Not my president - aber wer war das schon je?

Mittwoch, 29. Februar 2012

Endlich erhalten wir den Bundespräsidenten, den wir immer wollten. Den wir uns wünschten, den die Würde des Amtes sich verdient hat. Plötzlich tat dieses Land ja so, als es die wulffischen Affären wahrnahm, als liege da irgendeine Würde irgendeines Amtes darnieder - als kümmerten Amtswürden ansonsten so sehr, als dass sie zur metaphysischen Frage eines ganzen Volkes taugten. Es sieht so aus, als sei die Wahl des Bundespräsidenten, eigentlich nicht mehr als ein Vorgang, der sich qua Verfassung ergibt, das politische Event des Jahres, eine unbeschreibliche Sensation. Gauck, der Popstar - Gauck, die Ikone der bürgerlichen Sattheit - Gauck, der freiheitliche Fetisch, der vom sozialstaatlichen Tand entkleidet ist. Weil er durch den freundlichen Beistand des Springer-Konzerns in Bellevue "hineinputschte", scheinen jetzt alle Sorgen, die dieses Land je hatte, plötzlich gebannt. Gauck, der Gesalbte, von den etablierten Parteien mit allen Salben Eingeriebene, Eingefettete, Geschmierte.

Ich las an jenem Freitag, da Wulff zurücktreten sollte, dass eine Presseerklärung angesetzt sei - mir war klar, Wulff würde seinen Rücktritt erklären. Doch zum Zeitpunkt der Presseerklärung war ich bereits am Bahnhof, musste quer durch die Republik reisen. Auf meiner Fahrt, in den verschiedenen Bahnhöfen, auf den Bahnsteigen: nirgends kümmerte sich jemand um die vakante Bundespräsidentschaft. Man hörte nichts, man lauschte keinem Gespräch, welches dies als Gegenstand hatte - niemanden juckte es, die Reisestrapazen lenken von solchen Elitescharmützeln ab. Das war Sinnbild für den eigentlichen Gehalt, den etwaige Ranküne um Staatsämter, für das Volk wirklich besitzen. Man nimmt Bundespräsidenten als enthobene Boulevardseiten-Füller wahr, nicht als prägende Gestalten des öffentlichen Lebens. Tritt einer zurück, so tritt eben ein neues Exemplar nach - der Boulevard verhungert sicher nicht. Das Geschrei der Medien, das nun den "besten aller möglichen Präsidenten" postuliert, es hat mit der Lebensrealität der Menschen jedenfalls überhaupt nichts gemein...

"Not my president"-Bildchen findet man nun auf Blogs, in Foren, überall dort, wo die Netzgemeinde, dieses abstruse Gebilde, das nur in Köpfen von internetfernen Journalisten lebt, gegen Gauck poltert - sie tut das natürlich unreflektiert und polemisch, wissen die Medien jetzt, da sie Gauck schrubben und wienern und blitzeblank feudeln. Ein verdammter Heiliger soll nach Bellevue - darunter macht es das Bundespräsidenten-Konklave nicht mehr. Ich halte das Gerede und Button-Zurschaugestelle von "Not my president" für irreführend. Denn ehrlich gesagt, ich hatte noch nie einen Präsidenten. Ich wurde nie gefragt, durfte nie meinen Arm in einer Bundesversammlung heben. Der Bundespräsident ist immer nur der Präsident einiger hundert Leute gewesen. Wulff war nicht mein Präsident - Köhler dreimal nicht - und Gauck wird es noch weniger sein. "Not my president" muß man nicht explizit bei Gauck verkünden; das Amt des Bundespräsidenten ruht auf dieser Prämisse, dass er ganz sicher nicht mein Präsident sein wird - die Buttons, die diesen Wahlspruch künden, sie sind die Konstante jeder Bundespräsidentschaft. Es gab Exemplare mit denen man leben konnte. Wulff hat mich da überrascht. Wer jedoch unter mir Bundespräsident war, durfte ich nie bestimmen.

Es ist daher auch besonders ärgerlich, wenn selbst eine Wahl, bei der das Souverän keinerlei Einfluss hat, nicht mal mit Alternativen gestaltet wird, weil sich alle Parteien auf einen Kandidaten fixieren und ihn damit indirekt zum Pop-Star erheben. Einigkeit und Recht und Freiheitsmetaphorik - so reden sie nun alle, die ihre Krawatten in Parteifarben tragen. Mit dem Burgfrieden in die Bundesversammlung - das ZK des kapitalistischen Deutschlands tagt und ist sich einig. Fast einstimmiger Beschluss? Und die Presse, sie wirft dem knalligen und poppigen Star ihr Höschen auf die Bühne, schreit irr, deliriert schier, hechelt nach Luft. Wo bleibt eigentlich der Bravo-Starschnitt in Spiegel und Stern? Manche Feuilletonistin soll schon geschrieben haben Gauck, ich will ein Kind von dir! Nicht so stumpf natürlich, sondern wortreich, blumig, in erotomanischer, doch eloquenter Hitzewallung.

Gauck ist mehr als nur ein Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Ich meine damit nicht, dass er quasi nie Kandidat hierzu sein wird, weil er de facto schon Bundespräsident ist. Ich meine, dass die Berichterstattung aus diesem Menschen ein kollektives Gefühl zu machen trachtet, ein bürgerliches Gruppenkuscheln. Gauck ist ja nicht irgendeiner - er ist der Bundespräsident. War er schon vorher, da noch mit dem Zusatz "der Herzen" ausgestattet. Wie einst die Gemahlin des britischen Thronfolgers eine Prinzessin war, die auf Herzen baute - Gauck ist die Diana des politischen Bürgertums. Wie konnten wir nur ohne Gauck als obersten Herrn dieses Landes leben? Die Medien lassen den Eindruck entstehen, dass diese Republik nun am Ziel angelangt sei, weil sie einen moralisch untadeligen Theologen, einen Savonarola von der Ostseeküste an ihrer Spitze voranträgt. Einen Präsidenten, auf den man gewartet hat - und auf dessen Werdegang man sich schon mal Buchtitel patentieren ließ? Die Biographie mit Happy End lag schon bereit - Springer hat nur etwas länger gebraucht...

Doch letztlich ist es nur die feierliche Inthronisierung eines Grüßonkels. Dass der Verträge und Gesetzestexte unterschreiben darf und muß, das erschreckt durchaus. Aber tun wir mal nicht so, als hätte Wulff, alles was auf seinem Schreibtisch gekommen wäre, nicht unterschrieben. Der, der vormals nicht meiner, nicht unser Präsident war, hätte das auch unterschrieben, was der, der jetzt nicht meiner, nicht unser Präsident ist, jetzt unterschreiben wird. Denn eines bleibt sicher: Keiner, der Bundespräsident wird, war je meiner, war je unser Präsident.



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Nomen non est omen

Dienstag, 28. Februar 2012

Heute: Migrationshintergrund

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack.
"Zwar stammen Kinder, die erfolgreich das Gymnasium besuchen, bis heute eher aus sozial besser gestellten Schichten, Kinder mit Migrationshintergrund sind deutlich in der Minderheit."
- Zeit Online, 18. Juni 2009 -
Anfang des Jahres 2012 verschickten die Jobcenter in Berlin einen Fragebogen zum Migrationshintergrund. Dieser soll rein statistische Zwecke haben. (Ich könnte mir vorstellen, dass damit herausgefunden werden soll, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund ALG 2 erhalten.) Auch vermeintlich Deutsche haben ihn zugesendet bekommen. Freilich nur Empfänger von ALG 2. In diesem ist ein Anhang mit der Bezeichnung Migrationshintergrund-Erhebungverordnung (MighEV) enthalten. Die MighEV kennzeichnet Menschen mit einem Migrationshintergrund, wenn:
  1. die Person nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt
  2. der Geburtsort der Person außerhalb der heutigen Grenzen der BRD ist und eine Zuwanderung nach 1949 in das heutige Gebiet der BRD stattfand
  3. der Geburtsort mindestens ein Elternteils außerhalb der heutigen Grenzen der BRD ist und eine Zuwanderung nach 1949 in das heutige Gebiet der BRD stattfand
Um laut MighEV als Mensch mit Migrationshintergrund zu gelten, genügt es, wenn die eigene Oma nicht in Deutschland geboren wurde. Auch wenn die gesamte Familie die deutsche Staatsangehörigkeit hat und das Kind "zufällig" (z.B. im Urlaub) im Ausland geboren wurde, ist nun ein Migrationshintergrund vorhanden. Als Mensch mit Migrationshintergrund ist man also schneller und länger ein "Ausländer", als wenn man nur "Nicht-Deutscher" wäre.

Die Formulierung "Menschen mit Migrationshintergrund" indessen, ist ein Beispiel dafür, wie aus einem eher negativ besetzten Begriff wie "Ausländer", eine politisch korrekte Formulierung ("Migrationshintergrund") werden sollte, ohne die Situation für ausländische Mitbürger tatsächlich zu verändern, wie die MighEv verdeutlicht. Diesen Umstand bezeichnet man als die sog. "Euphemismus-Tretmühle". Durchgesetzt hat sich das Schlagwort vor allem im Beamten- und Bürokratendeutsch.

Die erste Assoziation, die sich mir auftat, war die NS-Regelung von einem halben, einem Viertel– oder einem Achtel-Ausländer, je nachdem ob man selbst, beide Eltern oder eben nur ein Elternteil in Deutschland geboren wurde oder nicht. Die Wortkonstruktion zeigt auch, dass sich deutsche Behörden schwer damit tun, ausländische Mitbürger als integriert und damit als "deutsch" anzuerkennen, wenn akribisch nach einem vermeintlichen "Migrationshintergrund" gesucht wird, der die entsprechende Person dann als nicht-deutsch kennzeichnen soll.

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Schutz dem geschriebenen Wort

Montag, 27. Februar 2012

Meine Texte gehören mir! Da bin ich Egoist - oder nenne man das dann wie man will. Kleinlich, erpicht, gierig - das ist mir egal. Eigentumsverhältnisse hinterfragen und dann selbst am Eigentum festhalten, wird da mancher sich räuspern. Solche Pharisäer hat man ja gerne. Aber so ist es nun mal, ich schreibe das hier oder anderes anderswo nicht, damit es jeder Hanswurst auch als sein Eigentum betrachten kann, weil er zu meinen glaubt, die Früchte geistiger Arbeit seien lediglich als kollektive Leistung zu sehen - sind sie auch, daher ja lediglich; aber sie sind es nicht nur. In erster Instanz sind sie Eigentum und gehören jemanden - meine Texte gehören eben mir.

Schreiben: eine Kunst, die für lau zu haben sein soll

Es wird sich gemeinhin meist daran gehalten. Man beachtet die Gepflogenheiten des Zitierens, wird als Autor genannt, manchmal verweisen auch Links auf die Quelle und man wird somit als Besitzer des geistigen Produkts kenntlich gemacht. Im Kielwasser der Anti-ACTA-Bewegung finden sich aber auch solche, die geistiges Eigentum grundsätzlich für etwas halten, was im eigentlichen Sinne niemanden gehören sollte. Sie stellen die Eigentumsfrage für Sätze und Absätze, für Texte und Essays. Und wenn solche im Internet landen, dann sollte das Recht des Autors zurücktreten - ganz im Sinne der großen Sache der grenzenlosen Informationsfreiheit. Böll sprach in diesem Zusammenhang mal von Ewigkeitswerten. Dabei hat die Freiheit der Informationen nur sehr marginal mit der Frage nach geistigem Eigentum zu tun.

Informationen sind natürlich in gewissem Sinne auch immaterielle Güter - um die geht es mir aber nicht, die müssen und sollen frei zugänglich sein. Aber was hier, bei diesen Immaterial-Kommunisten, fehlt, ist der Respekt vor den Produkten der schreibenden Gilde. Ich wurde tatsächlich schon von Vorwürfen bedeckt, weil meine Bücher Geld kosten - geistiges Eigentum an Texten gilt für diese Leute überhaupt nichts. Auch bei Musik, die sie unentgeltlich downloaden, ticken sie ähnlich - dabei will ich mich mit den Machenschaften der Musikindustrie nicht gemein machen, denn sie ist immer noch, trotz Gejammer über entgangene Milliarden, ein prosperierender Zweig - das Schreiben aber, das zum Lesen Fabrizierte, es ist eine malade Nische und daher viel schützenswerter.

Und so bezeichnen sich manche als liberale Linke, sind aber materiell eingestellt wie jene, gegen die sie aufstehen - für sie zählt das geschriebene Wort, ein immaterielles Gut, überhaupt nichts. Ihre Hose ließen sie sich nicht stehlen, Texte aber, von deren Verkauf sich Autoren Hosen kaufen sollen, raubten sie schamlos. Schnäppchenmentalität, alles geschenkt haben wollen, das betrifft auch sie. Nicht materiell, da nennen sie es bedenklich Aldisierung - auf immateriellem Felde aber, da sind sie wie die, die sie nicht schätzen.

