Einige Tage sind vergangen, doch die Zeitungswelt hat sich kaum kritisch gegenüber den Äußerungen Sarrazins verhalten. Kaum ein Einwurf, der Sarrazin gerecht bewertet und tituliert, kaum ein Kommentar, der die um sich geworfenen Verächtlichkeiten dieses Herrn als historischen Rückgriff entlarvt, kaum eine Polemik, die das verquere Weltbild dieses Mannes wenigstens ins Lächerliche zieht, wenn man schon nicht ernsthaft an die Sache herantreten will. Nichts, gar nichts ist passiert, der Aufschrei der Anständigen blieb aus – die Anständigen haben den Exodus angetreten, haben ihre Schreibtische geräumt und schreiben nicht mehr für die Presse.
Was stattdessen herrscht, oder besser: wer stattdessen herrscht, das sind die Toleranten, hemmungslose, grenzenlose Jünger der Toleranz. Er habe zwar nicht diplomatisch gehandelt, war vielleicht auch einen Tick zu grob in seiner Wortwahl, das müsse man schon zugeben, aber generell und genau betrachtet habe er ja nicht ganz unrecht, spreche er ja nur ungeschickt aus, was an Wahren in der Gesellschaft gärt. Seine Meinung wird toleriert, lediglich sein Stil, seine Platzhirschmentalität wurde zum Gegenstand dezenter Kritik. Man toleriert, man ist tolerant, übt sich in Toleranz. Meinungsfreiheit sei eben eine Toleranzfrage. Die Toleranz, so wie wir sie heute (wieder) erleben, ist aber der Totengräber jeglicher Moral, erstickt die Gesellschaftspolitik in einem Sumpf der Morallosigkeit, in dem das Gute, Schöne, Wahre gleichberechtigt neben dem Schlechten, Hässlichen, Verlogenen steht.
In Klaus Manns „Mephisto“ findet sich eine Passage, die die bürgerliche Toleranz in der Zeit vor 1933 kritisiert, zumindest aber kritisch hinterfragt. Hendrik Höfgen, noch nicht kollaborierend mit den Nationalsozialisten, weil die noch keinen Machtfaktor darstellen in der moribunden Republik, stattdessen der sozialistischen Sache nahestehend, dieser Höfgen also maßregelt seine Frau, eine biedere Bürgerstochter, die mit einem Mitarbeiter, einem Nebendarsteller seines Theaterensembles, Diskussionen führte. Dieser Mitarbeiter ist bekennender Nationalsozialist, glühender Hitlerianer, träumt von einem Paradies, in dem der Herrgott Schnauzbärtchen und Seitenscheitel trägt. Später, wenn dieser Traum Wirklichkeit geworden sein wird, wird der Darsteller enttäuscht sein, resignieren, weil die Revolution für ihn fruchtlos verlief, weil sich eine neue Bonzokratie herausgeschält hat – aber das tut hier nichts zur Sache. Frau Höfgen wollte ihn verstehen, redete ihm gut zu, sah in ihm eine gescheiterte Seele, verstand seine Vorstellungen nun auch, obwohl sie sich weiterhin vor dieser ominösen Revolution unter dem Zeichen des Hakenkreuzes fürchtete. Ihr Bürgerlichen mit eurer ewigen Toleranz, immer nur diskutierend, sogar mit Nazis, meint daraufhin Hendrik Höfgen. Mit denen gäbe es gar nichts zu diskutieren. Er trifft in gewisser Weise den Nagel auf den Kopf. Die Toleranz ist fehl am Platz, wenn sie an der Seite des offensichtlich Falschen positioniert wird. Verstehenwollen ist eine Sache, aber deswegen muß man nicht zur Toleranz gezwungen sein. Man kann das Motiv eines Mordes verstehen, kann sich menschlich in den Täter hineindenken, vollkommen begreifen, warum er in dieser Situation so handeln mußte - aber man muß den Mord als Mittel der Problemlösung nicht tolerieren.
Gerhard Polt, bayerischer Kabarettist meinte einmal in einem seiner Bühnenprogramme, dass man nicht immer tolerant sein könne, denn man müsse doch Standpunkte haben, man müsse doch auch mal Nein sagen können. Nur ein Rindvieh sei immer tolerant. Außerdem, so legt Polt dar, käme der Begriff der Toleranz aus dem Lateinischen, bedeute so viel wie "ertragen, erdulden". Wenn jemand im Mittelalter gefoltert wurde, wenn er auf die Streckbank gelegt wurde und diesen schmerzhaften Prozess überlebt, wenn er diese Schmerzen ertragen habe, dann habe man auf den Geläuterten gedeutet und gesagt: Schau hin, der war tolerant! Dieses kabarettistische Verdrehen des Wortsinns, diese humoristische Metapher, verdeutlicht besonders eindringlich, was es bedeutet, immer Toleranz walten zu lassen – es ist, als wie wenn man auf einer Streckbank liegt. Es ist, als ob man etwas erduldet, was man eigentlich nicht erdulden will, eben in diesem Falle die Schmerzen langgezogener Sehnen und Muskeln.
