Gratuliere... aber schade, dass es euch noch geben muß

Dienstag, 30. November 2010

oder: sieben Jahre und kein Ende in Sicht.

Nun könnte man ja überschwänglich gratulieren und den NachDenkSeiten kameradschaftlich auf die Schulter klopfen, weil sie seit nunmehr sieben Jahren täglich am Werk sind. Fleißig seid ihr, könnte man loben; so herrlich anders, könnte man sie preisen. Ihr erspart mir die tägliche Zeitungslektüre zu neunzig Prozent, wäre sicherlich auch ein oft gehörtes Lob.

All das (und noch viel mehr) könnte man anbringen - zu Recht anbringen. Und Gratulationen gehören zum Ehrentag wie das Schlummern in der Kirche, dürfen nicht unterbleiben. Nur sollte man in stillen Stunden eines solchen Ehrentages auch mal nachdenken dürfen - zumal, wenn es sich um einen Jubilaren handelt, der sich NachDenkSeiten nennt. Sieben Jahre schuften die Köpfe hinter dem Projekt bereits; sieben Jahre ein Fischen in tristen Gewässern, kaum Lichtblicke, dafür viele Gründe für cholerische Kapriolen. Der Jubilar, stellte man ihn sich als Person vor, müsste eigentlich eine hochgradig depressive, gramgebeugte Gestalt sein.

Sicher trat man auch mit der Absicht an, Licht ins Dunkel zu bringen - aufzuklären, würde man etwas veraltet sagen. Und das ist tatsächlich auch gelungen, wenn auch die offiziellen Medien sich wenig davon beeindrucken lassen. Der ganz große Wurf ist den NachDenkSeiten genausowenig gelungen, wie den Bloggern hierzulande, die sich um aufklärerische Arbeit bemühen - kann sein, dass er noch kommt; kann aber auch gut sein, dass er ausbleibt. Jedenfalls ist an einem Tag, da sich ein Projekt wie die NachDenkSeiten jährt, nicht nur Gratulation angebracht. Man müsste die Feierlichkeiten eigentlich bedenkenträgerisch stören, müsste aufstehen und mit der Kuchengabel ans Sektglas klopfen und verkünden: Schade, liebe NachDenkSeiten, dass es euch gibt - schade, dass es euch immer noch gibt... geben muß. Schade, dass euer Auftrag immer noch nicht erfüllt ist.

Gratulation zum Siebenjährigen - aber schade, dass man euch noch braucht... und noch lange brauchen wird; Aufklärer werden nicht aus der Mode kommen, muß man befürchten - schade eigentlich...



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Sit venia verbo

"Oh ihr Unglücklichen!
Euerm Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu!
Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?
Der Gewalttätige geht herum und wählt sein Opfer
Und ihr sagt: uns verschont er, denn wir zeigen kein Mißfallen."
- Bertold Brecht, Der gute Mensch von Sezuan -

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Die Wirklichkeit langweilt

Montag, 29. November 2010

Dieser aufklärerische Impuls ehrt Sie ja sehr, lieber Richter Voßkuhle. "Die Macht der Bilder echter Verfahren vor deutschen Gerichten" würden sie gerne walten lassen - statt der Daily Soaps im Talar, statt Salesch und Hold, tiefe Einblicke in die juristische Wirklichkeit: das wäre tatsächlich ein aufklärerischer Beitrag, ein seriöses Wagnis, würde den Rechtsstaat populär aufbereiten.

In winzigen Ansätzen gab es das ja schon; als Barbara Salesch einst auf Sendung ging, 1999 war das, da handelte es sich noch um wirkliche Fälle zivilrechtlicher Machart. Es gab keine Laiendarsteller wie heute, es gab wirkliche Kläger, wirkliche Gegenkläger, ein bindendes Urteil. Kein Drehbuchautor hätte es je vermocht, sich eine Gestalt wie jene sächselnde Maschendrahtzaun-Liebhaberin zu ersinnen - solche Geschichten und Figuren schreibt nur die Realität; Problem ist nur, dass die Wirklichkeit solche Storys, solche Protagonisten viel zu selten liefert. Das haben die Köpfe hinter Salesch auch schnell kapiert, sie mussten auch reagieren, weil die Quote nicht stimmte; nach nur einem Jahr wechselte man die wirklichen Fälle und Betroffenen aus, ersetzte sie durch Skripte und Laienschauspieler. Die kecke Richterin urteilt heute im Rahmen einer Scripted Reality und das Konzept verkauft sich besser als vorher, als man noch auf den Pfaden der Authenzität trampelte.

Herr Voßkuhle, wenn nun ein Verfassungsrichter wie Sie einer sind, sich beispielsweise zum Thema Hartz IV äußert, dabei Dinge sagt wie "...mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind...", dann gereicht das dem rechtsstaatlichen Anspruch zur Ehre, aber ein Massenpublikum erreichen sie damit niemals. Die Salesch war damals schon flapsiger als es Verfassungsrichter je sein könnten, nebenher waren ihre Fälle auch alltäglicher, profaner: geklappt hat es aber auch da nicht besonders mit der Abbildung der Realität. Mit solchen Floskeln wie der eben zitierten, da befriedigen Sie bestenfalls eine kleine Gruppe von Verfassungsfetischisten, aber den nachmittäglichen Zuseher, der sich berieseln lassen will, der bleibt davon unberührt.

Die Wirklichkeit scheint für die Menschen schrecklich öde zu sein, der trockene Duktus der Juristen läßt sie schier türmen. Wer heute die Wirklichkeit in die Medien bringen will, der braucht keinen investigativen Journalismus, keinen Dokumentarfilmer: der braucht einen Scripted Reality-Experten; jemanden also, der Realität und Drehbuch so verquickt, dass dabei Quote herauskommt. Bei Hold und Salesch laufen daher auch ständig knapp bekleidete Püppchen durch den Gerichtssaal oder pöbeln Zeugen und Anwälte wie irr; dass oftmals gegen Ende der Veranstaltung ein im Publikum anwesender Charakter aufsteht, um den verworrenen Fall zu entschlüsseln, den Mörder, Vergewaltiger oder Dieb beim Namen zu nennen, ist auch diesem Verfahren zu verdanken. Die Leute wollen doch keinen Prozesse, keine Urteilsverkündungen verfolgen, die vor Paragraphen nur so strotzen; sie wollen dergleichen mit tiefem Dekolletee serviert bekommen, wollen hüpfende Titten, geifernde Zeugen oder widerliche Angeklagte beschauen dürfen.

Sie scheinen ein Optimist zu sein, Herr Voßkuhle; Sie haben sich, sagen wir es ruhig so provokativ, einen ganzen Haufen Naivität bewahrt. Realität ist trüb, niemand will sie; die Leute wollen eine Realität geliefert bekommen, die es nicht gibt, die es aber nach ihrem Verständnis geben sollte. Das ist eine Konstante der Berichterstattung; die Menschen wollen die Wirklichkeit zunächst in ein Drehbuch verpackt sehen, damit sie so verfilmt werden kann, wie man sie gerne hätte. Urteilte das Bundesverfassungsgericht wieder einmal zur Grundsicherung für Erwerbslose, die unzureichend sei, weswegen sie neu berechnet werden müsste, so wollte das Publikum keine Paragraphenflut ertragen, sondern arbeitslose und verwahrloste Kreaturen in den Sitzreihen beobachten, die sich raffgierig die Hände reiben; es wollte Richterinnen in engen Talaren und aparte Richteradonisse präsentiert bekommen; und mittendrin sollte jemand aus dem im Gerichtssaal anwesenden Publikum aufstehen und laut schreien, dass eigentlich alles ganz anders sei und dass man nun mit der Sprache rausrücken wolle, um den Angeklagten zu entlasten. Dass es gar keinen Angeklagten gibt, ist dabei unerheblich - der gemeine Zuseher wird das gar nicht bemerken.

Reale Prozesse werden nur massentauglich und quotenträchtig, wenn sie ausgepeppt werden, wenn sie das Reallastige abwerfen, um der Sensationslüsternheit Raum zu bieten. Herr Voßkuhle, wenn Sie ein großes Publikum bedienen wollten, dann würden Sie ganz schnell zu einer Barbara Salesch des Bundesverfassungsgerichts. Die von Anwälten und engagierten Bürgern eingereichten Anträge und Beschwerden, sie müssten durch Drehbuchskripte ersetzt werden - wer will denn was von der Besteuerung von Wohnmobilen oder die Genehmigung eines Windparks hören? Grundsätzlicher müsste es werden, spannender und weitreichender. Man bräuchte juristisch angelesene Drehbuchautoren, die einen Verfassungsbeschwerde erstellen, weil es zum Beispiel die Todesstrafe nicht gibt oder weil Glaubensfreiheit herrscht. Das polarisiert! Damit steigt die Quote, rollt der Rubel! Wen kümmern denn die Wirklichkeiten des bundesrepublikanischen Alltags? Nein, eine Fachanwältin in Minirock muß her, die mit aufgeknöpften Blüschen für die Todesstrafe eintritt und dem feschen Richter zublinzelt. Das ist die "Macht der Bilder", die Sie ansprachen, Herr Voßkuhle - nur so geht es!

Sie sprechen verkappt von Aufklärung, aber wir sind in Zeiten von RTL und 9 Live lange darüber hinweg - der homo bertelsmannus möchte leicht verköstigt werden, er möchte anspruchslos unterhalten sein. Das heißt daher: entweder bleibt die Justiz ungefilmt und damit halbwegs seriös - oder sie drängt ins Fernsehen und muß sich zwangsläufig den Mechanismen anpassen. Dann wären Sie kein Verfassungsrichter mehr, Herr Voßkuhle, dann würden Sie nurmehr einen mimen...



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Ansichten über Clowns

Samstag, 27. November 2010

Und wenn schon! Wen schert es denn, dass er voller Betrübnis, satt an Harm ist? Er sollte seine privaten Mißgeschicke mit Wangenrot und Lippenstift übermalen, unter Camouflage verhehlen, seinen vielleicht familiären Kalamitäten eine Perücke überstreifen. Raus in die Manege, das Publikum hat bezahlt, es hat Anspruch auf Unterhaltung! Zweifelsohne, ihm ist heute nicht nach Clownerie, Sorgen reiben ihn auf, traktieren seine Laune; doch die Zuschauer lechzen nicht nach Schwermut, sie wollen prusten und gackern, wollen sich kugeln - dafür haben sie bezahlt, das macht sie zu Kunden mit Anspruch auf Gaudium. Ein Schelm, der eine bettlägerige Tochter daheim hat oder dessen Ehe zielsicher kollidiert: wer will so einen sehen? Komisch soll er sein, seinem Publikum Lacher bereiten - es wird ihm auch nicht schaden, Lachen ist Medizin; professionell soll er sich verhalten, damit die Gaffer nicht buhen, nich pfeifen oder mit den Sitzkissen werfen. Und so schlurft er geknickt an den Rand des Zirkusrund, wartet auf die Ankündigung, wartet auf seinen Namen, stürmt unter Beifall ins Getümmel und ist komisch, unbeschreiblich komisch... komischer als üblich! Die Grockmarceaupopows, sie fuhren reiche Lachensernte auch dann ein, wenn sie einen Verwandten an den Tod verloren: Komödie spielen, auch wenn einem nach Tragödie zumute ist - das ist Clownsgeschäft.

Der Zirkus stirbt; immer weniger Zirkusse gibt es. Zu altmodisch ist er, ein teures Metier sowieso - die Menschen dürsten nicht mehr nach Jonglage und artistischem Nervenkitzel: alles schon gesehen, alles altertümlich und antiquarisch. Mit den Zirkussen stirbt die traditionelle Clownerie, dieses arg spaßhafte Fach, das auch traurigen Männer abverlangte, zum Pläsier des Publikums Albernheiten zu verströmen. Service nennte sich das heute. Der klassische Clown stirbt aus - er hat seine fröhliche Maske ins Geschäftsleben verlagert. Nicht auf Bühnen, auf denen Faxenmacher unter der Bezeichnung Comedian diese ehrwürdige Branche verhunzen - nein, clowneske Blenden begrüßen uns heute immer dann, wenn Service groß oder drüber geschrieben wird. Und Service ist beinahe alles; selbst der plumpe Handwerker in Latzhosen, der einen reichlich brackig miefenden Siphon austauscht ist heute Bestandteil eines Serviceteams. Er soll aus diesem Grunde lächeln, wenn er im Schlick fremder Leute herumstiert; immer freundlich bleiben, sich stur nichts anmerken lassen - und eigene Sorgen, womöglich der Umstand, dass das Gewühle in der Scheiße anderer Leute nicht mal den Lebensunterhalt sichert, sind tunlichst zu überschminken. Dienstleister sein heißt Clown zu sein, heißt Unmut und Sorgen, Traurigkeit und Verzagtheit mit Make-Up zu übertünchen.

