellt die Essenz der Modernität in Frage. Es geht nicht darum, den Neoliberalismus zu überwinden, sondern eine Lebensorganisation zu planen und umzusetzen. Es muss dabei um das gute Leben gehen, sumak kausay auf Quechua oder suma qamaña auf Aymara, das ist der Ausgangspunkt. Dieses Konzept findet sich nicht nur in der indigenen Welt, es ist auch in universellen philosophischen Denkansätzen verankert, bei Aristoteles, bei Marx, in ökologischen, feministischen, gewerkschaftlichen und humanitären Ansätzen. Das gute Leben muss man demnach verstehen als eine Suche nach einem harmonischen Miteinander der Menschen untereinander und im Verhältnis zur Natur. Natürlich darf man dabei existierende soziale Konfrontationen und die Frage der Macht nicht ganz außer Acht lassen. Jedoch geht es darum, das Prinzip des öffentlichen Guts zu verteidigen. Das Öffentliche ist mehr als die Summe privater Interessen. Man muss das Gemeinsame betonen, ohne das Individuelle zu vergessen. Es geht um Plurinationalität, Interkulturalität und Diversität, um soziale, wirtschaftliche, geschlechtliche, regionale Gerechtigkeit, um Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gegenseitigkeit, um es mal im Telegrammstil aufzuzählen. Das gute Leben darf man nicht mit dem Streben nach einem besseren Leben verwechseln, dem eine Ethik des unbegrenzten Fortschritts zugrunde liegt und das uns zu ständigem Wettbewerb antreibt, um immer mehr zu produzieren. Denken wir daran: Damit einige wenige besser leben können, müssen Millionen und Abermillionen schlecht leben."
Islamist war irreführend. Trotzdem wurde der Begriff über Jahre unkritisch verwendet. Das hat gefruchtet. Der Islam war just eine Ideologie, keine Religion mehr - und er wurde mit Gewalt verbunden, entgegen der Wirklichkeit, in der Abermillionen von Moslems friedlich leben und beten. Der Begriff verschwindet allerdings in letzter Zeit immer mehr. Der Salafist ist nun Modewort. Jeder konservative Moslem ist nun nicht mehr gleich Islamist, er ist Salafist - das ist in etwa so, wie wenn ein Verteidiger des katholischen Zölibats als Mitglied des Opus Dei tituliert würde oder man ihm unterstellte, er würde sich hart am Glauben kasteien. Salafist ist demnach so falsch wie Islamist - und doch war der wörtliche Gebrauch des Islamisten ehrlicher.
Ein besonders gescheites Wort
Jetzt sprechen sie alle von Salafisten. Man hört das Wort beim Einkauf, im Radio, im Treppenhaus. Man hat bei diesem Wort, das vormals als massentauglicher Terminus hierzulande keine Existenzberechtigung hatte, immer irgendwie den Eindruck, da schwafeln besonders gut informierte, besonders gescheite und weltläufige Bildungsbürger. Menschen, die etwas wissen; die wissen, was Salafisten sind, was der Sufismus, wer die Charischiten. Tatsächlich gelingt es diesen "Bildungsbürgern" allerdings nicht mal, zwischen Schiiten und Sunniten zu unterscheiden. Ja, schlimmer noch, sie kratzen sich am Kopf, wenn sie erfahren, dass es im Islam verschiedene Strömungen und Gruppen gibt. Trotzdem gebrauchen sie den Begriff, den die Medien seit geraumer Zeit gehäuft benutzen - sie plappern nach, was medial fabriziert wird. Kritiklos, ohne Fragen nach Herkunft, ohne auch nur eine der W-Fragen anzubringen.
Als man noch vom Islamisten sprach, da war das gleichwohl falsch - aber irgendwie konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass da jemand spricht, der generalisiert, über einen Kamm schert, nicht den Hauch einer Ahnung hat. Jemand, der der westlichen Islamophobie unterlegen ist. Man ärgerte sich, dass da jemand diesen Kampfbegriff benutzte. Aber gleichwohl wusste man, dass man da einem Menschen lauschte, der völlig ungeniert und einfältig Begriffe benutzt, die eine Welt propagieren, die es a) so nicht gibt und von der er b) überhaupt keinen Schimmer hatte. Vereinfacht gesagt, so dumm es auch war, von Islamisten zu sprechen, so ehrlich war es, weil es offenlegte, mit welchem Gemüt man es zu tun hatte.
Kosmopolitisch anmutende Nebelkerze
Salafisten überall. Und man hat den Eindruck, in einem Land zu leben, das vor Islamologen nur so strotzt. So wie es in Fragen der Wirtschaft im Trend liegt, wie es an jedem Stammtisch mit ökonomischen Fachausdrücken aufwartet. Als hätte die Debatte um Sarrazin und seine islamfeindlichen Thesen aus Deutschland ein Land von Experten in Islamwissenschaften gemacht.
Nicht, dass es den Salafismus nicht gibt. Aber nicht jeder Moslem, der das Messer zückt ist einer - und nicht jeder konservative Knochen, der bestimmte Ideale des Islam favorisiert, ist ein Gewalttäter. Salafisten werden sie nun aber fast alle gerufen. Das Wort klingt fachmännisch, aufgeklärt, gebildet. Es ist eine Nebelkerze, das Blendwerk der Xenophobie, das die fungierende Dummheit, die Welt in "guter Westen" und "böser Islam" zu scheiden, übertünchen soll. Als man noch so dümmlich von Islamisten sprach, wirkte man provinziell - jetzt spricht man wie ein Experte und gibt dem Dummkopf eine kosmopolitische Note in Wort und Schrift.
