Sorry Malala, es geht nicht gegen dich!

Freitag, 31. Oktober 2014

Mal nur so ein Beispiel. Vor einigen Wochen bekam unter anderem Malala den Friedensnobelpreis. Die Entscheidung geht in Ordnung. Kein Vergleich zu Kissinger, Obama oder die EU. Aber dann kam die mediale Schau. Übertreibungen reihten sich an hochtrabenden Berichten. »Das mutigste Mädchen der Welt«, schrieb eine Zeitung. »So tapfer ist sie!« Und im Radio verströmten sie Ehrfurcht. Was die Kleine schon alles durchmachen musste, was sie leistet, wie unglaublich übermenschlich sie doch ist. Wie gesagt, das stimmt sicherlich mehr oder weniger alles. Aber was tue ich? Ich winke ab, nehme es nicht mehr ernst, wende mich ab, schalte weg und frage mich: Was geht mich das alles an? Und ehe ich mich versehe, desinteressiere ich mich.

Ähnlich bei Ebola. Es gibt sicherlich Grund zur Sorge. Gibt es immer. Man dürfte es vermutlich nicht runterspielen. Aber dann sehe ich, was die Medien daraus machen. Sie entfesseln einen Hype. Schüren Angst. Dazu ein ordentlicher Schuss Emotion und alle Welt ebolarisiert. Ich müsste dieses Sujet viel ernster behandeln. Aber der Chor der Stimmen, der in Funk und Fernsehen durcheinander quatscht und sich in (Auf-)Bausch und Bogen hineinsteigert, dieses Genuschel in Dauerschleife, es lässt mich angewidert wegblicken und vergällt mir jegliches Interesse. Wahrscheinlich ist das Resignation. Auf jeden Fall ein irrationaler Akt. Aber ich kann nicht raus aus meiner Haut. Ich kann einfach nicht so tun, als sei diese Kakophonie normal. Kann es nicht einfach überhören. Mir wird das einfach zu viel.

Ich mag es, wenn man Themenfelder dosiert. Nachrichten rationiert und letztlich rationalisiert. Wenn aber plötzlich diese mediale Maschinerie anrollt, die mit Donnergrollen aus jeder Meldung eine Dauerschleife macht, eine Ansammlung verschiedener Geschichten, die dann teilweise auch noch derart von Emotionsschmalz trieft, dann bin ich raus. Ich bin der Typ, der Nachrichten gerne zur Kenntnis nimmt. Ich will sie nicht verinnerlichen, als Lebensgefühl aufgedrängt bekommen. Will kein News-Emo sein. Malala wäre ja durchaus wert, dass man sich mit ihr befasst. Natürlich ohne falsche Romantik. Aber dieser Sensationismus, der sich an sie drangeheftet hat - und das teilweise schon vor dem Nobelpreis -, raubt mir jede Bereitschaft, dieses Thema überhaupt auch nur gedanklich anreißen zu wollen. Ja, ich will es nicht mal mehr zur Kenntnis nehmen. Ich weiß, Malala hat das nicht verdient. Nicht diese Verachtung. Und nicht diese Journalisten, die diese Verachtung säen.

Es gibt da eine ausgezeichnete Kurzgeschichte von Bukowski. Sie heißt ganz unscheinbar »Die Kneipe an der Ecke«. Es geht um einen Mann, der in eine ihm fremde Kneipe kommt, um dort ein Bier zu kippen und eine zu rauchen. Ein anderer Mann will mit ihm anbandeln und fragt nach einigen Dingen. Unter anderem, ob er das von den fünfzig kleinen Mädchen in dem Waisenhaus in Boston gelesen habe. Die seien dort verbrannt. »War das nicht entsetzlich?«, fragte er. Der Biertrinker antwortet ohne Emotionen, sagt, dass es vermutlich entsetzlich gewesen sei. »Sie vermuten es? Wissen Sie's denn nicht genau?« Der Mann trinkt weiter sein Bier und lamentiert, wenn er dabei gewesen wäre, hätte er mit Sicherheit sagen können, dass es entsetzlich war. Aber so ist es eine andere Situation für ihn: »... für mich wars nur eine Schlagzeile, verstehen Sie, eine Zeitungsmeldung. Ich hab mir nicht viel dabei gedacht und hab die Seite umgeblättert.« Der pure Hass schlägt ihm daraufhin entgegen. Die Kneipenbesucher, die den Dialog mitbekommen haben, wollen ihn lynchen. Aber auch für sie war dieser ehrliche Mann nur eine Unterbrechung der Monotonie. Und wie der Biertrinker die Waisenkinder mit dem Umblättern abhakte, so haben auch die Empörten den Biertrinker schnell wieder vergessen und gehen zur Tagesordnung über.

So brutal das jetzt auch klingen mag, dieser Ansatz nüchterner Einsilbigkeit ist für mich wahrscheinlich die einzige Art und Weise, wie man sich Nachrichten heute zu Gemüte führen sollte. Je mehr Emotion in eine Neuigkeit gelegt wird, desto schwieriger wird es, Nachrichten in rationaler Distanz aufzunehmen. Wer keinen Abstand wahren kann, der will nicht »benachrichtigt« werden, sondern möchte etwas für das Gemüt.

Wenn man dann auch noch bis zum Kotzen überinformiert wird, aus dem gefühlvollen Enthusiasmus ein Delirium wird, dann nehme ich die Haltung jenes Mannes an, der bei Bukowski ein Bier in einer ihm fremden Kneipe bestellt. Ich brauche diesen Abstand. Damit ich Sachlagen zur Kenntnis nehmen kann. Mich nicht in Gefühle verstricke, wo ich den Verstand benötige. Und ich brauche ihn auch, um leben zu können. Um weitermachen zu können. Wer sein Herz in den Weiten der Nachrichtenindustrie verliert, der hat endgültig verloren. Der ganze Zirkus ist ja eigentlich als Medium angelegt, folglich als Übermittler und Botschafter, nicht aber als etwas, was ans Herz gehen soll.

So drastisch wie der Biertrinker, würde ich es freilich nicht formulieren. Mein Taktgefühl funktioniert noch. Wenn auch immer schlechter, weil ich mich mit den Jahren immer schwerer damit tue, jemanden etwas vorzumachen. Aber summa summarum liegt er völlig richtig mit seiner Reserviertheit. Denn es gibt meiner Meinung nach nur zwei Möglichkeiten, diesem allgemeinen Trend der gefühlsduseligen Berichterstattung gegenüberzutreten. Entweder man konsumiert es so, wie es kommt, mit allen Gefühlsschwankungen. Dann ist man zwar nicht seriös informiert, dafür hat man etwas Seelenbalsam aufgetragen bekommen und hat was fürs Herz. Oder man grenzt sich von dieser schmierigen Journalistenart ab und nimmt in Kauf, dass manche Themen einfach an einem vorbeilaufen. Auch wenn sie es vielleicht wert wären, dass man sich tiefergehend mit ihnen befasst. Dazwischen gibt es meiner Ansicht nach nichts.

Sorry Malala, es geht also nicht gegen dich! Du bist sicher großartig. Sie machen halt nur alles mutiger und begabter, als es gewesen ist. »Es wird übertrieben. Die menschliche Rasse übertreibt alles. Ihre Helden, ihre Feinde, ihre Bedeutung.« Das ist nicht von mir. Es ist ebenfalls vom Altmeister. Von wem sonst? Wenn sie dich wieder seriös behandeln, den ganzen Kitsch weglassen, dann könnte ich mich für dich doch noch interessieren, Malala. Solange schalte ich aber auf Durchzug.

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Wer die Rechten beim falschen Namen nennt ...

Donnerstag, 30. Oktober 2014

Die Neonazis und Rechtsextremen, die am Wochenende gegen den Salafismus wüteten, fanden in den Medien lediglich als »Hooligans« statt. Klar, diese Kundgebung fand unter diesem Namen statt. Aber muss man das kopieren? Von der NPD spricht doch auch keine Sau von »Nationaldemokraten«.

Ein Hooligan ist fürwahr keine niedliche Figur. Aber wenn man Neonazis als Hooligans bezeichnet, dann ist das sehr wohl eine Verniedlichung. Denn klassische Hooligans sind keine politisierte Gruppierung, sondern das sind Raufbolde, die ihre Gewaltbereitschaft zelebrieren und einen eigenbrötlerischen Kult um Schlägereien leben. Wenn man nun also liest, dass da am letzten Sonntag Hooligans marodierten und durch die Straßen Kölns wüsteten, dann stellt man sich eine Bande von Gestalten vor, die ohne politisches Motiv zu martialischen Mitteln griff. Die einfach feste drauf haut, ganze ohne weltanschauliche Ambitionen. Blödmänner eben, die um der Gewalt willen gewalttätig in Erscheinung treten. Keine ideologisch verblendeten Glatzköpfe aber, die rassistisch und ausländerfeindlich vorgeprägt sind.

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Putinverstehen oder Ein Beitrag zur Aufklärung

Mittwoch, 29. Oktober 2014

Quelle: VAT Verlag
»Der Putin treibt uns noch in den Krieg«, sagte mir erst kürzlich wieder jemand. Ich musste tief durchschnaufen. Jeder kennt vermutlich mittlerweile eines dieser Geschöpfe, das nachplappert, was die Medien vorfabrizieren. Die rhetorischen Lemminge sind ein wachsendes Völkchen und Problem. Ich indes fragte mich, wo ich mit Gegenargumenten ansetzen sollte, um dieser Behauptung etwas entgegenzusetzen.

Sollte ich etwa bei der NATO beginnen, die man in Russland als Drohung wahrnimmt? Oder bei dem, was die Krim für Russland war und ist? Da gibt es so viel, alles scheint so kompliziert und verwirrend. Ich fragte mich, wie man einen Menschen, der sich kaum mit den Hintergründen dieser Angelegenheit befasst, sich News nur aus »Bild« und »Spiegel« pickt, dazu bekommt, dass er auch mal die andere Seite sieht. Das Vorhaben habe ich allerdings gleich wieder aufgegeben. Ich ließ den Satz von Putins Kriegstreiberei so stehen und seufzte laut. Aufklärung ist eine gute Sache, aber ad hoc ist sie in Fragen dieses Konfliktes zwischen Russland und dem Westen kaum mehr zu leisten. Es gibt einfach zu viel zu sagen, zu viele Baustellen, zu viele Nebelkerzen und Minenfelder. Und wenn man jemanden dann quasi sagt, er sei Opfer von Propaganda, dann macht er dicht. Denn dergleichen passiert doch nicht bei uns im gesitteten Westen. Propaganda machen nur immer die anderen. Macht Putin.

Einige Tage später bekam ich dann Wolfgang Bittners neues Buch in die Finger. Es hätte mir sehr als Argumentationshilfe gedient. Endlich mal alles auf einen Blick. Chronologisch. Die Zusammenhänge erfassend. Denn auch die Zusammenhänge gehen einem ja schnell verloren, wenn man den Tausenden von Stimmen aus den Medien lauscht. Alle reden sie durcheinander, überschlagen sich, streuen neue Gerüchte und dann weiß man nicht mehr, wie es zu dem kam, was da gerade gespielt wird.

An dieser Stelle will ich ehrlich sein. Ich betrachte mich durchaus als einen am Zeitgeschehen interessierten Menschen. Mehr oder weniger. Aber irgendwann habe ich mich in der Ukraine-Sache quasi ausgeklinkt. Habe es aufgegeben. Dieses Sammelsurium aus Propaganda und Hetze, das man uns als Journalismus verkauft hat, wurde mir so unerträglich, dass ich meist wegzappte, das Radio abdrehte oder weiterklickte, als wieder »neue Meldungen« kamen. Später fiel es mir schwer, die Ereignisse meiner freiwilligen Vakanz zu rekonstruieren. So ein Konflikt ist eben keine Soap, in die man beliebig eintauchen kann, ohne einen Verlust an Verständnis in Kauf nehmen zu müssen.

Ich nehme an, dass es vielen so ergangen ist. Man resigniert leicht. Die Berieselung mit Meldungen, die einem irgendwie unglaubwürdig vorkommen, macht mürbe. Bittner leistet Rekonstruktionsarbeit. Er verschafft einen Überblick und zeichnet den Ablauf dieses NATO-Kreuzzuges nach. Es wäre aber völlig falsch, sein Buch als reine Abhandlung der Ereignisse zu sehen. Es ist außerdem eine Chronologie allgemeinen Medienversagens. Selten hat man erlebt, dass die Presse so unreflektiert und gezielt falsch berichtete, wie in diesem Fall. Und Bittner ist sich sicher, dass das kein Einzelfall bleiben wird.