Beinahe möchte man in Coulrophobie verfallen, der krankhaften Angst vor nach Clownsart geschminkten Konterfeis - mit Grüßen und erwiesener Reverenz von Pennywise! Überall grinsen sie, schmunzeln sie, allerorten Freundlichkeit, als wäre über Nacht der Himmel der Werktätigen ausgebrochen. Und damit alle einstimmen in dieses Oratorium glücklich dreinschauender Sorgenfalten, in diese Diktatur des Lächelns und der zuversichtlichen Physiognomie, pflanzen sie in alle Winkel Schulungscenter, in denen man lernt, bedrückte Gesichter zu modellieren, sie zu Lachfratzen zu kneten. Lachseminare bieten sie an! Denkt positiv, lehren sie! Optimismus als Grundkapital einer pessimistischen, einer melancholischen Gesellschaft. Und sind die Nöte noch so groß: noch mehr frohlocken, noch mehr kichern - Dosis erhöhen! Glückshormonausschüttung forcieren! Frust muß heute niemand mehr haben - das heißt, haben kann man ihn schon, aber zeigen sollte man ihn nicht: für ein wohligeres Klima! Für allgemeine Zufriedenheit! Man braucht doch kein Soma, keine chemischen Glückssurrogate mehr, wenn man die Menschen zur gut sichtbaren Freude diktieren, sie in eine clowneske Tyrannei drängen kann?

Die Clownerie ist Staatsräson, die Harlekinade willkommener Konsens. Der traurige, der gramgebeugte Mensch, er ist nicht aus der Geschichte ausgebürgert - man setzt ihm nur die Clownsnase auf. Seine Menschlichkeit, seine Schwäche, seine Ängste zu überschminken, das läppert Profit - und es macht zuversichtlich. Denn wo gelächelt wird, da waltet schließlich das Glück, die Erfüllung und Zufriedenheit. Die freundliche Dame an der Kasse des Discounters, einen Anstecker auf ihrem Busen, auf dem zu lesen ist, sie sei gerne freundlich, diese Dame lächelt clownesk: sie muß geradezu selig sein in ihrer geringfügigen Beschäftigung. Oder die Pflegekraft, wie freundlich sie trotz krummen Buckel und krummer Bezahlung doch ist: Glück ist halt doch keine Frage des Geldes oder der Gesundheit! Sie lächeln alle mehr oder minder, die prekären Clowns wie die bessergestellten, die Clowns mit Verantwortung wie die ohne. Mit der Professionalität eines Unterhaltungskünstlers wird die eigene Befindlichkeit unterdrückt, selbst die größte Sauerei angelächelt. Nimmt es da wunder, wenn Depressionen und chronische Melancholien zunehmen?

Nörgelige, wenigstens aber doch neutrale, weder grinsende noch wütende Kassenkräfte: das wären Aushängeschilder einer gesünderen Gesellschaft! Leiharbeiter, die nicht dankbar lächelnd jeden Leibeigenendienst stemmen, die stattdessen verärgert dreinschauen: das wirkte gesund! Klempner, die Siphone vom Morast befreien, dabei aber angeekelt statt dienstleisterisch fröhlich blickend: was für eine rüstige Branche das doch wäre! Der unaufhörliche Freundlichkeitswahn, diese dienstleisterische Attitüde, die in alle Nischen vordringt, er unterjocht das innere Befinden der Maskierten; er macht klar, dass die eigene Verfassung hinter der Fassade zurückzustehen habe. Komm Clown, in den Ring mit dir, das Publikum bezahlt uns; der Kunde, der früher mal König war, der jetzt Gott ist - Könige kann man enthaupten, Götter nicht! -, er hat einen Anspruch auf hochgezogene Mundwinkel. Verbirg beim Auftritt deine Sorgen...



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Respekt vor dem Alter

Donnerstag, 25. November 2010

Gemeinhin sollte man betagtere Herrschaften nicht zu ruppig anfassen, sollte nachsichtig, ehrfürchtig, kurz gesagt, respektvoll mit ihnen umgehen. Das gebietet der Anstand, das ist ein stilles Gesetz des Umgangs mit Senioren. Fraglich ist nur: ist es ein besonders respektvoller Umgang, wenn man nur mit Bedacht auf das Alter, ehrfurchtsvoll abnickt oder verstohlen eigentlich notwendig gewordene Kritik umgeht?

Wie soll man reagieren, wenn ein welk gewordener Herr Partei für einen ergreift, der einer Vererbungslehre nachhängt, die selbst zu Tagen des Rassenideologen Alfred Rosenberg schon abgetakelt waren? Soll man diskret weghören, wenn dieselbe greise Person einen anderen, einen des faschistischen Gedankenguts unverdächtigen Zeitgenossen, mit jenem berühmten Adolf vergleicht, der stets aufs Neue die Aufmacher schmückt? Ist das Respekt vor dem Alter, wenn man die Auswürfe eines Senioren einfach schluckt, gut sein läßt, nicht inhaltlich hinterfragt?

Es damit abzutun, dass er an die Pforten der Dementia klopft, das wäre tatsächlich respektlos; damit ist der Senior nicht adäquat behandelt. Respekt vor dem Hochbetagten wäre, seine Aussagen nicht einfach gutzuheißen, seine zweifelhaften Stellungnahmen zu kritisieren. Tut man es nicht, frotzelt hinter vorgehaltener Hand, dass der Alte eben alt sei, verkalkt, langsam senil wird, weswegen seine öffentlichen Erklärungen so haltlos, so paradox und schwummrig sind, so würdigt man das Alter nicht - man schiebt es vor, um das Alter nicht zu brüskieren. Das ist nicht Respekt, nicht Hochschätzung, das ist Feigheit mit dem Segen Knigges.

Nein, man muß auch dem betagten Menschen zurufen dürfen, dass er sich täuscht, dass er falsch liegt, dass er Blödsinn verbreitet. Ganz ungeniert, ganz leger und unbefangen. Oft liest man, man wolle die Rentner und Senioren in die Gesellschaft integrieren, sie nicht daheim versauern lassen; auch alte Menschen sollen am öffentlichen Leben teilhaben - Teilhabe bedeutet aber eben auch, dass man das personifizierte Alter in seine Mitte aufnimmt, es behandelt wie alle anderen, es als Gleichen unter Gleichen wahrnimmt. Mit allem nötigen Respekt, mit aller nötigen Offenheit, mit aller unbedingt benötigten Diskussionskultur. Die vorgehaltene Hand zeugt nicht von Schätzung, sie ist eine unglaubliche Frechheit vor dem Alter. Sie lullt den Alten ein, sie läßt ihm Narrenfreiheit, sie bescheinigt ihm, nicht mal den Wert zu besitzen, dass man sich mit ihm ernstlich auseinandersetzt.

Die öffentliche Darstellung jenes alten Mannes, der Lafontaine wie einen Nazi liest und Sarrazin unter die miefigen Achseln greift, sie ist betulich, sie setzt sich mit den Losungen des qualmenden Veteranen nicht auseinander. Diese zur bundesrepublikanischen Götzengestalt gebastelte Karikatur eines blitzenden und funkenden Zeus', sie wird eingelullt, niemand wagt ihr die Leviten zu lesen. Das nennt sich dann respektvoller Umgang seitens der Medien. Respektvoll wären sie erst, wenn sie fragen würden: was raucht dieser Mann wirklich?



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De dicto

Mittwoch, 24. November 2010

"Die Bundeswehr ist ein Vorbild. Wo andere sich an das Vergangene klammern, geht sie voran.
[...]
Gammeldienst ist von gestern – die neue Bundeswehr nicht. "
- Ernst Elitz, BILD-Zeitung vom 23. November 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Erneut Elitz, der mit fast schon esoterischem Hang zur Verklärung aufwartet. Diesmal ist es die Bundeswehr, die er zum Vorbild kürt. Diese sei nämlich ausgesprochen progressiv, bildungsnah, fleißig und überdies, was heute wichtiger denn je ist, tapfer! Das ist der rhetorische Versuch, die Verteidigungsarmee charmant zu einer Angriffsarmee zu modellieren. Tapferkeit ist wieder Zahlungsmittel in der Bundesrepublik, zivile Militaristen wie Elitz bezahlen gerne mit dieser Währung.

Lasse man mal außer Acht, dass Elitz die Bundeswehr als traditionell fortschrittliches Unterfangen darstellt, sich aber am Ende seiner Predigt dazu hinreißen läßt, vom Gammeldienst zu schreiben, der nun endlich abgeschafft würde - Elitz kann nichts dafür, dass der leitende Redakteur solche Paradoxa nicht durchschaut und ausstreicht. Was aber herausblitzt ist doch, dass man drauf und dran ist, Deutschland am preußischen Wesen genesen lassen zu wollen. Nicht das Heer, welches bei Hochwasser Säcke schlichtet; dieses Heer ist nur ein Werbeclou, die schöne Seite der Medaille - man will das Angriffsheer hofieren, aufwerten, in die Köpfe der Bürger betonieren. Jene Armee, die einen latenten Reichsgedanken in sich trägt, die die Reichsmarken so großzügig absteckt, dass sie schon im Mittleren Osten verteidigt werden können - diese Armee wird gefeiert. Verteidigungsfall genannte Angriffslust: das ist die neue Bundeswehr.

Preußen zu zerschlagen, war eines der stillen Anliegen der Alliierten. Endlich sollte der militärische Drill, der Preußengehorsam vergehen; geblieben war eine Weile nur noch der Stechschritt, den die Nationale Volksarmee dem Preußischen entlehnt hatte. Jetzt soll aber wieder das Uniformierte, der Stolz auf wackere Krieger, das Heldenepos in der Gesellschaftsmitte landen. Das alles, während der Wehrdienst ausgesetzt wird, also auch das Prinzip des "Staatsbürger in Uniform" - der Zivilist, der nur schnell mal eine Uniform umwirft, er entspricht nicht dem preußischen Wurzeln; es sollen alle Zivilisten uniformiert sein, nicht was die Robe betrifft, sondern im Geiste - die Gesellschaft soll uniformis, soll also einförmig denken, fühlen, handeln. Reformbedarf hätte es in Sachen Bundeswehr fürwahr gegeben und gibt es sicherlich immer noch, ob das Aussetzen der Wehrpflicht nötig war, bleibt allerdings zweifelhaft. Der Wehrdienst, wie ihn die Bundesrepublik kannte und den Elitz Gammeldienst nennt, förderte diese Einförmigkeit nicht, machte aus dem jungen Mann nur ein temporäres Mitglied der militärischen Mechanik.

Leute wie Elitz loben nicht einfach die Bundeswehr, sie beschwören und bestürmen einen neuen Zeitgeist, eine neue militarisierte Gesellschaft, die uniform hinter den Kriegs- und Eroberungsgelüsten wirtschaftlicher Eliten steht.



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Der Retter Rettung

Dienstag, 23. November 2010

Mehr als Griechenland hat es Irland nun verdient, unter den europäischen Rettungsschirm genommen zu werden. Dieses mustergültige Exempel, das stets dann lobend erwähnt wurde, wenn man neoliberale Reformpolitik als zukunftsweisende Errungenschaft herausputzen wollte, hat sich nach dem Trubel um europäische Verträge und Verfassungsentwürfe, nun eine Belohnung redlich verdient. Ohne irische Jasager kein Lissaboner Europa; ohne die Bändigung irischer Rebellen kein militarisiertes, noch straffer ökonomisiertes, gänzlich freihändlerisches Europa der Konzerne, keine Unterordnung der Sozialwesen unter rein pekuniäre Gesichtspunkte.

Irland sei dank gibt es nun einen Europavertrag; die Iren haben die europäische Idee, die Idee krämerisch miteinander verwobener Staaten, gerettet - recht und billig, dass nun Europa auch die Iren rettet. Wer rettet, darf auch gerettet werden. Dieses Prinzip nennt sich kontinentale Solidarität; die einzelne Nation sichert Europa und Europa sichert die einzelne Nation.

Und so wird der irische Trottel, der sich vollkommen unbedarft von den europäischen Unkenrufen einschüchtern ließ, beim zweiten Referendum pro Lissabonvertrag stimmte, nun aus seinem Elend erlöst. Er bekommt seine Banken gerettet, seine Spekulanten, Makler und Börsenhaie kuriert; er darf seine Versicherungspaläste und seine Bankgebäude behalten, sich weiter an deren Glasfassaden und deren ausgestrahlte Kälte erfreuen. Europa will ja nicht, dass die Iren erschrecken, wenn sie plötzlich vor verarmten Bankenhäusern und ramponierten Palastbruchbuden stehen.

