Gelehrte Ohnmacht
Mittwoch, 20. Mai 2009
Es ärgerte mich. Nein, es entrüstete, verletzte mich in meinem Rechtsempfinden zutiefst. Mein damals elf- oder zwölfjähriges vages Empfinden bezüglich Gerechtigkeit war erschüttert. Es handelte sich indes nur um eine Banalität, aber um eine, die mich alle Ohnmacht spüren ließ, von der ich bis dato noch wenig, zu wenig wußte. Da wir, die Schulklasse, mit einem Hefteintrag nicht fertig wurden, erregte sich die Klassenleiterin, eine notorische Schreckschraube mit Hang zur Melodramatik, in heftiger und quietschender Xanthippe-Manier. Die Pause solle nun dienen, das nachzuholen, was wir in der Stunde nicht vollbringen konnten oder wollten. Das war ihr Urteil, und wie Kafkas Bendemann warfen wir uns zwar nicht von der Brücke, aber direkt hinein in eine arbeitsame Pause.
Ich saß mit hungrigem Bauch da - hungrig war ich schon damals leidenschaftlich oft. Ich blickte durch das Klassenzimmer, auf meine Mitschüler, erkannte ebenso entrüstete Gesichter, vernahm ein leises Raunen, es rumorte zwischen den Bankreihen, es war deutlich spürbar. Unzufriedenheit, Entrüstung, da fühlten sich andere, nicht nur ich, ungerecht behandelt, wollten den despotischen Anflug der Pädagogenfurie nicht folgsam dulden. Jetzt muß es gleich losgehen, dachte ich mir, wenn einer aufsteht und revoltiert, dann stehe ich auch auf und gehe voran. Aber es stand keiner auf, alle blieben sitzen, alle taten das, was ungerechterweise von ihnen verlangt wurde. Ich auch. Dabei wäre es ein Selbstläufer, sinnierte ich, wenn nun einer die Initiative ergreift, stehe ich mit auf, sicher auch andere mit mir. Nur, so kam es mir später, am Nachmittag, als ich über den Hausaufgaben brütete, wenn ich zuerst aufgestanden wäre, wer wäre mir gefolgt? Wäre ich als ungehorsamer Einzelner mit einer Strafe belohnt worden, nur weil man mich im Stich gelassen hat? Womöglich dachten alle so.
Aber warum steht keiner auf, fragte ich mich, noch in der Schulstunde, das heißt, noch in dieser Pause. Verdammt, hier liegt doch ein Notfall vor, eine außerordentliche Frechheit, bei der jeder Ungehorsam entschuldbar sei. Wenn nun alle aufstünden, wenn alle zusammenstünden, dann schöben wir diese hysterische Kuh vor uns her, aber aufhalten könnte sie uns nicht. Vielleicht noch ein Weilchen, gleich würde jemand auf die Barrikaden gehen, da war ich mir sicher. Bestimmt jemand aus den elitäreren Kreisen unserer Klasse, die eloquenten Wortführer – mir mangelte es damals an Wortgewalt, so wie es den einstigen Wortgewaltigen heute an Eloquenz mangelt. Bestimmt würde sich gleich der Sohn oder die Tochter eines elterlichen Snobs erheben, Leute die sonst auch immer vorne dabei sind, wenn es um „verantwortungsvolle“ Pöstchen innerhalb der Klasse ging.
Doch ich irrte. Keiner stand auf, auch kein Elitesoldat. Gerade jene Leistungsträger waren es, die stur auf ihr Blatt Papier starrten, so taten, als hätten sie von der Frechheit der Lehrerin nichts mitgekriegt. Ignoranz als Grundlage unschuldigen Mitlaufens. Keiner stand auf, nicht in jenem Moment, auch kein Weilchen danach. Man tat, was verlangt wurde. Die Revolte war nicht einmal aufgeschoben, sie war überhaupt keine Option, nichts, was auch nur im Ansatz vorstellbar gewesen wäre - und schon gar nicht von denen, die sich sonst immer in die erste Reihe drängten. Ja, ich saß auch in dieser gelähmten Masse, habe mich ebensowenig hervorgetan, wie meine schweigenden Klassengesellen. Zur Entschuldigung ist bestenfalls vorzubringen, dass ich aber auch sonst ein schweigsamer, ja schüchterner Junge war, kein Rädelsführer, der, sobald die Lehrerin aus der Türe war, wort- und tatkräftig auf die Klassenschwächsten eingeschlagen hat.
Da wurde mir die Ohnmacht wahrscheinlich das erste Mal in meinem Leben bewusst. Mir wurde offenbar, dass eine große Masse Macht hätte, wenn sie nur wollte – mir wurde begreiflich, dass eine große Masse, die diese Macht aber nicht in Anspruch nimmt, eine schmerzhafte Erfahrung ist. Der Heranwachsende macht ja viele schmerzhafte Erfahrungen, man lernt nach und nach, dass die Welt kein Ort der Glückseligkeit ist. Diese Erfahrung, die Erfahrung der Ohnmacht, war eine der schmerzhaftesten, die mir widerfahren ist. Diese Ohnmacht schmerzt noch heute, sowohl wenn ich auf erlebte Ohnmachten zurückblicke, als auch aktuelle Ohnmachten, wenn die Lehrer an der Spitze der Politik und der Wirtschaft in die Pause hineinarbeiten lassen, obwohl es ihre eigene Unfähigkeit war, die zu diesem radikalen Schritt erst geführt hat.