Der Titel klingt indes ein wenig reißerisch, auch wenn er nicht ganz falsch ist. Es ist jedoch nicht so, dass Bittner die deutsche Administration völlig aus der Schuldfrage heraushält. Er sieht sie vor allem als Helfershelfer der Vereinigten Staaten und der NATO. Das stimmt nur bedingt. Denn Deutschland ist an der Eroberung Europas mindestens genauso interessiert. Wenn auch eher auf rein wirtschaftlicher Ebene. Man spricht wieder Deutsch in Europa. Wer erinnert sich nicht an diesen Satz? Und die ukrainische Angelegenheit mag zwar ein militärischer Feldzug der NATO sein, aber er ist mindestens auch ein Wirtschaftsfeldzug, den ganz besonders Deutschland bestreiten möchte. Vielleicht hätte man das in einem Untertitel festhalten sollen.

Gleichwohl ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung. Man lernt gewissermaßen Putin verstehen, ohne ihn gleich toll finden zu wollen. Dieses Buch sollte man erwerben, um es all diesen Lemmingen in die Hand zu drücken, die wieder mal über den Kriegstreiber aus Moskau schimpfen. Ja, man sollte sie zum Lesen verdonnern. Wenn sie denn lesen würden. Aber diese allgemeine Lesefaulheit, ist jetzt wieder ein ganz anderes Problem.

»Die Eroberung Europas durch die USA. Zur Krise in der Ukraine« von Wolfgang Bittner ist im VAT Verlag André Thiele erschienen.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 28. Oktober 2014

»Wir müssen schnell damit anfangen, von einer ›sachorientierten‹ Gesellschaft zu einer ›personenorientierten‹ Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als die Menschen, dann wird die schreckliche Allianz von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus nicht mehr beseitigt werden können.«

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Karl-Eduard ist jetzt gegen die SED-Nachfolgepartei

Montag, 27. Oktober 2014

Letzte Woche war das allgemeine Stimmungsbild in den Medien wieder mal eindeutig. Ein schlechte Zeit für die Demokratie sei das, weil Die Linke, die jetzt wieder verstärkt »die SED-Nachfolgepartei« heißt, nun doch eine Landesregierung leiten dürfe. Man muss sich indes fragen, ob dieser Mainstream überhaupt noch eine Ahnung davon hat, wie man Demokratie definiert.

Von einem »Schlag ins Gesicht« war die Rede. Für einen linken Ministerpräsidenten seien die Menschen vor 25 Jahren nämlich nicht auf die Straße gegangen. Schon klar, sie kannten Ramelow damals gar nicht. Aber mal im ernst: Für was sind sie es denn dann? Etwa für eine Große Koalition, die mit autokratischer Allmacht über alle parlamentarischen Bedenken hinweg regieren darf? Ist dieses unangefochtene Durchregieren etwa gar eine Sternstunde der Volksherrschaft? Und in einem demokratischen System sollte die Abwahl einer Regierung ein ganz normaler Umstand sein, nicht wahr? Wie kann man dann den thüringischen Regierungswechsel als schlecht für die hiesige Demokratie bewerten? Aber die ewige Kanzlerschaft, dieses unablösbare »Weiter-so!« bei gleichzeitiger Konzeptlosigkeit, die ist gut für die Demokratie, oder wie?

Schon komisch, über diese Unausgewogenheiten regt sich der Mainstream nicht auf. Aber über eine kleine thüringische Landesregierung, die ungefähr so viel Einfluss auf die Bundespolitik hat, wie ein verletzter Regionalligaspieler auf den Leistungseinbruch der Nationalmannschaft, regt man sich gar tierisch auf. Sie soll der Abgesang des demokratischen Gedankens sein. Das behaupten dieselben Schreiberlinge, die den Maidan-Putsch und die daraus folgenden »demokratischen Umstrukturierungen« als einen weiteren Meilenstein der demokratischen Erfolgsgeschichte feierten. Diejenigen, die Tymoschenko und Chodorkovskij als Vertreter eines neuen freien Ostens hochleben ließen und faschistische Tendenzen im ukrainischen Erwachen als demokratischen Frühling wahrnahmen.

Ausgerechnet diese Experten in Sachen Demokratie sind nun besorgt, weil Die Linke zu einem Fitzelchen Geltung kommt. Zu einigen Brösel vom ganzen Kuchen. Da bricht denen schon die Welt zusammen. Als ob Mielke bald selbst Ministerpräsident würde. Wo sehen diese Leute denn bitteschön Wiedergänger Honeckers? Sie sind ja nicht mal deren Kinder. Sie haben sich zur Distanzierung von der DDR drängen lassen. Taktisch nicht unklug. Aber unter Linken ist man sich doch ohnehin einig, dass die DDR niemand mehr haben will. Verdammt, warum reden wir denn jetzt schon wieder von der DDR? Was hat die denn mit Ramelow zu tun? Der Mann hat ja nicht mal »drüben« gelebt.

Aber es ist doch so, dass jeder von irgendwo herkommt. Ein Teil von Die Linke hat ihre Wurzeln in dem Fragment einer Partei, die mal die DDR leitete. Die Union und die Liberalen waren Sammelbecken für Leute, die mal ein Reich führten. Aber was haben diese ollen Kamellen zum Beispiel mit Kauder oder Lindner zu tun?

Ich glaube nicht mal, dass die Leute vor 25 Jahren auf die Straße gingen, weil sie auch ein Stückchen politische Landschaft der Bundesrepublik wollten. Es war doch alles eher viel banaler, viel unpolitischer. Man hatte die Mangelwirtschaft satt, wollte konsumieren. Ich schrieb vor vielen Jahren darüber. Wer »Auf die faule Haut« kennt, der erinnert sich vielleicht an das kurze Essay. Erst später erzählte man sich, der Kapitalismus sei so begehrt gewesen, dass er gewinnen musste. Aber anderes war damals möglich. Nur darum geht es gerade nicht. Deshalb zurück zum roten Faden: Tun wir mal für einen Augenblick so, als seien die Leute damals wirklich politisch motiviert auf die Straße. Tun wir mal so, als sei es ihnen um die Demokratie gegangen. Was hätten sie gewollt? Nicht auch Landesregierungen, die wechseln können? Alternativen?

Sie sind sicher nicht auf die Straße gegangen, um Jahrzehnte danach einigen Journalisten zuhören zu müssen, wie sie aus einer sozialen Alternative eine SED-Kaderschmiede stilisieren oder wie sie uralte Episoden aufwärmen, mit denen die heutigen Protagonisten so gut wie gar nichts mehr zu tun haben. Ob sie wohl auf die Straße gingen, damit sie ihren alten Karl-Eduard von Schnitzler gegen neue, modernere von derselben hetzerischen Sorte eintauschen konnten? Nein, nicht Die Linke als Teil einer Regierung stößt den Menschen, die damals protestierten, vor den Kopf. Es ist dieser Mainstream, diese kleinkarierten Meinungs- und Scharfmacher, die demokratische Normalitäten skandalisieren, die ins Gesicht dieser Menschen schlagen.

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Der Plan

Freitag, 24. Oktober 2014

Der Streik der Lokführer ist ein glänzendes Beispiel dafür, wie diese Gesellschaft mit dem reibungslosen Ablauf des Alltagsgeschäfts umgeht. Ist der auch nur für einige Tage behindert, rollen ganz große Geschütze zum Erhalt der Störfreiheit an. Selbst demokratische (Grund-)Rechte ist man bereit aufzugeben.

Diese Gesellschaft liebt ihre Routine. Die Tretmühle, die jeden Arbeitstag gleich ablaufen lässt. Da weiß man gleich, was man hat. Alles geht glatt, man muss geistig nicht flexibel sein und ruht sich in der Struktur der Wiederholung aus. Das ist an sich ja auch nicht schlecht. Gewohnheit tut gut. Gibt Sicherheit. Nur gibt es im Leben keine Garantien. Für so gut wie nichts. Manchmal kann die Routine nicht eingehalten werden. Dann verkleistert die Tretmühle. Nichts mehr klappt wie am Schnürchen. Es gibt Zwischenfälle, die es im menschlichen Miteinander geben kann, weil es nicht kalkulierbar ist.

Diesen Umstand muss der Mensch hinnehmen. Er muss hinnehmen, dass er keinen Anspruch auf absolute Reibungslosigkeit hat. Eine Gesellschaft kann zwar weitestgehend ihren gewohnten Trott einhalten, aber hin und wieder bricht er auf. Sinnvoll wäre es, mit diesen Einschnitten cool umzugehen. Wenn man sich vor Augen führt, dass es die vollkommene Planbarkeit nicht gibt, kann man abgeklärt und gelassen an die Sache rangehen. Wenn nicht, droht wütender Aktionismus.

Diese Gesellschaft scheint sich tatsächlich des Anspruchs verschrieben zu haben, dass alles bis in die kleinste Nische planbar zu sein hat. Tag für Tag. Jeden Monat. 365 Tage lang. Immer derselbe Schematismus. Die Effizienzmaschine brummt. Die Gewohnheit scheint ein Grundrecht zu sein. Denn in dem Augenblick, wo der Plan durchbrochen wird, mal etwas nicht so klappt, wie man es gewohnt ist, fährt der öffentliche Diskurs schwere Geschütze auf. Dann geht es immer um die Deinstallation von demokratischen Spielregeln. Um Beschneidung von Rechten zur Wahrung einer Monotonie, die die herrschenden materiellen Verhältnisse entworfen haben.

Natürlich kann man verstehen, dass viele Menschen erzürnt sind, wenn ihr Trott unterbrochen wird. Sie brauchen ihn. Viele Lebensentwürfe sind heute maßgeschneidert. Durchstrukturiert. Wenn nur eine tägliche Verrichtung nicht im Soll bleibt, purzeln alle anderen Komponenten durcheinander und der Tag wird ein Terminchaos. Familien leben nach Stundenplan. Und es ist lästig, wenn er nicht eingehalten werden kann. Dennoch sind Forderungen, die mit allen Mitteln die Einhaltung der Struktur in den Mittelpunkt stellen, völlig überzogen und gefährlich.

Dass man die Demokratie gegen die Ökonomie auswechseln will, ist ja kein Geheimnis mehr. Wir wissen mittlerweile, dass die Demokratie marktkonform zu sein hat. Aber man darf sich heute nicht mehr vorstellen, dass Konzernbosse und Politiker alleine an dieser Neuausrichtung arbeiten und das Volk nur zusieht. Gerade solche Ereignisse wie Streiks, die auch immer Eingriffe ins Leben von Kunden und Unbeteiligten sind, zeigen auf, dass die Ökonomie auch das Denken ganz unbedarfter Bürger bestimmt. Auch sie beteiligen sich mit an den demokratischen Abrissarbeiten. Ihre Denkweise ist so weit gereift, dass sie ökonomische Lösungen von gesellschaftlichen Fragen demokratischen vorziehen. Und plötzlich debattieren sie über das Streikrecht.

Alle, die den Ablauf stören, sollten demnach auf die Ökonomie verpflichtet werden. Hauptsache, der Laden läuft weiter wie gehabt. Immer weiter. Ohne Unterbrechung. Demokratie ist zuweilen ein unkalkulierbarer Faktor. Die Denkweise, die die Flexibilisierung der Lebensrealität den Menschen eingepflanzt hat, ist nicht nur demokratiezersetzend, sondern auch unsolidarisch. Streikende und die Benachteiligten des Streiks, die ökonomisch betrachtet im gleichen Boot sitzen, verbindet nur noch wenig miteinander. Heute solidarisiert man sich mit dem Trott, der einen bestimmt. Der ist der Nächste. Und dann kommen Sätze dabei heraus wie: »Es gibt kein Recht, andere Menschen zu terrorisieren.«

Wo alle ihrem lückenlosen Ablauf nachlaufen, bleibt keine Zeit mehr, sich mit der Situation anderer auseinanderzusetzen. Es gibt nur noch das eine Ziel: Erledigung der Planung. Und da der Plan so vollgepackt ist, kann man nichts noch so Demokratisches akzeptieren, das die straffe Lebensplanung irgendwie aus dem Takt bringen lassen könnte. Das ist unsere Art zu Leben geworden. Der Plan unserer Existenz. Gerechtigkeitsfragen haben genau deshalb keinen Auftrieb. Das sieht man ganz besonders an den Debatten über die Streikmoral. Gerechtigkeit ist ja keine ökonomische Maßeinheit. Sie kostet eher Zeit. Ist aufwändig. Lästig. Störend. Gerechtigkeit kann man durchaus als nicht effizient einstufen.