Dazu leiert Europa Maßnahmen an, transportiert griechische Zustände auf Eire, amputiert Rentenzahlungen, kürzt Sozialleistungen, schnipselt am Kulturellem herum. Der irische Wähler, der einst für ein Europa unter Lissaboner Papier votierte, er bekommt nun den Dank mit Zinsen ausbezahlt. Jetzt weiß er, Europa bedeutet, Banken und Konzerne abzuschotten von den Verwerfungen des ansonsten so geliebten freien Marktes, die Bürger zeitgleich hineinzuwerfen in die Wogen der Unsicherheit - die generation yes wurde damals ausgerufen, als man nicht mehr Querulant sein wollte; doch von diesem Yes bleibt nurmehr Ernüchterung.

Das alles hat freilich mit dem Lissaboner Vertrag vielleicht nicht allzuviel zu tun; aber es ist die Denkart Europas, die nun auch auf Irland zurückschlägt, so wie sie Griechenland schon seit Monaten zu spüren bekommt. Eine Gesinnung, die rein krämerisch daherkommt, die menschliches Zusammenleben als Handelsrouten und Nachfragepotenziale begreift, die daher für Konzerne einsteht und Banken unter Schutzschirme stellt. Das ist der Geist der Lissabonpapiere ebenso, wie jener, der in Dublin und Athen als Staatsräson verbreitet wird. Der europäische Gedanke, dieses hohe Wort, das gerne von Staatsmännern im Munde geführt wird, es ist der Gedanke, das Gemeinwesen zu rationalisieren, zu straffen, zu ökonomisieren. Wer dazu Yes gesagt hat, der dürfte sich eigentlich nicht beklagen...



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Verlässliche Bürger

Montag, 22. November 2010

Alles ist vorbereitet, alles ist aufgetischt: Der Reichstag ist als potenzielles Terrorziel auserkoren, die Bahnen werden stichpunktartig und präventiv aufgehalten und durchsucht, "seltsam aussehende Menschen" dürfen zum Fanal neuen GeStaPo-ismus herhalten - "Melde gehorsamst, ich kenne da einen...", dabei Hacken zusammengeschlagen und gravitätische Miene vortragend; alles im wohligen Gefühl verrichteter, notdürftiger Bürgerpflicht. Alles läuft rund, alles ist gut strukturiert: Menschen fürchten sich, Behörden sorgen sich, Medien überbieten sich gegenseitig! Der Terroranschlag ist in aller Munde, in allen Köpfen, läßt in alle Hosen machen. Bürger bibbern in Kameraobjektive, Minister sprengen selbige mit ihren herrisch zur Schau gestellten und geballten Fachkompetenzen, Reporter wittern in jedem verwaisten Schulrucksack Atomsprengköpfe und den chemischen Overkill.

Man berät sich öffentlich über sinnvolle Anschlagsziele. Reichstag oder Parteizentralen, Merkels Frisierkommode oder Westerwelles Gentlemen's club? Sinnvoll wäre es, berichten Fachleute, einen Koffer oder eine Discountertasche mit explosiver Füllung in einen ICE zu verstauen. Wer solcherlei Ideen noch nicht hatte: jetzt hat er sie! Haarklein erläutert man, wie so ein richtig bombastischer Anschlag aussehen könnte. Explodierende Einkaufszentren, einstürzende Häuserschluchten, Marktplätze die in Feuersbrünste getaucht werden! Abgerissene Glieder, herauslappende Gedärme, heraussickerndes Blut: darüber spricht man jedoch weniger, man will den Terror eher steril ins Wohnzimmer installieren. So steril, wie die ganzen Apparatschiks und Funktionäre, die zur Terrorgefahr monotone Phrasen verschleudern.

Kurzum: die Hysterie ist serviert, das terroristische Biotop kultiviert, das nötige Milieu ausstaffiert. Was jetzt noch fehlt, das sind zuverlässige Terroristen, langbemäntelte, langbebärtete Männer mit bösem Blick und tiefem Hass. Die Bundesregierung und ihre teilhabenden Medienanstalten rufen daher zur Audition, zum Casting! Es bedarf keines großen Talentes, man kann sich quasi ins bereitete Nest hocken, die gesellschaftlichen Prämissen sind geschaffen, die Stimmung stimmt, die Furcht lähmt - jetzt fehlt nur noch der Terrorist, ein zuverlässiger Guerilla. Das ist der eigentliche Skandal: dass sich niemand findet, der das, wovon seit Tagen in dieser Republik gewarnt und gezittert wird, unter Eigeninitiative ausführt. Wo ist der verantwortungsbewusste Bundesbürger, der sich zum Wohle aller dazu emporschwingt, ein bisschen Terror zu verbreiten? Wie soll das mit der Vorratsdatenspeicherung klappen? Wie mit der gezielteren Überwachung? Wir werden niemals mehr in den Genuss spießelnder Blockwarte gelangen, wenn es nicht endlich auch kracht - sehnsuchtsvolles Berichten und Beschwören reicht einfach nicht aus.

Verlässliche Bundesbürger braucht die Nation. Verlässlich ängstlich, verlässlich hysterisch, verlässlich auf Überwachung getrimmt - und verlässlich gewaltbereit, wenn der Muselmann nicht mitspielt. Sein Land zu lieben, kann manchmal auch bedeuten, sein Land mit Gewalt zu überziehen: wenn danach auf Vorrat Daten gehortet und Kameras aufgestellt werden dürfen, dann wohnt auch jeder Gewalttat ein schöner Anfang inne. Ein Bundesbürger, der was auf seine Staatspflicht hält, der läßt sich nun einen Bart stehen, konvertiert oberflächlich zum Islam hinüber, stößt undefinierbare Kehlkopflaute aus und bündelt die Bosheit in seinem Blick, und vielleicht hatte er auch schon von Geburt an eine Krummnase, die sein räuberisches Antlitz rahmt - dann kauft er sich eine Tasche und eine Sprengstoffattrappe und erfüllt den sehnlichsten Wunsch der Berliner Falken und ihrer berichtenden Spatzen...



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VHS-Gezwitscher

Freitag, 19. November 2010

Ein Bericht von Merdeister.

Wenn man sich ein Blog vorstellt, erst das Blog ganz allgemein als Idee und dann ein ganz konkretes, vielleicht das von Roberto J. De Lapuente und sich nun einen Ort vorstellt, der von all dem weit weg ist, dann landet man schnell in der Volkshochschule in Aachen.

In Aachen sammelten sich gestern 7(!) Bürger in Raum 214 des Gebäudes der VHS am Bushof, wo man sich ein helles Plätzchen für sein Fahrrad sucht, um sich einen Abend zum Thema "Kritischer Wortwechsel - Blogger im Internet" auszutauschen. Wo, wenn nicht im Internet sollte man Blogger finden? In Aachen, an der VHS, vorne links (klar) hinter einem Stapel Bücher, dessen Größe vermuten lässt, dass mit mehr Resonanz gerechnet wurde.

Die Kombination meiner Persönlichkeit mit der Sozialisation in der FC hat mich lange recht authistisch mit dem Netz umgehen lassen. Und so war ich bisher noch nicht lange auf ad sinistram, obwohl mir der Name bereits oft untergekommen war. "Bisher" stimmt allerdings seit einigen Stunden nicht mehr, meinen ersten Beitrag habe ich heute endlich gelesen, der mich dafür den Tag über begleitet hat. Roberto J. De Lapuente, der dieses Blog führt saß gestern als Blogger in Aachen, liebevoll eingeführt von Iris Witt, die ihn als ihren Favoriten unter den Bloggern vorstellte. Vor einigen Jahren sei ihr der Artikel "Unzugehörig" von Moslems aus Aachen empfohlen worden.

Da sitze ich also nun mit einem Star-Blogger und fast überwiegend älteren Herren im Raum und habe nichts besseres zu tun, als darüber zu twittern. Cassandra teilt mir auf diesem Weg mit, ad sinistram könne sie nur ausgeschlafen lesen. Darauf angesprochen reagiert Roberto J. De Lapuente verständnisvoll, er höre öfter seine Texte seien zu schwierig. Das Wort "ausgeschlafen" wird an diesem Abend noch öfter benutzt, meist an mich gerichtet.

Die Zuhörer sind vor allem Anhänger der NachDenkSeiten, die, so lerne ich kein richtiges Blog seien, weil man nicht kommentieren könne, was sich jedoch so ein jüngerer Zuhörer bald ändern werde. Es scheint er hat gut Quellen. Die anwesende Dame, vermutlich jenseits der 65 sagt: "Man hört überall 'Blogs,Blogs', das schaue ich mir morgen mal an." Allerdings sei sie nicht gerne so lange am Computer. Es ist kein einfaches Publikum, doch in gewissen Punkten einig PI ist doof, Reiche gierig und alle belügen uns. Ich spüre etwas von der Wut, die über Bildschirme aus Stuttgart und Gorleben in deutschen Wohnzimmer gezeigt wird.

Interessant ist, dass man sich über "Zensur" in den Kommentaren der konservativen Zeitungen beschwert, Roberto J. De Lapuente aber "Hausrecht" zugesteht, wenn er Kommentare nicht veröffentlichen will.

Roberto J. De Lapuente ist ein guter Zuhörer, der jeden aussprechen lässt und sich selber kurz fasst, wenn er antwortet. Er wirkt auf mich ein wenig melancholisch. Seine Antworten klingen nicht, als seien sie in Stein gemeißelt, sie lassen Spielraum, hier ist jemandem klar, dass es möglich ist, das er sich auch mal irrt. Die Motivation zum Bloggen kam Ursprünglich aus dem Ärger über die Zustände und dem Willen, diese zu ändern. Da sei er sich aber über die Grenzen seiner Möglichkeiten als Blogger bewusst.

Angesprochen auf seine Meinung zum Meinungsmedium Freitag, bemängelt er die geringe Anzahl von Blogs in der gedruckten Zeitung. Alle anderen Anwesenden benötigen eine kurze Aufklärung, worum es überhaupt geht, Aachen ist weit weg von Berlin.

Im Blog und in der VHS können Menschen sich auf unterschiedliche Art und Weise begegnen. Hier virtuell und ewig gespeichert, dort real und flüchtig. Wenn ich jetzt meinen Kommentar zu einem Text von Roberto J. De Lapuente hier beim Freitag lese, kann ich mir vorstellen, wie er vor dem Bildschirm sitzend den Kopf schüttelt und den Tab seufzend schließt. Man sieht sich immer zweimal im Leben und gestern war ich freundlicher und habe einem Star-Blogger die Hand geschüttelt. Die werde ich nie wieder waschen!

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Nomen non est omen

Donnerstag, 18. November 2010

Heute: "Befriedung"
"Obama hatte im Dezember 2009 das Militär angewiesen, das Land nachhaltig zu befrieden und die Verantwortung schrittweise an die afghanische Regierung zu übergeben."
- Spiegel Online vom 15. November 2010 -
Als Befriedung wird eine gezielte Maßnahme verstanden, die dafür sorgen soll, dass Frieden und kein Kampf oder Krieg in einem bestimmten Gebiet mehr herrscht. In der Regel sollen Konfliktparteien daran gehindert werden, ihren Streit auszutragen. Von Befriedung wird meist dann gesprochen, wenn ein Krieg schon ausgebrochen ist. Denn befrieden meint selten eine Entmilitarisierung. Meist soll mithilfe des Militärs Frieden geschaffen werden. Das Schlagwort Befriedung ist nicht selten ein Euphemismus für Eroberung und Unterwerfung.

Der Begriff folgt dem militärischen Theorem, dass mit Waffen Frieden geschaffen werden kann. Dabei wird Frieden als ein Zustand beschrieben, indem keine Gewalt, keine Konflikte und eben keine Waffen verwendet werden. Das Schlagwort Befriedung ist insofern nicht nur ein Euphemismus, sondern auch ein Oxymoron, denn Frieden und Krieg schließen sich gegenseitig aus. Ähnlich wie der Begriff der humanitären Intervention wird das Schlagwort Befriedung häufig instrumentalisiert, um militärische Handlungen, Gewalt und Krieg zu legitimieren. Außerdem wird suggeriert, dass Frieden schaffen, das vorrangige Interesse des Befrieders bzw. des Eroberers sei, was nicht zwingend der Fall sein muss.

Die außerordentliche Befriedungsaktion war im Sommer 1940 eine Mordkampagne der Nationalsozialisten. Auf polnischem Staatsgebiet sollten Widerständler gezielt verfolgt werden. Insgesamt wurden 7500 Menschen verhaftet und ermordet. Die Verbrechen der außerordentlichen Befriedungsaktion wurde in den Nürnberger Prozessen behandelt.

Mittlerweile wird der Begriff nicht nur im militärischen Sprachgebrauch verwendet, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Befrieden meint dann vor allem "Frieden schaffen".
"So ein Sieg gegen einen hoch gewetteten Rivalen kann manchen teaminternen Konflikt befrieden und plötzlich jene ins Recht setzen, die vor Kurzem noch in der Kritik standen."
- Süddeutsche Zeitung vom 2. November 2002 -
Dies zeigt auf, dass viele militärische Vokabeln bereits im alltäglichen Sprachgebrauch Verwendung finden.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Teilhaber des Todes

Mittwoch, 17. November 2010

"Umberto Eco verurteilt die Steinigung ebenso wie die Giftspritze", titelte der Focus (Printausgabe Nr. 42 vom 18. Oktober 2010) kürzlich. Die westliche Wertegemeinschaft, so sein Resumee, dürfe bei der im Iran angewandten Variante der Todesstrafe sich insofern nicht empören, weil sie in den eigenen Reihen Nationen birgt, die gleichfalls gesetzlich morden.