Wer schreibt, tut nichts

Das sind auch jene Leuchten, die dem schreibenden Zeitgenossen nahelegen wollen, dass die Zeiten des Schreibens nun endgültig passé sind - jetzt heißt es auf die Straße gehen, Plakate hochhalten, Aufrufe formulieren; Setz' deine Kunst, sofern es überhaupt eine ist, für den Kampf ein! Das Talent soll verzweckt werden - es hat keine Gültigkeit als Flankenschutz, als mahnendes Korrektiv oder als Impulsgeber. Der Autor ist für diesen Personenkreis ein intellektueller Nichtsnutz. Und er will sogar noch hin und wieder von seinen Texten leben können. Das empfinden sie als die Krone der Frechheit.

So stehen sie auf Straßen und glauben, sie seien Helden der Tat, Aktionisten, die die Welt veränderten - sie stehen da und wollen nichts davon wissen, dass es geschriebene Worte waren, die sie dorthin schickten. Nicht Aufrufe, die Ort und Zeit nennen, meine ich damit - Werke der Aufklärer, Texte von Frühsozialisten und Anarchisten, Zeilen von Liberalen - als die noch liberal waren -, deren Wirkungsgeschichte es ihnen erlaubt, hin und wieder als mündige Bürger aufzutreten. Die Philosophen, die die Welt nur verschieden interpretiert hätten; wir erinnern uns vage an diesen berühmten Ausspruch Marxens, der allerdings nicht zwangsläufig meint, dass die Philosophie entbehrlich wäre. Er will nicht sagen, die Philosophen hätten sich nur einen Reim auf die Welt gemacht, daher schnell entphilosophieren und dafür anpacken, machen, verändern, wie Marx riet. Mir scheint, mancher versteht diesen Satz völlig falsch. Wo sagt Marx denn, dass es nicht die Philosophen sein können, die die Welt verändern? Und war es nicht er, immerhin ein Doktor der Philsophie, der sie nachhaltig veränderte?

Neoliberale Kunstfeindlichkeit ist mittlerweile allgemeines Lebensgefühl

Daran wie man mit immateriellen Gütern, mit Kunst und insbesondere mit Literatur umspringt, auch unter kritischen, ja kapitalismuskritischen Menschen, erkennt man, wie tief der Materialismus in die Gemüter gestrickt ist. Niedergeschriebenes geistiges Eigentum scheint offenbar wertlos. Dass der Neoliberalismus die Kultur niederwalzt ist nur eine Seite der Wahrheit - die andere Seite ist, dass auch die Gegner des Neoliberalismus einem Funktionalismus oder Operationalismus unterworfen sind, der für Kulturleistungen literarischer Machart, keinerlei Verwendung findet. Das Schreiben ist auch für sie ein minderwertiger, ja auch schmuddeliger Akt - nichts, was in der Realität Geltung haben könnte. Sie meinen natürlich jene Realität, die sie als solche besehen. Die notierte Realität des Schreibenden - ich weigere mich, Schriftsteller zu schreiben, weil nicht jeder der schreibt, auch schriftstellerisch tätig ist - gilt für sie nicht. Schreiben ist für sie Realitätsferne.

Was in diesem multilateralen Handelsvertrag, der wie alles heute, per Abbreviatur verschlagwortet wurde, zu lesen und schlimmer noch, zu erahnen ist, kann nicht geduldet werden. Nur ist es gleichsam unduldbar, dass es genügend Stimmen gibt, die geistiges Eigentum im Internet - und das ist zwangsläufig auch das geschriebene Wort -, für vogelfrei erklären wollen. Eine durchgeschützte, in alle Winkel per Gesetz bewahrte Welt will niemand, der bei klarem Verstand ist - aber die Arbeit des Autors, sie gilt es zu respektieren, auch wenn mancher im libertären Rausch meint, das Internet sei Menschheitsauftrag und deshalb ein Platz freier Zugriffe. Der Neoliberalismus spricht nicht darüber, wie er Literaten und Musiker, wie er Darsteller und Tänzer, allesamt an ihrer Berufung hungernd, unterstützen, subventionieren, honorieren, relativ sorglos ihr Metier ausüben lassen kann - dass es die Anti-Neoliberalen auch nicht tun, das wirft ein Schlaglicht darauf, wie tief das Gift schon vorgedrungen ist. Wie sehr er die niederen Instinkte instrumentalisiert hat und alte Vorurteile, wie jene gegen Intellektuelle (oder solche, die auch nur so aussehen), neu belebt hat.



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Zerrissene Lebensläufe

Freitag, 24. Februar 2012

Folgende Zeilen über Konstantin Weckers poetischer Biographie, erschienen bereits in gekürzter Variante am 1. Februar 2012 beim Lesebändchen. Der Inhalt seines Buches, der mehr birgt, als nur Eckdaten seines Lebens oder eine uninspirierte Litanei an Erlebnissen, passt thematisch auch zu ad sinistram. Daher sei auch hier nochmal auf die "Kunst des Scheiterns" verwiesen - und das etwas ausführlicher als beim Lesebändchen.

Sein Leben vom Standpunkt des Scheiterns aus zu erklären: das wagt nicht jeder. In einer Periode, da selbst Minderjährige, die von Konzernen zu Pop-Ikonen ausersehen werden, mit einer nur so von Erfolgen strotzenden Biographie aufwarten, wirkt der Biograph seines eigenen Scheiterns, wie ein bemitleidenswerter Verlierer. Lebensgeschichten haben ein Getümmel von großartigen Erfolgen, von unglaublichen Durchbrüchen, von einzigartigen Triumphen und feiernswerten Volltreffern zu sein. Wer wagt sein Leben als Ballung von Fehlschlägen, Irrtümern und Verunglückungen nachzumalen? Dazu bedarf es Mut - oder Naivität, was vielleicht auf dasselbe hinausläuft. Jedenfalls, es war Konstantin Wecker, der seine Lebensgeschichte als "Kunst des Scheiterns" schrieb.

Der Untertitel seines Buches könnte von Samuel Beckett stammen - "Tausend unmögliche Wege, das Glück zu finden". Die Unmöglichkeit des Glückes, die aber dennoch in Glück mündet. Das sind die logischen Paradoxien eines jeden Lebens. Verwinkelungen, wie sie in aalglatten Biographien, in Lebensläufen für Personalchefs oder Viten für Buchrücken oder Webpräsenzen nicht vorgesehen sind. Alles gehört in ein zu Blatt gebrachtes Leben - nur keine Abbiegungen, keine Sackgassen, keine weißen Flecken, keine Hic-sunt-dracones-Flecken, keine eigentümlichen Irrtümlichkeiten. Passend hierzu läutet Wecker mit Beckett ein: "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." Das sind freilich Weisheiten, die man erst erzielt, wenn man kein zu lauschiges Leben führte.

Gleichzeitig wären diese Weisheiten etwas, das man der Jugend an die Hand geben sollte. Die bekommt heute gezeigt, möglichst konform zu sein, möglichst perfekt, sich allzeit blendend zu verkaufen, Alleinstellungsmerkmale zu polieren. Stehen sie dann vor Brüchen im Lebenslauf, tun sich die üblichen Lebenskrisen auf, dann erliegen sie dem Irrglauben, nun mit einem für alle sichtbaren Makel behaftet zu sein, einer Sünde an der meisterhaft tadellosen Eigendarstellung. In einer Gesellschaft, in der man sich beharrlich selbst verkaufen soll und man daher zum eigenen Händler seiner Ware, die man auch noch selbst ist, wird, ist es mit dem Selbstbewusstsein, mit dem Hier stehe ich, ich konnte damals nicht anders! Daher die Lücke, daher die Unausgewogenheit in meinem Lebenslauf! nicht weit her. Lebensläufe können variieren - wir legen doch viel Wert darauf, eine pluralistische Gesellschaft zu sein, in der es mehr als einen Lebensentwurf geben kann. Sie können wahrlich verschieden ausfallen, aber sie müssen von Nützlichkeiten marmoriert sein.

Was hat man getan; für wen; mit welcher Absicht; hat es was gebracht? War es sinnvoll? Förderlich? Zweckdienlich? Freie Zeiten, Vakanzen, Jahre der Ungebundenheit, der Freiheit, der Flucht, da zieht man skeptisch die Augenbraue zur runzeligen Stirn. Der Personalchef, der einen Blick auf die Vita wirft, fragt sich sogleich: Was wenn er wieder rückfällig wird, der Kandidat? Wenn er erneut unnütze Zeiten für sich und zur Belastung für unsere Gesellschaft anstrebt, wenn er zu nichts mehr taugt, ein Taugenichts wird? Zwei Jahre Selbstfindung und Reiselust: Das ist verdächtig! Unnötige Schulbesuche, die die adoleszente Ziellosigkeit unterstreichen: Ein Phlegmatiker! Ganz gefährliche Leute! Ein ganzes Jahr arbeitslos: Jemand, der sich mit seiner Lage arrangiert, kein Anpacker und Macher!

Konstantin Wecker verschweigt in "Die Kunst des Scheiterns" sicher nicht seine Erfolge. Aber sie sind nicht einfach hier, wie in manchen Populär-Biographien, sind nicht einfach zugefallen oder erarbeitet, sondern durch das Scheitern begründet. Trial and error - so kann Glück und Erfolg auch erzwungen werden. Wecker war Dieb, war Vagabund, war Luftikus, Sexschauspieler und Kokser. Sogenannte Fehlgriffe in seiner Vita, die ihm nicht schaden, ganz im Gegenteil, sie zeigen ihn als Menschen, als einen durch die Geschichte irrenden Zeitgenossen. Durch seine Lebenszeit zu irren, das gilt heute als Übertretung der Konvention, man muß heute wissen, was man will, zielstrebig sein, handeln, Lebenslauflücken nicht nur ausfüllen, sondern sinnvoll ausfüllen, sie mit wertschöpfenden Tätigkeiten ausfüllen. Erfolge sicher, die hatte er - aber Lehrmeister war das Scheitern; Erfolge waren das Gesellenstück der Scheiternslehre. Einsichten, die keiner hat, der Personal einstellt.

Wecker schönt nichts. Schön ist nur seine Sprache. Er schreibt poetisch, sehr verträumt - wie man ihn kennt, den Rinnsteinpoeten, für den er sich selbst hält. Er schreibt in seinem Buch an einer Stelle, dass er manchmal resigniert und wütend wird, weil die Jugend heute seine Aufrührigkeit nicht begreift; gegen wen sollen sie revoltieren, fragen sie ihn bei Veranstaltungen hin und wieder. Er gibt in seinem Buch eine eindeutige Antwort: gegen den überkandidelt wichtigtuerischen Lebenslauf, gegen die Diktatur der perfekten Vita, die schon kleine Ausbrüche gnadenlos abstraft und als Zeichen persönlicher Schwäche ansieht.



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Sit venia verbo

Donnerstag, 23. Februar 2012

"Es ist nicht wahr, wie viele heute glauben, dass man nur den Menschen Pillen und Kondome geben müsste, um das Gespenst der Überbevölkerung zu bannen. Denn die Menschen sind längst nicht so dumm und ungeschickt, wie manche Demographen denken; sie haben schon immer und lange vor der Pille Mittel und Wege gefunden, die Zahl der Kinder ihren Wünschen anzupassen.
Deshalb bremsen wir die Bevölkerungsexplosion auch nicht mit UN-Bürokraten, die wie im Karneval Pillen und Kondome werfend durch Entwicklungsländer ziehen; die beste Bremse ist eine andere Einstellung in den Köpfen der Menschen, eine Abkehr von der vor allem in der Dritten Welt noch sehr verbreiteten Vorstellung, dass ein sicheres und menschenwürdiges Leben nur mit vielen Kindern möglich sei."
- Walter Krämer und Götz Trenkler, "Lexikon der populären Irrtümer" -

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Asozialenabgabe für das Volkswohl

Mittwoch, 22. Februar 2012

Der durch die Medien irrlichternde Vorschlag, Kinderlose finanziell mehr zu belasten, als solche Personen, die bereits Nachwuchs in die Welt geworfen haben, legt zweierlei offen: Der politische Nachwuchs der Union ist a) weltfremd und hat für die wirklichen (Familien-)Realitäten in dieser Gesellschaft keine Wahrnehmung mehr - und er ist b) bereit, Mittel anzuwenden, die eines repressiven, ja totalitären Staates würdig wären.

Asozialenabgabe und entschwundenes Familienidyll

Es ist an sich schon Gegenargument genug, dass die freie Planbarkeit von Lebensentwürfen nicht moralisch bewertet oder angetastet werden soll. Denn nichts anderes ist die Abgabe - sie ein moralischer Imperativ, degradiert die Kinderlosigkeit zu einem asozialen Verhalten. Sie ist ferner demnach eine Asozialenabgabe, als ein moralischer Fingerzeig, als ein auf dem Lohnzettel fixiertes Stigma. Asoziale, weil kinderlose Elemente sollen bloß nicht glauben, dass ihr Lebensplan moralisch vertretbar ist. Leider wird nicht über ein Prämienmodell für jene diskutiert, die sich bewusst gegen eigene Kinder entscheiden - denkt man da an machen Workaholic, an manchen dauerausgebuchten Wichtigtuer oder an charakterlich Defizitäre, dann weiß man erst, wie lobenswert die Entscheidung gegen Kinder sein kann, denn das entlastet die überforderten Jugendämter massiv.