Wir haben es nicht nur ständig eilig. Wir vergessen auch in der Eile, was einer Gesellschaft wichtig sein sollte. In der Eile ist die Ökonomie die sicherere Lösung. Denn sie verspricht eine gewisse Ordnung. Die Demokratie ist hingegen ein potenzieller Gefährder. Sie rüttelt manchmal am Plan. An den der Leute und an den, den diese schöne neue Ökonomie die Menschen als alternativlos aufzwingt. Nur die Entschleunigung demokratisiert. Aber wer hat heute noch die Zeit, das Gaspedal seines Lebens nicht ganz durchzudrücken?

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Linke, die auf der Spielwiese von Falken grasen

Donnerstag, 23. Oktober 2014

Kriegsfragen sind für die Linke eigentlich ein dankbares Themengebiet. Dort können sie ihre Standhaftigkeit beweisen und ihren humanistisch geprägten Ansatz vorzeigen. Eigentlich. Der Konflikt mit dem IS taugt nämlich dazu nicht. Er stellt das linke Spektrum vor eine Zerreißprobe.

Was waren das noch für Zeiten, als man als Linker gegen den Krieg in Afghanistan oder im Irak war. Die Lager waren klar. Man wusste in etwa, um was es hinter den Kulissen wirklich geht. Die USA und der Westen als Demokratie-Überbringer? Menschen-rechtskriege? Das alles war zu lachhaft um wahr zu sein. Die vermeintlich gute Konfliktpartei war schnell enttarnt. Man konnte damals noch offen pazifistisch sein, ohne Gefahr zu laufen, als herzloser Trampel angesehen zu werden. Das ist aktuell nicht mehr ganz so einfach. Die allgemeine Wahrnehmung des IS diskreditiert jeglichen pazifistischen Anklang.

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Der Minister, der abschafft, weil er anschafft

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Am Wochenende hat Seehofer mal wieder bewiesen, warum er Vorsitzender seiner Partei und gleich noch Ministerpräsident ist. Das heißt, er selbst hat es nicht bewiesen. Aber es war mal wieder leicht, diesen Schluss zu ziehen. Denn Söder hat mal wieder gesprochen. Nonsens. Wie erwartet. Das war nie anders. Immer wenn die Leute, die neben Seehofer sonst noch so zu den Christsozialen gehören, zu sprechen beginnen, ahnt man, warum ausgerechnet dieser Horst der Boss ist. Neben Söder, Dobrindt, Haderthauer, Merk oder Herrmann sieht man ohne viel Zutun irgendwie klüger als der ganze Rest aus.

Wobei es jetzt das Falscheste ist, was man machen kann, Söder einfach ein bisschen Dummheit zu attestieren. Der Mann klingt nur so. Das ist seine Art. Leider ist es nicht ganz so einfach. Denn die Programmatik, die er vertritt, die ist Kalkül. Sein »Konjunktur-Check für alle Vorhaben« ist nicht weniger als ein Abgesang auf die politische Entscheidungsgewalt. Regierungen wären nach seiner Theorie letztlich handlungsunfähig. Sie dürften nicht mehr fragen »Was wollen wir gesellschaftlich umsetzen?«, sondern nur noch »Wieviel Geld ist da?« Das geschieht schon heute viel zu oft. Aber Söder spricht der Politik jegliche Regulierungsgewalt ab. Wenn Politik nicht mehr den Anspruch haben darf, die Lebensverhältnisse nach dem Willen der Menschen und den Dynamiken der Gesellschaft autark zu gestalten, für was soll sie dann noch gut sein?

Sein Check überlässt den Markt sich selbst. Und vor allem überlässt er uns dem Markt. Denn eine Politik, die ihre Wirksamkeit rein an die Konjunktur koppelt, die begibt sich in eine Abhängigkeit, die in eine Abwärtsspirale mündet. Die Lobbyisten hätten gleich ein neues Aufgabenfeld: Die Konjunktur rhetorisch abwürgen, Abgeordneten und Ministern einflüstern, dass alles den Bach runtergeht. So könnte man jeden sozialstaatlichen Gedanken im Keime ersticken. Was Söder hier favorisiert, das ist nicht mal mehr Merkels »marktkonforme Demokratie«, die schon schlimme Befürchtungen weckte. Er sagt nämlich indirekt, dass der Markt die Demokratie regelt.

Die Absicht dahinter ist klar. Es gibt da so einige Ansätze, die die Bundesregierung verabschiedet hat, die ihm und einigen Kollegen nicht gefallen. Söder ist ein Mann der Wirtschaft. Kein besonders begabter, aber ein lauter. Der Mindestlohn stinkt ihm. Er stärke nämlich die Wirtschaft nicht, sagt er. Er ist halt ein Freund der Angebotstheorie. Von Nachfrage weiß er nichts. Dass er seine niederen Beweggründe aber gleich in so einen großspurigen Kehraus der politischen Entscheidungskompetenz münden lässt, zeigt nur, dass dieser Mann überhaupt keine Skrupel kennt, seine wirtschaftsdiktatorischen Phantasien der Allgemeinheit als »vernünftiges Handeln« zu verkaufen.

Es ist die Arroganz eines Mannes, der nie etwas anderes als Berufspolitiker war. Und scheinbar hat er überhaupt kein Problem damit, sich selbst abzuschaffen. Aber vermutlich sind nach seiner Definition Politiker sowieso nur Leute, die die Wirtschaftsinteressen effektiv exekutieren sollen. Dieser Mann, der den für ihn leidigen Gestaltungsauftrag abschaffen will, macht nur seinen Job und geht für die Wirtschaft anschaffen. Oder ist er nur eine Anschaffung der Wirtschaftsbosse?

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 21. Oktober 2014

»Natürlich sind wir schon von je daran gewöhnt, große Banditen zu bewundern, die die ganze Welt mit uns verehrt, weil sie reich sind, und deren Dasein bei näherer Betrachtung eine ununterbrochene Reihe von Übeltaten ist, aber das sind berühmte, geehrte und mächtige Leute, ihre Vergehen sind gesetzlich legitimiert worden; aber so weit man auch in der Weltgeschichte zurückblickt [...], man findet immer wieder den Beweis dafür, dass ein läßlicher Diebstahl, besonders der armseliger Nahrungsmittel, wie Brot, Schinken oder Käse, unfehlbar dem Täter förmliche Ächtung, Strafe, zwangsläufigen Ehrverlust und unauslöschliche Schande zuzieht, und das aus zwei Gründen: erstens, weil solche Freveltaten meist von einem Armen begangen werden und dieser Status an sich durchaus unwürdig ist, und zweitens, weil eine solche Handlungsweise eine Art stillen Vorwurfs gegen die Gesellschaftsordnung in sich schließt ... Der Diebstahl eines Armen ist boshafte, individuelle Korrektur, verstehen Sie? Wohin soll das führen? Daher wurden unter allen Himmelsrichtungen, beachten Sie das wohl, die kleineren Diebstähle äußerst streng bestraft, nicht nur, um die soziale Ordnung zu verteidigen, sondern auch hauptsächlich, um allen Unglücklichen einen deutlichen Wink zu erteilen, dass sie auf ihrem Platz und innerhalb ihrer Kaste zu bleiben und das Maul zu halten und sich freudig darein zu inden haben, jahrhundertelang, bis in alle Ewigkeit, in Hunger und Elend zugrunde zu gehen.«
- Louis-Ferdinand Céline, »Reise ans Ende der Nacht« -

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Die Solidarität, die bestreikt wird

Montag, 20. Oktober 2014

Wenn ich täglich unterwegs bin, kommen für mich im Regelfall nur drei Radiosender in Betracht. Entweder hr1, SWR3 Rheinland-Pfalz oder harmony.fm. Nachdem am letzten Mittwoch, am Tag des (mittlerweile vorletzten) Lokführerstreiks, bei SWR3 ein kurzer Einspieler Stimmen von Zugreisenden brachte, die bitter über die Lokführer klagten, drehte ich auf hr1. Dort sprach kurze Zeit später ein Experte und warf der GDL vor, sie würde nicht verhandeln wollen und alles auf den Rücken der Reisenden austragen. Womit ich auch schon bei harmony.fm landete und abermals der Empörung von Zuggästen lauschte, die sagte, dass sie keinerlei Verständnis aufbringe für den Streik. Und so gingen mir die Sender aus und letztlich auch das Radio.

Der Streik, Robert Köhler, 1886
Das war an jenem Streiktag zuvor, der weitestgehend in der Nacht stattfand, noch ein bisschen anders. Da überwogen noch jene Stimmen, die zustimmten und sich solidarisch zeigten. Da war die Einschränkung ja auch überschaubar. Am letztem Mittwoch verfehlte der Streik aber dann nicht seine Wirkung. Er versprach das, was das Konzept des Streiks eigentlich möchte: Auffallen, den Wegfall einer Tätigkeit bemerkbar machen. Die Leute sollen ja gerade Notiz davon nehmen, dass die Verrichtung einer Arbeit eben keine Selbstverständlichkeit ist. Und das geht nur, wenn man seinen Dienst einstellt, die Kundschaft auflaufen lässt. Das ist unangenehm, aber auch unumgänglich. Wer nachts streikt, der gibt diesen wesentlichen Aspekt des Streikkonzepts auf und kann es genauso gut gleich sein lassen.

Würden die Medien zum Thema Bahnstreik nicht nur ständig irgendwelche Motzköpfe einspielen, die ihr Unverständnis über den Streik kundtun, sondern vermehrt solche Stimmen, die den Lokführern solidarisch begegnen, würde man die Stimmungslage sicherlich zugunsten dieser Arbeitnehmer beeinflussen können. So aber setzen die Medien die GDL perfide unter Druck. Sie stellen sie hin wie eine rücksichtslose Bande, die im Tarifstreit eindeutig die Rolle der unvernünftigen Erpresser einnimmt. Eine Bande, die vom »rabiaten Machtmensch Weselsky« (Stern) vertreten wird. Die Bahn jedoch ist fein raus.

Mit dieser einseitigen Darstellung der Ereignisse impft man den Menschen in diesen Lande die Vorstellung ein, dass Streik etwas zu sein hat, was allgemein nicht behindern soll. Arbeitnehmer können ruhig ihre Arbeit niederlegen. Schließlich gibt es ein Streikrecht. Aber bitte so, dass sie niemanden stören. Nachts. Oder nach Feierabend. Die Medien verinnerlichen mit dieser unredlichen Schilderung, dass die Störung des Betriebes nicht vorkommen sollte. Das ist die neoliberale Vorstellung von Arbeitskampf. Da man so tut, als gäbe es keine Klassen mehr, sollten auch alle Maßnahmen, die daran erinnern, dass es sie eben doch noch gibt, so vollzogen werden, dass sie keiner bemerkt.

Nur die Gewerkschaft der Lokführer hält sich mal wieder nicht daran. Zuletzt trieb sie es 2008 so bunt. Und noch ein Jahr zuvor attestierte gar ein Gericht, dass die GDL illegale Streiks abgehalten hätte. Später wurde dieses Urteil allerdings aufgehoben. Jetzt lässt sie abermals die Öffentlichkeit schmerzhaft merken, dass es eben nicht die große Partnerschaft zwischen Partikularinteressen ist, die diese Gesellschaft ankurbelt, sondern der Widerstreit von Positionen, der manchmal mit harten Bandagen geführt werden muss. Es ist nicht so, dass die GDL sich zurücknehmen müsste, damit sie als Gewerkschaft der schönen neuen Welt akzeptiert werden kann. Man wünschte sich eher, dass die großen Gewerkschaften von der GDL lernten. Schade, dass der DGB nicht den großen Ausstand probte, als die Agendapolitik über uns kam. Vielleicht auch so ein Grund, weshalb die Politik kleinen Gewerkschaften jetzt den Garaus werden will.