Der Artikel war nur kurz gefasst und die Auflehnung, die er erntete, fiel auf den Seiten der nächsten Focus-Ausgabe auch nur zögerlich und sparsam aus. Man dürfe, so mokierte sich eine Leserin, die beiden Todesstrafen nicht in einen Topf werfen. Die Giftspritze in den Vereinigten Staaten sei mit dem Steinregen einer aufgebrachten Menge nicht vergleichbar; was aus diesen Zeilen schimmerte, könnte man überspitzt formuliert für die Selbstgerechtigkeit einer Wertegemeinschaft ansehen, die selbst das Meucheln akzeptiert, wenn es nur demokratisch legitimiert drapiert wird.

Mithin täuscht sich Eco tatsächlich. Die beiden Varianten des vom Gemeinwesen beschlossenen Forträumens eines zuvor zur Unperson erklärten Menschen, sind nur schwerlich gegeneinander abzuwägen. Hie das etatistische und rationale Aburteilen, da ein absolutistisches und emotionales Spektakulum; hier industrielle Präzision und effektivierte Verfahren, dort augenscheinliches Chaos und affektive Reflexe; einerseits der Rückgriff auf eine Verfassung, die im Namen des Volkes und damit jedes einzelnen Bürgers verurteilt, andererseits der Einbezug eines höheren Wesens, das nicht im Auftrag der Menschen, sondern übermenschlich sozusagen, sanktioniert.

Exakt in diesem letzten Punkt ist der Unterschied begraben. Es stimmt, es gibt kein moralisches Primat der einen Todesstrafe über die andere; und doch sind beide Ausformungen unvergleichlich. Gleichwohl der iranische Delinquent im Namen Gottes gerichtet wird, hat es die westliche Wertegemeinschaft vollbracht, ihre Bürger nicht nur materiell und mittels sozialreformatorischen Werken am Wohlstand teilhaben zu lassen - sie sichern auch die Teilhabe am Richterspruch, die Teilhabe an der Exekution. Die Verantwortlichkeit liegt dort in der Transzendenz, hier beim Bürger - die Errungenschaft des Westens ist es, dass er seine Bürger mitschuldig macht; er ist teilhaberisch in jeder Beziehung, macht seine Menschen nicht nur zu Komplizen, so wie eine Horde steinewerfender Totschläger in grölende Komplizenschaft tritt - er macht sie zu Teilhabern des Meuchelns, zu Sozii des Todesurteils.

Die Todesstrafe in Ländern, die von der bürgerlichen Revolution gestreift wurden, sie vereint die Bürger im Tode - in der Erklärung, jemanden dem Tode zu überstellen. Die Todesstrafe im Iran beispielsweise wird von einem obersten Wesen inspiriert, der Mensch hat diesen Ratschluss nur stur umzusetzen. Somit läßt sich festhalten, dass beide Formen nicht vergleichbar sind - und es ist untragbar, nur deshalb eine Variante zu erdulden, weil dort im Namen des Volkes gemordet wird und alle Bürger Teilhaber des Todes sind. Nur weil eine Gesellschaft durchweg zum Sachwalter erklärt wurde, kein Monarch, keine Gottheit mehr Unrecht spricht, muß das noch lange kein Fortschritt sein.

Im Iran werfen sie Steine, werden zu Komplizen, die nur ausführen, aber wenig Verantwortung haben - in den westlichen Ländern, führte man im Gedankenspiel dort durchgehend die Todesstrafe ein: keiner würfe, keiner würde zum Komplizen - man würde zum Mitverantwortlichen, zum Mit-Richter...



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Konservativ, progressiv - diese Unterscheidung wird täglich dümmer!

Dienstag, 16. November 2010

Das was heute unter der Standarte des Konservatismus durch die Lande kreucht, hat für das Konservieren, das conservare wenig übrig. Unter dieser Standarte herrscht weder struktur- noch wertkonservatives Knobeln - man will nichts erhalten, weder eine gewisse weltanschauliche Ordnung (was nicht immer schlecht sein muß!) noch eine moralische Vorstellung (was sich oft schlecht auswirkt!). Der heute vorherrschende Konservatismus ist eher rückschrittlich: nur nennt er es fortschrittlich. Er ist zum willfährigen Handlanger wirtschaftlicher Interessen zusammengeschmolzen, zum Verwalter so genannter Sachzwänge, kennt keine idealistischen Vorstellungen mehr, ist zum ideen- und wertelosen Sachwalter gemindert. Er lehnt sich nicht auf, wenn Sozialstrukturen abgebaut, Menschen zu mobilen Kapital erniedrigt, wenn selbst gesellschaftliche Räume ökonomisiert werden, die eine Aufrechnung nach Kosten und Nutzen überhaupt nicht gebrauchen können. Er will den Sozialstaat nicht bewahren - er hat nur wenig Interesse daran, den frei zugänglichen Rechtsstaat zu konservieren - er widerspricht nicht energisch, wenn Menschen unmenschlich wie Objekte verschoben und verschachert werden. Kurz, der Konservatismus hat es nicht so besonders mit konservativen Struktur- und Wertebewahrung.

Gleichwohl die eine Seite Fortschritt durch Rückschritt verkündigt, gebärdet sich vis-à-vis der moderne Progressivismus wenig progressiv. Vereinfacht gesagt: Wo der Konservatismus früher alles traditionell beim Alten halten wollte, übernimmt heute der Progressivismus diese Aufgabe. Er predigt keinen weiteren Ausbau der Sozialstrukturen, kein fortschrittliches Menschenbild, in dem der Mensch auch außerhalb seiner Erwerbsarbeit Daseinsberechtigung erlangt - er läuft den Entwicklungen hinterher, versucht zu bewahren, zu konservieren, was dem zeitgenössischen Konservatismus in seiner unkonservativen Art nicht bewahrenswert erscheint. Progressiv ist heute derjenige, der konservativ ist, der stockkonservativ zu Sozialstaat, Rechtsstaat, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Hilfsbereitschaft steht - progressiv zu sein bedeutet dieser Tage, in bestimmten Fragen konservativ zu werden. Fortschrittlich ist an dieser modernen Erscheinung des Progressivismus wenig: erhaltend ist er, nicht weiterdenkend oder idealistisch fordernd. Vielleicht wollte er fortschreiten, alleine es fehlt die notwendige Realität dazu - die andauernde Deinstallation des Sozialwesens verbietet jedes fortschrittliche Denken. Daher ist seine moderne Losung: Nicht fortschreiten - erhalten! Bewahren! Festhalten am einstmals Erreichten! Eine bescheidene Maxime, die vergnügt gefeiert wird, wenn man wieder einmal dem Fortschritt Dienst getan hat, indem man bewahrt hat.

Der deutsche Publizist Kurt Hiller schrieb 1932 in einen Artikel: "Links, rechts – diese Unterscheidung wird täglich dümmer. Wer kommt noch mit ihr aus?" - Das liest sich wie ein Vorgriff - oder andersherum begutachtet: was sich heute abzeichnet, dünkt wie ein Rückgriff. "Linke Leute von rechts" nannte Hiller seinen Text - man möchte der Ordnung halber vervollständigen und "Rechte Leute von links" dranheften. Und alle treffen sie sich in der Mitte! Es wird tatsächlich täglich dümmer, zwischen links und rechts zu scheiden, es wird immer dümmer, zwischen konservativ und progressiv zu trennen - die Grenzen überschneiden sich nicht nur, teilweise haben sie ihre Merkmale und Kennzeichen ganz ausgetauscht. Es bedarf letztlich neuer Begriffe, zumindest ist der Gebrauch der vorhandenen Begriffe zu prüfen. Konservative, die fortschrittlich regressiv denken und Progressive, die regressiv fortschrittlich denken, werden ihrer Bezeichnung nicht gerecht. Die Folge ist, dass man es schon als Fortschritt feiert, wenn uns ein ausgehöhlter Kündigungsschutz oder ein zu überarbeitendes Gesundheitswesen erhalten bleibt - falsche Bescheidenheit!



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Sit venia verbo

Montag, 15. November 2010

"Minister halten Reden, die sie, ohne im geringsten gefährdet gewesen zu sein, gerade so gut 1936, 1939 oder 1943 hätten halten können – ein großes Heim-ins-Reich-Geschwätz. [...] Wir aber sind so milde geworden, so vernünftig, so einsichtsvoll und so nachsichtig – daß wir aus einem Nazi einen "Nazi", aus einem Kriegsverbrecher einen "Kriegsverbrecher" werden lassen: Wir lassen die Tyrannei der Anführungsstriche über uns walten [...] Ein Nazi aber ist ein Nazi, ganz ohne Anführungsstriche, und was uns die Nazis bescherten, war Blut und Dreck und – Ehre, Ruhm, Opfer, Vaterland und Heim ins Reich. [...] Wir aber, wir sind so milde geworden, so brav, wir lassen uns alles gefallen [...] Wir sollten die Reden Wort für Wort studieren, mit dem Rotstift in der Hand, denn in einer Republik leben heißt nicht, ein Schaf zu sein."
- Heinrich Böll, "Wir sind so milde geworden" -

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Hoffnungslos

Samstag, 13. November 2010

In Zweierreihe standen sie an; zwei Kolonnen, jeweils etwa zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Mann stark. Am Kopf der Warteschlange lauerte der schnelle Tod; die jeweils Nachrückenden, die nun zum Kopf der Reihe geworden waren, wurden hinter eine alte Mauer befohlen. Von dort vernahmen die Wartenden Schüsse. Was jene nicht sahen, nur angstvoll ahnten: man jagte den hinter der Mauer Verschwindenden eine Kugel in den Schädel – nur eine Kugel; nur eine kostensparende Patrone, mehr nicht. Sie sahen es nicht, lauschten nur dem zerfetzenden Donner schädelspaltender Schüsse, wußten instinktiv, hier geht es dem Ende entgegen.

Flucht schien ausgeschlossen; denn flankiert wurde die Zweierreihe von bewaffneten Aufsehern, die den Schuss, der erst in einigen Minuten hinter gemörtelten Stein eingeplant war, in die unmittelbare Gegenwart verlegt hätten, sofern man seine Beine in die Hände genommen hätte. Abwägen: noch einige Minuten Sauerstoff in die Lungen ziehen oder doch gleich den finalen Schuss provozieren? Leben schützen, selbst wenn es nur noch für einen Augenblick ist - oder Würde bewahren, nicht als Lamm zum Schlachter zu geraten?

K. stand an siebter oder achter Stelle, minütlich zum Kopf der Kolonne aufrückend. Er vernahm Schüsse, immer wieder Schüsse; ihm war bewusst, was ihm blühte – allen war es klar. Die Soldaten würden ihn erschiessen. Sie würden schon einen Grund haben, das zu tun. Denn Soldaten befolgen Befehle und Befehle messen sich am praktischen Sinn. Vermutlich würde er, wie die anderen in den beiden Wartenschlangen, nur Lebensmittel verbrauchen, die andere besser gebrauchen könnten. Unnütze Esser zu erschießen, das war vielleicht nicht human, mindestens aber funktional – betriebswirtschaftliche Analytik ist einer brotlosen Ethik einfach überlegen; liegt dem homo oeconomicus einfach im Blut.

Nur noch an fünfter Stelle. K. rang mit sich: flüchten und sterben oder warten und sterben? Falls erste Option ergriffen werden soll, dann bitte schnell; gleich würde er an vierter Stelle stehen, dann an dritter! Was ihn wunderte war, dass er sich erstaunlich gelassen fühlte – er roch Urin, er roch Kot. Offensichtlich ließen bei einem seiner Kollegen – oder bei mehreren! - die Schließmuskulaturen nach. Ein ganz normaler Vorgang bei Todesangst; er aber blieb relativ ruhig, blieb mehr Beobachter als baldiges Opfer einer aggressiven Menschheit, pisste sich aber endlich auch die Hose nass.

Die Fluchtgedanken legten sich, denn nun stand er am Kopf seiner Reihe. Sein Vorgänger verschwand gerade hinter der Mauer. Er lauschte Stimmen, er hörte ein Winseln. K. lugte zu seinem Nebenmann aus der anderen Reihe: mit ihm würde er gleich sterben. Er machte sich ein Spiel daraus, wer wohl länger auf Erden blieb, wer womöglich einige Sekunden später die Schädelplatte zerrissen bekäme. Ob er noch Zeit hätte, laut „Gewinner!“ zu rufen? Die Schüsse der Vorgänger ließen auf sich warten – vielleicht floß genug Blut für heute, vielleicht machen die Schlächter gleich eine Mittagspause: Hoffnung keimte, eine Hoffnung, die schon abgelegt war. Dem Fatalismus folgte die Vorfreude auf einen, zwei, drei Stunden mehr Lebensgenuss. Doch zuletzt: Schüsse!