So ein Sonderabgabenmodell mag in einer Gesellschaft ohne viel Neben-, Sonder- und Spezialregelungen auskommen, in der es ein klassisches Familienidyll noch gibt. Andernfalls verursacht es nur Bürokratie. Vater, Mutter und die eigens gezeugten Früchtchen aus ihren Lenden - wie aus dem Bilderbuch. Wie in den Fünfzigerjahren - so lehrt es uns jedenfalls die Legende, denn Idyll war Familie da auch nicht immer; was auch erklärt, warum man eine Dekade später die Familie als Urzelle des repressiven Staates vermutete. Wie sieht denn die (Familien-)Wirklichkeit heute aus? Kinder hemmen, sozial wie beruflich; beide (potenzielle) Elternteile müssen arbeiten, sonst reicht es hinten und vorne nicht - man muß es hier nicht beschreiben, wer in dieser Gesellschaft verankert ist, der weiß, dass es die klassischen Familienstereotype immer seltener gibt, immer seltener geben kann. Dabei drängt sich eine Frage ganz vehement auf. Mehr als je zuvor erziehen Partner die in die Beziehung mitgebrachten Kinder ihres Partners - Patchworkfamilie ist das deutsche Wort hierfür. Sonderabgaben auch für Frauen oder Männer, die kein eigenes Kind gezeugt haben, die aber die Kinder ihrer Frauen und Männer miterziehen? Wollen wir so eine Abgabe rein biologisch oder gemessen an den gesellschaftlichen Verhältnissen staffeln? Ersteres führte in einen staatlich organisierten Biologismus - wieder mal.

Vorstufe zum Ehegesundheitszeugnis

Ab wann soll die Abgabe ins Leben treten? Sobald man volljährig ist? Oder gibt es Schonfristen? Mit Dreißig stehen Männer und Frauen dann vermutlich vor der Entscheidung: Entweder tritt nun ein Kind oder mehrere Kinder in unser Leben oder eine Mehraufwandsentschädigung an die demographischen Prophetien. Soll also staatlich vorexerziert werden, wann die Familienplanung gefälligst abgeschlossen zu sein hat? Gibt der Fiskus vor, wie man sein Leben zu planen, an welche Fristen zu binden hat? Nochmalig so eine infantile Realitätsferne aus dem Lager der unionspolitischen Strampelanzüge.

Und es gibt ja immer auch Menschen, die keine Kinder zeugen können. Zeugungsunfähige Männer, unempfängliche Frauen - wir werden sicherlich menschlich genug sein und für sie eine Sonderregelung einführen. Per Attest entschuldigt! Und wieder mal ein Staat, der über die Zeugungskonditionen seiner Bürger mehr wissen will. Wollen wir abermals in einem Land leben, das mittels ärztlicher Begutachtung ins Schlafzimmer schnüffelt? Und wie weit ist es da noch bis zum attestierten Ausschluss aller Erbkrankheiten für zeugungswillige und hoffentlich dann auch -fähige Paare? Liegen Broschüren im Familienministerium aus, die den schönen Titel tragen: Ehegesundheitszeugnis - oder: traditionell aus der Krise? So ausgeschlossen ist das allerdings nicht, gibt es doch genug Stimmen aus der Medizin, die uns eine Welt ohne Behinderung schmackhaft machen wollen - und die, die sich dann bewusst für ein behindertes Kind entscheiden, die werden scheel angesehen. Sie hätten doch die Wahl gehabt. Muß der Sozialstaat Eltern helfen, die unvernünftig genug waren, eine Behinderung in die Welt zu setzen? Wir schweifen ab - was unvermeidbar ist, denn staatlich geprüfte Unfruchtbarkeit, um einen Aufhebungsbescheid zur Kinderlosenabgabe zu erwirken, das beflügelt die Phantasie. Gerade auch, wenn man sich ein wenig in der deutschen Geschichte auskennt.

Aber mal ein Einwurf: Warum eigentlich Menschen, die keine Kinder fabrizieren können, von der Abgabe freisprechen? Die Abgabe soll doch Kostenverursacher bestrafen, ihnen ihr asoziales Verhalten vor Augen führen. Häufig leiden Menschen, besonders Frauen, schwer darunter, sich ihren Kinderwunsch nicht erfüllen zu können. Dann ist psychologische Betreuung notwendig - und die ist teuer. Sollen Unfruchtbare doch auch Abgabe zahlen, immerhin belasten diese Defektmenschen den Gesundheitsetat nicht unbeträchtlich mit ihrer unzureichenden Physis und ihrer jämmerlichen Psyche. Verzeihung, aber das ist die sich zwangsläufig einschleichende Sprache in einem Staat, der in so intime Bereiche seiner Bürger hineinprescht.

Total blind und totalitär gefährlich

Dieser politische Nachwuchs der Union ist einerseits so vermessen, die familiären Zustände, die Regelungen des privaten Zusammenlebens innerhalb der strikt kapitalistisch organisierten Gesellschaft, nicht erkennen zu wollen. Immerhin verursachen sie dieses Gesellschaftsmodell mit ihrer politischen Agenda - sie fördern und bevorzugen es gegenüber Alternativen. Und falls sie es doch erkennen, wird man den eigenen Plan als Rückführung zum traditionellen Familienbild verbrämen. Wo man neoliberal eingeflüsterte Feuchtträume politisch umsetzt: also Flexibilität, Mobilität, dauerhafte Erreichbarkeit, Niedriglohnsektor, Schleifung des Sozialstaates und so weiter, da entscheiden sich Menschen nur für Kinder, wenn sie besonders optimistisch sind - oder wenn die Pille versagt, das Kondom reißt. Jetzt sollen die, die sich Kinder nicht leisten können, auch noch bestraft werden.

Und andererseits wird sichtbar, dass man durchaus geneigt ist, eine fadenscheinige Praxis einzuführen - ohne Rückblick auf die Geschichte totalitärer Staaten, in denen eine solche "Sozialpolitik", in der man vermeintlich asoziale Verhaltensweisen sanktionierte, Usus war. Es ist eben nicht, wie man im Feuilleton häufig liest, ein sozialistischer Impuls, den diese "jungen Wilden" da gegeben haben - es ist ein faschistoider, ein totalitärer. Und es sind nicht "junge Wilde", wie man das so nonchalant schreibt, sie aufgrund ihres Alters und dem damit einhergehenden Ungestüm entschuldigt - wenn dann sind es total blinde Wilde; und totalitär gefährliche noch dazu.



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Der Demokratie Schaden - des Bloggers Freud'

Montag, 20. Februar 2012

Was für ein grandioser Glücksfall! Arbeit ist gesichert! Material für Texte, für Polemiken, für Glossen. Ein passender Präsident für diese Republik. Ein Pfaff', der "Freiheit in Verantwortung" als Lebensmotto führt, der Freiheit jedoch nicht an Leben in Würde orientiert, sondern an der Freiheit, sich eine alternative Brücke aussuchen zu dürfen, unter denen man Obdach findet. Besser konnte sich die Junta der vier etablierten Parteien gar nicht absprechen. Niemand sonst könnte den Zeitgeist adäquater vertreten als der Theologe der Herzlosigkeit - er erhebt seine an Ketten gelegte Freiheitsrhetorik ins Metaphysische, entkleidet sie von sozialen Kategorien. Freiheit ist nur Freiheit, wenn sie nichts kostet - Arbeitslose und Niedriglöhner können demnach nur Freiheit beanspruchen, wenn sie unentgeltlich eingefordert wird. Der Sozialstaat an sich ist somit letztlich keine Schmiede der Freiheit, sondern ein unfreiheitliches Schattenreich.

Der Mann, der fünfzig Jahre lang an keiner freien Wahl teilnehmen konnte, der aber beharrlich auf freie Wahlen hoffte, der aus seinem theologischen Bunker heraus dem Endsieg harrte, sei ein leuchtendes Freiheitsbeispiel. Der Endsieg der Freiheit, wie er meint - der Endsieg des Kapitalismus: was er wirklich meint! Den Bunker gab es nie, der fast-schon-präsidiale Theologe fügte sich in die gefühlten "killing fields der DDR", sprich: in das System - und vergünstigt wurde dieses Arrangement auch noch. Davon weiß er heute nichts mehr. Wie gesagt, fünfzig Jahre wartete er auf eine freie Wahl - und nun wird er als Sieger aus einer Wahl hervortreten, in der es entweder keinen Gegenkandidaten oder lediglich einen Alibi-Kontrahenten gibt. Der Triumph der freien Wahlen! Und besonders eindrücklich würde dieser historische Sieg der freien Wahl, wenn sich nun die Grünen einen Gegenkandidaten nur deshalb aus den Rippen schälten, damit die Bundesversammlung nicht gänzlich zur Farce würde - womit sie natürlich erst recht zu einer solchen geriete.

Demonstranten sind kindisch, meinte er mal - wer gegen die kapitalistische Wirklichkeit steht, der ist infantil. Freiheit heißt auch, sich die Freiheit zu nehmen, die Knechtschaft des Kapitals frisch und frei zu akzeptieren. Die Freiheit, die dieser Pastor predigt, beinhaltet die Verantwortung - sie ist nur der kapitalistischen Ökonomie verantwortlich. Nicht ethische Standards, nicht unveräußerliche Rechte, nicht moralische Imperative sind es, die die Konturen seines Freiheitsbegriffes nachzeichnen, sondern wirtschaftliche Gespinste - er ist die "antipolitische Devotheit", die die unterwürfige Haltung vor der staatlichen und wirtschaftlichen Obrigkeit als Freiheit verklärt. In diesem Sinne ist er tief lutherisch geprägt - einen auf moralisch machen, auf Hier stehe ich, ich kann nicht anders! und andererseits die Bauern schelten, weil sie sich gegen das fürstliche Unrecht, das an ihnen begangen wird, auflehnen.

Kein Kandidat könnte diese Epoche der kalkulierten Alternativlosigkeit so trefflich abbilden, wie dieser Mann - und seine Nominierer. Die vier Parteien, die einig an einem Tisch sitzen und es als großen Erfolg verbuchen, dass es eigentlich nicht mal einen Gegenkandidaten braucht, sie sagen mit der Nominierung dieses einzelnen Kandidaten, dass There is no alternative! eine Konstante ihres politischen Wirkens ist. Gleichwohl ist ihr Kandidat einer, der Alternativlosigkeit und die stille Hingabe zu ihr, als einen Akt freiheitlich gesinnter Zivilcourage und unbedingter Bürgerpflicht, postuliert. Diesen Glücksfall, den die vier Parteivorsitzenden in die Kameraobjektive lächelten, er zeichnet das Pech nach, das die Demokratie ereilte. Ein elitärer Theokrat, der zum Präsident der Oberschichten taugt, installiert von den Machern einer Zeitung, die vorgibt, die des kleinen Mannes zu sein, die aber erbarmungslos die Interessen der Wirtschaft vertritt: Was soll daran ein Glücksfall sein?

Und doch ist er es. Denn er liefert Schreibstoff. Er ist die Projektionsfläche der Zustände in diesem Land - und schon die erste Ansprache dieses sonderbaren Freiheitsapostels wird Grund zur publizistischen Arbeit bieten. Blogger und linke Publizisten halten sich nun erschrocken den Kopf - aber sie dürfen auch lächeln, denn es gibt eine neue offizielle Charaktermaske, an deren Nase es sich zu ziehen lohnt. Der, der uns alle diese ominöse, ins Metaphysische gleitende Freiheit vorgaukelt, er ist die zerknautschte Karikatur einer Demokratie, die es nur noch als Karikatur gibt.

Nun ist jener Präsident so gut wie gemacht, der willfährig die Gesetzesvorlagen unterschreibt, die in Planung stehen. Einer, der Freiheit als Knechtschaft an einer nicht gar zu fest gezurrten Kette definiert - einer, der sich selbst als oberste moralische Instanz ohne Fehl und Tadel sieht - einer, der in seiner Tätigkeit in der Behörde, die im Volksmund seinen Namen trug, kleine und oft unschuldige IM jagte, wie weilandt Torquemada Ketzer. Die Demokratie könnte daran Schaden nehmen - wenn sie nicht schon ein Schadensfall wäre.