Mehrere Stimmen in den Radiosendern meiner Wahl ereiferten sich, weil Lokführer gar nicht so schlecht verdienen würden. Sie seien ja keine Niedriglöhner. Eine Frau schimpfte, denn sie arbeite in der Pflege und verdiene noch weniger. Was für eine Moral soll das sein? Wäre es nicht richtiger, auch die Löhne aus dem Pflegewesen anzuheben? Überhaupt ist der Versuch, die Streikabsichten mit der Höhe der Löhne zu entkräften, ein Blindgänger. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht doch einzig und alleine darum, wie eine Gesellschaft mit dem Recht eines jeden Arbeitnehmers umgeht, sich gegen die Bedingungen an seinem Arbeitsplatz aufzulehnen. Als die GDL im Jahr 2008 massiv streikte, vernahm man Stimmen aus der Politik und Presse, die das Streikrecht am liebsten ausgesetzt hätten. Bei allem verständlichen Ärger der Bahnreisenden, jede Stimme, die den Streik als etwas angreift, was nicht sein dürfte, unterstützt die Befürworter solch undemokratischer Maßnahmen.

Dass es aber auch solidarische Pendler- und Reisendenstimmen gibt, daran gibt es keinen Zweifel. Eine sitzt neben mir. Meine Frau. Mehrere ihrer Kollegen ebenso. Alles Pendler. Fast alle haben dafür Verständnis. Von nichts kommt nichts, sagen sie. Und mancher Radiosender, den ich nicht höre, soll auch solidarische Anklänge gesendet haben, habe ich mir sagen lassen. Es ist also nicht so, dass die GDL völlig alleine steht. Vielleicht stimmen ihr sogar weitaus mehr Menschen zu, als man sich vorstellt. Aber was hilft das, wenn man sie nicht richtig hört, wenn sie nicht in Funk und Fernsehen sprechen? Diese Stimmen weitestgehend medial zu unterlassen, kann man durchaus einen medialen Eingriff in den Tarifstreit betrachten. Objektivität und Neutralität und folglich die Solidarität sind auch so Werte, die von diesen Qualitätsmedien chronisch bestreikt werden.

Nachtrag: Hier hätte der Text eigentlich enden sollen. Tut er aber nicht. Kaum war er abgetippt, wurde für das Wochenende ein weiterer Streik gemeldet. Dasselbe Stimmungsbild in den Radiosendern. Einige Stimmen forderten Einhalt. Man müsste vor Streiks geschützt werden. »Streikrecht schön und recht, aber...«, sagen sie. Und wer bitte schützt uns vor Menschen, die gerne solcherlei kurzen Prozess sehen würden?

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Der Entfesselungskünstler, der kein Skandal ist

Samstag, 18. Oktober 2014

Ja, die Geschichte mit dem Mann, der mit einer Fußfessel nach Syrien abhaute, ist zweifelsohne ein Skandal. Wie kommt man denn eigentlich dazu, jemanden eine Fußfessel zu verpassen? Dieser Umstand ist für mich der eigentliche Skandal an der Story. Und nicht dieser »Entfesselungskünstler«.

Hassan B. ist wohl in Hessen bei Koranverteilungen aufgefallen. Mir hat auch schon mancher lausige Buchempfehlungen gegeben. Aber ich bin nie auf die Idee gekommen, ihn deswegen zu fesseln oder mit Peilsender auszustatten, damit ich überwachen kann, wen er als nächstes mit seinen schlechten Literaturgeschmack beglückt. Das hätte auch der Bursche in der Stadtbücherei, der auf Bücher von Broder schwört, trotz allem nicht verdient. Deswegen sprechen die Medien aber auch nur von einem »mutmaßlichen radikalen Islamisten«. So sicher ist die Unterstellung also gar nicht. Aber dass er trotzdem Fessel an der Fessel trägt, daran stößt sich niemand.

Es gibt eben Skandale, die Skandale werden dürfen. Und solche, die man hinnimmt, nicht mehr hinterfragt, die Potential dazu hätten, wenn man mal kritisch bliebe. Klar, wenn Hassan B. nach Syrien ist, um dort dem Tod zu begegnen, dann ist das tragisch. Was ist denn los mit jungen Männern, die sich intellektuell so aufgegeben haben? Aber wenn man jemanden quasi auf Verdacht fesselt, weil er vielleicht ein mutmaßlicher Eventuell-Salafist ist, dann ist das für uns alle, die wir hier in diesem Lande leben, wahrscheinlich noch viel tragischer. Und einen Skandal wert. Aber nichts dergleichen. Alles ruhig. Wird schon seine Richtigkeit haben, oder nicht?

Wir stumpfen ab. Wiederhole ich mich? Ja, ich wiederhole mich. Wir nehmen alles so hin, wie sie es hinstellen. Aber ich sag mal so: Wenn man mich mit einer Fußfessel schmücken würde, weil ich vielleicht unter meinem Mantel mehr habe, als nur eine anarchistische Fibel oder so was in der Art, dann wäre die Option, mir fortan tatsächlich mehr als nur ein Büchlein unter den Mantel zu stecken, auch nicht mehr so verkehrt für mich. Ich sage jetzt nicht, dass dieser Hassan zu einem mutmaßlichen Salafisten gemacht wurde. Aber das Gegenteil kann man eben auch nicht behaupten.

Was verteidigten wir eigentlich dauernd gegenüber der islamischen Welt? Demokratie oder so? Jedenfalls sagten sie uns das. Und sie sagten: Mitsprache. Und: Freiheit. Nur die Fußfessel haben sie nicht erwähnt.

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Die Kriegsbemalung auf den Schnauzen

Freitag, 17. Oktober 2014

Über die geistige Mobilmachung.

Wir sind so weit. Wir sind kriegsbereit. Unsere geistige Verfassung scheint geebnet zu sein. Man braucht nur so ein bisschen durch die Pinnwand bei Facebook klicken und man kann sehen, dass es genau so ist. Die gemäßigten, die besonnenen Stimmen sind Mangelware. Der Stoizismus kupiert. Selbst potenzielle Linke sind dort plötzlich Agitatoren des Krieges oder bekunden wenigstens ihre Solidarität mit dem Bombenkrieg. Der Islam ist in den sozialen Medien für viele natürlich nicht weniger als Faschismus. Und diese Dschihadisten seien nichts anderes als Tiere. Facebook scheint der Frontabschnitt zu sein, in dem die Verrohung und Barbarisierung popularisiert wird. Früher brauchte man Politruks, die durch die Reihen gingen, heute schwört sich der freie Teil der Welt in sozialen Netzwerken ein.

Ich traue dieser Tage meinen Augen kaum. Linke, Rechte, Konservative und Progressive, alle wollen sie mehr oder minder den militärischen Einsatz. Den Krieg. Einerlei ob nun unter UN-Mandat oder nicht. Warum nicht die Bundeswehr dorthin schicken?, fragen sie. Gegen den Islam, wäre das doch eine richtige Sache. Denn der Islam ist schlecht. Der Islam ist mörderisch. Der Islam. Es gibt ja nur den einen, so wie eben ein amerikanischer Evangelikaler und Frau Fromm, die nur Ostern in die Kirche geht und auch ansonsten nicht betet, »die Christen« sind. Das ganze verfluchte Internet ist voll von diesem »Der-Islam-ist-...«-Gewese. Jeder Trottel hat eine Ansicht zum Thema. Ansicht, aber keine Ahnung. Meist sondern sie nur Ungehobeltes, Dummes und was weiß ich alles ab.

Mann, der Islamische Staat ist die beste Erfindung, die man sich denken konnte - nicht wahr, Herr Gauck? Die Generalmobilmachung der Gemüter funktioniert heute mit Daumen nach oben. Jeder noch so ahnungslose Idiot weiß dort ein Statement abzugeben. Zusammenhangslos. Geschichtsvergessen. Einfach nur vom Gefühl der Rache angeleitet. Vor kurzem sah meine Pinnwand, diese Summe aller »Freunde«, die ich mir dort irgendwann zugelegt habe, noch anders aus. Man zürnte dem Militärpfarrer, der Krieg fordere. Im Angesicht des IS sieht dieselbe Pinnwand plötzlich ganz anders aus. Selbst das Bombardement verteidigt mancher. »Schlichtes Weltbild« nennt man es, wenn man das für einen falschen Weg hält. Und Christine Buchholz, linke Bundestagsabgeordnete, kriegt ihr Fett weg, weil sie glaubt, dass Bomben keinen adäquaten Lösungsansatz liefern. Ich las Stellungnahmen von Autoren und Bloggern, die sich davon distanzierten und von Schamgefühl quatschten. Wie kommen diese Leute jetzt alle dazu, Bomben als Grundlage einer neuen Ordnung zu akzeptieren? Bomben, die gestern auch die zerrissen, die verteidigt werden sollten ...

Die Kurden sind plötzlich ein Vorposten eines Westens geworden, in dem der ideologische Burgfrieden ausgebrochen ist. Wer hat sich denn vorher für die Sorgen der Kurden interessiert? Aber plötzlich sind sie die Herzensangelegenheit aller. Auch der Dummköpfe, die ihren Hass auf den Islamischen Staat freien Lauf lassen und es dann auch noch Meinung nennen. Einen muslimischen Blogger, den ich auch in meiner Freundesliste habe, und der versucht, dieser islamophoben Eindimensionalität Einhalt zu gebieten, nennt man dort einen »Muslim«. Muslim in Anführungsstrichen. Denn er ist friedlich, wortgewandt und humorvoll. So kann doch kein Muslim sein. Der kann zwar von denen abstammen, aber so richtig ist er sicher keiner. Das sind doch alles Tiere.

Ich könnte hier so viele Frechheiten, Anstiftungen, Gewaltbekundungen, Pogrommotive, Beleidigungen, Entmenschlichungen und Brachialrhetorik auflisten, dass dieser ganze Freitagvormittag mit dem Lesen dieses Verzeichnisses draufgehen würde. Was da anschwillt, das ist die Bereitschaft dazu, sich jetzt in einem gerechten Krieg hineinzufühlen. Endlich sind die Leitmotive da, die diese an sich pazifistische Masse aufrüttelt. Emotionalisiert durch TV-Bilder glaubt man nun, man dürfe nicht mehr falsch friedfertig sein. Pazifisten sind plötzlich die wirklichen Kriegstreiber. Denn wer nicht kämpft, der will den Untergang, belehren sie einen. Sie klingen wie Vulgärdarwinisten, wie Hitler, der über den Kampfwillen als Grundlage des Lebens rezitierte. Dabei tun sie noch so, als sei alles nur noch alternativlos.

Was mich erschreckt ist nicht die Entdeckung, dass es vermutlich ohne militärischen Druck nicht zu einem Ende dieses Terrors kommt. So ist die Welt zuweilen. Aber dass plötzlich ein Massenpublikum Parolen ruft, wie sie Kriegsherren brauchen, um relativ unkontrolliert ihres Amtes walten zu können, das macht mir Sorgen. Mit Geschöpfen, die so beschaffen sind, kann dieser Schwachsinn hemmungslos vollzogen werden. Geht von mir aus als internationale Koalition von Bodentruppen dorthin. Aber auch in diesem Falle wollte ich eine Öffentlichkeit, die nicht  »Hurra!« schreit und bei jeder erfolgreichen Frontmeldung so tut, als seien tote Menschen ein Grund zur Freude. Schließlich seien es ja nur Tiere, die man mordet. Mit Zoomorphismen war es immer leichter. Die Tutsi waren Schaben. Und Juden Ratten oder Ungeziefer. Dass Krieg stattfindet, das ist ja schon schlimm genug. Wenn er aber stattfindet und die Menschen unterstützen den Einsatz ohne Skepsis und in naiver Umnachtung, dann ist das ein moralischer Niedergang.

Der Krieg steht vor der Türe, die Gemüter sind abgestumpft genug, für Einfühlungsgabe unempfindlich. Diese Haltung färbt auch auf zukünftige Konflikte ab. Ich las irgendwo auf meiner Pinnwand einige Kommentare. Dort hieß es, dass man mit den Problemen, die der islamische Teil der Welt habe, endlich mal Schluß machen müsse. Endgültig. Ihnen Regeln auferlegen. Ich befürchte, diese Denkweise setzt sich langsam durch. Die Kriegsbemalung ist schon auf diese Schnauzen aufgetragen. Wir sind bereit. Im Kopf. Als Gesellschaft. Für das große Schlachten. Für die Verantwortung in der Welt.