Keine Pause, das Morden am Fließband, es würde weitergehen. Man forderte ihn nicht gerade unfreundlich auf, er wolle bitteschön hinter diese Mauer treten. Seinem Nebenmann hieß man dasselbe. Stehenbleiben? Sitzstreik? Was würde das alles bringen? Nur einen noch schnelleren Tod – lieber folgen, lieber ein braver gefangener Befehlsempfänger dieser soldatischen Befehlsempfänger sein, als gleich das Zeitliche zu segnen. K. schlurfte zur Mauer, nicht zu eilig, einige Sekunden sollte dieses Leben noch in petto haben. Sein Leidensbruder, der gleich neben ihm Gehirnmasse verschütten sollte, schien es eiliger zu haben. Dieser war schon hinter der Mauer verschwunden, als K. für diejenigen aus dem Blickfeld entwich, die jetzt einen nur noch kümmerlichen Lindwurm bildeten.

Dahinter angelangt erblickte K. zwei Gefangene, die dabei waren, Kadaver auf Kadaver zu stapeln, an den toten Gliedern zogen, am leblosen Nacken zerrten, leblose Körper wälzten und wuchteten. Gleich würde K. und sein Nebenmann auch zum toten Fleisch, zur Stapelmasse gieriger Aufräumerhände. Ein Soldat lud gerade einen Revolver nach, herrschte die beiden Neuankömmlinge an, sie mögen sich so und nicht anders positionieren und platzierte die Pistole auf K.s Kollegen Stirn. Ganz ohne Zeremoniell, ohne letzte Worte, letzten Wunsch, letztem gewährtem Atemzug zerbarst dessen Stirnbein, zerriss es beim Austritt der Patrone dessen Hinterhauptbein. Mensch gewesen, nun freigegeben zum Stapeln. Ohne viel Federlesens wandte sich der Scharfrichter K. zu, zielte und... ein Schrei unterbrach die Reinigungsaktion.

Einhalt wurde geboten; ein höherer Dienstgrad, herrisch in Gestalt, erbat die schriftliche Erlaubnis „dieses Verfahrens“, wie er es nannte. Der Todesschütze konnte damit nicht dienen und erlebte ein Donnerwetter; was für ein Gebrüll des Vorgesetzten! Was bilden Sie sich ein? Haben Sie den Verstand verloren? Sie Unmensch; Sie Verrückter; Sie Arschloch! Er schrie nicht mehr, er belferte, er zerriss, zerfetzte sich schier den Kehlkopf.

Nach einem Augenblick des Schweigens, der Ruhe nach dem Sturm, bat er den Schützen auf die Kommandantur, zur Überprüfung des Sachverhalts. K. wurde angewiesen als Zeuge zu folgen. Hat er diese Leute erschossen, fragte der höhere Dienstgrad, wartete aber keine Antwort ab, winkte höhnisch ab, als wollte er auch nie eine Antwort erhalten, meinte aber geringschätzig, all das könne man ja bei einem warmen Kaffee auf der Kommandantur besprechen. K. wollte zunächst intervenieren, wollte auf die Mauer deuten, die ihn als Zeugen verhindert hatte – er schwieg aber; die Hoffnung übermannte ihn.

In der Wärme der Kommandantur umwehte K. ein bekannter Geruch; es roch nach Papier, Enge, Humorlosigkeit; es roch nach Bürokratenschweiß, nach Paragraphen und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten, in bestimmter Weise zu verfahren – nach Paragraphen und der sich daraus herausdeutbaren Willkür. Das Grüppchen, welches neben K. den Schützen und den höheren Dienstgrad umfaßte, wurde in ein steriles Zimmerchen geführt. Dort nahmen sie Platz, schenkten sich bereitstehenden Kaffee ein; auch K. bekam eine Tasse serviert. Der Schütze versuchte einen Schwatz zu beginnen; wo man denn in dieser Gegend einen netten Abend verbringen könnte, fragte er K. freundlich. K.wollte antworten, doch die Türe wurde aufgestossen; ein kantiger Klotz von Mann stand im Türrahmen, fragte nach dem Problem. Der höhere Dienstgrad erläuterte die Lage; offenbar handelte es sich beim dem Klotz um einen noch höheren Dienstgrad. K. wurde daraufhin aus dem Zimmer geführt, man brauche keinen Zeugen, hieß es. Auf dem Flur vernahm er dumpfe Schwallwellen, konnte dem Gespräch folgen, verstand beinahe jedes Wort – kein Wunder, es wurde erneut gebrüllt. Ob er, der Schütze, noch bei Trost sei – erschösse Menschen, einfach so! Sind Sie noch bei Sinnen, Sie Idiot! Zivilisten erschießen, das wäre ja „ein gottverdammter Frevel“. Sie verblödetes Subjekt! Konsequenzen würde es auf jeden Fall noch haben.

K. nippte zufrieden an seinem Kaffee, dem man ihn erlaubte mitzunehmen, verspürte, wie die längst verflogene Hoffnung immer stärker in sein Denken vordrang. Er merkte, wie sich die Betäubung aus seinem Geist verabschiedete, wie er Aufwind nahm. Vielleicht gäbe es heute noch ein Abendbrot. Gut, dass er nicht geflüchtet war, lobte er sich leise; nicht den Kopf verlieren: das war immer noch die erbringlichste Losung, denn am Ende kläre sich jedes Mißverständnis. Das Gebrüll verstummte, K. lauschte, hörte aber nur dumpfes Gerede, konnte nichts verstehen.

Nach einer Weile voller unidentifizierbaren Gebrummel öffnete sich die Türe; der Schütze und der höhere Dienstgrad, der in Anwesenheit des Klotzes nur ein mittlerer Dienstgrad war, hießen K. mitzukommen. Man verließ schnurstracks die Kommandantur, marschierte flotten Trittes zurück hinter die Mauer. Dort nahm K. selbständig und bar einer besseren Idee jene Positur ein, die er innehatte, als ihm beinahe der Schädel durchschossen worden wäre. Der mittlere, jetzt wieder zum höheren Dienstgrad gewordene, erläuterte dem Schützen, dass er „ein selten dummes Arschloch“ sei, weil er hier einfach so die Leute erschoss. Einfach so: ohne Formalien, ohne vorher Löcher ausgehoben, ohne sich ein ruhigeres Plätzchen ausgesucht zu haben, an dem man von der Öffentlichkeit unbeobachteter wäre. Sie dummes Arschloch, beim nächstenmal denken Sie mit! Der höhere Dienstgrad blickte K. an, hieß allen Anwesenden weiterzumachen und wünschte noch einen erfolgreichen Tag und verschwand.

Gehen Sie die Straße hinab, dort ist ein Nachtlokal, in dem man sich amüsieren kann, sagte K. zum Schützen, damit dessen zuvor gestellte Frage beantwortend. Danke, erwiderte der Schütze verdutzt aber freudig und legte die Mündung seiner Waffe auf K.s Stirn...



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Demokratie versus Diktatur? – oder: Sowohl als auch!

Freitag, 12. November 2010

Zweierlei Tendenzen würgen uns in diesen Tagen. Die eine nimmt aus Stuttgart ihren Weg, begehrt mehr Demokratie, mehr direkte Beteiligung an der Entscheidungsfindung – die andere dokumentiert in Gestalt einer Studie der in Bonn verorteten Friedrich-Ebert-Stiftung das wachsende öffentliche Verlangen, dass die öffentliche Hand besser griffe, wäre sie die Hand eines starken Mannes. Die Politik müsse wieder näher zum Volk finden, heißt es hier; ein Führer, der mit starker Faust Deutschland regierte, täte Not, vernimmt man von dort. Hier: das Volk muss auf die Straße, damit die Politik es endlich wieder wahrnimmt; dort: unter Umständen ist eine Diktatur die bessere Staatsform.

Glotzte man an dem Tag, da die erschreckende Studie aus Bonn das Schummerlicht der Öffentlichkeit erblickte, in den Flimmerkasten, so konnte man sehr getragene, manchmal sogar finstere Mienen sehen, die von der Diktaturbereitschaft und der wachsenden Ausländerfeindlichkeit einer breiten Masse der Bundesbürger berichteten. Wechselte man dann den Sender, landete in Stuttgart, so konnte man weitere sehr getragene, weitere manchmal sogar noch finsterere Gesichter begutachten, die dartaten, dass nun soundsoviel Prozent der Bürger meinten, jetzt sei endlich der Augenblick der Basisdemokratie gekommen. Diktatur oder Basisdemokratie! Zwei gegensätzliche Tendenzen, die eigentlich, selbst mit viel Phantasie, nur schwerlich zu verquicken sind.

Da steht eine Gesellschaft orientierungslos in der Landschaft herum. Laviert zwischen "Mehr Demokratie wagen!" und "Führer befiehl!" und hätte womöglich sogar am liebsten beide Optionen gleichzeitig. Heute Plebiszit zu gestalterischen Themen, zum Erhalt eines Bahnhofs beispielsweise, morgen einen Despoten, der die Gesellschaft endlich vom Gesocks reinigt; hier Mitspracherecht und basisdemokratisches Ausdiskutieren, dort kurzer Prozess, Ausweisung oder Zwangsarbeit. Alles je nach Bedarf, je nach Laune und Nutzen! Weshalb denn so rückständig sein wollen, nur einer Maxime zu folgen, wenn man doch beides haben könnte?

So entgegengesetzt sind die beiden Tendenzen vielleicht auch gar nicht. Befragt man quasi basisdemokratisch einen repräsentativen Schnitt dieser Gesellschaft, was der von Moslems hält, so bekommt man meterhohe Mehrheiten für Ausweisung oder für Zwangsassimilierung serviert. Fragte man also demokratisch legitimiert, würde man dieses Mehr an Demokratie also wagen: man bräuchte keine Diktatur mehr, um das Diktat perfekt zu machen. Wer dieser Tage mehr Demokratie wagte, nicht nur in Stuttgart, sondern als allgemeinverbindliches Projekt für sämtliche politische Strukturen dieses Landes, der würde sich die Augen aber reiben: der dürfte eine Diktatur begrüßen, ein bürgerliches Jakobinertum, das alles ausmerzen würde, was man hierzulande für nicht mehr duldenswert hielte. Ausländer, Muslime, Arbeitslose, Senioren, Alleinerziehende, Linke: Gäbe es heute, in diesen Zeiten säuberlich von Bertelsmann und Springer und Burda abgerichteter Bürger aus der Gesellschaftsmitte, mehr Basisdemokratie – es gäbe auch ganz schnell mehr Diktatur!

Freilich sind Volksbefragungen eine nette Spielerei, wenn es darum geht, Bahnhofsmissionen zu stoppen – aber mancher schlürfte seine Erbsensuppe in einer Bahnhofsmission, sollte dieses Prinzip plötzlich universell angewandt werden. Neun von zehn Befragten vertreten in der Stuttgarter Angelegenheit die Ansicht, die Politik müsse wieder das umsetzen, was das Volk wolle – Annäherung an das Volk nennen sie das. An sich ja richtig; nur was machen wir dann mit den sozialrassistischen Forderungen, die manche Tageszeitung von über neunzig Prozent ihrer Leser bejahend beantwortet bekommen? Auch da Annäherung? Die Bahnhofsmission der Bonzen aufhalten und gleichzeitig dem unliebsamen Gesocks einen Besuch in der Bahnhofsmission verpassen? "Wir wollen keinen U-Bahnhof!" und gleichzeitig "Moslems raus!": ist das eher basisdemokratisch oder dann doch Diktatur?

Beide Tendenzen, gleichen sich insofern. In einer Gesellschaft, in der der Extremismus in der Mitte angelangt ist, ist er allerdings nicht mehr extremus, das Äußerste also, sondern er ist mittig, mittendrin statt nur randständig – er ist in medias respublica. Der Begriff sei trotzdem aus Gewohnheit beibehalten: In einer Gesellschaft, in der der Extremismus in der Mitte angelangt ist, da spielt es eigentlich keine Rolle mehr, ob man "Mehr Demokratie wagen!" oder "Führer befiehl!" wünscht. Es läuft auf dasselbe hinaus.

Entweder man gibt einem Volk, das sich mehrheitlich für Ausweisung von Muslimen oder Zwangsarbeit für Arbeitslose ausspricht, mehr Demokratie – oder es will jemanden, der solcherlei Konzepte diktatorisch und ohne Rücksicht auf das Grundgesetz und die Mitmenschlichkeit umsetzt. Da ist man ganz pragmatisch! Entweder mehr Mitbestimmung, damit man sich einen Diktator spart – oder einen Diktator, damit man sich dieses leidige Abstimmen schenken kann...