Das ist Wettbewerb im Gesundheitswesen! Vorbildliches Indien! Dort verstehen es die Patienten, sich wettbewerbsorientiert zu verhalten. Dort stellt man sich Fragen, die dem Wettbewerb förderlich sind; dort macht sich der Patient nicht zum Hilfebedürftigen, sondern zum Wettbewerber. Spielregeln verstanden! Fragen wie: Soll ich am klinischen Versuch für Magenpräparate teilnehmen oder doch bei einem für ein Krebsmedikament? Wahl haben: Das ist Wettbewerb! Dort vielleicht Übelkeit und eine kleine Untersuchung zur Belohnung - hier vielleicht Fieberschübe und komatöses Siechen, dafür aber ein ausgiebiger Check und ein bisschen Medikamente für den Wellblechhaushalt. Frag' nicht, was dein Gesundheitssystem für dich tun kann, frag' was du für dein Gesundheitssystem machen kannst - und für das anderer, reicherer Länder gleich mit!
Wettbewerb im Gesundheitswesen will Bahr ja umsetzen - und die üblichen Andächtigen, Springer und Bertelsmann, einige Krankheitsexperten aus Union und Wirtschaftsliberalismus, allerhand Privatversicherte aus Wirtschaft und Medien, jubeln im Chor. Es geht ihnen eher nicht weit genug. Der Kranke, so ihr feuchter Traum, soll im Angesicht von Metastasen nicht auf seine Therapie konzentriert sein, sondern die verschiedenen Angebote sichten, die das Gesundheitswesen für ihn bereithält - oder eben nicht, falls er sich Offerten dieser Art nicht leisten kann; für solche gibt es dann Standardverfahren. Aber die Behandlungen sind sicher!, erklärt das Gesundheitsministerium - wenn es das erstmal erklären muß, dann dürfte es schon zu spät sein.
Der Wettbewerb in diesen aufgeklärten Landen dürfte natürlich anders ausfallen, als jener in Indien. Untersuchungen mit klinischen Versuchen zu kombinieren, würde man hier niemals praktizieren. Man wüsste gar nicht, wie man das mit der Krankenkasse abrechnen soll. Aber die Tendenz eines Gesundheitswesens, das nicht auf Gesundung, auf Therapie und Schmerzlinderung zu jedem erdenklichen Preis fixiert ist, das also nicht erklärt, dass der zu behandelnde Mensch nie und nimmer eine Kostenfrage, sondern seine Genesung eine Frage der Ehre und des Anstandes ist, gebiert zwangsläufig krumme Touren.
Der Wettbewerb der neoliberalen Agenda hat sich als Unterbietung, Verbilligung und Dumping erwiesen. Das ist das Gegenteil von Kurieren - das Gegenteil davon, den Patienten zum Maßstab der Therapie zu machen - das ist, jedenfalls für die größte Zahl der Versicherten, das Gegenteil von individueller Lebensführung. Es ist eine Zentralisierung und Generalisierung der Kranken. Was die Therapie kosten darf, wie sie in den Griff zu bekommen ist, das regeln dann nicht freie Ärzte in freier Entscheidung unter Gesichtspunkten, die relativ freie Herangehensweisen erlauben - das regeln Statuten, buchhalterische Erfahrungs- und Pauschalwerte, das regelt der Markt.
Nein, keine klinischen Versuche im Paket mit einer Untersuchung. Aber ein wettbewerbsorientiertes Gesundheitswesen, wäre seinem Wesen nach eben nicht gesund. Angebote für Versicherte regelten den Praxisalltag, eine Hausarzt-Flatrate beispielsweise, die der auf Geiz konditionierte Verbraucher (Patient wäre er dann nur nebenbei) vorher ausgewählt hat - Mehrbesuche verursachen natürlich Mehrkosten. Gesundheit zahlt sich dann aus. Wer gesund bleibt, macht ein Schnäppchen; der Kranke zahlt drauf. Von der qualitativen Abwertung der medizinischen Grund- und Fachversorgung mal ganz abgesehen. Wettbewerber haben keine Zeit, denn der Wettbewerb schläft nie - sie haben weder Zeit noch Geld zu verschenken. Und der Arzt, er wäre ein solcher Wettbewerber - noch mehr, als er es vermutlich heute schon ist. Wer sich den Luxus gönnt, Zeit zu investieren in einen Verbraucher, der bleibt auf der Strecke, denn der Wettbewerb kennt keine Gnade.
Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, schon heute, aufgrund der Sparpolitik der letzten Jahrzehnte, arg angegriffen, kann in einem Wettbewerbssystem nicht überleben. Der Arzt ist dann qua System keine Person mehr, die Linderung bringen soll, sondern jemand, der etwas zu verkaufen hat. Es vertraut sich aber so schlecht, wenn man ständig das Gefühl hat, da will einer dauernd mit seinen Fingern in meinen Geldbeutel hinein.
Indien ist die Überspitzung des Wettbewerbgedankens. Man sollte die neoliberalen Gesundheitsreformer mal dorthin führen. Sie würden entrüstet tun, sagen, dass natürlich die Grundversorgung in Deutschland sicher sei. Unter sich würden sie aber feststellen, dass es genau so ein freier Markt ist, wie ihn Indien da hat, der uns in Deutschland fehlt. Denn erst wenn es uns allen kotzübel geht, weil wir im klinischen Versuch Tabletten gefressen haben, deren Wirkung wir nur ungenau kennen, dann geht es uns wieder besser...
Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wählten...
... 40,4 Prozent aller Wahlberechtigten niemanden.