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PoWi mit'm Barth

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Mario Barth deckte mal wieder auf. »Denn es geht um Ihr Geld«, sagte er im Trailer zu seiner Show und tat dabei so, als wolle er sich zum Rächer der gerechten Steuerzahler aufschwingen. Aber seine Sendung mildert nicht die Politikverdrossenheit – sie ist sie.

Jüngst war mal wieder so ein langweiliger Samstagabend. Wir drückten von Sender zu Sender und landeten bei einem Best of von »Verstehen Sie Spaß?«. Sie zeigten gerade einen Film mit Mario Barth, wie sie ihn aufs Glatteis führen. Es ging um die Planung seiner Show im Berliner Olympiastadion und man setzte ihn einen Typen vom Ordnungsamt vor die Nase, der ihm das Feuerwerk am Ende der Show verbat. Er wedelte mit Statuten und Verordnungen und Barth wurde langsam sauer. Irgendwann platzte er. Er schimpfte auf »die da oben« und rief laut, dass es ein freies Land sei und es hier eine Verfassung gäbe. Wowereit mache nur Party und überhaupt: »Det ist doch nüsch die DDR, wa!« Er redete sich in Rage. Und bei allem menschlichen Verständnis für seine Aufregung, man sah doch deutlich: viel politische Ahnung hat der Mann nicht.

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Zu Ohren gekommen

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Er könne es nicht, behauptete die Opposition ziemlich oft über Kanzler Schröder. Später sagte sie es über die Kanzlerin. Über Steinbrück wussten viele: Er kann es nicht. Ebenso der Polizeipräsident aus Frankfurt. Ich erinnere mich noch an die Stimmen, die sagten, Hans-Peter Friedrich könne es nicht. Und Thomas Oppermann sei auch nicht besser. Letzte Woche fällte Christian Ströbele ein Urteil über den thüringischen Verfassungsschutz und dessen Rolle in der NSU-Sache: Er kann es nicht. Egal wer und in welche Richtung, man hört und liest diesen Satz oft.

Dieser kurze Satz ist zu einer beliebten Behauptung geworden. Nichtskönner sind gewissermaßen in der Hausse. Es gibt sie überall. Der Satz will natürlich nur eine Komprimierung sein. Aber er ist gefährlich. Denn er entlastet. Nimmt dem Nichtskönner die Verantwortlichkeit. Denn wenn einer nichts kann, dann braucht er Belehrung, Hilfe, eine unterstützende Hand. Wer nichts kann, ist ja eigentlich in der Rolle eines Menschen, den man unter die Arme greifen muss. Er kann ja nichts dafür, muss es gezeigt bekommen. Das Produkt seines Nichtkönnens, das Stümpern, mag zwar ärgerlich sein, ist aber letzten Endes die Bilanz eines Unschuldigen. Der Nichtskönner ist eine tragische Figur. Er würde es ja vielleicht gerne besser machen, aber es ist niemand da, der ihm das Können beibringt. So gesehen sind eigentlich die fehlenden Unterstützer und Lehrmeister schuldig, weil sie sich seiner nicht annehmen.

Wer also seinem politischen Kontrahenten sagt, dass er es nicht könne, der entlastet ihn, schiebt die Schuld in die Schuhe derer, die sich auf unterlassene Hilfeleistung zurückgezogen haben. »Sie können es nicht, Frau Merkel«, heißt letztlich nur: »Sie können ja nichts dafür, Frau Merkel.« Dieser Satz negiert die Verantwortlichkeit, verniedlicht das Problem, dass es Politiker, Behörden und Institutionen gibt, die eben nicht stümpern, weil sie nicht das geistige Rüstzeug haben, sondern die ganz gezielt bestimmte Entscheidungen treffen oder hinauszögern. »Sie können es richtig gut, Frau Merkel«, müsste man sagen. Denn sie spart Europa nicht kaputt, weil sie es nicht kann oder nicht besser weiß. Sie tut es aus Überzeugung. Sie weiß, was los ist.

Und man darf annehmen, dass es der thüringische Verfassungsschutz auch wusste. Seine Versäumnisse geschahen nicht, weil er es nicht konnte, sondern weil er etwaige Konsequenzen in Kauf nahm. Diese Sentenz ist nicht geeignet, um etwas auf den Punkt zu bringen. Sie verführt hingegen dazu, den Punkt aus den Augen zu verlieren. Es sind nicht die Nichtskönner, die Sorgen machen - es sind die Könner. Man darf sie nicht trivialisieren. Aber leider ist dieser Satz zum politischen Allgemeingut geworden. Ein von Politikern gern benutztes Statement. Sie können es einfach nicht.

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Wer bin ich, das Leben eines anderen einzuschätzen?

Dienstag, 14. Oktober 2014

Es gibt so viele gute Gründe für die staatliche Gewährung der Sterbehilfe, wie es gute Gründe dagegen gibt. Der Ex-MDR-Intendant Reiter hat das wichtigste philosophische Problem (Camus) wieder mal ins Blickfeld gerückt: Leben oder aufhören damit? Und falls man aufhören möchte, kann das nicht jemand anderes übernehmen?

Es gilt heute als fortschrittlich, innovativ und avantgardistisch, sich für die Sterbehilfe auszusprechen. Ich habe das in der Vergangenheit auch oft getan. Mit seinem Bekenntnis zur Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe schockt man ja so herrlich schön. Man rüttelt an alten Konventionen, die man als überlebt tituliert und tut so, als sei eine neue Zeit heraufgezogen. Gerade als junger Mensch findet man Freude daran. Gegner der Sterbehilfe gelten hingegen gleich als reaktionär, antiquiert und, gewollt oder nicht, vom Christentum beeinflusst. Wer heute noch sagt, dass man jedem (menschlichen) Leben mit absolutem Respekt entgegentreten sollte, dem zeigt man den Vogel.

Es soll womöglich eine Lockerung hin zur aktiven Sterbehilfe geben. Eckpunkte hierzu sollen diese Woche von politischen Gremien präsentiert werden. Eine Kommentatorin schreibt irgendwo - ich weiß wo, will den Namen dieser »Zeitung« in diesem Text aber nicht erwähnen -, dass das gut so sei. Denn »die heutigen Gesetze bilden nicht mehr ab, was die Gesellschaft über das Thema denkt.« Ist das so? Ist es tatsächlich so einfach? Gibt es nicht etwa auch eine höhere Moral? Ist Zeitgeist gleich Maßstab? In vielen Dingen sicherlich. Aber überall? Wenn es plötzlich einen Konsens darüber gäbe, dass erzwungener Sex nicht verwerflich sein sollte, lockert man dann die Gesetze, die die Vergewaltigung als Straftatbestand definieren? Ist die Ansicht darüber, was und bis zu welchem Grade von Gesundheit ein Menschenleben wert ist, auch mit dem Zeitgeist verhandelbar?

Ich kann mir eine Gesellschaft, die die aktive Sterbehilfe auch unter strengsten Auflagen genehmigt, nicht als eine Gesellschaft vorstellen, die in irgendeiner Weise besser oder glücklicher wäre. Außerdem glaube ich nicht daran, dass eine solche Liberalisierung nicht auch ein ganzes Heer von Einzelfällen produziert, in dem Familienangehörige allzu leicht abwinken und sagen: »Lass uns Oma aufgeben, es war so schwer zuletzt.« Das verurteilte ich nicht mal. Erschöpfung ist menschlich und ich würde vielleicht nicht anders reagieren.

Ich weiß sehr wohl, was es heißt, einen leidenden Menschen, der langsam in den Tod geht, zu ertragen. Ich kümmerte mich vor einigen Jahren um den krebskranken Mann meiner Mutter. Er wimmerte häufig und schrie, er rief meinen Namen und bat darum, dass ich ihm den Schmerz nehme. Aber mehr als eine Ladung Morphin war nicht drin. Irgendwann half auch die nicht mehr. Er phantasierte dafür rege. Das Opiat hatte ihn im Griff. Ich dachte damals oft an die Schreie von Verwundeten, die im Niemandsland zwischen den französischen und deutschen Gräben lagen und denen man aus der Ferne einen Gnadenschuss gab. Die Leidensrufe ließen keine andere Wahl. Man konnte ja nicht den ganzen Tag mit Gehörschutz im Graben sitzen. Wenn man ein Ende setzen könnte, dachte ich mir, ganz legal und gesellschaftlich anerkannt, warum denn nicht? Besser als hilflos danebenstehen und keine Tränen mehr zu haben. Mein Mitleid war schon lange aufgebraucht. Woher nimmt man so viel Mitleid? Irgendwann ist es ausgeschöpft. Man wird leer. Warum also keine Gnade walten lassen, ihn »hinübergeleiten«? Eine Spritze, die Hand halten, da sein und dann erfolgt die Erlösung für beide Seiten?

Doch dann wurde er wieder ruhig, sprach mit mir, war lustig und voller Zuversicht. Wenigstens noch ein Jahr wollte er durchhalten. Er erzählte mir gelegentlich von seiner Vergangenheit. Seinen Reisen. »Wie haben die Löwen gespielt, Roberto?« Wir freuten uns über einen Sieg. Viele gab es zu jener Zeit nicht. In diesen Momenten schämte ich mich meiner Gedanken. Was habe ich mir angemaßt, über die Qualität seines schmerzhaften Lebens zu urteilen? Wer bin ich, das Leben eines anderen einzuschätzen? Er starb an einem Montag im Krankenhaus. Von alleine. Unter Schmerzen. Ich sah seinen Leichnam. Er lag da ohne  Schläuche und Spritzen, ohne medizinisches Arbeitsmaterial und Schmerzapparaturen. Ohne dass er Philosoph war, hat mir sein Leid Demut gelehrt. Sterbehilfe? Nein, ich bin dagegen. Man kann Leidensgeschichten, die man als Zuschauer erlebt, dazu gebrauchen, um sich für die Sterbehilfe auszusprechen. Ich habe das Gegenteil daraus gelernt.

Klar, ich weiß, Sterbehilfe bedeutet ja auch, dass sich der Patient selbst entscheiden muss. Wie lange wird es aber dauern, bis man einen Vormund darüber entscheiden lässt, weil der Patient selber nicht mehr befinden kann? Und dann bin ich kulturpessimistisch genug, um zu fragen: Wann werden Sozialbehörden mitmischen, die ein Ableben aus Kostengründen befürworten? Wir sind hier immerhin in Deutschland und da gilt immer noch, Kosten und Nutzen säuberlich gegeneinander abzuwägen. Wir sind so roh geworden in unserem Fortschritt. Deshalb befürchte ich auch diese Seite dieser Grundsatzfrage. Leben und Tod sind ökonomische Fragen geworden. Sterbehilfe ist insofern für den im modernen Wirtschaftsliberalismus gemachten Menschen auch eine »Lebenseinstellung«. Was nützt mir und wenn ja, wieviel kostet es?

Das sind aber nur »organisatorische« oder strukturelle Gründe meiner Ablehnung. Weitestgehend bin ich aus moralischen Aspekten dagegen. Jedes Leben ist ein Leben. Schmerz lindern ist wesentlich, palliative Pflege ist notwendig. Die Würde des Schmerzes tragen, etwas was Johannes Paul II. als Botschaft in die Welt transportierte, ist unnötig und pathetischer Unsinn. Aber jemanden künstlich in den Tod führen, halte ich für einen Akt, den man als Mensch am Menschen nicht begehen darf. Das ist die finale Grenze. Unverhandelbar. Wer sagt, der stirbt doch sowieso, der hat nichts verstanden. Das ist keine Ethik mehr, sondern Utilitarismus oder Nihilismus. Die absolute moralische Leere. Wer sich allerdings selbst zu Tode bringt, den verurteile ich nicht. Wer das jedoch nicht selbst tun kann, mit dem bin ich niedergeschlagen, möchte daraus aber nicht ableiten, dass er ein Recht auf Tötungshilfe hätte. Das führt zu weit. Der Respekt vor dem Leben geht verloren.