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Facie prima

Heute: Der Fallengelassene, Christian Wulff

Selten zuvor konnte man den Paradigmenwechsel der flankierenden Bildberichterstattung so vorzüglich beobachten, wie in der aktuellen Affäre um Bundespräsident Wulff. Artikel, die ihn zum Gegenstand hatten, die ihn auch nur streiften, wurden noch vor gut zwei Monaten mit freundlich dreinblickenden Fotos seiner Person garniert. Wulff lächelt hier, die dazugehörige Schlagzeile titelte, dass die Zufriedenheit mit Wulff als Bundespräsidenten zunehme. Das Volk zufrieden, der Präsident lächelt keck. Schon bevor der Leser den Inhalt des Artikels erfasst, wird ihm gewahr, dass es sich um eine offenbare Frohbotschaft handeln müsse. Gegenteilig die Fotos, die die aktuellen Artikel zieren. Wulff wird publizistisch der Bevorteilung bezichtigt - täglich neue Vorwürfe. Einerlei an dieser Stelle, was an den Vorwürfen dran ist oder nicht - interessant ist im Rahmen der Analyse bildlicher Abbildung, um die es hier gehen soll, lediglich, dass Wulff plötzlich auf Fotografien vereinsamt wirkt; so an den Bildrand gedrängt, glaubt der Leser, noch bevor er den Text erfasst hat, dass Wulff auf sich alleine gestellt ist, verlassen wurde - der Bildrand ist das optische Schuldeingeständnis Wulffs. Und der Artikel selbst müsste gar nicht mehr gelesen werden. Bilder, die mehr sagen als die Anzahl von Worten, die die Redaktion pro Artikel vorgibt und veranschlagt.

Vormals packte Wulff an - hier das Mikrofon. Das Bild schmückte einen Artikel, der eine Rede Wulffs thematisierte und der den Bundespräsidenten als wachen Mahner beschreiben wollte. Der Bundespräsident hat von Verfassung wegen wenig Handlungsspielraum, politisch hat er keinerlei Einfluss. Aber er kann und soll als Gewissen fungieren, er soll Reden halten, in denen er zur Vernunft aufruft. Wulff, wie er gravitätisch am Mikrofon nestelt, unterstreicht diese Aufgabe einer jeden Bundespräsidentschaft. Das Bild soll präsidiales Pflichtbewusstsein assozieren. Noch immer hält Wulff Reden, trotz Affäre tut er, was er vorher tat. Doch dasselbe Magazin greift heute zu anderen Bildern, zeigt einen Präsidenten, von dem selbst die Ehefrau Abstand zu nehmen scheint - oder er von ihr? Oder will man damit belegen, dass die Eheleute Wulff sich nicht ganz grün sind? Schaut er so abgeschmackt, weil sie ihn dazu brachte, halbseidene Geschäfte in Kauf zu nehmen, wie man das häufig las? So oder so, das Bild unterstreicht nachdrücklich, dass es zwischen beiden nicht stimmt, dass die Ehe, weshalb auch immer - vielleicht wegen der Klüngelei! -, schwer belastet ist. Das einstige Traumpaar, jetzt von der Schuld erdrückt? Entzweit, weil die Machenschaften entfremdeten?

Einst in Kinderscharen stehend, der renommierte, der anerkannte Bundespräsident. Schirmherr sein, "lasset die Kindlein zu mir kommen" - das Credo jeder populistischen Haltung. Lachende Gesichter allerorten, die Welt des Wulff in bester Ordnung. Einige Monate später, die Affäre mittlerweile auf dem Tisch, kommt ein grimmiger, ein in Sorgenfalten liegender Bundespräsident Stufen herab. Was spricht eigentlich dagegen, auch jetzt, da Wulff in Vorwürfe verstrickt ist, einen lächelnden Bundespräsidenten abzubilden? Vielleicht der Umstand, dass die Fotos, die neben Artikel platziert werden, stets auch den Inhalt spiegeln sollen? Ins Gesicht desjenigen, der im Artikel behandelt wird, soll seine Gemütslage eingefurcht sein; der Leser, der erst nur Betrachter etwaiger Bilder ist, bevor er liest, soll die Tendenz des Artikels vorab schon erkennen. Das erleichtert auch die journalistische Stoßrichtung. Der durch bildliche Anreicherung vorgeprägte Leser wird so leichter von der Schuld Wulffs überzeugt, so wie er vormals davon überzeugt war, dass der glückliche Präsident inmitten Kindern, ein Glücksfall für das Amt des Bundespräsidenten sei.

Dieser Text wurde vor Wulffs Rücktritt geschrieben. Inhaltlich bleibt er dennoch aktuell - das Prinzip ist stets dasselbe.


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Fragen nach der Übernahme

Freitag, 17. Februar 2012

Wird Frankreich oder Deutschland Schutzmacht in Griechenland?
Kann das Schutzgebiet künftig trotzdem Hellenische Republik heißen?
Deutsch-Südosteuropa oder Französisch-Peloponnes entzückt doch auch!

Gilt für die Einwohner des Schutzgebietes wahlweise das Grundgesetz oder die Constitution française?
Sollte man nicht eilig den verstorbenen Artikel 23 des Grundgesetzes wiedereinführen oder reicht auch ein ordinäres EU-Mandat?
Soll Merkels Silhouette grüne oder blaue griechische Briefmarken zieren? Oder starrt auf Postwertzeichen Sarkozy von links in das rechte Gesicht der Bundeskanzlerin?
Wer kommt für Kost und Logis der Besatzungstruppen auf?
Wer koordiniert denn eigentlich die Regierungspolitik im Schutzgebiet? Übernimmt man die traditionellen Strukturen oder stülpt man mitgebrachte über die autochthonen?
Wie konnte man bloß den Wehrdienst deinstallieren, wo doch absehbar war, dass ein Verteidigungsfall droht?

Wer beschließt denn eigentlich die Verabschiedung des griechischen Alphabets zur Simplifizierung von Verwaltungsakten? Erledigt das ein fünfköpfiges Gremium von Franzosen oder Deutschen direkt in Athen? Oder fällt das unter die Kompetenz des Bundestages?
Wer schneidert seriösere Uniformen für diese jetzt noch clownesken Wachen vor dem Athener Parlament? Joop oder Gaultier? Lagerfeld könnte für jede der beiden Schutzmächte arbeiten!
Und wer bringt den Wachen eigentlich bei, dass man unter deutscher oder französischer Ägide nicht wie je und je einschlafende Hampelmänner Dienst stechschrittet?
Eine energische Zack-Zack-Garde soll den Griechen die neue Ära einbläuen!
Ob wohl die Außendienststellen der Bundesagentur für Arbeit die Faulheit aus den Schutzgebiet sanktionieren kann? Soll man überhaupt zunächst deutsche oder französische Beamte mit der Verwaltung betrauen, bis die Einheimischen halbwegs fließend Deutsch oder Französisch sprechen?
Organisiert TUI oder FTI die Fahrten ins Schutzgebiet, auf die jeder deutsche Steuerzahler ein vom Bundesverfassungsgericht eingeräumtes Anrecht hat?
In welcher Höhe soll der Preis für ein Kilo Oliven in den Kolonialwarenläden festgeschrieben werden?

Könnte man nicht vereinbaren, dass die Schutzmacht, die jetzt den Zuschlag für Griechenland erhält, dem Kontrahenten den Vortritt läßt, wenn Italien oder Spanien Hilfe benötigt?
Jeder soll seinen Platz an der Sonne, sein Stück vom Kuchen bekommen!
Vielleicht kann man das bankrotte Irland aus geographischen Gründen den Briten ans Herz legen? Portugal regiert sich doch bestimmt direkt mit dem spanischen Schutzgebiet?
Wie lassen sich dann rumorende Unabhängigkeitsbestrebungen im Einklang mit den Menschenrechten unterdrücken?
Die EU wird für die Schaffung eines Gesetzespassus votieren, in dem nachzulesen ist, dass jedes Schutzgebiet unabhängig werden kann, falls es ausreichend Schutzgeld bezahlt!

Und wann ist Deutschreich und Frankland endlich saturiert?



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Friede Springer entlässt den Bundespräsidenten

Donnerstag, 16. Februar 2012

Zu vermuten ist, Diekmann ist drauf und dran, eine Wette zu verlieren. Nämlich jene, dass er der mächtigste Mann Deutschlands ist. Es scheint eine Frist zu geben, bis wann Wulff aus dem Amt sein soll - und das soll möglichst bald geschehen, könnte man meinen. Springer bringt nämlich jedes Fitzelchen, das Wulff belasten könnte, jede Zote auf den Bundespräsidenten, jedes noch so aberwitzige Statement als Neuigkeit. Fast im Sekundentakt neue Aufmacher bei BILD Online. Minutiös wird jede Regung zu Wulff festgehalten und aufgebauscht. Dahinter kann nur die Absicht lauern, Wulff endgültig aus dem Amt zu werfen.

Jede Krume wird aufgelesen

Jede noch so randständige Bemerkung ist Schlagzeile; jedes noch so lausige Wortspiel ist recht, um Wulff zu befeuern. So schrieb BILD, man fliege mit dem Bundespräsidenten über den Rubikon, auf seine damalige Bemerkung anspielend, die er auf Diekmanns Anrufbeantworter gesprochen haben soll. Irgendeine Person, Name schon wieder entfallen - nicht wichtig genug! -, verkündet, dass in zwei Wochen Wulffs Rücktritt zu erwarten sei - für BILD Online eine Schlagzeile! Ein CDU-Pfarrer verteidigte Wulff in einer Talkshow - ebenfalls Schlagzeile! Als sei sowas in der Geschichte dieser Mediokratie und seiner Polit-Geschwätz-Shows noch nie geschehen, als haben dort Parteifreunde nie zuvor Parteifreunde an der Wahrheit vorbei in Schutz genommen. Dann heißt es, dass Schauspieler Wulff meideten - Aufmacher für zwei Stunden! Kalkofe veräppelt Wulff, meldete man hinterher - so verspotten die Narren Wulff, hieß es alsdann. Bilder von den Karnevalswagen schon vorab; so was gab es noch nie, ein Bundespräsident als Zielscheibe närrischen Spotts! Und Bernd Stelter, der witzelt auch; und der Jörk Knör auch; und "Dat Filmmännchen"... - wer immer das wieder ist.

Und es findet sich immer noch ein und noch ein Quatschkopf, der Wulff verteidigt, ausgelacht, persifliert, aufgefordert, hinterfragt, analysiert, Mut zugesprochen, den Rücktritt ans Herz gelegt, schwere Zeiten vorausgesagt, verspottet oder ermahnt hat. Jede Krume zum Thema Wulff wird aufgelesen. Kurzum, es wirkt fast so, als würde die ganze Republik auf Seiten Diekmanns und seines Arbeitgebers stehen.

Eine Nation gegen Wulff

Um Gerechtigkeit oder Wahrheit geht es Diekmann dabei nicht. Das entspräche auch nicht der üblichen Agenda. Jede noch so belanglose Stimmungslage gegen Wulff, jede Neuigkeit oder die aufgewärmten schon bekannten Erkenntnisse, sind nur deshalb Thema, weil Diekmann sich und dem Land etwas beweisen will. Mit dem kleinlichen Schlagzeilen-Bombardement will er deutlich machen, dass gegen ihn und den Konzern, für den er steht, niemand im Amt bleiben kann. Einen Minister konnte er letztes Jahr nicht halten - Machtverlust witterten da viele. Aber aus dem Amt jagen, dass kann Springer noch. Die Republik soll wissen: Wer dem BILD-Chefredakteur dumm kommt, der fliegt - und braucht es dazu eben boulevardeske Brachialgewalt, so sei es so - und male man hierzu das Gemälde einer Nation gegen Wulff, so sei es so - jedes Mittel ist recht, wenn nur bewiesen wird, wer in diesem Land Präsidenten macht und wer nicht.

Diekmanns Chefin hat als Mitglied der Bundesversammlung Christian Wulff gewählt. Jetzt hat sie ihrem Chefredakteur angewiesen, ihn wieder aus dem Amt zu entfernen. Und jedes noch so kleine Fitzelchen, das sich gegen Wulff sammeln läßt, soll zur Entlassung beitragen. So machen das Arbeitgeber zuweilen mit unliebsamen Mitarbeitern, Fakten sammeln und aufbauschen, erfinden und überhöhen, Kollegen befragen und jede noch so randständige Meinung zur Kenntnis nehmen. Manche nennen das Mobbing, wie es kurz vor Kündigungen oft vorkommt - Springer nennt das Journalismus...



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Die Zeichen stehen auf Markenzeichen

Mittwoch, 15. Februar 2012

Kürzlich ließ ich mich zu einer Fiktion hinreißen - im Angesicht von ACTA malt sich jeder so sein Szenario aus. Nun bin ich erstaunt darüber, dass es mir an Phantasie mangelt, denn mein Szenario ist so szenisch und phantastisch gar nicht. Worte sind schon heute käuflich, auch wenn dahinter nichts steckt, was eigentlich eine Marke ausmachte. Occupy Germany ist keine Bewegung mehr, es ist eine eingetragene Marke. Und all das geschah schon bevor Rechtspopulisten dort hineinfühlten.

Ich kam bislang nicht auf die abgefeimte Idee, mir mein ad sinistram schützen zu lassen, es zur Marke zu machen. Kostet das eigentlich was? Ad sinistram ist aber auch kein wahlloser Name. Es stammt aus der Militärsprache - Links um! eben. Das hat mir mancher schon zum Vorwurf gemacht. Pazifisten, die das ärgerte oder Dreiviertel-Nazis, die damit untermauern wollten, dass der Linke ein ganz militaristischer Grobian ist. Leute halt, die nicht einsehen wollen oder aus ideolgischen Gründen können, dass eine Zigarre manchmal auch nur eine Zigarre sein kann.