... 23,0 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
... 15,5 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU.
... 6,7 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen.
... 5,1 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
... 4,6 Prozent aller Wahlberechtigten die Piraten.
... 1,5 Prozent aller Wahlberechtigten die Linke.
... 0,8 Prozent aller Wahlberechtigten ungültig.
Die rot-grüne Koalition hat sich eine absolute Mehrheit gesichert. Sie kann mit dem Rückhalt von 29,7 Prozent aller Wahlberechtigten regieren. Nicht mal ein Drittel. Selbst eine fiktive Große Koalition käme nur auf 38,5 Prozent aller Wahlberechtigten. 25,2 Prozent aller Wahlberechtigten machen die Opposition aus. Der größte Posten mit 40,4 Prozent, findet keine Berücksichtigung.
Die Alten hätten den Jungen zu versprechen, sie "nicht in die Armut zu stoßen". Sagt einer, der selbst auf die Rente des umlagenfinanzierten Systems nicht angewiesen ist - sagt einer, der für weltfremde Einwürfe und zynische Zwischenrufe bekannt ist. Roman Herzog nämlich. Ex-Bundespräsident und -Verfassungsrichter. Klingt edel, klingt galant, wie er da als alte Stimme der Alten den Gönner, die weise Maßhaltung gegenüber den Jungen spielt. Er hat leicht Reden...
Es ist ja schon grober Unsinn, wenn man so tut, als könne eine gesamte Generation ein Versprechen abdrücken - Herzogs Versprechensvorschlag kann doch nicht im Namen einer kleinen Rentnerin erfolgen, die überhaupt nichts zu verschenken hat. Wie will sie versprechen, die Jugend nicht in Armut zu stürzen, wenn sie selbst arm ist? Überhaupt: "Nicht in die Armut stoßen"! Klingt nach Generationenzoff, den Herzog mal wieder anfacht - hat er vor Jahren schon, als er alten Menschen das Wahlrecht entzogen sehen wollte. Jetzt soll das Alter die Jugend nicht plündern. Wir geloben feierlich, die Jungen nicht in Armut zu stoßen! Hört sich an wie: Wir versprechen, wir hungern auch leise, ohne euch zu behelligen! Oder: Wir versprechen, wir liegen euch nicht auf der Tasche! Herzog nährt das Bild des ausrangierten Großvaters, der in der Ecke des Kammer sitzt, am Kachelofen vielleicht, so wie damals, in agrarischen Tagen, als der Alte nur noch weglöffelte, was in arbeitsamere Mägen hätte gehört. Man beäugte diesen nichtsnutzigen Körper, diesen unnützen Esser scharf, hoffte auf baldiges Eingreifen der Natur - auf dass er bald nicht mehr im Eck sitzt und in seinem Napf herumlöffelt. Den Löffel abgeben: Daher mag dieser saloppe Ausdruck unter anderem auch kommen.
Darauf läuft Herzogs Versprechenswunsch hinaus. Wenn es ihm tatsächlich um die verarmende Jugend ginge, dann wären seine Ansatzpunkte andere. Er würde nicht eine ganze Generation vor ein Versprechen zwingen wollen, das diese in der Mehrzahl gar nicht geben kann, weil sie jetzt schon zu wenig hat, um die eigenen alten Tage abgesichert zu verbringen. Er hätte reiche Rentner zu einem Versprechen zwingen müssen. Symbolisch wenigstens - praktisch wäre das irrelevant. So ergiebig sind reiche Rentner ja auch nicht. Und er hätte fragen müssen, warum das umlagefinanzierte Rentensystem, von dem unabhängige Volkswirte sagen, es sei das einzig denkbare und funktionstüchtige System, so beharrlich in die Ecke gedrängt wird - und dann käme er vielleicht auf die Idee, dass die Umlagefinanzierung den Lobbyisten in die Hände gefallen ist. Die Diskrepanz zwischen dem Milliardenloch in der Rentenkasse und den Milliarden, die der Staat als Riester-Zulagen verteilt, müsste ihn schon etwas stutzig machen. Die Festlegung eines Höchstsatzes als eine Art Versprechen an die Jugend, das ist in einem reinen Umlageverfahren, zu dem Wirtschaft und Politik, Eliten und Besserverdienende treu stehen würden, überhaupt nicht notwendig. Was erwirtschaftet wird, wird anteilig verteilt - wenn auch weniger mehr erwirtschaften, so kann weiterhin verteilt werden.
Herzog denkt so weit nicht. Er will der Jugend versprechen, dass alte Generationen darauf achten, ihren Enkeln und Kindern nicht die Haare vom Kopf zu fressen. Demütig sollen Rentenempfänger erklären, dass sie nicht zum zu großen Unkostenfaktor werden. Alle. Egal, was sie so aus der Rentenkasse erhalten. Symbolisch nur, praktisch ist das ja Quatsch. Aber es ist ein Unfug, der auf die (Massen-)Psychologie zielt. Den Empfängern der staatlichen Rente soll devote Ergebenheit abgerungen werden. Wasser auf die Mühlen jugendlicher Ungerechtigkeitstheoretiker, die das Alter als teuren Luxus unserer westlichen Gesellschaft ansehen, für den sie nicht bezahlen möchten. Alt werden kann ja jeder; man ist ja liberal und jeder darf tun und lassen was er will. Also auch alt werden. Aber wenn, dann bitte selbst finanzieren - denn unterm Strich, zähl' ich; Slogans eines Zeitgeistes, der jetzt und hier leben will, der die neoliberale Weltauffassung derb eingehämmert bekam, der entsolidarisiert ins Gemüt schnürt.