Dieser Text erschien erstmals am 25. Oktober 2010 im Blättchen.



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Ridendo dicere verum

Mittwoch, 10. November 2010

"Jeden Morgen gehe ich zirka acht Minuten lang,
Außer, wenn ich krank bin, von meiner Wohnung in meine Kanzlei.
Das ist schon seit Jahren so, ich bin nicht der einzige,
Für die meisten Leute geht das Leben so vorbei,

Ich grüße freundlich die Verkäuferin meiner Zeitung,
Sie hat es schwer heut seit jenem grausigen Prozeß.
Ihr Mann ist eingesperrt wegen so mancher Überschreitung,
Sie wurde freigesprochen, denn sie war nicht in der SS -
Obwohl sie wußte, was da vorging.

Und ich grüße ebenso den Friseurgehilfen Navratil,
Der auch in der SS war, oder war es die SA?
Einmal hat er angedeutet, während er mir die Haare schnitt,
was damals in Dachau mit dem Rosenblatt geschah,

Er war erst zwanzig, zwölf Jahre jünger als der Rosenblatt,
Jetzt ist er fünfzig und ein sehr brauchbarer Friseur.
,,Grüß Gott, Herr Hauptmann!'' - Der heißt nur Hauptmann,
Er war Oberst und hat in Frankreich einige zu Tode expediert,
Er ist noch immer Spediteur - es hat sich nichts geändert.

Drüben macht der Hammerschlag seinen Bücherladen auf,
Ich sehe noch heut vor mir, er ist damals so gerannt
Und hat direkt vor seinem Buchgeschäft einen Scheiterhaufen aufgestellt,
Und hat darauf Thomas Mann und Lion Feuchtwanger verbrannt.

Und Erich Kästner und den Kafka und den Heine
Und viele andere, die jetzt sein Schaufenster verziern,
Und er verkauft sie mit einem Lächeln an der Leine,
Ja, er muß leben und seine Kinder wollen studieren.
Er hat ja selbst den Doktor.

,,Verehrung, Herr Professor! Wie geht's der Frau Gemahlin?''
,,Danke!'' - ,,Sie schauen blendend aus, wie bleiben Sie so jung?''
Das war Professor Töpfer, seinerzeit völkischer Beobachter,
Anthropologie und Rassenkunde. Jetzt ist er beim Funk.

,,Grüß Gott, Herr Neumann!'' - Der ist nix, der ist erst dreißig.
Was war sein Vater? Na ja, er war jedenfalls Soldat.
,,Habe die Ehre, Herr Direktor!'' - Der ist gute fünfundsechzig,
Also muß er was gewesen sein. Heute ist er Demokrat.
Das sind wir schließlich alle.

Drüben ist der Eichelberger, Gummibänderhosenträger.
Das hieß früher Blau und Söhne, Herrentrikotage.
Nebenan war das Café Pinkelmann. Der Pinkelmann ist noch zurückgekommen,
Dann ist er wieder weggefahren, jetzt ist dort eine Garage.

Da kommt die Schule, da bin ich selber hingegangen,
Mein Deutschprofessor verdient noch immer dort Gehalt.
Der schrie: ,,Heil ...'', na ja, das wird er heute nicht mehr schreien.
Was nur die Kinder bei dem lernen? Vielleicht vergessen sie es bald.
Ich kann es nicht vergessen.

So, jetzt bin ich endlich in meine Kanzlei gekommen,
Setz mich an den Schreibtisch und öffne einen Brief.
Doch bevor ich lesen kann, muß ich erst die Richtung ändern,
Blicke rasch zum Himmel auf und atme dreimal tief."
- Georg Kreisler, Weg zur Arbeit, Everblacks -

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Unter Schwestern

Dienstag, 9. November 2010

Schöbe man galant einige Ihrer Bemerkungen hinfort, zum Beispiel jenen Schmu, wonach Homosexualität der Benachteiligungsbefreier der Frau sei... gut, Sie entkräften diesen Stuss ja: aber welcher halbwegs naturwissenschaftlich vorgeprägte Mensch hätte denn dergleichen je behauptet? Man kennt doch heute den evolutionären Grund für Homosexualität - sie ist eine arterhaltende Einrichtung, die zu thematisieren hier nicht beabsichtigt ist. Und dann ist da noch der andere Quatsch, der eigentlich kein Quatsch, vielleicht nur fehlende Erfahrung Ihrerseits ist: es wäre absurd, dass "das [was] für die Menschheit und deren Fortbestand grundlegend ist, per se als Unterwerfung definiert wird."

Kehren wir nachher noch mal zurück zu diesem Quatsch über den Fortbestand. Erstmal zurück zum Anfang - alles auf Position und nochmals...

Schöbe man also galant einige Ihrer Ausführungen beiseite, Frau Schrödergeboreneköhler - ich wiederhole nicht welche Ausführungen das sind! -, so müsste man Ihnen fast schon gratulieren: richtig erkannt! Endlich sagt es mal eine! Klartext-Politikerin! Müsste man eigentlich alles laut und dankbar ausrufen - müsste man, wenn man Sie nicht besser kennte.
Dennoch, das was Sie zur Schwarzer gesagt haben, zu ihrem kruden Axiom, wonach Geschlechtsverkehr ohne die Unterwerfung der Frau nicht denkbar sein, das war ganz richtig. Schwarzer und ihre abgehalfterte Entourage, dieses nicht weiter nennenswerte Sümmchen an Krawallschachteln: sie erinnern fatal an eine besonders ekelhafte Protagonistin aus Schwanitz' "Campus", eine gewisse Dr. Ursula Wagner, eine humorlose und verknöcherte Frauenbeauftragte, die selbst mit dem Deibel einen Bund auslotete - Wagner mit dem fiktiven JOURNAL, Schwarzer tut es mit BILD! -, um ihr spalterisches Sektierertum und ihren wahnwitzigen Hass zu politisieren, Profit herauszuschlagen. Diese fast schon pathologischen Sexistinnen, die die wohllustigsten Freuden daran verspüren, das zu diabolisieren, was sie nie wieder haben können, nie wieder haben wollen, nie wieder haben werden: Männer nämlich! Das wäre ja das eine, dass sie aber keine andere Meinung gelten lassen, dass sie immer gleich laut Sexismus! plärren, weil ihren Unsinn sonst keiner mehr wahrnimmt: das ist der Skandal! Es gibt diese Frauen gar nicht, es gibt nur deren Gebrüll! Gesinnungsterroristin halt - und Terroristen, denn dann und wann finden sich freilich auch Männer, die denkerisch kurz genug angebunden sind, um als rabiate Kläffer ihrer Herrinnen zu fungieren. Ja, diese Damen sollten wirklich mal aus ministerialem Munde gescholten werden. Dass solche von Unterwürfigkeit quasseln, wirft doch nur ein trauriges Licht auf sie: wenn die Gleichstellung der Frau zu so einer lebens- und freudenverneinenden Einstellung gerät, nach der selbst der Sex zum repressiven und für sie unerträglichen Akt wird, den Männer auferlegen und abnötigen, dann ist doch damit letztlich alles gesagt, dann kann man doch als halbwegs begabter Mensch nur stutzig den Kopf schütteln, sich umdrehen und diese Damen einen guten Mann sein lassen - und nebenher sichert dieses sexualitätskriminalisierende Verhalten auch den Fortbestand des Psychologenstandes...

Achja, Fortbestand und Fortpflanzung! Ihr zweiter Quatsch, auf den ich zurückkommen wollte, Frau Schrödergeboreneköhler! Weshalb kommen Sie diesem pathologischen Amazonengeschwätz denn mit diesem Unsinn? Ist denn Sexualität nur zur Fortpflanzung gedacht? Wenn Sie das bejahen... ach du meine Güte! Was soll man denn davon halten, wenn eine konservative Züchtige den ideologischen Züchtigen eine Gardinenpredigt geigt? Wenn da eine vermutlich urchristlich motivierte Puritanerin den sexistischen Asketinnen die Sexualität erklärt? Sie sind ja noch jung, was hoffen läßt; noch können sie erlernen, dass Sex nicht nur der Kindszeugung dienen soll. Sie sind ja noch jung, während diejenigen, die sie kritisieren, so verstaubt sind, dass es sich kaum noch lohnt, die Spinnweben zu entfernen. Daher lohnt es sich vielleicht noch, Sie darauf hinzuweisen: man fickt nicht um der Fortpflanzung willen - jedenfalls tut man das im Leben nur selten und dann auch nicht bewusst. Wäre dem so, die Evolution hätte dafür Sorge getragen, dass nach dem Klimakterium die Frau in einen körperlosen Zustand überführt würde - hat sie aber nicht, aus gutem Grunde. Hätten Sie nur für den Sex um des Sex willen geworben - aber doch nicht für den Fortbestand der Menschheit! Wer denkt denn an die Menschheit, wenn es ihn überkommt! Hätten Sie doch von Sex als Sinnesgenuss gesprochen - oder davon, dass er Arzt und Naturheiler ist, der Männlein wie Weiblich psychisch wohl tut, der gesunden läßt - aber das paßt vermutlich auch nicht in Ihr Weltbild; so fern sind die Schwarzers also Ihrem Weltbild womöglich gar nicht; Sie sind vermutlich gleichfalls freudenverneinend gesittet.

Nochmals zurück bitte! Bei diesem Gewirr aus christlichfrommer Bigotterie und feminismusbigotter Christelei muß man sich ja verhaspeln. Zurück also! Ich schrieb vom ministerialem Munde, der schelten sollte: das ist das eigentliche Problem, das ich mit Ihnen habe, Frau Schrödergeboreneköhler - sind das eigentlich Ihre Gedanken, die Sie da breitgeklopft haben? Oder sind es diejenigen Ihres Gatten, des Herrn Schröder? Warum ich das mutmaße? Nunja, ich erinnere mich, es ist noch nicht so lange her, da haben Sie ulkig in ein Kameraobjektiv geblinzelt und versucht den Begriff Rassismus zu erklären - ein Desaster war das! Ständig haben Sie Ihren Gatten gefragt, ob das stimme, was Sie da sagen... die Zuschauer konnten Ihren Gatten nicht sehen, er war nicht im Bilde: sowohl nicht in dem der Kamera als auch bildungstechnisch. Man musste Herrn Schröder gar nicht sehen um sich einen Reim drauf zu machen, dass da jemand faselt, der wenig Ahnung von dem hatte, was Sie da formulieren sollten.

Sie haben es freilich gut gemeint, wollten etwas dramatisch Wichtiges absondern mit Ihrer Schwarzerschelte - aber so, mit der Befürchtung, dass Ihr Gemahl Ihnen mal wieder diktiert hat, unterstützen Sie die Sache der Schwarzeretten doch nur: Ausgerechnet die Frau Schrödergeboreneköhler werden sie unken! Ausgerechnet dieses niedlich glubschende Frauchen, dass nicht mal Interviews geben kann, ohne von des Gatten Lippen lesen zu müssen. Und man kann denen das nicht mal übelnehmen, Sie haben sich ja wirklich nicht besonders souverän verhalten!

Die ganze Tragik ist ja eigentlich nur, dass ausgerechnet Frauen wie Sie es sind, die gegen die männerhassenden Zelotinnen ins Feld geschickt werden - so eine richtig emanzipierte Frau, eine die emanzipiert von Mann und Lehre, von Gatten und Dogmenfibel, von Haustyrannen und Schwarzers ist, sollte mal dazu etwas ablassen. Aber die sagen ja nichts, die sind emanzipiert genug, gestrigen Gestalten, den Schwarzers und Schrödersgeboreneköhlers, und ihren vorgestrigen Weltsichten, Unterwerfungsrhetorik und Reproduktionsblabla, nicht nachzueilen; die sind emanzipiert genug, dieserlei verschwisterte Figuren nicht zu kommentieren...



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Keine Randerscheinung. Gesamtkonzept!

Montag, 8. November 2010

Eine Antwort und Fortführung auf "Die eine, die besonders unbeliebte Säule des Islam". Gastbeitrag einer promovierten Islamwissenschaftlerin, die ungenannt bleiben möchte.

Ihr kritischer Blick auf die kapitalistischen "westlichen" Gesellschaften hat Sie, Herr De Lapuente, nun konsequent zu der Erkenntnis geführt, dass es einen bestimmten Grund für die jahrelange Propaganda und zunehmende Hetzjagd gegen Islam und Muslime innerhalb der westlichen Gesellschaften und darüber hinaus geben muss; und tatsächlich besteht dieser Grund in dem anderen Gesellschaftsmodell, das der Islam entwirft. Im Gegensatz zu Religionen wie Christentum, Hinduismus oder Buddhismus beinhaltet der Islam mit seinem Rechtssystem eine Lebensordnung, die alle Aspekte menschlichen - diesseitigen - Handelns leitet. Eine Säkularisierung hat der Islam nie erlebt, weil er sie nicht brauchte. Es ist auch nicht so, dass die Muslime den Islam als umfassende Lebensordnung jemals freiwillig verlassen hätten - wenn wir heute leider beobachten müssen, dass in der Praxis der Gesellschaften der islamischen Welt der Bezug zum Islam kaum über das individuelle und gemeinschaftliche Gebet und Personenstandsangelegenheiten hinausgeht, so ist dies eine direkte Folge des Kolonialismus, der systematisch die islamischen Systeme durch die der kolonialen "Mutterländer" ersetzt hat.