Man wird meine Einstellung dazu unter progressiven Lesern nicht verstehen. Ich verstehe wiederum nicht, wie man sich nur als progressiv einschätzen kann, wenn man zivilisatorisch Rückschritt hält. Sie werden sagen: »Bist du jetzt Katholik geworden?« Nein, aber ich sicherlich katholisch sozialisiert, auch wenn ich weder an Kirche noch Gott glaube. Indessen der Respekt vor dem Leben des Tieres immer mehr gesellschaftliche Berücksichtigung findet, sagt derselbe Zeitgeist, dass es menschliches Leben geben könne, das eigentlich nicht mehr lebenswert ist. Welche Prioritäten haben wir noch? Machen wir es uns als Gesellschaft nicht zu einfach?

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Die blockierte Drehtüre ist ein Notausgang

Montag, 13. Oktober 2014

In der »Frankfurter Allgemeinen« ist man empört. Mal wieder. Diesmal geht es um die Karenzzeit, die frisch geschasste Politiker temporär von einflussreichen Posten in der Wirtschaft fernhalten soll. Sie sei als nicht demokratisch anzusehen. Mindestens. Dieses süße Lebensgefühl der gut geschmierten Drehtüre, steht für Funktionäre jetzt auf dem Spiel. Jede noch so zaghafte Regulierung lehnen konservative Meinungsmacher natürlich ab. Sie können sich wohl ein Leben ohne Drehtüre gar nicht vorstellen.

Das war doch stets so eine schöne Synthese, oder nicht? Man machte Politik und landete dann in einem Unternehmen, das von dieser Politik profitierte. Dieses Geschäftsmodell hatte sich etabliert. Wurde Lebensart für die Leistungsträger, nicht wahr? Und jeder hatte angeblich was davon. Man tauschte nur Know-How. Also alles ganz vernünftig und seriös. Warum also reglementieren, was richtig war? Interessenskonflikte? Ach was, das wischt von Altenbockum von der »Frankfurter Allgemeinen« als Lappalie weg. Die Berufsfreiheit wiege nämlich mehr als alles andere. Wer Politikern die verwährt, der begehe Diskriminierung und sei gewissermaßen kein Demokrat mehr. Die Diktatur zieht mal wieder herauf. Sie zieht immer herauf, wenn die Klientel, für die diese Werbetexter des Elitarismus öffentlich Meinung ergreifen, mal Pfründe abgeben oder einschränken soll. Da sind dann plötzlich diejenigen keine Demokraten mehr, die bloß wollen, dass die, die die Demokratie als Drehtüre missbrauchen, es künftig schwerer haben.

Die ganze Empörung, die von Altenbockum da abfasste, strotzt nur so vor Bockmist. Mit Berufsfreiheit hat dieser Diskurs zum Beispiel äußerst wenig zu tun. Keiner verbietet ausgeschiedenen Politikern, weiterhin irgendwo als Funktionär tätig zu sein. Aber wer als Innenminister biometrische Pässe einführt und danach in einem Unternehmen sitzt, das solche Pässe im Regierungsauftrag fertigt, der hat ja nicht einfach nur einen Beruf ergriffen. Zu Beginn seines Textes entschuldigt er Leute wie Bahr, Niebel und Pofalla noch damit, dass ja letztlich alle Bürger wandelnde Interessenskonflikte seien. Am Ende behauptet er jedoch, dass Politiker gewählt wurden, weil man ihnen zutraut, dass sie Interessen objektiv verwalten könnten. Wie übrigens jeder unbescholtene Bürger auch. Was jetzt? Sind wir alle nicht fähig zur Trennung von Amt und Interesse oder dann doch? Und falls wir es nicht sind, falls wir wirklich alle wandelnde Interessenskonflikte sind: Wäre dann eine Karenzzeit nicht sogar unbedingt notwendig? Als Schutz des demokratischen Gedankens vor der Schwäche der Menschen gewissermaßen? Überhaupt seien Politiker heute Untertanen. Man hat den Eindruck, dass er »Untertanen« schrieb, weil ihm »Opfer« gerade nicht einfiel. Solche Gedankenansätze kommen heraus, wenn man sich intellektuell völlig aufgegeben hat. Oder wenn man meint, einem schwimmen gleich die Felle davon.

Jeder andere Berufsstand, so weiß er außerdem, würde nicht so behandelt. Aber das ist natürlich auch nur die halbe Wahrheit. Hat der Mann schon mal was von einem »nachvertraglichen Wettbewerbsverbot« gehört? Dabei erlegt man einen ehemaligen Arbeitnehmer auf, dass er nicht in Konkurrenz (ob nun selbstständig oder als Angestellter) zu seinem ehemaligen Dienstherrn tritt. So selten kommen solche Klauseln in Arbeitsverträgen gar nicht vor. In bestimmten Branchen sind sie Usus. Aber selbst nichtige Jobs können davon betroffen sein.

Als ich mal für einen Pizza-Service fuhr, beinhaltete der Arbeitsvertrag diesen Passus. Auf Nachfrage bei einem Fachanwalt für Arbeitsrecht wurde mir bestätigt, dass das zwar albern sei, weil der ehemalige Arbeitgeber wohl kaum die Einhaltung überprüfen könne - aber grundsätzlich sei das in Ordnung und komme nicht selten vor. Wahrscheinlich befürchtete die Geschäftsführerin, ich würde ihr Teigrezept einem Konkurrenten mitteilen oder Kundendaten mitnehmen. Auch wenn dieses Motiv dem überhöhten Geltungsdrang einer kleinen Pizza-Klitsche geschuldet war, so zeigt es doch ganz gut, warum es bei diesem Wettbewerbsverbot geht: Um den Schutz vor Interna. Um eine Abschirmung gegen Ausplaudern. Und genau das ist auch das Motiv der Karenzzeit. Die blockierte Drehtüre ist also nur auch nur ein Notausgang, der aus diesem Dilemma der Vermischung von Mandat und Wirtschaftsinteressen führt.

Daraus eine gruppenspezifische Benachteiligung oder Herabwürdigung zu konstruieren, ist schon eine komische Nummer. Der Mann diskriminiert seit Jahren Arbeitslose und Ausländer, gab letzteren zum Beispiel sogar eine Mitschuld an der NSU-Mordserie, weil mangelnder Integrationswillen auch seinen Teil dazu beigetragen hätte, dass es so weit kommen musste - tut jetzt aber so, als gehe es Ex-Politikern besonders schlecht. Das erinnert alles so an die Tea-Party-Bewegung. Die erklärt die Welt auch so, dass die eigentlichen Opfer die sind, die Geld und Einfluss haben. Ständig müssten diese besseren Menschen sich der Tyrannis der Demokratie beugen.

Dabei sind die Pläne zur Karenzzeit noch sehr moderat. 18 Monate Wartezeit sind nicht viel. Wahrscheinlich sind nach dieser Zeit die Beziehungen noch nicht völlig verebbt. Und die Interna noch nicht veraltet. Das Doppelte an Zeit hätte es schon sein dürfen. Außerdem muss geregelt werden, wie man bei einem Verstoß gegen eine Karenzregelung vorgehen möchte. Das Erlöschen sämtlicher Pensionsansprüche wäre ja wohl das Mindeste. Diese Leute, die öffentliche Ämter dazu benutzen, um sich für die Wirtschaft in Stellung zu bringen, gehören nämlich nicht mit Freiheitsrhetorik zu Opfern erklärt. Man muss deutlich machen, dass sie die Korruption befördern und wirtschaftskriminell verfahren. Wer das verklärt, ist nichts weiter, als der publizistische Tintenknecht einer wirtschaftskriminellen Fraktion.

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Roth wie Blut

Samstag, 11. Oktober 2014

Claudia Roth war wieder mal empört. Diesmal über die Türkei. Sie würde zu wenig tun gegen den Islamischen Staat. Und noch was hat sie gesagt, was allerdings kaum kommentiert wurde. Dieses Schweigen aber zeigt nur, wie stark die Logik der Gewalt und des Hasses schon die allgemeine Stimmung bestimmt.

In ihrer Tirade gegen die Türkei waren viele Punkte, die man aufgreifen und berichtigen müsste. Die Türkei dazu zu drängen, eine Grenzverletzung zu begehen, um letztlich damit auch gegen das Völkerrecht zu verstoßen, ist zum Beispiel schon ein burleskes Stück von epochalem Ausmaß. Als man glaubte, russische Soldaten würden dasselbe im Osten der Ukraine tun, war man nämlich noch ganz anderer Meinung. Dass man der türkischen Regierung aber gleich noch vorwirft, sie würde den Islamischen Staat deswegen unterstützen, weil sie verwundete IS-Kämpfer in Krankenhäuser medizinisch pflege, ist eine Aussage von so weittragender Unkultur, dass man es wirklich mit der Angst bekommen muss.

Klar, die Grünen waren schon mal Kriegspartei. Das wissen wir alle. Aber damals haben sie noch eine Rhetorik an den Tag gelegt, die kenntlich machen sollte: »Man treibt uns dazu. Eigentlich wollen wir ja nicht, aber die Welt ist nun mal ein Schlachtfeld. Was sollen wir denn machen?« Solche Ausflüchte hört man heute eher selten. Nicht mal mehr ein Feigenblatt hält man sich vor. Da steht tatsächlich eine Frau, die wahrscheinlich von sich selbst behaupten würde, pazifistische Positionen zu vertreten, im Namen des Humanismus unterwegs zu sein, und empört sich bitterlich, weil verletzte Menschen, die sie als feindliche Entität identifiziert hat, medizinisch versorgt werden. Die Alternative hierzu kann ja wohl nur sein, dass man verwundete Kämpfer liegen lässt oder weg schickt. Dass sie also verbluten, am Schmerz verrückt werden, jämmerlich verrecken. Oder will man mal wieder human sein und Gnadenschüsse erteilen?

Ach du liebes Bisschen, Claudia! War das nicht etwa mal die Logik deiner Großväter? Die haben es doch so gerechtfertigt. Sie haben erlöst, nicht getötet. Wolltet ihr nicht alles anders machen als die Generationen davor? Was ist davon geblieben und was ist aus Leuten wie dir geworden? »Menschlichkeit«, sagt dir das noch was? So weit ist es gekommen: Man muss das Wort schon in Anführungszeichen setzen.

Es mag Kriege geben zwischen verfeindeten Seiten. Konflikte und blutige Gewalt. Aber die Verwundetenpflege ist davon ausgeschlossen. Sie ist sakrosankt. Wer dagegen verstößt, macht sich der Kriegsverbrechen schuldig. US-Sanitäter pflegten einst auch verletzte Soldaten der Wehrmacht. Die Deutschen galten damals in der ganzen Welt als dieselben Schlächter, wie die Kämpfer des Islamischen Staates heute. Trotzdem behandelte man sie weitestgehend mit Menschlichkeit. Leider nicht immer. Die Genfer Konvention dürfte ja ein Begriff sein. Sie regelt, dass selbst in der größten menschlichen Katastrophe immer noch ein wenig Restmenschlichkeit bleibt. Sie will den Blutrausch wenigstens etwas hemmen. Oder sind IS-Kämpfer kein Fall für die Genfer Konvention, weil sie keine Soldaten im eigentlichen Sinne sind? Falls ja, dann ist Roth bloß ein anderes Wort für Bush und Guantánamo ungefähr dasselbe wie das Oktoberfest.

Spüren sie ihren sittlichen Verfall? Merken sie, wie sie immer mehr in eine Logik abdriften, die keinen Platz mehr für Menschlichkeit, für Mitleid mit dem Verletzten lässt? Klar, diese Schlächter werden nicht mit warmen Worten zu besänftigen sein. Aber wenn sie dann mit Wunden vor einem liegen, bleiben es doch trotzdem noch Menschen. Sie medizinisch zu versorgen ist kein Affront, wie Roth sagt. Es ist moralisch richtig und letztlich auch ein Akt der Würde gegen sich selbst. Denn wenn man den Menschen im Feind aufgibt, beginnt man sich würdelos zu verhalten. Heraus kommt dabei abgestumpfte Eindimensionalität. Oder eben eine Claudia Roth, die sämtliche Eckpfeiler der Zivilisation wegwischt.

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»Masturbieren Sie täglich?«

Freitag, 10. Oktober 2014

oder Statistiker sind auch nur so Statisten im Dickicht der Konventionen.

Gott sei Dank. Entwarnung. Die Deutschen sind also doch nicht so romafeindlich. Die vor einigen Wochen veröffentlichte Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes traf in ihrer Auswertung nicht ganz zu. Nicht etwa ein Drittel der Bürger lehnten demnach Sinti und Roma ab. Es sind nur ein Fünftel. Und Deutschland ist entlastet. Doch nicht alles so schlimm. Es gibt noch Hoffnung.