Was Herzog mal wieder reitet, weiß niemand so genau. Ist es der Hass eines Alten auf das Alter? Oder elitäre Arroganz gegen solche, die vom Leben nicht belohnt wurden? Einsicht, Wissbegierigkeit und Erkenntnisgewinn reitet ihn jedenfalls nicht - Solidarität und Menschlichkeit sowieso nicht...
Am letzten Sonntag nahmen Sie Johannes Ponader, den politischen Geschäftsführer der Piratenpartei, arg in die Mangel. Geschehen und gesehen in der Sendung, die so heißt, wie Sie heißen. Aufdringlich stellten Sie ihm die Frage, ob er von Hartz IV lebe - Ponader ist Theaterschaffender und lebt von Aufträgen, die ihm der Kulturbetrieb zuschustert. Wenn die nicht ausreichen, stockt er sein Salär mittels Arbeitslosengeld II auf. Seine Tätigkeit bei den Piraten ist (noch) ehrenamtlich. Ponader wich auch gar nicht aus, antwortete beharrlich, er würde von seiner Kunst leben und auch von Sozialleistungen. Das reichte Ihnen nicht, Sie bohrten penetrant nach: Leben Sie von Hartz IV? Er erklärte geduldig nochmals - dazu ist übrigens zu sagen, dass die Mehrzahl der Künstler in Deutschland zusätzlich von Sozialleistungen lebt. Nachfragen bei der Künstlersozialkasse ersparen manche Recherchearbeit. Ihnen reichte das freilich abermals nicht: Leben Sie von Hartz IV? Ponader wiederholte und Sie meinten, mit Ihrer typisch spitzbübisch-zynischen Art: Sozialleistungen sind doch Hartz IV, oder nicht? Arbeitslosengeld II würde das korrekt heißen, verbesserte Sie Ponader. Dass Sie, Herr Jauch, den Begriff Hartz IV, diesen Kampfbegriff von BILD und aus dem RTL-Nachmittagsprogramm nutzen, wirft ein Licht auf Ihre journalistische Genauigkeit - andererseits unterstreicht das nur, welcher Sender Sie jahrelang protegiert hat.
Mit Lindner von der FDP, der ebenso zugegen war, redeten Sie ganz anders. Was Sie bei Ponader so brennend interessierte, nämlich wie der seinen Lebensunterhalt bestreitet, das kümmerte Sie bei Lindner nicht. Es war Ihnen egal, dass Lindner mindestens 18.500 Euro im letzten Jahr an Nebentätigkeiten zu seinen Mandatsbezügen aufzuweisen hatte. Wahrlich ein kleines Licht in seinen Kreisen - aber für 18.500 Euro können bedürftige Künstler, wie eben jener Ponader, jahrelang aufgestockt werden. Linders Tätigkeiten in Körperschaften und Anstalten, in Vereinen, Verbänden und Stiftungen, sind da noch gar nicht mitgezählt. Und dass Lindner mit Kollegen bereits einen Förderkredit in Höhe von 1,2 Millionen Euro verbraten hat, davon wollten Sie auch nichts wissen. Der Kreditanstalt für Wiederaufbau ging das Geld verloren - und damit jenen öffentlichen Kassen, die Lindner heute vor den Schmarotzern schützen möchte. Und dass Sie mit Lindner über Kubicki sprachen, nicht aber über dessen "Nebentätigkeiten", beispielsweise die Beratung der liechtensteinischen Regierung, um die Steuerflucht deutscher Millionäre weiterhin krisenfest zu gestalten, macht auch stutzig. Der glänzende Wahlsieger Kubicki, der mit seiner Partei nur ein Minus von knapp sieben Prozent gemacht hatte, sollte keinen Kratzer bekommen, um Lindner als nächsten Wahlsieger nicht zu gefährden.
Sie, Herr Jauch, stammelten etwas davon, dass Ponader von der Gesellschaft lebe - und nun wolle er und seine Partei die Gesellschaft verändern. Die Unverfrorenheit, die Sie zwischen den Zeilen sagten, war: Die beißen die Hand, die sie so satt ernährt. Anders gesagt, weniger freundlich: Wer Arbeitslosengeld bezieht, der hat seinen Mund zu halten, hat nicht zu meckern, sondern Leistung zu zeigen, was soviel heißt wie: Geld haben! Dann kann man mitreden! Politische Teilhabe und Arbeitslosengeld beziehen: Das scheint sich für Sie auszuschließen - wer Almosen bezieht, der sollte wohl andere Sorgen haben, als die Politik. Was für ein elitärer Snobismus, Politik als den Sport saturierter Gestalten sehen zu wollen! Die, die in Ihrer Runde Geld hatten, die haben sie prompt gar nicht zu ihrem Lebensunterhalt befragt. Sie selbst äußern sich ja zu Ihren Bezügen auch nicht - dass Sie dick im Geschäft sind, das ahnt man, weiß man auch, wenn man halbwegs rechnen kann. Aber die Transparenz, die Sie Ponader abringen wollten und die er ja gar nicht verweigerte, die lassen Sie schön verhüllt, wenn es an Ihren Wohlstand geht. Man möchte nicht wissen, wie pampig Sie geworden wären, hätte man Sie dergestalt bloßgestellt. Man erinnere sich bloß mal, welches Theater Sie machten, als man von Ihrer Hochzeit berichtete - die Hand die Sie füttert, die wollten Sie nicht mit einer romantischen Homestory entschädigen.