Ein kurzer, aber fundamental wichtiger Einwurf ist natürlich notwendig. Sich der Toleranz zu verweigern bedeutet nicht, gegen alles und jeden zu sein, bedeutet nicht, um das berühmte Beispiel heranzuziehen, das Kopftuch einer Muslima nicht mehr erdulden zu wollen, sofern sie es freiwillig trägt, aus Überzeugung trägt. Denn Intoleranz in unserer Gesellschaft wird nur dort angewandt, wo es um Privatheiten geht, um Persönlichkeitsrechte. Man läßt zu, dass ein Hanswurst über asoziale Elemente spricht und versteht sich als ach so tolerante Gesellschaft, obwohl mit solchen Worten ein ganzes Gesellschaftsgefüge brüchig werden kann und auch wird, sofern man diese Auswürfe geistigen Stumpfsinns nicht eingrenzt; aber trägt eine Muslima Kopftuch, dann gehen die Schmähungen los, dann wird gedeutet und mit den Armen gefuchtelt und vom Untergang des Abendlandes phantasiert, da ist man bekennend intolerant, weil man ja Positionen beziehen müßte. Ob wir an Sterilisationsdebatten oder am Kopftuch zugrundegehen werden, wird uns die Geschichte weisen - mit etwas Weitsicht läßt sich eine Tendenz aber heute schon erkennen.
Es ist dringend notwendig, dass wir am richtigen Ende intolerant werden, es ist notwendig, dass wir die Intoleranz dort abschaffen, wo sie uns nicht schaden kann. Kopftuch, Homosexualität, alternative Lebens- und Wohnmodelle, Ehen zwischen jungen Männern und älteren Frauen, Glatze oder Punkerlook – solche und andere Motive der Intoleranz sind belanglos, weil sie keinem wehtun, weil sie reines Privatvergnügen sind. Man mag nicht davon überzeugt sein, dass das Kopftuch eine großartige menschliche Errungenschaft sei, aber das ist, auch wenn es uns nicht gefallen mag, durchaus etwas, was sich ertragen, erdulden, tolerieren läßt. Aber wo gegen Mitmenschen gehetzt wird, wo Arme verächtlich, wo Alte nutzlos geredet werden, da kann keine Toleranz mehr walten. Denn das geht uns alle an, das tut uns allen weh, das zerdeppert eine im Keim noch humanistisch gesittete Gesellschaft, die an sich sowieso schon verkrüppelt ist, es daher nicht gebrauchen kann, von irgendwelchen marodierenden Sterilisationsbefürwortern vollkommen ruiniert zu werden.
Laßt uns intolerant sein, vollkommen intolerant gegen solche Einfaltspinsel, die meinen, sie könnten mit ihrem Hass eine Gesellschaft herbeireden, in der der Mensch eine Randnotiz der Wirtschaft zu sein hat. Eine Wirtschaft freilich, die dem Übermenschen dient, der davon lebt, dass andere für ihn arbeiten oder für ihn sterben, wenn sie nicht nutzvoll in den Produktionskreislauf eingebunden werden können. Was diese Gesellschaft braucht ist eine vollkommene Umwertung aller Werte, nicht im Sinne Nietzsches freilich, aber im Sinne dessen, was wir täglich ertragen müssen. Wir brauchen mehr Toleranz auf der einen Seite, mehr Verständnis und daraus resultierend mehr Akzeptanz, wenn es darum geht, ausländische Mitmenschen, Asylbewerber, sozial Unterdrückte, in Alternativmodellen lebende Menschen zu begreifen. Wir brauchen dringend mehr Intoleranz, wenn es darum geht, menschenverachtende Ideen und Vorschläge, faschistoide Denkansätze zu verwerfen.
Wir brauchen politische Intoleranz gegen das organisierte Übermenschentum, wir müssen das Neinsagen lernen, wir müssen aufstehen und offen aussprechen, dass für uns die Meinungsfreiheit eines Menschenschinders, und sei er auch bis dato nur verbal als solcher in Erscheinung getreten, keinerlei Wert besitzt. In diesem Land wurde eine Kultur der allmächtigen Toleranz gepflegt, die sich aber nur im Bereich eines bestimmten Rahmens bewegen durfte – innerhalb der etablierten Parteien, innerhalb der Wirtschaft. Dort wurde es zur Kulturleistung, jegliche Meinung gelten zu lassen, ohne große Gegenwehr. Entrüstete sich die Öffentlichkeit doch einmal, inszenierte man einen Schauprozess von kurzer Dauer. Aber wirkliche Konsequenzen mußten die Faschisten in der Maske des Demokraten nie befürchten. Es wird höchste Zeit, dass die Intoleranz wieder salonfähig wird in diesen hehren Kreisen, aber zunächst muß sie auf der Straße wachsen – nicht gegen Wehrlose, sondern gegen diejenigen, die uns wirklich angehen, gegen die lauten und stillen Machthaber. Es wurde lange genug tolerant geschwiegen. Eine tolerante Gesellschaft, die sich Sarrazins leistet und sich dabei auf die Schulter schlägt ob der eigenen Toleranz gegenüber solchen Kerlen, ist im Verfall bereits zu weit fortgeschritten, als dass man noch hoffen könnte, die Intoleranz würde noch einmal als Retter gegen den Wahnsinn in Erscheinung treten.
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