Lächerlicher dürfte es kaum noch gehen. Gut, lassen wir es mal so stehen, dass nicht ganz so viele Menschen bei der Studie ihre Abneigung kundtaten, wie das die Antidiskriminierungsstelle zunächst erklärte. Und jetzt? Heißt das, dass man sich keine Sorgen mehr machen muss? Ist das Rating jetzt stimmiger? Du liebe Güte, ist diese Gesellschaft jetzt schon so verblödet, dass sie ihre Befindlichkeiten und Affekte als Zahl ausgedrückt braucht, um darauf überhaupt anzuspringen? Ab wann ist Antiziganismus noch hinnehmbar? Sind 20 Prozent, die keinen näheren Kontakt zu Roma wollen, noch hinnehmbar? Ich weiß nicht, aber mir kommt es so vor, als ob Holocaust-Leugnung und das Herunterspielen von Antiziganismus ganz ähnliche Fächer seien. Es ist also noch okay, dass nur ein Fünftel die andere große Opfergruppe der Nazis ablehnt? Wer das so sieht, unterstreicht seine Verrohung.

Eine Studie ist eine Studie. Sie ist kein Abbild der Realität. Ich kann in einer Studie über gesundes Essen ankreuzen, dass ich täglich frisches Obst esse, gehe dann aber zu McDonalds und merke irgendwann nach Tagen, dass die Banane vor anderthalb Wochen die letzte Frucht war, die ich verspeist habe. Andere geben bei der Studie »Leseverhalten und -kompetenz« an, dass sie jeden Tag etwas lesen und meinen damit das Prospekt von Aldi, Rewe oder Konsorten. Studien mögen manchmal eine Tendenz abgeben. Manchmal! Aber so zu tun, als seien Studienergebnisse quasi die Realität, die in Zahlen gegossen ist, das ist im wahrsten Sinne des Wortes vermessen. Letztlich geht es bei der Neubewertung der Studie zu Sinti und Roma in Deutschland um nichts anderes, als um die Neueinschätzung einer Realität, wie man sie lieber hätte.

Die konservativen Hüter, die dieses Land auch weiterhin als den Ort umschreiben wollen, der von Gott geküsst wurde, sehen sich jetzt bekräftigt. Leute wie Fleischhauer zum Beispiel wedeln sich jetzt einen von der Palme, weil sie einen Beleg für irgendeinen obskuren linken Zeitgeist wittern, der die Antidiskriminierung umwehe. Der würde aufbauschen und dramatisieren, um ein so mieses Bild von diesem Land zu zeichnen, dass einem das Gruseln kommt. Dabei sei alles ganz anders in Deutschland. Besser. Gerechter. Ausgewogener. Die Antiziganismus-Leugner tun dabei gerade so, als würden niedrigere Zahlenwerte in dieser Frage etwas besser machen. Deeskalieren. Als würden sie entkräften und geraderücken, was diese Gutmenschheit in ihrer linken Emsigkeit so grundlegend falsch dargestellt hat.

Was ist aber mit dieser verdammten Realität, die nicht so explizit in Studien steht? Mit all diesen bösartigen Kommentaren, die man bei »Bild« und »FAZ« unter Texte zur »Armutstouristen« fand? Wieso wollten Stadtteile eine Bürgerwehr gründen, um sich gegen Roma zu schützen? Habe ich mir die Ablehnung der Leute, die in meinem Umfeld leben, nur eingebildet? »Diese Leute sind dreckig, sie stehlen und sind laut«, sagte mir ein Bekannter völlig überzeugt. Habe ich mich letztens verhört, als mir eine Kindergärtnerin erzählte, sie müssten jetzt die Türen ihres Ladens zusperren, weil in der Nachbarschaft Roma kampieren würden, denen man alles zutraue? Unter Kindern beleidigt man sich nicht nur wieder mit »Jude« - jemanden einen »lausigen Zigeuner« zu nennen hat wieder Chic. Wie baut man solche Werte in Umfragen ein?

Und wer gibt denn bitte in Studien an, dass er so tickt? Gespielte Weltoffenheit ist doch heute Konvention. Was Ausländerfeindliches sagt man doch nicht. Jedenfalls nicht ganz so laut. Man lebt es. Ich habe ja nichts gegen Roma, aber ... Nehmen wir doch nur mal diese Kindergärtnerin. Sie traut zwar den Roma zu, dass sie den Kindern im Kindergarten das Pausenbrot klauen. Hätte sie aber bei dieser Studie teilgenommen, hätte sie womöglich trotzdem nicht angegeben, dass sie diese Leute nicht in ihrer nachbarschaftlichen Nähe haben will. Warum? Weil man auf dem Papier oft edler ist wie im Leben. Oder weil man sich nicht entblößen will. Oder einfach, weil man sich nicht eingesteht, Vorurteile zu haben. Im Alltag hat man sie zwar, aber man bemerkt es erst, wenn man über einem Bogen Papier sitzt und darüber nachdenkt.

Studien und die Wirklichkeit. Auch so eine Geschichte, die im studiengläubigen Zeitalter selten hinterfragt wird. Bloß welcher Kerl ist in Sexualstudien ehrlich? Gibt ganz offen an, dass er manchmal keinen hoch bekommt? »Masturbieren Sie täglich?« Ich gebe lieber an, dass ich es nicht tue, sagt sich da die Ehefrau, die was auf sich hält und nicht schief angeschaut werden will. Ihr eheliches Sexleben ist doch erfüllt. Wie kann man was anderes behaupten wollen? Wenn es unangenehm wird, flunkert man oder enthält sich. Selbst wenn man nur Kreuze oder Zahlenwerte eintragen muss. Dunkelziffer nennt man das unter Statistikern. In manchen Angelegenheiten soll sie höher liegen als die Hell- als die Lichtziffer. Bei Missbrauch zum Beispiel. Ich sage ja jetzt nicht, dass quasi jeder Deutsche antiziganistisch ist. Aber so zu tun, als würden niedrigere Werte plötzlich den Antiziganismus reduzieren, das ist mehr als nur lächerlich.

Studien, die den Alltag verstatistiken, sind zuweilen verlogener als die wirklichen Umstände. Im Dickicht der Konventionen ist der Statistiker auch nichts besseres als ein Statist, der herumsteht und keinen Text hat. Nicht umsonst kommen beide Worte von stare (»stehen«). Er steht halt so rum und präsentiert die Resultate, die er erheben konnte. Aber eben auch nur die. Was nicht gesagt wurde, was man abwiegelte, das kann er nicht wissen. Aber woher kommen nur all die Männer mit Potenzproblemen, wo es sie laut Umfragen doch so gut wie gar nicht geben darf? Und woher kommen nur all diese Menschen, die Sinti und Roma als osteuropäische Strauchdiebe und Kidnapper ansehen, wo es laut Studie nur wenige Leute mit einer solchen Einstellung geben dürfte?

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Der Datenschutz, der zu Gehacktem wird

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Wie will man in Zeiten, da der Staat keinerlei Respekt vor der Privatsphäre der Bürger mehr zeigt, zu einem ausgeprägten Datenschutzbewusstsein erziehen? Die Affären um die Geheimdienste haben das Gefühl für den Datenschutz ausgehöhlt. 

Neulich kam mein Kind aus der Schule und beschwerte sich. Es gab nämlich einen Anschiss vom Lehrer. Auf dem Pausenhof habe es zu einem Mitschüler gesagt, dass es nun »sein Handy hacken« würde. Der Schüler lief natürlich zum Lehrer und der Lehrer waltete seines Amtes. Aus einem Gespräch mit einem anderen Lehrer weiß ich, dass es Teil der pädagogischen Agenda ist, Schüler für den Datenschutz zu sensibilisieren. Im letzten Schuljahr kam sogar ein Polizist in die Schule, um den Schülern Kompetenz in dieser Frage zu vermitteln. Er erzählte, dass man nicht ungefragt Fotos von Mitschülern auf Facebook lädt. Und man sollte überhaupt sehr zurückhaltend mit der Preisgabe von eigenen Daten umgehen. Dass ein Lehrer aus einem Pausendialog einen pädagogischen Akt macht, hat also mit diesem Auftrag zu tun, die Schüler im Datenschutz zu bilden.

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Der Polizeistaat, der auf der Schulter hockt

Mittwoch, 8. Oktober 2014

Einen neuen innovativen Unsinn hat sich Hessens Polizei einfallen lassen. »Body-Cam« heißt der. Das ist eine Kamera, die wie ein Papagei, auf der Schulter des Beamten sitzt. Sie soll Polizisten vor Angriffen schützen. Behauptet jedenfalls der Innenminister. Kann sie mehr als bloß zu filmen? Steigt sie etwa von der Schulter herab und verteidigt den Beamten?

Natürlich geht man mal wieder von der abschreckenden Wirkung der Kameraüberwachung aus. Die wurde schon als »nicht vorhanden« ausgewiesen, als man über die Bestückung öffentlicher Plätze mit Kameras quatschte. Auch auf Plätzen, die von allen Seiten gefilmt werden, geschahen immer wieder kriminelle Akte - Diebstähle oder Körperverletzungen zum Beispiel. Das war ja seinerzeit paradox, als die Law-and-Order-Leute in den Medien Werbung für diese Form erhöhter Sicherheit machten und gleichzeitig die jugendlichen Idioten ächteten, die gut sichtbar auf bewegten Bildern im U-Bahn-Bereich alte Leute zusammenschlugen. Leider haben weder Journalisten noch Öffentlichkeit sich mal gefragt, wo an diesem Tag die abschreckende Wirkung blieb.

Die Body-Cam rüstet die Polizei immer mehr zu einer Truppe um, die sich vom Bürger distanziert. In Hessen sind Polizisten meist in Schutzwesten unterwegs. Sie sehen aus, als seien sie sofort einsatzbereit, als warteten sie nur eine Gelegenheit, sich nicht völlig umsonst in Schale geworfen zu haben. Das hemmt. Jedenfalls jenen Teil der Bürger, der kein Problem mit der Kontrolle seines Gewaltpotenzials hat. Aber wenn da ein Polizist mit Kamera auf der Schulter auf einen zugeht, dürfte die Hemmnis noch viel größer werden. Schließlich könnte jedes Wort gegen einen verwendet werden. Noch heißt es, dass man die Aufzeichnungen nach Dienstende löscht. Aber wer garantiert und überwacht das? Und wann wird der erste Präzedenzfall geschaffen, weil ein Bürger vielleicht etwas sagte, was der Polizei nicht so gut gefallen hat?

Schutzwesten und Body-Cams: Mehr und mehr nehmen die Beamten hier Züge der Borgs an, wie man sie aus »Star Trek« kennt. Ein Cyborg, ein Maschinenmensch, der aber wesentlich mehr Technik als Menschliches an sich hatte. In gewisser Weise entmenschlicht sich die hessische Polizei auch optisch. Sie nimmt das Aussehen eines Menschen an, der seiner Umwelt bedrohlich technisch entgegentritt. Der einen Schutzpanzer trägt, den er sich technologisch vergoldet. Der sich vom Menschlichen abhebt, dem er auf der Straße begegnet. Das schafft Distanz.

Wie gesagt, diese Kamera schafft zwar sicherlich für viele Menschen eine Barriere, mag aber in bestimmten Fällen auch zur Eskalation führen. Man denke nur an die Aggression, die Polizisten zuweilen mit Schlagstock und Schild ausgerüstet, nur durch ihre Präsenz erzeugen. Menschen sehen es im digitalen Zeitalter mitunter als Bedrohung an, ohne ihr Einverständnis zu Film- oder Bildmaterial gemacht zu werden. Einen Beamten anzugreifen, weil er mit dem blinkenden Ding auf der Schulter auftritt, dürfte für einige »einschlägige Leute und Gruppen« eine Art Legitimation sein. Schließlich hat die Polizei angefangen unfaire Mittel aufzufahren. Und außerdem ist der Cyborg ja sowieso kein richtiger Mensch, oder nicht?