Aber das ist ja auch etwas anderes, nicht wahr? Sie verdienen Ihr Geld selbst, gehen auf keine Behörde bittstellen. Ein selbstbestimmtes Leben mit selbst erarbeiteten Wohlstand im selbst erschufteten Heim, oder nicht? Dass Ihr Studium von der Gesellschaft finanziert wurde - geschenkt! Aber Sie arbeiten bei der ARD sicher nicht ehrenamtlich. Die GEZ bucht bei der Gesellschaft ab, um Ihnen ein nettes, für Sie wahrscheinlich aber wenig relevantes Sümmchen überweisen zu können. Öffentliche Gelder... Ihre Sendung ist, wenn wir das mal deutlich sagen, ein subventioniertes Programm; Sie sind, wenn wir es noch deutlicher machen wollen, ein von der Gesellschaft subventionierter Moderator. Jedenfalls bei der ARD - bei RTL ist es anders. Und auch nicht anders! Auch dort sind Sie eine Kreatur der Gesellschaft, von der Gnade der Massen in Ihren Status erhoben; einer Masse, die Sie für einen duften Typen befindet. Ohne diesen Zuspruch wären Sie auch nur ein Niemand und tingelten moderierend durch Kaufhäuser oder wären freiberuflicher Journalist - müssten also aufstocken gehen, um die spärliche Auftragslage zu ergänzen. Sie wären eben ein Ponader. Kurz, etwas vereinfacht, gesagt: Sie beziehen Ihr Geld auch durchweg von der Gesellschaft - und das ohne Antragsstellung, ohne Fallmanagement, ohne Offenlegung des Vermögens - für die einen ist das SGB zuständig, für die anderen RTL. Abbreviaturen regeln die Zuwendungen der Gesellschaft hüben wie drüben...
Seien wir doch mal forsch: Was verdienen Sie? Wieviel verdienen Sie bei solchen Auftritten, wie jenem im Hasso-Plattner-Institut? Gut, das ist ungerecht, Sie fragten ja auch nicht, was Ponader an Hartz IV bekommt - das konnte man sich bloß ausrechnen; da haben Sie ohne gänzlich direkt zu fragen, ganz direkt Ponaders monatliches Einkommen offengelegt. Also anders gefragt, quid pro quo: Könnten Sie alleine von solchen Auftritten leben? Nicht in einem Lustschlösschen vielleicht, aber doch in einer Eigentumswohnung? Würfe Ihr Weingut ein gutes Leben ab? Ist der Produzent Jauch unterhalts- und lebensfähig? Brauchen Sie die ARD-Einnahmen eigentlich? Das geht uns etwa so viel an, wie Sie Ponaders Einkünfte etwas angehen.
Was wird man über Sie dereinst sagen, wenn auch Ihre Sendung im Orkus gestorbenen politischen Gequatsches verschwunden ist? Journalistisches Geschick wird man Ihnen kaum nachsagen; zu oft haben Sie nur Stichwort gegeben für die Selbstdarstellung der (wirtschafts-)politischen Marionetten. Werden Sie einen Verdienst für die Nachwelt aufweisen können? So wie der ansonsten so politisch unbedarfte David Frost Verdienstvolles hinterließ, als er Nixons Arroganz bloßstellte? Wohl kaum! Ihr politisch größtes Verdienst wird sein, dass Sie die Einkünfte und somit den Lebensstandard des Geschäftsführers einer kleinen Partei offengelegt haben. Nicht durch Recherche, sondern durch Quengelei, durch infatiles Wiederholen einer Frage, deren Antwort Sie gar nichts anzugehen hatte. Und dies auch nicht, um zu informieren, sondern um den Mann mundtot, ihn lächerlich und unglaubwürdig zu machen.
Ein offener Brief. Eigentlich eine hirnverbrannte Idee - gleichwohl die einzige Möglichkeit, jemanden wie Sie, der so glitschig und geübt im Entkommen ist, überhaupt auch nur zu touchieren. Sie werden jedoch so aufdringlich schweigen, wie Sie sich Ponader sonntags aufdrängten...
Früher war es das Trio, vielleicht auch mal das Dreigestirn. Ganz trocken nannte man es auch Dreiergruppe; musikalischere Gemüter sprachen auch vom Terzett. Heute ist es die Troika - von ihr liest und hört man derzeit nicht wenig. Der deutschen Sozialdemokratie steht eine Troika vor - in Griechenland macht eine Troika die Menschen zu Tagelöhnern oder Hungerleidern - und die Parteivorsitzenden der Koalition aus CDU, CSU und FDP wurde auch schon als Troika bezeichnet. Der Begriff scheint in Mode, vorher war er rar genutzt.
Die Troika ist eine russische Bespannweise für Fuhrwerke. Dreigespann zu deutsch. Sie wird mit einer Gerte angetrieben. Striemen auf Fleisch. Das Dreigestirn, begrifflich vormals öfter genutzt, klingt wie nach drei Köpfen, drei unabhängigen Stirnen, drei Denkbefähigungen - das Trio oder Terzett scheint ein harmonischer Verbund von Klängen. Der Troika steht der Sinn weniger nach Harmonie, weniger nach Stirnarbeit - ihr ist stupides Laufen eigen, das Angetriebenwerden mittels Gerte, das Abspulen stur in Laufrichtung. Den in die Troika Eingespannten wird begrifflich unterbewusst die Unfähigkeit zum freien Handeln suggeriert. Sie können nicht autonom und selbstbestimmt laufen. Das Trio klingt terminologisch nach Abstimmung, sich Absprechen, kurz gesagt: nach demokratischen Standards - das Dreigestirn macht wörtlich vor, dass man mit Grips handelt, dass Bildung im Spiel ist. Das Gespann einer Troika scheint demokratische Standards und Denkbefähigung nicht zu brauchen.