Ich begreife es ja. Man muß seine Marke schützen - Schaden vom Projekt abwenden und so. Kann ich schon nachvollziehen. Man male sich mal aus, Marken würden keinen Schutz erfahren, beispielsweise RTL wäre schutzlos der Markenpiraterie ausgeliefert. Nicht, dass ich mich hernach via Piratensender als RTL-Beirat ausgebe und eine große Bildungsoffensive verkünde. Das könnten die Konsumenten des Senders, liebevoll Zuschauer genannt, falsch verstehen. Das Image der Marke würde leiden. Man hat schließlich einen Ruf, den es zu verteidigen gilt. Vielleicht war das ja Ihre Denke, Frau Anwältin Jakobs - ich erlaube mir mal, Sie direkt anzusprechen. Nachvollziehbar, dass Sie Occupy Germany vor solchen Spaßvögeln bewahren wollten. Wobei Henkel auf mich nicht wie ein humoriger Kerl wirkt...

Darf ich eigentlich Occupy Germany schreiben und als Begriff verwenden? Oder wäre das Product Placement? Oder ist schon die Nennung tabu, so wie im alten Ägypten zeitweilig der Name des amtierenden Pharao? Occupy Germany, darf ich das schreiben?

Der Unterschied zu RTL und Occupy Germany ist aber, dass ich als Mitglied oder Angestellter der ersteren Marke etwas habe, womit ich mich ausweisen kann - sei es nur der Firmenausweis oder ein Arbeitsvertrag. Welchen Beleg erhalte ich als Demonstrant bei Occupy Germany? Eine Protestbewegung ist doch kein Unternehmen - höchstens für viele eine Unternehmung für das Wochenende. Anders gefragt: Wenn ich bei einer Veranstaltung von Occupy Germany teilnehme, hernach hier ein wenig davon berichte, unterlegt mit meiner eigenen Meinung, schade ich dann der eingetragenen Marke Occupy Germany?

Ich meine, um freie Meinung ging es doch dieser Bewegung ursprünglich, bevor sie in ein einschnürendes Markenkorsett gezwängt wurde. Es ist doch die Meinungsfreiheit, die Occupy Germany erst möglich machte. Seien wir froh, dass es sie noch gibt. Schön eingeschränkt durch die Medienallmacht, aber immerhin: sie gilt praktisch theoretisch noch. Problem ist nur, dass eingetragene Marken freie Meinung als etwas Feindliches wahrnehmen. Zwangsläufig, denn die Marke gibt das typisch Korsetthafte, in Wespentaille Zwängende vor - und die freie Meinung weicht gerne mal ab.

Kann ich an einer Kundgebung teilnehmen und ein Schild hochhalten, auf dem steht Wir sind Occupy Germany! und kann ich mich ganz offen als Teil des Ganzen fühlen? Ich meine, ich würde mir damit eine Marke aneignen, die nicht mir gehört. Letztlich, Frau Anwältin Jakobs, könnten Sie auch Mitgliedsbeiträge erheben, sodass man sich in die Marke hineinkaufen kann und ein Mitmachrecht bekommt.

Ich wundere mich nur... oder ich sage es so: ich bin enttäuscht. Denn ich hegte die Hoffnung, dass Occupy Germany etwas wird, dass nicht nur sektiererisch gegen die Bankenwillkür aufsteht, sondern gegen das ganze verruchte System, das alles verwurstet, was nur zur Wurst taugt. Ich hoffte, mit der Kritik an den Bankstern, an der Spekulativwirtschaft und so weiter, würde auch endlich diese haarsträubend protestantische Arbeitsmoral, der alltäglich erzeugte Druck, der Konsumterror, die Durchgläserung des Bürgers für wirtschaftliche Zwecke und so weiter auf den Prüfstand gehoben. Über Bankster-Parolen ging es bis dato aber nicht hinaus - und dann wird auch noch die Bewegung um ihre Beweglichkeit gebracht und zur starren Marke patentiert. Alles wogegen man auflief, wogegen man auf die Straßen pilgerte, schlägt sich jetzt kontrapunktisch in der Patentierung des Begriffes Occupy Germany nieder.

Ist Occupy Germany jetzt eine Art Lifestyle-Vermarktungsunternehmen? Ist die Marke ein Lebensgefühl? Wo bleiben die Inhalte? Eine Marke orientiert sich an der Kundschaft. Bleibt die aus, muß sie reagieren, sich verändern, um der Klientel (wieder) zu gefallen. Droht das auch der Marke Occupy Germany? Bedeutet das, dass der Inhalt der Marke variabel ist, wenn nur das Markenlogo weiterhin präsent bleibt? Wenn die Laufkundschaft ausbleibt, dann muß man seinen Laden eben so modernisiern, dass er ansprechender aussieht und zum Betreten einlädt. Marken handhaben das so. Inhalt ist nichts, die Marke alles. Droht das? Berechtigte Fragen, finde ich.

No Logo! würde ich mir wünschen - ich halte den Markenwahn, der schon auf Schulhöfen beginnt, für die Basis der kapitalistisch-konsumistischen Welt. In den Schulpausen spottet die zukünftige Kundschaft über diejenigen, die nicht dasselbe Faible für markenorientierte Lebensart pflegen. Dort werden Grundsteine für den Konsum gelegt. Und dann soll ich einer Marke nachlaufen? Das irritiert mich schon - genau diese Haltung wollte ich nicht mehr; ich hoffte, Occupy Germany würde diese Haltung auch einnehmen. Und siehe da, jetzt ist es selbst Marke. Marken sind nicht tolerant, sie wollen ausschließlich, wollen Hegemon sein - das macht sie so unsympathisch. Ich hoffte, Occupy Germany würde etwas Bescheidenheit ins Feld führen. Demütig gegen die Ökonomisierung streiten - und nicht selbst ökonomisch werden. Als Marke ist Occupy Germany nun das geworden, wogegen unter anderem auch gestritten werden sollte: gegen das Markenkartell, gegen die Omnipräsenz der Konzerne...



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Ridendo dicere verum

"Politik ist nur der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt."
- Dieter Hildebrandt -

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Rosen, Tulpen, Nelken

Dienstag, 14. Februar 2012

Blumensträuße seien nun angebracht; Blumen vor die deutschen Botschaften - zum Dank, als Wertschätzung, der Erkenntlichkeit wegen. Griechen, Portugiesen und Spanier, sie sollten es mit Blumen sagen. Gehörigen Quatsch ist man gewohnt - bei dem aktuellen Wunsch nach Blumen wird es einem aber ganz blümerant. Zum Valentinstag Liebesbeweise von halb Europa an Deutschland. So träumt mancher...

Die einzigen Blumen, die derzeit drohen, das sind Blumen auf Gräbern von Bürgerkriegsopfern. Blumen sind also durchaus im Trend; so weit hat der Blumenmann schon mal recht. Schicken denn im Gegenzug die deutschen Botschaften auch Blumen an die Gräber derer, die man totgespart hat? Oder nur an die, die man totgeschossen hat, weil sie sich dem EU-Diktat nicht beugen wollten? Müssen nicht eigentlich deutsche Botschaften Blumen nach Griechenland, an griechische Gräber schicken - in stiller Übereinkunft mit jenen deutschen Konzernen, deren Kapital und deren Interessen man mithilfe tyrannischer Sparmaßnahmen gerettet hat?

Blumen wollen sie haben! Blumen gehören an Gräber - und die sind in Griechenland in Aussicht. Sie verabschieden Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit und möchten dafür Blumen - so vermessen ist man mittlerweile, so getrübt der Blick auf die Wirklichkeit. So unersättlich ist dieses deutsche Europa, es will sich selbst noch die Blumen sichern, vielleicht läßt sich damit ja ein Geschäft machen. Blumen dafür, dass man die Demokratie aus dem Land schmiss - für halbierte Gehälter - für geviertelte Renten - für geachtelte Sozialhilfe - für die bruchstückhafte Auflösung des sozialen Friedens - dafür Blumen. Man bildet sich darauf auch noch was ein!

Wir leben in Zeiten der Floristen - die deutsche Europapolitik sorgt für blumige Märkte. Sie steigert die Nachfrage und den Bedarf. Dafür will sie Blumen; sie will Blumen dafür, bald die Blumennachfrage gesteigert zu haben. Nur keine Tulpenkrise mehr! Gründe schaffen, um es durch die Blume sagen zu können. Das hat der Blumenfreund nicht richtig verstanden, denn die Blumen gehören nicht vor deutsche Botschaften, sondern als europäische Botschaft auf griechische Gräber - später in Spanien, Portugal, Italien, überall da letztlich, wo man BWL zur Volkswirtschaft erklärt. Deutsche Sparpolitik floriert - florieren: von florare; blühen - la flor, die Blume - Florida: das Blumenland; Deutsche Sparpolitik heißt, aus Griechenland ein Florida zu machen...

Blümchengedanken zum Valentinstag. So verdreht die Rhetorik von denen, die hinter Blumen für ihre diplomatischen Vertretungen her sind. Verdreht und verwinkelt deren Logik, wie einst verdreht und verwinkelt die Denkart Karl Valentins war. Deshalb Valentinstag? Der Karl-Valentin-Brunnen auf dem Münchner Viktualienmarkt ist auch stets mit Blumen geschmückt. Vielleicht war er auch Botschafter... Botschafter des verbalen Chaos, des gepflegten Durcheinanders, des irren Dadas: das war er schon! Und das ist die Botschaft Deutschlands heute auch.

Irgendwann wird, so hofft man, wieder Frieden sein. Vielleicht schießen sie bald, aber dann wird auch wieder Frieden kommen. Erzwungener Frieden; mit Gewehre erzwungene Ruhe. Und nach Friedensschluss sollte man die Kriegsliteraten einfangen und von den Invaliden auspeitschen lassen. Sagte Karl Kraus einst. Und falls das geschieht, dann schicke man ihnen hernach bitte Blumen ans Krankenbett - das gehört sich so.



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Finger vom Kadaver schneiden

Montag, 13. Februar 2012

Zuweilen erlangt man den Eindruck, wir warteten auf der Schwelle zu neuen Mittelalterlichkeiten. Da wollen Sextremistinnen die Unschuldvermutung als ein potenzielles Unwort anschwarzern, pilgern aufgeschreckte Eltern durch Ortschaften, nicht selten mit der Forderung nach Todesstrafe oder mindestens Haft bis zum bitteren Ende - oder man fordert repressive Mittel, zur Erfüllung "guter Absichten". Da passt es ins Bild, dass auch die Leichensynode eine Neuauflage erhält.

Exhumiert vor Gericht

Papst Stephan VI. ließ 897 die sterblichen Überreste seines Vorgängers Formosus exhumieren und vor Gericht stellen. Das Urteil war drakonisch. Man nahm dem Angeklagten sein päpstliches Ornat, schnitt ihm Finger ab und verscharrte ihn wie einen Hundskadaver, nur um ihn kurz danach nochmals auszubuddeln und in den Tiber zu werfen. Was Formosus getan hat, dass man ihn posthum derart strafte, blättere man bitte in einer penibel geführten Chronik nach. So viel sei aber gesagt: gedopt hat er nicht!

Es gibt historische Episoden, die wirken mit etwas Abstand betrachtet einfach nur lachhaft - die Leichensynode ist so eine. Auch wenn sie erklärbar ist mit dem Weltbild der mittelalterlichen Glaubenswelt, in der Diesseits und Jenseits weniger fromm voneinander geschieden waren, wie in späteren Epochen. Trotzdem stellen wir uns Stephan VI. als eine Witzfigur vor. Ausgeschlossen ist nicht, dass der Internationale Sportgerichtshof (CAS) irgendwann gleichermaßen verspottet wird. Verspottet wie die Synodalen seinerzeit - falls der CAS nicht bereits schon heute ausgelacht wird.

Gerichtsprozess für eine Leiche

Jan Ullrich ist rundlich geworden. Rundlicher als sonst, als die Experten und Fachleute feststellten, dass er nur deshalb immer Zweiter bei der Tour de France werde, weil er um ein oder zwei Kilo zu dick sei. Jedenfalls, der Ullrich jener Tage, er saß nicht vor seinem Richter. Es war jener drahtige, nur für Experten zu fette Radsportler, über den zu Gericht gesessen wurde. Aber der war nicht anwesend. Diesen Ullrich gibt es nicht mehr - seit 2007, eigentlich schon seit Mitte 2006, nicht mehr. Der Privatmann Ullrich erschien an seiner statt. Der Radsportler Ullrich aber, er verstarb vor gut sechs Jahren. Für seinen Prozess exhumierte man ihn - der Kadaver des pedalierenden Heroen wurde verurteilt. Nicht drakonisch, dafür genauso sinnfrei.

Man schnitt keine Finger ab, riss ihm nicht mal die Kleider vom Leib. Das Mittelalter gestaltet sich in unseren Tagen aufgeklärter als dazumal. Schabernack mit Verurteilten erspart man sich, die Menschheit ist erwachsen geworden. Man verhängte zwei Jahre Sperre - verbietet damit einem Mann im Radsport aktiv zu bleiben, der schon seit 2006 nicht mehr dort aktiv ist. Als ob man einem Mann mit chronischer Glatzköpfigkeit Bürste und Kamm schenkt - als ob man einem Toten die Finger absäbelt.