Was die Systeme der islamischen Lebensordnung anbelangt, so sprengt es sicher den Rahmen dieser Zeilen, über sie zu referieren, deshalb möchte ich nur einige Stichpunkte in Bezug auf die ökonomische Seite nennen.

Umverteilung der Reichtümer, das Verbot von Horten, Monopolisieren, Zinsnahme und Spekulation, machen einen wesentlichen Teil des islamischen ökonomischen Systems aus. Als wesentliches Problem des ökonomischen Systems wird nicht, wie im Kapitalismus, die Produktion und immer neue Eroberung von Ressourcen sowie die Erschaffung künstlicher Bedürfnisse betrachtet, das wesentliche Problem ist das der Verteilung – wie wird Reichtum auf eine Art und Weise verteilt, die möglichst vielen Menschen einen akzeptablen Lebensstandard sichert?

Nach dem Hadith des Propheten Muhammad, "Die Menschen sind Teilhaber in drei Dingen; Weidegründe, Wasser und Feuer", lässt sich unter anderem ableiten, dass die Quelle des Feuers (Öl, Gas; ferner Elektrizität im weiteren Sinne) nicht in Privatbesitz konzentriert sein darf, sondern der Gemeinschaft zugute kommen muss. Man denke nur an die enormen Energievorkommen in der islamischen Welt und die Auswirkungen, die es hätte, würden diese der Umma, der weltweiten Gemeinschaft der Muslime, und den Nichtmuslimen in der islamischen Welt zukommen (der Hadith erwähnt "Menschen" im allgemeinen und spezifiziert nicht "Muslime") - sicherlich eine signalrote Karte für Neocons weltweit sowie für ihre Verbündeten, Helfershelfer und Speichellecker auf den Thronen und in den Regierungspalästen der islamischen Welt.

Das ökonomische System des Islam erlaubt Privatbesitz - abgesehen von Gütern und Ressourcen, die im Gemeinschaftsbesitz bleiben müssen - und unterstützt Handel und wirtschaftliche Aktivität durchaus, verbietet aber genau die Verhaltensweisen, die gerade das kapitalistische System zum Wackeln bringen, mit den bekannten Folgen für die Unterprivilegierten weltweit. Zakat (Almosensteuer) hat eine sehr wichtige gesellschaftliche Aufgabe, ist aber nicht die einzige Vermögensabgabe, die Muslime (und zu einem geringeren Teil Nichtmuslime) zu entrichten haben, es gibt ferner Ushr (den Zehnt, erhoben auf landwirtschaftliche Erzeugnisse), den Khumus (oder fünften Teil, erhoben zum Beispiel auf Bodenschätze, Ressourcen, verborgene Schätze, gefundene Güter ohne Besitzer); den Kharaj (eine Bodensteuer, die auf bestimmte Regionen erhoben wird), und andere mehr. All diese Gelder kommen der Gemeinschaft zugute, bestimmte Budgets davon einigen besonders spezifizierten Gruppen von Unterprivilegierten, so wird die Zakat etwa an Arme, Bedürftige, Verschuldete, Reisende (das heißt: Menschen, die sich nicht an ihrem Heimatort befinden) und an die Freilassung von Sklaven (in der Frühzeit des Islam ein sehr wichtiges Signal) verteilt. Die Abgabe, welche Dhimmis entrichten (Jizyah), bleibt übrigens in der Regel quantitativ unter der Zakatrate von 2,5 Prozent auf das jährliche Vermögen - wobei zu erwähnen bleibt, dass Dhimmis - wie alle anderen Staatsbürger eines islamischen Gemeinwesens - von öffentlichen Geldern profitieren, etwa im Fall der Erwerbsunfähigkeit und des Alters, und praktisch aller Einrichtungen, die der Gemeinschaft zugute kommen.

Den tatsächlichen Widerstand gegen den so genannten politischen Islam erkläre ich mir aus der Erkenntnis der Eliten weltweit, dass ihre Pfründe akut in Gefahr sind, sollte irgendwo einmal jemand auf die Idee kommen, eben jenes Wirtschaftssystem (wieder) zu etablieren.

Man konnte seit dem Zusammenbruch der "kommunistischen" Systeme fast wie in einem Lehrstück für politische Propaganda beobachten, wie "der Westen" gezielt darauf hingearbeitet hat, sein neues altes Feindbild des Islam wieder zu entdecken - immer auf der Suche nach dem ideologischen Gegner, der Krücke für das eigene Selbstbewusstsein, dem Identitätstifter, der Reibefläche, an der man sich abarbeiten kann in den variabelsten "Mißständen" über die leidende entrechtete muslimsche Frau bis hin zum geschundenen Tier (man denke nur an die Millionen armer Schafe, die jährlich zum Opferfest ihr Leben lassen…). Zum Teil ist dieser Diskurs so skurril und so in Entbehrung jeden Bezugs zur Realität des Islam (wie er sich aus seinen Schriften verstehen lässt) und der Muslime weltweit, dass man sich als muslimischer Beobachter fragt, ob diesen Schwachsinn wirklich einer glaubt? Das Problem der "Zwangsehe" etwa wird in Deutschland mittlerweile als ein islamisches Spezifikum verstanden, in völliger Ignoranz jeglicher Kenntnis über die Bedingungen einer Eheschließung nach islamischem Recht und der Tatsache, dass sie wie jeder Vertrag des ausdrücklichen Einvernehmens und der Zustimmung beider Parteien bedarf, um Gültigkeit zu erlangen; in absichtlichem medialen Übersehen diesbezüglicher Stellungnahmen aller organisierten und nichtorganisierten Muslime in Deutschland und einer gewollten Vermischung und Identifizierung des eben gerade im islamische Sinne völligen Fehlverhaltens einer Minderheit von Menschen, die möglicherweise ihre ethnischen Wurzeln in der islamischen Welt verortet sehen, mit dem Islam.

Leider, sie glauben es, die Massen, was man ihnen täglich vorsetzt, sie schlucken die Feindpropaganda ohne aufzustossen. Ein Lichtblick zumindest, dass es immer noch einige wenige gibt, die sich weigern, mit dem Strom zu schwimmen, ihren eigenen Verstand einsetzen und nachforschen, mit Muslimen im Gespräch bleiben und erkennen, welche Mechanismen hier funktionieren und zu welchem Zweck.

Was die erwähnten Mißstände in der islamischen Welt angeht, möchte ich, ohne apologistisch zu werden, daran erinnern, dass die islamische Welt, nachdem sie in den Nachwehen des Kolonialismus gefangen war, nun zum Objekt einer neokolonialistischen Neuauflage geworden ist, ohne in der Zwischenzeit jemals wirklich durchatmen und reflektieren gekonnt zu haben. Nach der Zerstörung des Osmanischen Kalifates 1924 und dem Ausschalten des jahrhundertelangen Erzrivalen, wurde die islamische Welt aufgeteilt in Nationalstaaten mit diverser nationalistischer, republikanischer, wahhabitischer, pseudo-sozialistischer und vielen anderen Prägungen, deren Ziel es vor allem war, die Einheit und den Zusammenhalt der Muslime zu zerstören und sie schrittweise mehr und mehr von den Grundlagen des Islam und seiner Lebensordnung zu entfernen. Es ist heute wesentlich einfacher, von Frankreich aus nach Marokko zu reisen (besonders mit einem europäischen Pass), als vom Nachbarland Algerien aus als Algerier. Eine Eheschließung zwischen, sagen wir, einem türkischen Kurden und einer Irakerin ist fast undenkbar geworden ob der behördlichen Hindernisse und den Folgen für Kinder aus einer solchen Ehe, die womöglich als permanent Staatenlose durch die Geschichte gehen. Es gibt mannigfaltige Widersprüche in der islamischen Welt heute, im politischen, ökonomischen, sozialen Bereich, die eben nicht ein Ergebnis der Anwendung des Islam, sondern ein Ergebnis der Abwesenheit des Islam im täglichen Leben und in den Systemen sind.

Jules Monnerot hat einmal den Kommunismus als “Islam des 20. Jahrhunderts” bezeichnet. Der Vergleich kommt, wenn er auch vielleicht anders gemeint war, nicht von ungefähr. Der Islam ist der ideologische Rivale des Kapitalismus - wie es der Kommunismus für weniger als ein Jahrhundert war. Aus diesem Grunde setzen die Eliten der kapitalistischen Länder ihre gesamte Maschinerie auf die Diffamierung des Islam, wie sie zuvor alles an die Diffamierung des Kommunismus setzten, und noch weitaus heftiger. Man bedarf dazu nur einiger Zutaten, und schon hat man sich den inneren Feind herbeigezaubert, der in Vertretung des äußeren Feindes als Projektionsfläche für das Übel der Menschheit herhalten muß und in der Tat die ideale Rechtfertigung für Verteidigungsetat, militärische Auslandseinsätze und allerlei Beschneidungen der bürgerlichen Rechte darstellt.

Wer meint, Sarrazin und Konsorten seien eine Randerscheinung, soll wissen, dass sie Teil eines Gesamtkonzeptes sind. Ostentativ bekennende Musliminnen aus den Schulen und der Verwaltung zu vergrätzen (sie könnten eine Vorbildfunktion haben; Vorsicht Signalwirkung!), Hatz auf Konvertiten zu machen (fünfte Kolonne!), Einflussnahme besonders auf muslimische Kinder - die man ja schließlich noch braucht, rein demographisch gesehen (Zwangsteilnahme an Klassenfahrten, Feiern, Schwimm- und Sexualkundeunterricht, zum Teil sogar behördlichen Kindesentzug), neuerdings fast inquisitorische Befragungen und diskriminierende Kleider, nein, Entkleidungskontrolle (!) für muslimische Frauen (Ziehen sie bitte ihren Mantel aus! Wo kommen sie jetzt her?) bei Grenzübertritt; Erfahrungen, die mich plötzlich sehr an meine Familienbesuche in der damaligen DDR und die diversen Grenzerfahrungen erinnern; all dies sind Indikatoren des neuen ideologischen Grenzverlaufs. Wann werden wohl die ersten Mauerschützen wieder eingeführt, könnte man sich fragen, um sich dann gleich daran zu erinnern, dass ebendiese schon auf Irak und Afghanistan losgelassen wurden – zur Verteidigung der Spree-Demokratie am Hindukusch und überall sonst auf der Welt, wo diese am deutschen Wesen genesen soll - mal wieder!



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Sklaven der Landstraße

Samstag, 6. November 2010

Unendlich scheint es her, da nahm man sie als Helden, als Giganten der Landstraße wahr. Damals glichen die Velozipedisten, so ihr etwas altertümlich klingender Name, den heutigen Radsportlern wenig. Nicht nur optisch: denn sie waren tatsächlich Heroen, die Ersatzteile mit sich, nicht im Begleitfahrzeugen - die es gar nicht gab - mitführten, Fahrradschläuche wie eine Schärpe um sich gewickelt hatten, anfallende Reparaturen während des Rennens selbst leisten mussten - die überdies lange noch ganz ohne Gangschaltung auskommen, sich dessenungeachtet trotzdem ungepflasterte, nicht asphaltierte Berghänge hinaufquälen mussten. "... unnötige Helden, Helden dennoch", schrieb der französische Sportreporter André Reuze 1928 über diese heroische Epoche des Radsports. "... héros inutiles, héros quand-même"...

Giganten der Landstraße nannte er sein fast schon epochales Meisterwerk. Trotz allem, Giganten sind die heutigen Radsportler nicht weniger - am Ende einer zwei- oder dreiwöchigen Rundfahrt den Zielort zu passieren, gleichgültig ob auf dem Treppchen oder als Wasserträger, der in den Spezialkategorien unter "ferner fuhren" zu finden ist: eine gigantische körperliche Leistung, ein gigantischer Wille ist heute immer noch notwendig, um die Schmerzen, den Gegenwind und natürlich die Einsamkeit des Radrennfahrers zu ertragen. Die Velozipedisten der Neuzeit sind nicht jene der heroischen Epoche - sie haben sich verändert, sie schweißen nicht, wie es die mittlerweile schon berüchtigte Legende des vieux galois Eugène Christophe erzählt, jeden Gabelbruch selbst zusammen. Das sicher nicht! Aber das saisonale Pensum und der somit einhergehende Raubbau am eigenen Körper sind dennoch fast schon heldenhaft.