Es ist Zufall (oder doch Unterbewusstsein?), das man die Troika seit einiger Zeit reger benutzt. In diesem Begriff spiegelt sich alles wider, was die Zustände um etwaige Dreierkonstellationen, die oben benannt wurden, ausmacht. Die SPD-Troika handelt nicht selbstbestimmt, sie wird von neoliberalen Prämissen und Attributionen getrieben, denkt daher nicht frei, entfernt sich immer weiter von demokratischen Harmonien. Die Troika zu Griechenland ist Treiber und Anpeitscher auf den ersten Blick. Sie ist aber eine frankensteinsche Kreatur einer Wirtschaftslehre, die nur Profitmaximierung und Akkumulation kennt - die Troika wird vom Profitbestreben getrieben, handelt dergestalt unfrei und hält von Absprachen und Beratung, von Demokratie, kurz gesagt, überhaupt nichts. Die Troika der Koalition handelt ganz ähnlich - auch sie besteht aus Getriebenen, Angepeitschten, von der Demokratie Weggeescheuchten.
Die Troika passt begrifflich viel besser in die Wirklichkeit, als so romantische Begriffe wie Trio oder Dreigestirn. Sie bildet ab, was ist. Sie zeigt auf, dass Entscheidungsbefugnis nach der Liberalisierung der Märkte bedeutet, in einem Gespann zu sein, in einem Geschirr gefangen. Das gilt freilich nicht nur für Dreiergruppen...
Vor einigen Wochen verglich ein namhafter Pirat seine Partei mit der NSDAP. Wie diese zwischen 1928 und 1933 würden die Piraten ähnlich schnell aufsteigen. Der Vergleich ist dumm und liegt irgendwo zwischen Größenwahn und Realitätsblindheit. Dieser Vergleich mit der NSDAP, was den politischen Erfolg betrifft, ist grobe Albernheit - ein anderer bietet sich jedoch an. Gerade auch auf Basis dieses irrwitzigen Vergleichs.
Die NSDAP war in den Jahren, bevor sie zur staatlichen Institution erhoben wurde, ein Sammelbecken für allerlei politisch Heimatlose, für Desillusionierte und Verbitterte, für vermeintliche Visionäre und politisch oder deutsch Engagierte. Natürlich gab es da die antisemitischen Mitglieder und Sympathisanten - welche, die wirklichen Hass auf Juden auslebten genauso, wie solche, die mit Juden etwas zimperlicher umsprangen. Der Holocaust war in den Zwanzigerjahren nicht absehbar, auch wenn manche Geschichtsschreibung heute so tut, als habe man es erahnen können, weil Hitler in einschlägigen Passagen in "Mein Kampf" angeblich ungeniert darüber räsonierte. Ohne ihn in Schutz nehmen zu wollen: Die Metaphorik des politischen Diskurses jener Tage war archaisch genug, um von der Ausmerzung sprechen zu können, ohne dass man gleich an einen wirklichen Vernichtungswillen denken musste.
Natürlich trafen sich in der NSDAP auch verbitterte Nationalisten, Kriegsveteranen, Männer, die nur das Soldatenhandwerk gelernt hatten und nun ohne Perspektiven waren. Zudem gab es Leute, die glaubten, die NSDAP lasse sich als Partei nutzen, die soziale Reformen umsetzen könnte. Es gab Esoteriker und einer verquasten Führermythologie verhaftete Personen, wie zu jener Zeit nach dem Kriege üblich, die in die NSDAP drängten. Fest, Kershaw und Toland beschreiben das eindrücklich. Die NSDAP sollte die notwendigen Veränderungen bewirken. Wie die aber aussehen sollten, was genau zu tun sei, ob sie als Reformpartei, als sozialistisch angehauchte Partei der Veränderung oder als liberal handelnde Partei des Laissez-faire agieren sollte, darüber war man sich an der Basis so uneinig, wie teilweise an der Spitze. Man denke nur an die Strassisten. Es ließ sich alles und nichts in die NSDAP interpretieren - man konnte der auf einen Bierdeckel passenden Programmatik wegen für sie sein oder sie als Sprungbrett sehen, man konnte national miteifern oder sie inhaltlich etwas neu aufstellen wollen.
Die NSDAP war für jedes einzelne Mitglied oder für jeden Sympathisanten wahrscheinlich etwas ganz anderes. Sie ließ sich nur auf eine Handvoll Punkte, festgehalten in einer Münchner Spelunke zu Anfang des Jahrzehnts, festmachen. Das bekannte 25-Punkte-Programm, das so breit gefächert und vage formuliert war, dass es alle möglichen Schichten und Denkrichtungen ansprechen konnte. Alles andere war deutbar, konnte nach Ansicht vieler Mitglieder noch eingeschoben, nachgereicht oder verabschiedet werden. Etwas übertrieben läßt sich sagen: Der Nationalsozialismus war zuerst als Begriff geboren, bevor er inhaltlich aufgefüllt wurde. Lediglich einige vage Impulse in eine Stoßrichtung gab es. Denkbar wäre beispielsweise, dass durch ein verfrühtes Ableben Hitlers auch der Antisemitismus für die spätere NSDAP gestorben wäre. Der Wille zur Macht schien festgeschrieben, die Mittel und Wege, die Inhalte jedoch nicht.