Glauben, nicht wissen

Doping raube dem Radsport die Glaubwürdigkeit - das ist allgemeinverbindliche Predigt. Man hat sich daran zu halten. Joachim Fuchsberger hat vor Jahren in einer Abendsendung einen Nebensatz fallen lassen. Man solle Doping legalisieren, das würde Problematiken beseitigen, die man sich nur selbst schafft, meinte er - man kanzelte ihn kurz und knapp, aber durchaus rüde, ab. Als ob jeder Postbote ein Etappenrennen gewinnen würde, wenn er sein Blut mit Sauerstoff anreicherte.

Glaubwürdigkeit nimmt weniger das Doping dem Sport. Es sind jene Gerichtsbarkeiten, die verspätet und auf vage Befunde gestützt, Sperren aussprechen. So geschehen kürzlich im Fall Contador - eine Sperre, die sich auf Indizien stützt. Die Gewinnerlisten großer Radrennen werden willkürlich verändert, Sieger gestrichen, rehabilitiert, gestrichen, rehabilitiert - jemand wie Andy Schleck, der jetzt Tour-Sieger 2010 ist, weil Contador es nicht mehr sein darf, soll der sich freuen? Pereiro Sio "gewann" die Tour de France 2006 - wie der Mann aussieht, wissen dennoch die wenigsten, denn er gewann Monate nach dem Ereignis, erst als man Landis den Sieg aberkannte. Früher sagte man nach der letzten Etappe in Paris: Hinault hat gewonnen! oder Indurain hat gewonnen! Heute heißt es: Ich glaube, Contador hat gewonnen! oder Ich glaube, Evans ist Tour-Sieger! Jeder glaubt, keiner weiß...

Was für eine glaubwürdige Art, die Entscheidungen von Radrennen, gerichtlich neu zu ordnen. Die besten Fahrer auszuschließen. Die Institutionen, die die Unglaubwürdigkeit des Radsports erzeugen, sind weniger die Rennställe als die Sportgerichte und deren Dopingjäger. Die Zuschauer und die Medien wollen Geschichten und Spektakel - dies möglichst täglich, jeden Tag Attacken am Steilanstieg. Geschieht das selten, spricht man von Langeweile, von einer unspektakulären Tour. Was liegt da näher, als nachzuhelfen, um den Zuschauern und Medien das zu geben, was sie sehen wollen?



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Noch'n Bild

Donnerstag, 9. Februar 2012

Kurt Westergaard, der kreuzritterliche Pistolero unter den Karikaturisten, galt noch vor einiger Zeit als Held. Seine Mohammad-Zeichnungen, die den Propheten als Mörder zeigten, wurden als Inbegriff der Meinungs- und Pressefreiheit gefeiert. Das ging so weit, dass die Kanzlerin auf ihn eine Rede hielt und den Preis des M100 Sanssouci Colloquiums überreichte. Angeblich der mutigste Auftritt Merkels, hieß es damals pathetisch. Gerade sie wisse nämlich, was es bedeutet, in einem Land ohne Meinungsfreiheit zu leben - damals in der DDR. Deswegen sollte mutige Meinung honoriert werden, mutige Bleistiftstriche ebenfalls.

Stavropoulos heißt der Mann, der Merkel derzeit karikiert - er malt sie als Nazirette, Heil! rufend, in enger, Körperwülste offenbarender Uniform, mit Hakenkreuz. Das erregt natürlich die Gemüter. Ein ungeheurer Missgriff sei das; eine Verharmlosung des Dritten Reiches, gerade so, wie die Karikatur Mohammads auf keinen Fall, nie und nimmer, unter keinen Umständen ein historisch fragwürdiges Zerrbild war. Man sollte differenzieren können, liest man. Deutschland unter Hakenkreuz war nicht, was Deutschland unter Bundesadler ist. Aber die historische Gestalt Mohammads, sie wird mit heutigen Erkenntnissen persifliert - natürlich ist die Geschichte Mohammads eine Geschichte der Gewalt, aber die war damals nicht geächtet, gehörte sozusagen zum guten Ton, womit heutige Maßstäbe nichtig werden.

Auch wenn es historisch nicht ganz koscher ist, so ist es doch Meinungsfreiheit. Eine Meinung zu haben beinhaltet auch, keine Ahnung haben zu dürfen - rechtlich verbürgt. Das gilt für jeden. Für dänische Provokateure ebenso wie für griechische; für ironisierte Propheten wie für Kanzlerinnen. Das ist das Wesen freier Meinungsäußerung. Ob sich das M100 Sanssouci Colloquium erneut dazu durchringen kann, einen Karikaturisten zu würdigen? Ob die Kanzlerin höchstpersönlich eine Laudatio hält wie damals? Applaus von den Rängen? Anerkennung? Schulterklopfen und Weiter so! als Erbauung?

Wer die Meinungs- und Pressefreiheit schätzt, der kann mit einer behakenkreuzten Kanzlerin leben. Muß er sogar! Und er muß solche Bilder auch schätzen. Wenn nicht inhaltlich, so doch dafür, dass es sie gibt - dass es sie geben darf. Moralische Zeigefinger sind da zweitrangig. Und die verletzte Befindlichkeit der Stammtische ohnehin. Gratuliert man zu verunglimpften Mohammad-Zeichnungen, so gratuliere man auch zu gemalten Nazi-Merkels! Das ist der konsequente Imperativ. Regt man sich darüber auf, so liegt einem die allgemeine Meinungsfreiheit nicht besonders am Herzen - oder es geht wieder mal nur um die freie Meinung, die man selbst meint.



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Nomen non est omen

Heute: Präventive Selbstverteidigung

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack.
"Präemptive Selbstverteidigung bezeichnet das Ausüben militärischer Gewalt als letztes Mittel eines Staates, um eine unmittelbar bevorstehende, manifeste und objektiv feststellbare militärische Aggression abzuwehren."
- WZB-Papier -
Im Irakkrieg (2003) und im Libyenkrieg (2011) wurde von "präventiver Selbstverteidigung" gesprochen. Man wolle eine unmittelbare Gefahr vorzeitig abwenden und greife deshalb zur militärischen Gewalt. Ähnlich wie die Instrumentalisierung des Begriffes der "humanitären Intervention" verstößt die "präventive Selbstverteidigung" gegen das allgemeine Gewaltverbot des Völkerrechts.

Die meisten Forscher und Wissenschaftler halten fest, dass es ein Recht auf eine "präventive Selbstverteidigung" nicht gebe, sie stellt eher ein Aushebeln des Völkerrechts dar. Nur im äußersten Notfall, wenn ein Staat kurz davor stehen würde, angegriffen zu werden, wäre es legitim zu diesem Mittel zu greifen, so das WZB-Paper. Irak, Libyen und höchstwahrhscheinlich auch bald der Iran werden, im Namen der "präventiven Selbstverteidigung", angegriffen:
"Ein israelischer Angriff auf iranische Anlagen aber wäre abseits aller Diskussionen und Auslegungsfragen zweifelsohne ein präventiver Schlag gegen eine potentielle Gefahr. Ein solcher ist keinesfalls durch das in Art. 51 UN-Charta niedergelegte Selbstverteidigungsrecht gedeckt."
- Legal Tribune vom 9. November 2011 -
Der Begriff kann getrost als ein Euphemismus für ein Angriffskrieg gesehen werden. Ähnlich wie die Schlagwörter "Verteidigungsministerium" und "Rüstungsindustrie" soll suggeriert werden, als handle es sich um eine reine Selbstverteidigung. Nur weder irakische, noch libysche Truppen standen vor der US-Grenze. Auch wurden keine Raketen auf amerikanischen Boden abgefeuert, um eine "Verteidigung" zu rechtfertigen. Eine Verdrehung der Begriffe findet statt, das Völkerrecht wird missachtet und das Recht des Stärkeren wird militärisch praktiziert.

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Der kommunistische Körper

Mittwoch, 8. Februar 2012

Da werden hochrationelle Diskurse verspritzt, wie die Organspende zu regeln sei: effektiv, zweckdienlich, wirtschaftlich. Dass sich jedermann bejahend zur posthumen Entnahme etwaiger seiner Organe äußern sollte: das sehen Ärzte und Ethikrat, sehen ebenso die laienhaften Befürworter der Organspende, für äußerst beschwerlich an. Gleichsam bürokratisch erschwere man hier eine ökonomisch straffer geführte Transplantationsabwicklung - Menschen müssten bloß sterben, weil sich Verstorbene vormals zu Lebzeiten nicht die Mühe machten, für das Ausweiden ihres Leibes zu votieren, weil sie keine Schürfrechte an der zurückgeblieben Hülle verliehen. Dabei sind die Psychotricks, mit denen Hinterbliebene auf Spendenkurs gebracht werden sollen, nur Dilettantismus - fachmännisch verschmitzter gehen es solche an, die auf eine Gesetzesänderung hinwirken. Entweder sollte es für jeden Bundesbürger verpflichtend werden, Ja oder Nein anzukreuzen - oder aber, jeder ist Organspender post natum, bis er diesem Status widerspricht.

Ethisches Dilemma

Die Diskussionen werden in der trockenen Metaphorik von Weltverbesserern vorgetragen. Weil sie glauben, mit ihren Absichten die Welt zu einem besseren Ort zu machen, ist am Ob gar nicht mehr zu rütteln. Nur das Wie wird debattiert. Die Pläne sind ja immerhin so rein, so gut, dass eine Grundsatzdiskussion gar nicht mehr angebracht wird. Dabei ist natürlich klar, dass Transplantationen Leben retten können. Muß aber deshalb die Praxis so protransplantatorisch umgeformt werden, dass aus den Menschen eine Art apriorisches Rohstofflager wird? Organisches Humankapital? Wo bleibt eigentlich die Ethik? Sicher, der Ethikrat empfindet es als hochgradig ethisch, wenn er empfiehlt, aus Gründen höherer Organbestände und damit verbundener Lebensrettungen durch Transplantationen, die Beschaffung von notwendigen Zellen und Gewebe zu vereinfachen. Das dient den Patienten und ist demzufolge zweifelsfrei gut. Aber ist es ethisch, den menschlichen Körper des Individuums im Sinne der "Volksgesundheit" zu einem Gegenstand ernennen zu wollen, auf den in gewisser Weise die Allgemeinheit Anspruch hat? Ist es gut und richtig, dass der Mensch a priori posthumes Abbaugebiet ist, es sei denn, er äußert sich zu Lebzeiten gegenteilig ?

Aktivistische Gesinnungsterroristen

Denn wahr ist auch, dass man durchaus aneckt, wenn man sich nicht rundweg solidarisch mit Occupy the Organs! erklärt. Wie ein Verbrechen am Nächsten wird es manchmal aufgefasst, wenn man seinen toten Körper nicht ausgeplündert wissen möchte. Man sei doch dann tot, brauche den körperlichen Talmi nicht mehr, sei doch entweder gar nicht mehr oder als seelisches Wölkchen, entweder im Raum oder nirgendwo, entweder im ewigen Seelenleben oder als Nichts im Nichts - je nach Konfession und Weltanschauung macht man die Organentnahme schmackhaft. Warum über den Tod hinaus am Körper festhalten?, fragt man dann. Spende doch; tu' Gutes auch noch, wenn du nicht mehr bist!, rät man dann. Weigert man sich, weil man beispielsweise ein schlechtes Gefühl dabei hat, sich als ausgeschlachteten Kadaver vor dem geistigen Auge zu sehen, schimpft man das gerne als Egoismus. Zu viel Anhänglichkeit an den eigenen Körper, gilt als verantwortungslos in einer Gesellschaft, die nur an lebendigen Körpern hängt; die Körperlichkeit als eine ökonomische Frage zwischen Kosten und Nutzen begreift.

Sich selbst ausreichend Würde schenken, als kompletter Torso seiner eigenen Beerdigung beiwohnen zu wollen, begreift man gesinnungsaktivistisch, gesinnungsterroristisch, wie man zuweilen ist, als Anschlag auf die allgemeine Medizin und auf den Anspruch der Allgemeinheit, möglichst lange und gesund leben zu wollen. Dass der verstorbene Körper einen selbst gehört, das will man als Anachronismus verstehen - in einer Zeit, da die Wissenschaft Leben rettet, sollte wohl auch die verstorbene körperliche Materie an die Allgemeinheit zurückgehen. Umkehrung der Eigentumswerte - eine Art organischer Kommunismus. Ein kommunistischer Körper! Was in der Wirtschaft bis aufs Blut verteidigt wird, soll bei Individualrechten nicht mehr sein dürfen. Diese ganz besondere Erbschaftssteuer kommt allen zugute - das könnte man daher ruhig gegen Ethik und Anstand als Gesetz verabschieden. So in etwa die Denkart. Man hüte sich vor denen, die es besonders gut meinen, denn ihr Handeln ist absolutistisch und jede Kritik ist damit ein Einwurf aus dem Reich des Bösen, daher rückständisch, dumm und gefährlich.