Giganten wären auch die heutigen Fahrer - andere als damals sicherlich, nicht aber verweichlichter. Der verklärte Blick zurück ist auch im Sport oft milchig. Früher war nicht alles besser: es war alles anders! So wie heute alles anders ist, wie es morgen sein wird - heute ist die gute alte Zeit von morgen, hätte Karl Valentin in getragener Ernsthaftigkeit kalauert. Sie wären Giganten - sind es aber nicht, dürfen es nicht sein. Die Giganten der Landstraße sind zu Sklaven der Landstraße geworden. Sklaven, die man ohnedies seit Jahren wie Kriminelle behandelte: dem Antidopingwahn sei dank! Es ist ja ehrenhaft, sich zum Anwalt sauberen Sports zu machen. Aber Radsportler nackt aus ihren Zimmern zu treiben, wie es schon mehrfach geschah; sie unter Generalverdacht zu stellen, wie es Sportverbände und Medien ständig tun: das führt zu weit. Selbst das in dubio pro reo ist außer Kraft gesetzt - im Zweifel ist man nicht freigesprochen, man ist Dopingsünder; einer, dem man ächtet, weil er nicht mal die Courage besitzt, sein schlimmes Verbrechen zu gestehen. Im Jahr 1998, damals als Marco Pantani einen Hungerast Ullrichs gnadenlos ausnutzte, sich in die Palmarés der grande boucle, der Tour de France fuhr, machte sich das halbe Fahrerfeld auf den Heimweg, nachdem die Dopingfahnder mit den Fahrern wie mit Kriminellen umgesprungen waren. Entweihte Giganten, Sklaven der öffentlichen Moral, die nun auch um ihren wichtigen Erholungsschlaf gebracht werden können, wenn es die Dopingkontrolleure so wünschen.

Betrüger, alles Betrüger!, wissen auch die Zuschauer. Alle dopen schließlich. Das kann ja durchaus stimmen, es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich schier alle Fahrer leistungsfördernde Mittelchen eintrichtern. Dann tritt die Öffentlichkeit moralisch auf, schimpft auf den Radsport generell und seine haltlosen Sitten im Einzelnen, auf diesen unmöglich betrügerischen Schwindelsport als Auswuchs sportlicher Maßlosigkeit. Gleichzeitig aber giert dieselbe Öffentlichkeit nach Sensationen, nach Rekorden, nach Siegen und magischen Sportmomenten. Man will Höchstleistungen sehen, der zweite Platz ist der erste Platz im Feld der Verlierer. Jan Ullrich weiß das, er ist nach Raymond Poulidor der Rekordhalter für den zweiten Platz bei der Tour de France - "unser Jan" war er im Erfolg, Ullrich rief man ihn nur, wenn man von seiner Leistung enttäuscht war; enttäuscht war, obwohl er jahrelang erfolgreich in der Weltspitze mitfuhr, ohne nochmals nach 1997 die grande boucle zu gewinnen.

Seinen zweiten Platz 1996 bejubelte man noch wie einen Sieg; damals war Ullrich eine Sensation, ein Hoffnungsträger, der die Zukunft des deutschen Radsports dominieren sollte; ferner war er der Bezwinger des großen Miguel Indurain, fuhr ihn beim Einzelzeitfahren in Grund und Boden - außerdem hatte sich seit Kurt Stöpel 1932 kein Deutscher mehr den zweiten Platz der Gesamtwertung gesichert. Und dann geschah das, was kühnste Experten bereits erahnt, nicht aber so früh erwartet hatten: Ullrich gewann im Jahr darauf die Tour de France. 1997 war das! Alle zweiten Plätze danach, 1998, 2000, 2001 und 2003 waren eine herbe Enttäuschung für die deutsche Öffentlichkeit. Vom dritten Platz 2005 oder vom vierten Platz 2004, auch umwerfende Leistungen bei einem solchen Rennen, ganz zu schweigen - die waren für die deutschen Medien nicht nur Ausdruck für Ullrichs fehlende Form, sondern für seinen angeblich schlechten und lotterhaften Lebenswandel.

Der Erfolgsdruck macht mürbe und treibt sicherlich nicht wenige Sportler in die Dopingküchen dieser Welt. Fragte sich die deutsche Presse nur einmal, weshalb Ullrich gedopt haben könnte? Dass er gesündigt hat, das steht für die Medien jedoch fest, auch wenn kein Gericht darüber befand. Könnte man bei dieser selbstgerechten Gewissheit nicht wenigstens verlangen, dass nach dem Warum gefragt wird? Nein, kann man nicht! Der Sklave der Landstraße darf pedalierend entzücken, darf ein pédaleur du charme sein - er soll begeistern, er soll Freude bereiten, er soll Erfolge einfahren. Und er soll sich gefälligst nachts nackt aus dem Bett treiben lassen, schlaftrunken in Becherchen schiffen und Fragen beantworten: der saubere Sport hat es verdient, da muß der Mensch, dessen einziges Verbrechen darin bestünde, sich selbst körperlich zu ruinieren, zurückstehen. Für einen sauberen Sport darf der Sportler unsauber behandelt werden - so jedenfalls die allgemeine Sichtweise. Der Zweck heiligt die Mittel!

Armselige Giganten sind das, die da wie Vieh aus den Betten gescheucht werden. Dass mit Mitteln gepuscht wird, ist nichts Neumodisches. Schon der fünfmalige Toursieger Anquetil spöttelte in den Fünfzigerjahren, dass man mit Wasser keinen Klassiker wie Bordeaux - Paris, immerhin über 600 Kilometer, die an einem Tag zu fahren sind, nicht runterreißen könne - geschweige denn gewinnen. Tom Simpson fiel dann 1967, beim Aufstieg auf den Mont Ventoux, tot vom Rad - er war voller Aufputschmittel, die er mit Alkohol hinabgespült hat. Doping ist also fürwahr keine Neuheit; aber mit dieser selbstgerechten Penetranz wurde es noch nie verfolgt.

Radsportler neigen, so wirkt es jedenfalls oft, zur Melancholie; sie sind keine Platzhirschen und drängen sich auch nach Karriereende wenig in die Öffentlichkeit - einen Matthäus oder Klinsmann, einen Becker oder Stich, Schumachers oder Maskes findet man im nachkarrieristischen peloton kaum. Der Radsport ist ein einsamer Sport, wenngleich er als Mannschaftssport betrieben wird - die Einsamkeit auf dem Sattel, der den Hintern schmerzen läßt, zusammengedrückte Hoden, die gesamte verkrampfte Körperhaltung überhaupt: fürwahr héros inutiles! Die Depression ist ein alter Bekannter des Radsportlers, wenngleich man, wie im Falle Marco Pantanis, der tot in einem Hotelzimmer gefunden wurde, oder José María Jiménez', der in einer Psychatrie starb, man stets betonte, dass deren schwere psychosomatischen Probleme auf den exzessiven Dopingmissbrauch zurückzuführen sind, so muß doch gefragt werden, weshalb Radsportler stets aufs Neue den Freitod suchen: Hugo Koblet, Toursieger von 1951 beendete sein Leben ebenso von eigener Hand, wie sein Nachfolger von 1973, Luis Ocaña; Ende der Neunzigerjahre machte Thierry Claveyrolat seinem Leben ein Ende, zuletzt dann Dimitri De Fauw - die jeweiligen Gründe sind mannigfaltig, aber zu erkennen ist schon, dass der Radsport sensible Charaktere birgt, dass dieser Sport an sich melancholisch stimmen kann. Wenn man da so mutterseelenallein pedaliert, in Tälern, auf Bergen, wenn man sich als Einzelkämpfer durch gigantische und pittoreske Landschaften strampelt, dann hat das etwas Erhabenes, etwas Unvergleichliches - aber man wird auch auf seine Nichtigkeit zurückgeworfen, der Kampf gegen die Strecke ist manchmal ein wirklich existenzielles Ringen. Wie verschärft dieses romantisch-rauhe Klima des Velosport wird, lassen Rasmussens Selbstmordgedanken vermuten - nachdem er des Dopings überführt wurde, damit faktisch zum Verbrecher und zum Freiwild der Postillen herabsank, hätte auch er sich fast eingereiht in die Riege der velozipedistischen Suizidanten.

Ullrich nicht in Form, Fragezeichen (großes, verlogenes, heuchlerisches Fragezeichen!), musste man zu dessen Karrierezeiten häufig lesen. Nicht in Form, weil er Zweiter war; Zweiter in Alpe d'Huez, Zweiter beim Einzelzeitfahren, Zweiter in der Gesamtwertung - nicht in Form, weil er nur Zweitbester beim schwersten Etappenrennen der Welt war; nur Zweiter von hundertneunzig Fahrern der Weltspitze! Jan, hol dir das gelbe Trikot, Ausrufezeichen (arrogantes und anmaßendes Ausrufezeichen!), las man vor dem Start - da war er noch der Jan, der liebe Bub aus dem Volk, der bodenständige "uns aller Jan", dem man gerne auf Soireen die Hand schüttelte. Als man dann aber im jährlichen Turnus erkannte, dass es für einen zweiten Toursieg nach 1997 nicht reichte, wurde aus dem Jan der Ullrich - am liebsten hätte man ihn gesiezt, diesen Vizepedaleur, der nicht in Form war, nur weil ein anderer - meistens war es Lance Armstrong, Superstar und potenzieller Dopingpapst - in besserer Form fuhr. Einer nur, der besser war; hundertachtundachtzig dahinter, dazwischen der Jan, der nun der Ullrich wurde - und dem man nachsagte, er sei nicht in Form, zu dick, zu schlecht trainiert, nicht hart genug, nicht ausreichend erfolgshungrig, dem man am liebsten, wie einst Udo Bölts beim Aufstieg nach Le Deux Alpes, ein "quäl' dich, du Sau" ins Angesicht rufen wollte. Quäl' dich, du Sau - quäl' dich, gewinne für uns, mach uns glücklich!

Dieses repressive Szenario könnte man fairerweise auch beachten, wenn man heute von Ullrich wie von einem Verbrecher berichtet, von einem ganz verschlagenen, unehrlichen Betrüger, der seine kriminelle Handlung nicht freiweg gesteht, der nicht reuig weint, wie sein ehemaliger Kollege Zabel, als er von seinen Sünden berichtete. Diesem Druck, dem der ohnehin einsame und melancholische Typus Sportler ausgesetzt wird, die unbeschreibliche Sensationsgier der Massen, die an den Landstraßen ebenso gieren wie im heimischen Wohnzimmer, dazu natürlich Sponsoren- und Rennstallerwartungen... ist da der Griff zur Transfusion von behandelten Fremd- oder Eigenblut nicht fast schon konsequent, nicht eigentlich schon Makulatur? Man muß es ja nicht tolerieren - aber begreifen könnte man es schon wollen...

... esclaves inutiles, esclaves quand-même; unnötige Sklaven, Sklaven dennoch - sklavisch haben sie nächtens aus ihren Betten zu staksen, den an die Türe klopfenden Dopingjägern ins Döschen zu urinieren, den Schmerz, die Belastung, den dringend benötigten Schlaf zu unterbrechen, um ihre Unschuld zu beteuern. Am nächsten Vormittag haben sie frisch auf der Rennmaschine zu sitzen, Leistung zu bringen, Berge zu erklimmen und das in sagenhaften Zeitspannen. Und hat die Presse Fotos von der nächtlichen Razzia geschossen, auf denen der nackte Sportler zu begutachten war, sein Gesicht so deutlich abgelichtet wie sein Schniedel, dann soll er diese Indiskretion vergessen und sich auf seine Pflicht konzentrieren: den Sklaventreibern am Rande der Landstraße unvergessliche Augenblicke liefern. Augenblicke, die einem Radsportfreund nicht mehr aus dem Sinn gehen, bis die Hiobsbotschaft erschallt: Dopingverdacht! Dann ist der eben noch unvergessliche Augenblick doch vergessen; dann will sich daran keiner mehr erinnern, weil es ein gedopter Augenblick war, ein infamer Betrug am Sklaventreiber - als ob jeder Schrat, der sich mit Sauerstoff angereichertes Eigenblut einflößen läßt, den Tourmalet oder den Galibier hinaufstürmt wie ein irrer Merckx!

Natürlich, nicht nur der Radsportler wird von uferlosen Erwartungshaltungen erdrückt - aber wenig Sportarten scheinen derart auf das Gemüt zu schlagen. Oder ist es das Gemüt, das einen aktiven und agilen Menschen zum Radsportler werden läßt? Zudem wird in keinem Sport so unverfroren nach Doping gefahndet. Der Radsportler, selbst derjenige, der sich mit unlauteren Methoden, die ihm mehr gesundheitlichen Schaden als sportlichen Nutzen bringen, hervorgetan hat, er ist kein Verbrecher: er ist ein ganz armes Schwein...



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