So weit muß man nicht gehen. Die Piraten sind nicht die NSDAP. Aber es war ein Pirat, der seine Partei mit der NSDAP verglich, daher bietet sich ein Vergleich, der handfester ist, durchaus an. Denn das inhaltliche Vakuum ist es, das sich dort ausbreitet, es erinnert tatsächlich an die NSDAP vor der Machtergreifung. In jenen Jahren tummelten sich so wie heute bei den Piraten, Menschen aller politischen Richtungen im Umfeld und im Innenleben der Partei. Markt- und Neoliberale, die das FDP-Programm als vorbildliche Richtschnur nehmen; Computerleute, die rein am Ursprung der Piraten kleben; sozial Gesonnene, die in den Piraten eine linke Partei sehen oder die sie wenigstens zu einer sozialdemokratischen Alternative machen möchten; rechte Idioten, die zwar auf sozial tun, das aber nur im Rahmen einer Art Volksgemeinschaft; Umweltschützer, denen die Grünen zu sehr Establishment geworden ist; Esoteriker, Spinner und Kommunarden, die die Piraten als anarchistischen Flügel bereichern wollen; Verbitterte, die einfach den Charme der Neuheit der Partei genießen und erleben möchten.
Kurz gesagt, keine inhaltlichen Prämissen zu haben, das wäre ein Vergleich gewesen, der halbwegs ins Schwarze getroffen hätte. Der Erfolg nicht, denn den werden die Piraten nicht in dieser Weise erleben - und dass man sich brüstet mit einer solchen Partei vergleichbar zu sein, stellt schon ein Armutszeugnis für manchen Piraten aus. Aber da inhaltlich noch Vakuum herrscht, treibt es eben auch solche Menschen zu den Piraten, die auf solcherlei stolz sein wollen...
Mißfelder sieht sich bestätigt. Nachdem Gesundheitsminister Bahr seinem Namen rhetorisch alle Ehre machte, Menschen mit Knie- und Hüftleiden auf die Bahre legen will, statt ihnen mittels operativen Eingriffs Mobilität zurückzugeben, läuft nun der JU-Direktor in der Rolle des einst vertriebenen Propheten auf. Er habe es doch gesagt. Schon vor zehn Jahren. Auf Kosten der Solidargemeinschaft, meinte er damals, sollte man künftighin keine künstlichen Hüftgelenke bei alten Menschen mehr einpassen. Das sei nicht unmenschlich, sondern nicht weniger als schlichte ökonomische Vernunft und Notwendigkeit.
Beide, Bahr wie Mißfelder, entstammen meiner Generation. Beide sind Kinder der mittleren oder späten Siebzigerjahre. Fürwahr ist diese Generation nicht durchweg misanthrop aufgestellt. Jetzt gerät sie aber immer mehr in Verantwortung, die Mittdreißiger bekommen Posten und Pöstchen und es zeigt sich, dass bahrsche oder mißfeldersche Charakterzüge gar nicht so selten sind. Erschreckend ist dabei weniger die Unmenschlichkeit - für schlimmer halte ich es, dass diese Unmenschlichkeit mit einer Art von Vernunft vorgetragen wird, dass man ihr schon fast zustimmt, wenn man nicht aufpasst und nochmals durchdenkt.
Mag sein, dass meine Generation seit Anbeginn neoliberal geschliffen wurde. Ich habe das als Kind freilich nicht gemerkt. Aber rückblickend: dieser Schliff fand statt. Man lehrte uns etwas von der Alterspyramide als Optimum einer Gesellschaft, als Notwendigkeit für die umlagenfinanzierte Rente. Dass diese Erscheinung mit einem breiten Segment bei den Kindern, sich verjüngend bei den Jugendlichen, bis hin zu einem schmalen Segment bei den Senioren, die typische Staffelung in Entwicklungsländern mit hoher Kinder- und Jugendsterblichkeit, in der die Lebenserwartung generell niedrig liegt, ist, erfuhr ich erst später. Gleiches geschah, als man uns in der Schule das Jahrhundertprojekt Main-Donau-Kanal, damals noch aufgebauscht unter dem Namen Rhein-Main-Donau-Kanal, vorstellte und als Innovation verkaufte. Später erst wurde mir sichtbar, dass da jemand gezielt verdummte, um das Milliardengrab als Chance für die Zukunft darzustellen.
Meine Generation wurde ins Fahrwasser der neoliberalen Weltauffassung geworfen. Bei vielen hat es gefruchtet. Nicht alle sind wie Bahr oder Mißfelder - aber doch nicht zu wenige. Und wie gesagt, besonders schlimm ist es, dass sich mancher Mittdreißiger, wenn er sich heute politisch oder gesellschaftlich äußert, es mit ökonomischer Verve tut, mit vernünftiger Miene und dem Eindruck, so menschlich bleiben zu wollen, wie es die Sachzwänge erlauben - mehr jedoch nicht, denn Menschlichkeit ohne ökonomische Grundlage ist Träumerei und Romantik.
Es ist eine durch und durch ökonomisierte Generation, die nun an die Pötte treibt. Eine, die sich biologistisch absichert, die erklärt bekam, dass das Abwägen, dass Kosten-Nutzen-Analysen aus der natürlichen Selektion stammen - die Evolution sei nämlich der Fortschritt gemessen an Nutzen und den dazugehörigen Investitionen. Was kostet und nicht nützt, wird abgestoßen. Blanker Unsinn, der nicht verifizierbar ist und der nicht erklärt, warum es in der Natur Dinge gibt, die keinen Nutzen haben und die dennoch von der Evolution nicht ausgemerzt wurden. Man denke nur mal an die männliche Brustwarze, die doch keine Funktion hat und dennoch existent ist. Blanker Unsinn, der die Denke meiner Generation moralisch unantastbar machen soll.