Die Bilder, die eine am Körper montierte Kamera liefert, sehen überdies in etwa so aus wie jene, die in Independentfilmen wie »Blair Witch Project« zu sehen waren. Den hatte man mit einer Handkamera gefilmt, gezielt auf das Stativ verzichtet, um einen dokumentarischen Anschein zu erzeugen. Deshalb wirkte alles verwackelt. Wenn die Protagonisten rannten, wippte man als Zuschauer von links nach rechts, sah dort einen Baum, huschte hinüber zu einem Strauch, sah plötzlich bloß das Laub am Boden. Es konnte einem regelrecht schlecht dabei werden. Erkenntnisse über Abläufe bekam man eher nicht. Man sah Abschnitte von Szenen. Mehr nicht. Plötzlich stand zum Beispiel der Gegenüber ganz nah. Aber als Zuschauer wusste man nicht so richtig, wie das geschah. Kurzum, die Aufnahmen, die eine solche Kamera liefert, können einen Tathergang gar nicht lückenlos dokumentieren. Sie können also ganz leicht missinterpretiert werden. Man sieht einen Mann, der sich angenähert hat, eine kurze Aufnahme seines Gesichts, das nach Wut aussieht und dann wackelt alles. Vermutlich hat sich der Beamte stark in Bewegung gesetzt. Aber wieso? Mit etwas Phantasie wird daraus ganz leicht ein Angriff, auch wenn man darüber gar nichts Genaues sagen kann.

Die hessische Politik und ihre Institutionen geben sich gerne zukunftsweisend und innovativ, merken dabei aber gar nicht, wie ihnen die Bürger abhanden kommen. Oder es ist ihnen schlicht egal. Diese Body-Cam ist ein fataler Irrtum. Sie entspricht nicht den Mitteln des Rechtsstaates und der Demokratie. Sie ist ein polizeistaatlicher Aspekt: Interpretativ, eskalierend, bedrohlich und unangemessen. Bürgernähe stellt man so nicht her. Man weist nur in eine Zukunft, in der Staatsbehörden immer stärker zur Bedrohung werden.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 7. Oktober 2014

»Washington und seine Alliierten bleiben bei dem bewährten Prinzip, dass Demokratie nur akzeptabel ist, solange sie sich strategischen und wirtschaftlichen Zielen unterordnet: gut in feindlichen Gebieten (bis zu einem gewissen Punkt), aber bitte nicht in unserem Hinterhof, außer wenn sie ausreichend gezähmt ist.«

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Die Wende, die geschah, als sich die Wende anbahnte

Montag, 6. Oktober 2014

Ziemlich genau ein Vierteljahrhundert ist es jetzt her, dass ein kleines Stück der so genannten geistig-moralischen Wende in unser Leben trat: Der lange Donnerstag. Er war der Anlauf zu mehr Lockerung der Ladenöffnungszeiten. In einem Radio-Feature wurde er letzte Woche als Clou und feine Errungenschaft stilisiert. Damals galt er aber auch als etwas ganz anderes.

Im Vorfeld dieses ersten Donnerstag mit längerer Ladenöffnungszeit gab es massive Proteste im Einzelhandel. Sie gingen aber mehr und minder unter, denn fast zeitgleich dramatisierte sich die Lage in Ostdeutschland. Und die Ostdeutschen weiterten das Drama nach Ungarn und in die Tschechoslowakei aus. Die Wendezeit war schon am rotieren. Protestierende Verkäuferinnen wirkten da fast ein bisschen spießig mit ihren »Luxussorgen«. Sie waren aber kein Luxus, sondern völlig berechtigt. Die Männer und Frauen im Einzelhandel fürchteten sich vor einer Überflexibilisierung ihrer Lebenswirklichkeit. Der lange Donnerstag konnte doch nur das Fanal zur Deregulierung sein, der Startschuss zu ungeregelten Arbeitszeiten, glaubten sie. Wie sollte sich Familie und Beruf denn aufeinander abstimmen, wenn vielleicht bald täglich die Läden bis kurz vor die »Tagesschau« oder gar länger geöffnet blieben?

Die Gewerkschaften glaubten das auch. Sie sahen die arbeitsrechtlichen Errungenschaften auf dem Spiel stehen. Das Leben von Menschen, die im Einzelhandel ihr Geld verdienten, würde dramatisch an Druck gewinnen. Sie müssten zeitflexibel und belastbarer sein. Eine Beschleunigung ihres gesamten Daseins stehe ins Haus. Nicht nur auf der Arbeit, sondern eben auch im Privaten. Der lange Donnerstag war nur ein temporärer Testballon. Wenn die Kundschaft strömen würde, ginge es sicherlich weiter. Immer weiter, bis alle Grenzen verwischen oder sogar ganz fallen.

Die »Liberalen« hatten seinerzeit diesen Vorstoß gewagt. Er gelang ihnen. Noch zögerlich, aber immerhin. Jeden Donnerstag konnten die Läden zwei Stunden länger geöffnet bleiben. Dafür fielen sechs lange Samstage im Jahr weg, die gesetzlich gestattet waren. Der Vorstoß war Teil jenes Programms, das in der geistig-moralischen Wende immer stärker zum Tragen kam: Der Neoliberalismus fasste langsam Tritt. Er wollte deregulierte Lebensbereiche und Märkte, weniger vom Staat vorgegebene Richtwerte. Nur so, das versprach er, könnte eine Mehrung von Wachstum und Wohlstand eintreten.

Die Öffnungszeiten purzelten dann wirklich nach und nach. Wie vorhergesehen. Mittlerweile gibt es Bundesländer, in denen es faktisch keine Vorgaben mehr gibt. Aber verbessert hat sich wenig. Die Versprechen wurden jedenfalls kaum erfüllt. Sicher, die Kunden können jetzt theoretisch rund um die Uhr einkaufen fahren. Wenn sie genug Geld haben. Oder nicht selbst rund allzeit für ihren Arbeitgeber verfügbar sein sollen. Selbst nachts kann man teilweise einkaufen, wenn man möchte.

Die Arbeitsverhältnisse im Einzelhandel sind aber zu einer Katastrophe verkommen. Man arbeitet stark auf geringfügiger Basis und ist deshalb nicht sozialversichert. Subunternehmen, die auf Niedriglohnniveau Regale einräumen, »entlasten« den Einzelhandel. Die Flexibilisierung aller Lebensbereiche hat auch das möglich gemacht. Denn wenn die Kunden kein beschränktes  Zeitfenster für den Einkauf mehr haben, verstärkt das den Wettbewerbsdruck ungemein. Die Discounter profitierten sicherlich auch davon. Und mit ihnen ihre dubiosen Arbeitsbedingungen. Vorher ging man dorthin, wo man alles bekam, was man brauchte. Jetzt hat man Zeit für die Billigheimer und fährt nach dem Abendessen noch schnell zu Rewe, um das zu holen, was es bei Aldi nicht gab. Wir haben ja Zeit, nicht wahr? Der Jauch beginnt ja erst um Viertel nach Acht. Nur die Belegschaft im Einzelhandel hat keine Zeit, kommt erst weit nach der eigentlichen Öffnungszeit heim.

Die Rechnung für diese Lockerung, die vor 25 Jahren begann, bezahlten die Belegschaften. Und sie bezahlen sie noch heute. Rückblickend scheinen wir uns die damalige Entwicklung nur noch als Errungenschaft, als notwendige Öffnung und große Stunde eines hedonistischen Lebensgefühls denken zu können. Eine andere Sichtweise fällt heute, in Zeiten des Allzeit-Konsums, völlig aus dem Rahmen. Die damalige Lebensrealität, in der jeder trotzdem seine Einkäufe erledigt hatte, wird als tiefes und reguliertes Mittelalter dargestellt. Jetzt seien wir aber in der Neuzeit. Kommt, lasst uns alle shoppen gehen! Ach, du herrliche Einkaufszeit! Wer wird denn also so kritisch sein wollen? Es war doch toll, was damals geschah. Wir haben doch alle davon profitiert, oder nicht?

Eine Re-Regulierung von »von 6:00 bis 23:00 geöffnet«-Schildern ist wohl nur schwer noch denkbar. Was man einem Kind mal erlaubt oder gegeben hat, kann man nur noch unter Geschrei wegnehmen. Und was ist der Konsument anderes als ein Wesen, dessen infantile Triebe man durch Werbung anstachelt? Aber wenigstens ein Ladenschlussgesetz in jedem Bundesland sollte her. Eines, das reguliert, wann spätestens Feierabend sein muss. Am Nachmittag kann heute kein Laden mehr schließen. Aber bis 22:00 Uhr muss der Betrieb ja auch nicht gerade gehen. Es gibt doch auch ein Leben nach dem Einkauf. Ein Leben außerhalb der Shopping Mall. Damals, als dieses Stückchen geistig-moralische Wende umgesetzt wurde, wussten das noch viele und sie protestierten deshalb. Aber nur wenige sahen hin. Sie lugten gespannt auf die andere Wende, die sich drüben im Osten anbahnte. Das Leben hat seither viele Wendungen genommen.

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Das Schaufenster des Ostens

Freitag, 3. Oktober 2014

oder Gedanken zum Tag der deutschen Reinheit.

Die ganze Republik diskutiert darüber. Ganz Deutschland. Mindestens. Alle spüren sie jetzt der Frage nach: War die DDR ein Unrechtsstaat? Und wie stehts - war sie es? Keine Ahnung. Die Antwort ist ohnehin langweilig und bringt wenig Erkenntnis. Aber machen wir uns halt mal am Tag der deutschen Einheit darüber Gedanken. Ganz wie es sich gehört. Schön staatstragend.

Hören wir mal, was die Leute so sagen und tun:

»Die DDR war ein Unrechtsstaat«, sagte der private Sicherheitsmann aus dem Asylbewerberheim, faltete die Zeitung zusammen, legte sie weg, griff Bilal am Genick und sperrte ihn unter Tritten für sieben Stunden in den Isolationsraum.

»Doch, die DDR war ein Unrechtsstaat«, erklärte der Bundespolizist seinem Kollegen, bevor er einen Pulk von Fahrgästen am Bahnsteig erblickte, auf einen der Leute deutete und sagte: »Komm Klaus, den Neger dort kontrollieren wir mal genauer.«

»Ha, das vergangene Deutschland war Unrecht«, sagte der Anwalt von Bernie Ecclestone und bereitete sich auf einen neuen Prozess vor.

»Die DDR bestand aus Unrecht«, formulierte der Redakteur einen Satz in seinem Festtagstext, wechselte zu einem anderen Text hinüber und tippte: »Bulgaren und Rumänen sind kriminelles Risiko.«

»Sie war vollendetes Unrecht«, sagte sich der BND-Mitarbeiter, öffnete eine Datei und begutachtete die Ergebnisse der Online-Überwachung.

»Unrechtsstaat, das kannst du glauben«, tippte die Arbeitsvermittlerin in das Fenster des behördeninternen Chats, öffnete ein Schreiben eines ihr unterstellten Arbeitslosen und las als Grund der Unzumutbarkeit einer Arbeitsstelle, dass er mit 57 Jahren nicht fünf Stunden in der Hocke arbeiten könne - sie erließ eine Sanktion.

»Wir feiern einen glücklichen Tag, denn damals endete das Unrecht«, sagte der Minister in einer Talkshow, stand auf und eilte zu einem Interview, in dem er erklärte, dass die Hinterzimmerdiplomatie des Freihandelseinkommens völlig unbedenklich sei.

Oh ja, jetzt sehe ich es ein: Sie war ein Unrechtsstaat. Denn wenn so viele Ungerechte und Rechtsbrecher das behaupten, dann muss es doch stimmen. Sie sind schließlich vom Fach. Ob sie es aber objektiv war, kann man schlecht sagen. Darauf kommt es aber auch gar nicht an. Die Debatte will ja kein Licht ins Dunkle bringen, sondern das Licht von den Verhältnissen in diesem neuen Deutschland fernhalten. Wie gut, dass es die DDR noch in den Köpfen gibt. Sie wird noch gebraucht. Als Schaufenster des Ostens. Ungeahndetes Unrecht in einem Rechtsstaat ist doch viel besser als geschehenes Recht in einem Unrechtsstaat.

Nein, es ist insofern gar nicht der Tag der deutschen Einheit, sondern der Tag der deutschen Reinheit, dem da gedacht wird. Wir sind ja so rein. So rein von Unrecht. So rein von Schuld. Einheit war, als die Reinheit in das Territorium des ehemaligen Unrechtsstaats einzog. Schade nur, dass dieser Rechtsstaat viel weniger Gerechtigkeit als Selbstgerechtigkeit hervorbringt.

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