Organspende ausschließlich gut?

In Debatten zu der Erhebungspraxis ausbeutbarer Körpernachlässe sind sich alle einig, dass Organspende eine richtige Sache sei. Es wirkt fast so, als treffen in diesbezüglichen Talkrunden noch am Leben befindliche Organvorratslager aufeinander, die nur über die Organisation der Bevorratung disputierten, nicht aber über den Sinn der Lagerhaltung überhaupt. Totalverweigerung kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Einem derart ethischem Unterfangen, darf man sich doch nicht verweigern. Man kann über das Wie und die Modalitäten quatschen - aber die einzige akzeptable Wahrheit ist: der tote Körper hat eine Funktion, die er verdammt nochmal auch erfüllen soll. Deutlicher: der Körperhalter hat seiner Verantwortung vor der Gesellschaft nachzukommen. Organspende ist schließlich gut - und weil dem so ist, muß man mitmachen.

Nun kann man zur Organspende stehen wie man will. Vermutlich ist sie so schlecht wie sie gut ist. Vor- und Nachteile, Pro und Contra: Abwägen letztlich, wie alles hienieden abwägbar ist. Organspende hat die ars moriendi, den Umgang mit dem Tod, einmal mehr aus unserem Alltagsleben gelöst. Siechtum wird an die Peripherie unserer Gesellschaft verfrachtet. Insofern haben religiöse Kritiker der modernen Medizin durchaus recht, denn der Sterbende wird heute nicht mehr als zum Leben zugehörig empfunden, sondern als austherapierter Sonderfall, dem man möglichst wenig begegnen möchte. Aber natürlich kann man nicht sagen, dass Organspende daher per se verwerflich ist. Sie nutzt ja offensichtlich Menschen, spendet ihnen nochmals Lebenszeit - das ist nicht zu verachten, denn das wäre letztlich tatsächlich unmoralisch. Gleichwohl ist der Betrieb um die Organspende aber als eine ausschließlich persönliche Entscheidung zu sehen. Für den Spender wie für den Empfänger auch. Es gibt genug Menschen, die ein neues Organ nicht wollen - und es gibt Menschen, die sich aus vielerlei Gründen nicht posthum zerpflücken lassen möchten.

Die krude Theorie der Befürworter ist ungültig

Selbst wenn es keine Gründe gibt, mit der man die Ablehnung rechtfertigen könnte, so hebt dies das Monopol am eigenen Körper doch nicht auf. Diese Entscheidung ist unangreifbar - sie darf auch nicht als Entscheidung dagegen verstanden werden. Erstens sollte der Mensch a priori Nichtspender sein, bis er sich anders äußert, womit man sich schon mal nicht explizit dagegen aussprechen muß. Und zweitens ist selbst eine bewusste Entscheidung gegen die Organentnahme nach dem Ableben keine Entscheidung gegen die Lebensansprüche eines anderen Menschen, der ein solches Organ benötigte. Anders gesagt: wenn ich mich weigere, mein Herz nach dem Tod zur Verfügung zu stellen, dann verweigere ich einem Herzpatienten damit nicht sein Weiterleben, ich entscheide mich lediglich für die Vollständigkeit meiner sterblichen Überreste, meines Körpers letzthin. Darüber frei zu verfügen, das ist nicht Verweigerung, es ist vielmehr posthume Körperbejahung und auch im Tode legitim. So gesehen die Allumfassenheit von Körper und Geist, die selbst nach dem Ableben erhalten bleiben kann und darf.

Die krude Theorie der Befürworter eines generellen Organspendengebotes enteignen den Körper - den toten Körper, um ehrlich und genau zu sein. Das mindert den Raub jedoch nicht. Sie rauben die Ansprüche desjenigen, der sein Leben mit diesem Körper verbrachte und überstellen ihn den Allgemeinheit. Dagegen gilt es sich entschieden zu wehren. Solche Absichten sind die geistige Vorstufe derer, die in den Favelas junge Kinder rauben und ausschlachten, um in den reichen Industrienationen deren Innereien zu verscherbeln. Im Angesicht dieses Leides, das manchem Kind in Südamerika widerfährt, wäre die Organspende generell zu überdenken - auch das wäre ein Ansatz für einen Rat, der sich Ethikrat nennen möchte. Aber hier wagt sich niemand ran...



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Diese EU hat keine Berechtigung mehr

Dienstag, 7. Februar 2012

Es ist völlig unerheblich, ob die Rettung Griechenlands gelingt oder nicht. So oder so, Griechenland ist für Europa verloren. Nachzügeln werden Portugal, Spanien und Italien. Auch sie werden für den europäischen Gedanken, ein Zusammenleben in Frieden und Harmonie, verloren sein. Und vergleicht man die Situation dieser Länder mit dem Deutschen Reich nach dem großen Krieg von 1914 bis 1918, so kann man immer weniger ausschließen, dass in jenen Ländern Gruppierungen oder Parteien auferstehen, die in eine totalitäre Gesellschaft lotsen. Das Verständnis der Deutschen vor knapp einen Jahrhundert war, von totalitären Regimes in die Mangel genommen zu werden - der Totalitarismus der Siegermächte war der fruchtbare Boden für den Totalitarismus, der in Deutschland erwachte. Warum sollte das heute andere Resultate zeitigen?

Welches Grundvertrauen in Europa sollten die Griechen denn noch haben? Die griechische Oberschicht kann freilich weiterhin vertrauen - dicke Säckel beruhigen gemeinhin. Aber was machen all jene, die auf Geheiß der EU in Armut oder gar Hunger bugsiert wurden? Selbst wenn Griechenland gerettet wird... was immer das heißen soll. Man weiß ja immer weniger, was Rettung sein soll, was wem nützt, wer wem schadet. Selbst wenn Griechenland gerettet wird, was soll der griechische Rentner denken, der kaum satt wird? Was der hellenische Arbeitslose? Konjunktur hat in Griechenland nur die Arbeitslosigkeit; das Geschäft mit der Ungeschäftigkeit boomt. Wie kann man erwarten, dass diese "Boomer" der Krise jemals wieder europäisch denken oder fühlen werden, ja überhaupt wollen?

Politik ist heute ökonomischer Sachzwang - Politik ist versachzwangt worden. Und alles, wirklich alles dreht sich um Geld. Um nichts sonst! Die Politik, die so tut, als habe sie das Primat, ist nichts weiter als die verlängerte Greifzange der Wirtschaft, die das Primat hartnäckig an sich gekrallt hat. Wie kann die europäische Politik aber so bedenkenlos den europäischen Konsens umgehen? Ist es nicht auch politische Aufgabe, ja historischer Auftrag geradezu, bei aller sorgenvollen Krisenbewältigung, die Grundpfeiler der europäischen Idee zu schützen und zu stützen? Müsste sie nicht ernsthaftes Interesse daran zeigen, alle Völker Europas immer und immer wieder positiv für das Projekt zu stimmen? Harmonie und Zusammenhalt als Basis auch dann bewahren, wenn wirtschaftliche Souffleure etwas flüstern, was dem schaden könnte? Ist die Verwaltung und Interessensvertretung, was ja Politik ist, nicht auch den immateriellen Leitbildern verpflichtet und nicht nur der schnöden wirtschaftlichen Einträglichkeit? Lohnt es sich, für eine Handvoll Moneten Errungenschaften wie die Demokratie zu kippen?

Was soll das Theater eigentlich noch? Die Griechen werden ohnehin der europäischen Idee nichts mehr abgewinnen können, für sie ist die Mitgliedschaft in der EU zum Einfalltor für die Diktatur geworden. Andere EU-Mitglieder fordern keck die Entmachtung der griechischen Regierung - Krisenzeiten rechtfertigen scheinbar jede Frechheit. Wann marschieren EU-Truppen in Athen ein? Sperrt man entmachtete Regierungsmitglieder ein, die sich der neuen Besatzungsmacht nicht beugen wollen? Werden Mitglieder der sich formierenden Exilregierung standrechtlich... man will es gar nicht aussprechen! Und das hungernde Volk, das keinerlei Zukunftsperspektiven mehr, das desillusionierte Jugendliche in seinen Reihen hat, und von den Wertschöpfungen eines reichen Europas ausgeschlossene Kinder? Wie zimperlich darf eine Besatzungsmacht sein, die sich halten will, die was auf sich hält? Schießt sie? Droht sie nur? Wieder deutsche Soldaten in Griechenland? Was macht man mit Greisen, die schier durchdrehen, weil sie die Bundeswehr mit der Wehrmacht verwechseln? Die an früher denken, als schon mal Deutsch in Griechenland gesprochen wurde? Nennt man das psychische Störung, Trauma oder südländischen Hang zur Tragödienhaftigkeit?

Das sind Übertreibungen. Noch plant niemand einzumarschieren. Noch! Wer hat denn vor zwei oder drei Jahren, bei aller repressiven Politik der EU, die es damals schon gab, geglaubt, ein Mitgliedsland, das sich selbst als Demokratie schimpft, würde einen Gauleiter ins Gespräch bringen, der dem griechischen Volk vor die Nase gesetzt würde? Wer hätte nicht gedacht, dass ein solcher in den Raum geworfener Gedanke ein Raunen zur Folge hätte, die Vertreibung desjenigen, der dies vorschlägt, aus Amt und Mandat? Wer hätte vor einigen Jahrzehnten denn gedacht, dass Europa, ausgerechnet dieses kriegsgebeutelte Europa, in dem die Erfindung des Asylgedankens zwangsläufig war, eine Asylpolitik betreiben würde, die auf die Bedürfnisse und Ängste des Flüchtlings überhaupt keine Rücksicht mehr nimmt? Wer hätte das gedacht? Und trotzdem ist es so gekommen. Wie selbstverständlich ist es so gekommen - und wie selbstverständlich nahm man es hin - und wie selbstverständlich denken mir hin und wieder, es sei niemals anders gewesen.

Selbst wenn man die griechische, später die spanische und portugiesische und italienische Regierung nicht entmündigt, selbst wenn man diesen Völkern keine Spardespoten vorsetzt, dürfte der Zuspruch zu einem Europa, das sich solche Szenarien auch nur vorstellen kann, so gut wie geschwunden sein. Wer will einem Staatenbund angehören, in dem die nationale Immunität keinen Pfifferling wert ist - und das genau dann, wenn Zusammenhalt dringend notwendig wäre. Finanzielle Hilfe ist eine Sache - den Esprit der Veranstaltung zu bewahren, koste es was es wolle, wäre mindestens genauso wichtig. Oder noch wichtiger! Wie soll man Menschen weiterhin für Europa begeistern, die ins Auge der Tyrannei blickten? Die erwarten mussten, von Europa in eine Mangel- und Hungerdiktatur gezwungen zu werden? Mangel bekommen sie auch ohne Gauleitung erteilt - zynisch könnte man nun entkräften: das geschieht wenigstens mit Mandat! Aber dann auch noch demütigen und ohne Mandat verknappen, beschneiden, vorenthalten, hungern lassen? Wer will denn ein solches Europa? Wer will ein Europa, das teilnahmslos zusieht oder gar Armut anfacht, wo Anteilnahme und Solidarität gefragt wäre? Eine solche EU hat keine Berechtigung mehr...

Die EU unter hartnäckiger Anleitung Deutschlands und Frankreichs, ist zur seelenlosen Veranstaltung geworden. Welche europäische Vision man hegte, war schon vormals bekannt, als man den EU-Vertrag rücksichtslos durchpaukte - eine Verfassung, die nicht so heißt, die auch keine ist, sondern eine in Gesetz gepackte Wirtschafts- und Militärunion. Eigentlich folgerichtig, wenn nun auch der militärische Aspekt ausgetestet würde in Athen, oder etwa nicht? Aber welche Ideale vertritt diese Europäische Union, die einst antrat, das Leben in Europa zu vereinfachen und zu befrieden? Nie wieder Krieg!, hoffte man, rief man auch zuversichtlich. Europa sollte aus gleichberechtigten Partnern bestehen. Und jetzt würde man einen Partner entmündigen, wenn nur alle Mitgliedsstaaten mitzögen - und solche Gedankengänge spricht man aus, ohne auch nur zu erröten. Und der Krieg? Wie schafft man Frieden, wenn man eben diesen mit Knobelbechern tritt? Was ist von der Idee noch übrig? Und wer kann sich für diese entleerte und substanzlos gewordene Idee noch begeistern?

Die Griechen sind als europäisches Volk unter europäischen Völkern verloren. So oder so, ob Rettung oder nicht, die EU kann nicht mehr besonders attraktiv wirken. Sie zeigt sich als repressiver Verein, als eine Wertegemeinschaft ohne Werte - ohne ideele Werte, pekuniäre Werte hingegen hält man ausreichend aufrecht. "Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten", schrieb Kant in Zum ewigen Frieden. Mag es noch so große Aufopferung kosten: ein Stoizismus, der eindeutig macht, dass zwar Krise herrsche, dass es allerdings trotzdem allgemeine Menschenrechte, dass es einen Anspruch auf Demokratie gibt - das wären Ideale, die die EU benötigte! Fiat justitia et pereat mundus - und geht die Welt dabei unter: es bleibt Recht, es bleibt Demokratie, es bleibt Volkssouveränität! Aber das ist mit dieser EU der Krämer und Händler nicht zu machen!