Die Denke hinter Bahr und Mißfelder, etwas was sie aber nie laut sagen würden, ist doch auch, dass wir in einem unnatürlichen Stadium leben. Der Mensch sei biologisch gar nicht für neunzig Erdenjahre gemacht - warum also künstlich, medizinisch aufwerten, was so unnormal ist? Precht schreibt in seinem Buch "Liebe: Ein unordentliches Gefühl", dass für die Biologisten, die evolutionären Psychologen, wie sie richtig heißen, die Steinzeit das wirkliche Zeitalter des Menschen sei. Sie siedeln jede menschliche Regung, jeden Affekt, den wir heute besitzen, in der Steinzeit an. Der Biologismus macht die Steinzeit zum Kriterium - und der Mensch ist qua Steinzeit nicht für ein langes Leben gemacht. Daher sollte er gar nicht so alt werden. Medizin ist demnach nicht natürlich, sie ist künstlich.
Dass die Medizin somit auch Teil der Kultur ist, die für den Menschen die Fortführung der Biologie mit anderen Mitteln ist, gerät dabei außer Sicht. Bahr und Mißfelder sind Propheten einer Lehre, die die Kultur einschränken will - Kultur nur für solche, die es wert sind, mit ihr geadelt zu werden.
Man sollte ja nicht meinen, diese Generation sei eine, die so viel schlechter, so viel böser sei, wie es andere vor ihr waren. Aber sie erinnert manchmal so fatal an jene Vernunftsgenerationen, die zwischen Blüte des Sozialdarwinismus und Aufkommen des Faschismus, die Gesellschaften prägten, dass man sich fürchten muß. Das waren damals Generationen, die nichts Böses im Schilde führten, sich in ihrer ökonomisch-biologistischen Vernunft suhlten und zu Wegbereitern einer neuen Zeit wurden. Sie geben sich auch heute wieder anständig und vielleicht meinen sie es mehr oder minder sogar anständig. Trotzdem säen sie Missgunst, innere Spaltung, Desintegration und entfachen, vereinfacht gesagt, einen Krieg der Starken gegen die Schwachen. Es ist eine einseitige, eine einfältige Weltsicht, die diesem Handeln und Sprechen zugrunde liegt.
Keiner von diesen beiden Typen spricht so, weil er die Welt verschlechtern will. Davon bin ich überzeugt. Der unbedingte Wille, diese Gesellschaft so zu gestalten, dass kulturelle und ökonomische, soziale und medizinische Teilhabe für alle gewährleistet ist, treibt sie freilich auch nicht an. Sie meinen es nicht gut - aber auch nicht schlecht. Sie weisen sich als Realisten aus. Bahr und Mißfelder sind prominente Prototypen für diese Generation, die um die ausgehenden Siebzigerjahre herum geboren wurde. Andere sitzen heute an weniger prestigeträchtigen Stellen und verbreiten ein ganz ähnliches Weltbild. Klischee ist dabei der Angestellte der Bundesagentur für Arbeit, der Arbeitsvermittler, etwas veraltet gesprochen. Schlecht meint es der vermutlich auch nicht - aber mitfühlen kann er nicht, denn das ökonomisch eingepflanzte, biologisch abgesicherte Weltbild ist dafür nicht konzipiert.
Eine versaute Generation sind wir. Nicht alle. Aber tendenziell schon. Im Deutschland Kohls, in dem wir aufwuchsen, war nicht alles so schlecht aufgestellt, wie es heute durchaus der Fall ist. Der Sozialstaat brauchte eine rot-grüne Rosskur, um diskreditiert zu werden. Das haben Bahr und Missfelder als Anfang- und Mittzwanziger erlebt und sich vermutlich dann radikalisiert. Als Konservativer und Marktliberaler hatte man schließlich einen Ruf zu verlieren - und wenn schon die "Progressiven" so konservativ und marktliberal waren damals im Schröderianismus, dann musste man noch einen Gang zulegen. An der Radikalisierung der vulgärökonomischen Weltanschauung, die uns heute zusetzt, sind nicht die Konservativen und Marktliberalen schuld - die Schröderzeit ist es. Sie hat diese Generation, deren Kern bereits neoliberal angekokelt war, gänzlich versaut.
Im Fahrwasser der schröderianischen Reformitis, bei der es wenig Herz für die Hilfebedürftigen gab, konnte man mit Aussagen, wie eben jene berühmte des Mißfelder, glänzen und punkten. Das gehört seither zum guten Ton - statt Kritik gibt es dann Anerkennung und Lob für den Mut, bittere Wahrheiten auch zu sagen. Sarrazin und sein spinnerhafter Biologismus war vordem sicherlich auch denkbar - aber dieser Hang, den Diffamierungen von Randgruppen auch noch gönnerhaft zu gratulieren, der ist in der Radikalisierung des Sozialdarwinismus jener Jahre zu suchen.
Meine Generation besteht nicht aus Faschisten. Einige nur, die zählen nicht, weil die auch vom Verfassungsschutz sein könnten und auch kaum ins Gewicht fallen. Aber faschistoid ist sie allemal. Nicht mutig, nicht offen - ganz versteckt, sich mit Vernunft bedeckend, mit Sachzwängen herausredend. Nochmals sei erwähnt, nicht alle sind so. Aber die, die an die Öffentlichkeit drängen, die sind es wohl. Meine Generation kommt nun an die Schalthebel - und wird keine Lösungen entwerfen, sondern zum Teil des Problems werden.