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Nicht rechts, nicht links

Montag, 6. Februar 2012

Steinbach hat einen Eklat ausgelöst. Die NSDAP, so zwischerte sie, sei links angesiedelt gewesen. Im Parteinamen stehe immerhin sozialistisch und Arbeiter. Das ist ihre erste Fehlannahme, denn sozialistisch und Arbeiter passt per se nicht unbedingt zusammen. Dass die Nazi-Partei linksgerichtet war, das ist jedoch nicht nur eine Fehlannahme, es ist infam, denn die politische Linke wird gemeinhin mit Attributen wie fortschrittlich oder liberal beschrieben. Nichts davon war in der NSDAP zu finden. Das Gegenteil, die NSDAP sei eine rechte Partei gewesen, konservativ und reaktionär, Eigenschaften die man der politischen Rechten gerne zuschiebt, stimmt aber durchweg auch nicht. Autoritär und obrigkeitsstaatlich war sie zwar durchaus - auch zwei Adjektive, die man zuweilen rechts einordnet. Aber da auch andere Systeme weitab des Nationalsozialismus autoritär und obrigkeitsstaatlich orientiert waren, fallen diese Definitionen zur Einordnung aus.

Legendenbildungen

Das Kapital war der Steigbügelhalter des Nationalsozialismus. Die Wirtschaftsbarone drückten dem Volk die NSDAP aufs Auge. Nationalsozialismus, Faschismus als Sammelbegriff, ist die Endstufe des Kapitalismus, die abgeworfene Maske des Kapitals. Das sind die Legendenbildungen und Erkenntnisse linker Schule, sozialistischer Provenienz. Die birgt Teilaspekte, nicht aber die gänzliche Erklärung des Phänomens. Wähler und Anhänger der SPD fielen seinerzeit schnell um und integrierten sich in die NSDAP oder wenigstens in deren ideologisches Umfeld. Selbst KPDler liefen schnell über. Die kapitalistische Verschwörung hatte demnach proletarische Mitläufer.

Gegenposition dazu ist, dass die NSDAP eine Proletarierbewegung war, die Massen mobilisierte und den Staat und die Wirtschaft überrumpelte. Auch das ist Legende, denn die größte Anhängerschaft fanden die Nationalsozialisten in elitären Zirkeln: Ärzte, Rechtsanwälte und Studenten. Die waren überproportional in der NSDAP vertreten oder dachten mehr als andere gesellschaftliche Schichten nationalsozialistisch. Wobei auch festzuhalten ist, dass nie so richtig klar war, was das bedeutete, nationalsozialistisch zu denken. Viele innerhalb der Bewegung und ihrer Zuträger- und Randgruppen definierten sich über den Nationalismus oder den Antisemitismus, esoterische Gemüter ereiferten sich stärker am eschatologischen Messianismus - und nicht wenige betonten den Sozialismus, der allerdings mit der Verdrängung der Strassisten aus der NSDAP, nur noch als Label vorhanden war.

Der Mittelweg

In den Anfangsjahren, da die NSDAP inhaltlich kaum markantes Profil zeigte, zwischen ungestümer Eschatologie und orgiastischen Messianismus, zwischen antisemitischen Eskapaden und nationalen Feuereifer, schwebte, war das Leitbild für viele, die zu dieser Partei strömten: ein Sozialismus auf nationaler Basis. Die Leute um Strasser fühlten sich als nationale Sozialisten - aber: sie vertraten natürlich einen rassischen Sozialismus, einen mit antisemitischen Zügen, einen Blut- und Boden-Sozialismus, bei dem Vergesellschaftung arisiert sein sollte. Sie waren kapitalismusfeindlich, wollten eine Entmachtung der Wirtschaftsbarone; die sollten sich der nationalen Sache unterordnen und einer Versöhnung zwischen Proletariat und Bourgeousie, wenn nötig mit repressiver staatlicher Gewalt, zustimmen.

Dieselbe Stoßrichtung gab der Fascismo Mussolinis vor: das agrarische, ausgetrocknete und arme Italien sollte mit dem industriellen, prosperierenden und reichen Italien durch ein korporatives Wirtschaftsmodell vereint werden - das war das klassen- und regionalkämpferische Dilemma Italiens seit den Zeiten des Risorgimento. Der italienische Zentralstaat hatte gegensätzlich wirtschaftlich ausgeprägte Regionen und somit Geisteshaltungen (Kapitalismus und sozialistische oder anarchistische Denkweisen) zu vereinbaren. Das gelang allerdings nicht, Italien war weiterhin ein uneinheitliches Gebilde, innerlich zerrissen - der Fascismo sollte dem abhelfen und einen Mittelweg entwerfen, auf dem Italien gehen konnte. Sozialismus oder Kapitalismus? sollte als Gretchenfrage wegfallen, denn der Fascismo war als Kompromiss geplant. Bezeichnenderweise war Strasser vorher SPD-Mitglied, so wie Mussolini sozialistischer Funktionär war - was nicht als Beweis gelten kann, jedoch Erklärungsansätze liefert. Die Zusammenführungen verschiedener Tendenzen in einer Gesellschaft, um ein hehres Motiv auszugeben, das gemeinhin als Die Nation bezeichnet wurde, fiel bereits im Bonapartismus auf, was August Thalheimer dazu bewog, im Frankreich Napoleons III. den Vorreiter faschistischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu erahnen. Somit wurde Marx zum ersten Faschismusanalysten - seine Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte dokumentiert die Aufhebung der Klassengegensätze zur Montage eines Staates, der sich als Einheitsfront gegen partikulare Bestrebungen begreift, nicht als Vermittler zwischen klassenkämpferischen Positionen.

"Ich will und werde zu Ihnen so sprechen, wie ich eben vor Abertausenden von Arbeitern gesprochen habe. Früher mußte sich der Redner immer einstellen auf Klassen und auf die Schichten und Berufe." So sprach Robert Ley, Leiter der Deutschen Arbeitsfront und führender Nazi, vor Wirtschaftsfunktionären. Das verdeutlicht anschaulich, dass man glaubte, den Mittelweg eingeschlagen zu haben - dass man glaubte, jetzt regelten nicht mehr Klassenkämpfe und -interessen die innerstaatlichen Prozesse, sondern ordneten sich alle der großen Idee, dem Vaterland oder der Nation, wie immer man das auch nennen wollte, unter.

Neudefinierter Sozialismus

Dieser vermeintliche Mittelweg wollte nichts mit dem Bolschewismus gemein haben, aber auch die individuellen und egoistischen Interessen der Kapitalisten endgültig bannen. So bestückte der Nationalsozialismus den Kapitalismus mit "sozialistischen Elementen". Das war natürlich ebenfalls taktisches Kalkül. Er sollte Kompromiss sein und als solcher eine Massenbewegung sichern. The Economist schrieb in jenen Jahren, dass es "in Deutschland [...] daher ratsam [ist], ja sogar notwendig, zugleich prokapitalistisch und prosozialistisch zu sein; und kein kluger Mensch [versäume] es, zu betonen, daß er beides sei."

Natürlich ist das frappierend gescheitert. Nicht nur, weil die Strassisten aus der Partei fielen. Der Nationalsozialismus gebar tatsächlich einige Elemente, die wir heute als sozialstaatlich bezeichnen würden. Es gab Unterstützungsprogramme - nicht aus Menschlichkeit, sondern um sich die Zustimmung der Massen zu erschleichen. Die Unterstützung wurde auch nicht blind gewährt. Es waren rassisch konzipierte, national gestrickte Elemente. Zugänglich bloß für Volksgenossen, nicht für jeden Bürger des Landes. Man wollte das auch selbst gar nicht zu laut als Sozialismus titulieren, um sich von Russland abzuheben. Das erzeugte Unmut bei einigen Parteifunktionären. Göring kritisierte mal diejenigen, die in dem Namen der Partei das Wort sozialistisch zugunsten von national vernachlässigten.

Und um sich vom Bolschewismus abzugrenzen (den man für eine jüdische Erfindung hielt, weshalb er sentimental verkitscht sei, fürsorglich, gefühlsduselig und unnatürlich gleichmacherisch - alles Attribute, die man dem Judentum zugesellte und die im Bolschewismus überhaupt nicht in Erscheinung traten - zumal der Bolschewismus ja auch keine jüdische Weltverschwörung war), definierten einige NSDAP-Mitglieder ihren sonderbaren Sozialismus neu. Die Sentimentalität, die man dieser jüdischen Erfindung, dem Bolschewismus, nachsagte, rang Robert Ley die spöttische Parole ab, dass dieser Sozialismus kein Mitleid sei. "Sozialismus des Heroismus, Sozialismus der Männlichkeit", nannte Goebbels die gepredigte Ideologie des Reiches. Der Angriff schrieb: "Sozialismus ist Lebensbejahung, Sozialismus ist Gemeinschaft, Sozialismus ist Kampf, Sozialismus ist Kameradschaft und Treue, Sozialismus ist Ehre. Sozialismus, mein Freund, ist das Blut und die Rasse, der heilige tiefernste Glaube an einen Gott." Mit Vergesellschaftung und der Bändigung des Wirtschaftsliberalismus zur Hebung des Gemeinwohls, mit Stärkung des Arbeiterstatus und dergleichen mehr, hatte diese Sozialismus-Definition überhaupt nichts mehr zu tun.

Links, rechts; schwarz, weiß; utopisch, nicht-utopisch

Die heute platten Kategorisierungen in links und rechts, die man auf Stalinismus und Nationalsozialismus überträgt, sind eigentlich unzureichend. Denn weder war der "deutsche Sozialismus" besonders sozial noch sozialistisch, noch fortschrittlich oder weltoffen. Er war kurz gesagt vielleicht ein Sozialismus für die, die in ihm einen Sozialismus erkennen wollten, aber links war er deshalb noch lange nicht. Er war eine Diktatur der bürgerlichen Mitte, eine Zusammenlegung diametral auseinanderdriftender Gesellschaftsinteressen zugunsten eines gemeinsam ersonnenen Zieles, Vaterland oder Nation genannt. Es war auch die Diktatur des nach der Mitte schielenden Kleinbürgertums. Bonapartismus nach Thalheimer, ein Ziel übrigens, das man im Konzept bundesrepublikanischer Volksparteien durchaus wittern kann, denn auch dort sollen innergesellschaftliche Interessenskonflikte überwunden oder ausgeblendet werden, um das gemeinsame Ziel, hier Wachstum oder Wohlstand oder Fortschritt genannt, zu verwirklichen - dass die Ära der Klassenkämpfe überwunden sei, wie man das heute oft hört, ist durchweg eine bonapartistische Gesellschaftsauffassung.

Auf Steinbachs Äußerung, die so falsch wie dumm war, kann man nicht mit links und rechts kontern, weil diese Bezeichnungen Begrifflichkeiten sind, die bereits vor dem 20. Jahrhundert existierten - eigentlich waren sie schon veraltet, als der Kommunismus und der Faschismus in die Welt kamen. Der Stalinismus kam aus sozialistischen Gefilden, dennoch war er vielleicht eher rechts, zwar nicht konservativ, dafür aber reaktionär, hat er doch die Leibeigenschaft unter neuen Namen eingeführt - und einen Zaren von solcher Machtfülle installiert, wie ihn Russland zuvor nie gesehen hatte. Autoritär war er ohnehin. Der Nationalsozialismus mag sozialistische Attribute beinhaltet haben, auch aus taktischen Gründen, auch deshalb, weil man die Mär aufrechterhalten wollte, sich zwischen Kapitalismus und Sozialismus als goldener Mittelweg zu schlängeln, aber links war er deshalb noch lange nicht. Das bedeutet letztlich, dass man auf den zur Schau getragenen historischen Dilettantismus dieser Frau und BdV-Präsidentin, die Die Linke mit der NSDAP vermengen will, nicht mit links und rechts parieren sollte, auch gar nicht kann. Die Scheidung der Welt in schwarz und weiß, rechts und links, ist ohnehin kaum möglich.

Das heißt nicht, dass es keine Unterschiede gab, denn der vermeintlich faschistische Mittelweg hatte kein Endziel - später kannte er nur den Endsieg als Selbstbehauptungszweck. Der Faschismus als Vermittler zwischen Ideologien kannte kein Evangelium, in dem Menschlichkeit gepredigt wurde - eher das Gegenteil war der Fall. Der real existierende Sozialismus aber, gleich wie menschenverachtend er dann auch ausfiel, er nannte solche Ziele durchaus. Theoretisch, ohne Frage - aber es gab immerhin ein Leitmotiv. Faschismus war Selbstzweck, Vermittlerrolle war Mittel zum Zweck - der Sozialismus war erst Mittel zu einer besseren Welt, wurde dann zum Selbstzweck einer Bonzokratie missbraucht. Das ist der wesentliche Unterschied: Hier keine utopische Schau; dort die Utopie. Hier Ziele, die undefiniert blieben; dort unerreichte Ziele - aber immerhin Ziele.



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