Noch immer, obwohl lange Jahre vergangen sind, da ich aus dem Schulalltag ausschied, sitze ich als kleiner Junge in einem Klassenzimmer. Immer dann, wenn ich eine Ansammlung von Menschen wahrnehme, die von einer Lehrergestalt an der Nase herumgeführt wird, dann sehe ich mich in einer Schulbank sitzen, ohnmächtig und erschlagen von den hohen Wänden des Klassenzimmers. Viele meiner nächtlichen Träume, auch wenn sie nichts mit Schule zu tun haben, spielen in den Räumlichkeiten meiner ehemaligen Schule. Psychoanalytisch laienhaft könnte man interpretieren, dass meine Träume immer etwas mit Ohnmacht, immer mit etwas Kafkaesken, immer etwas mit der erdrückenden Allmacht meiner Schulkarriere zu tun haben könnte.
Gelernt habe ich zweierlei in der Schule. Lehrstoff und die Einsicht, dass die Ohnmacht allpräsent ist. Aber auch, dass man lernen kann, sich gegen diese Ohnmacht zu stellen. Die Revolte, die Fähigkeit des Neinsagens, die Courage einfach aufzustehen, sie schlummerte schon damals in mir. Mag das die doppelte Sturhaftigkeit eines Menschen sein, der aus zwei Bergvölkern hervorging, die ihrerseits für ihren sturen Kopf berühmt sind; mag das eben bayerisch-baskische Aversion vom Mitläufertum sein, uriges Ihr-könnt-mich-mal. Egal, warum, sie - die Revolte - schlummerte in mir, so wie sie auch schlummerte, als man uns den Toilettengang während der Schulstunde verboten hatte. Auch da entrüstete ich mich innerlich, war zerrissen zwischen Erwartungshaltung der Autorität und dem, was ich als natürliches Recht in mir verspürte. Aber ich schwieg, noch hatte die Autorität das Ruder in der Hand.
Heute würde ein solches Szenario anders verlaufen, noch einmal die Situationen erleben, denen man als Kind ausgesetzt war, noch einmal den kleinen und großen Ungerechtigkeiten dieser institutionalisierten Erwachsenenwelt ausgeliefert sein, als Kind ausgeliefert sein! Kind sein und wissen, was man heute weiß – das wäre mir ein provozierendes Vergnügen.
Meinen Kindern lehre ich, dass persönliche Courage einen Grundwert darstellt, den auch eine künstliche Autorität nichts entgegenzusetzen hat. Aber sie tun sich schwer, in einem Meer von Mitläufern, die den Freigeist wie einen verworrenen Spinner aussehen lassen. Stünde eines meiner Kinder auf, wenn die Klassenleiterin ein anderes Kind schlecht behandelte, würde laut verlangen, dass dieses Vorgehen sofort zu unterbleiben hat, ich wäre stolz, ich würde meinen Kind zur gezeigten Reife gratulieren. Dies hätte mehr Wert als hundert gute Zensuren, dies wäre ein Einser im nichtexistenten Schulfach „Mündigkeit und Zivilcourage“ - doch um solche "Fächer" geht es dieser Gesellschaft nicht, sie stellen einfach keinen Mehrwert her.
Ich saß mit hungrigem Bauch da - hungrig war ich schon damals leidenschaftlich oft. Ich blickte durch das Klassenzimmer, auf meine Mitschüler, erkannte ebenso entrüstete Gesichter, vernahm ein leises Raunen, es rumorte zwischen den Bankreihen, es war deutlich spürbar. Unzufriedenheit, Entrüstung, da fühlten sich andere, nicht nur ich, ungerecht behandelt, wollten den despotischen Anflug der Pädagogenfurie nicht folgsam dulden. Jetzt muß es gleich losgehen, dachte ich mir, wenn einer aufsteht und revoltiert, dann stehe ich auch auf und gehe voran. Aber es stand keiner auf, alle blieben sitzen, alle taten das, was ungerechterweise von ihnen verlangt wurde. Ich auch. Dabei wäre es ein Selbstläufer, sinnierte ich, wenn nun einer die Initiative ergreift, stehe ich mit auf, sicher auch andere mit mir. Nur, so kam es mir später, am Nachmittag, als ich über den Hausaufgaben brütete, wenn ich zuerst aufgestanden wäre, wer wäre mir gefolgt? Wäre ich als ungehorsamer Einzelner mit einer Strafe belohnt worden, nur weil man mich im Stich gelassen hat? Womöglich dachten alle so.
Aber warum steht keiner auf, fragte ich mich, noch in der Schulstunde, das heißt, noch in dieser Pause. Verdammt, hier liegt doch ein Notfall vor, eine außerordentliche Frechheit, bei der jeder Ungehorsam entschuldbar sei. Wenn nun alle aufstünden, wenn alle zusammenstünden, dann schöben wir diese hysterische Kuh vor uns her, aber aufhalten könnte sie uns nicht. Vielleicht noch ein Weilchen, gleich würde jemand auf die Barrikaden gehen, da war ich mir sicher. Bestimmt jemand aus den elitäreren Kreisen unserer Klasse, die eloquenten Wortführer – mir mangelte es damals an Wortgewalt, so wie es den einstigen Wortgewaltigen heute an Eloquenz mangelt. Bestimmt würde sich gleich der Sohn oder die Tochter eines elterlichen Snobs erheben, Leute die sonst auch immer vorne dabei sind, wenn es um „verantwortungsvolle“ Pöstchen innerhalb der Klasse ging.
Doch ich irrte. Keiner stand auf, auch kein Elitesoldat. Gerade jene Leistungsträger waren es, die stur auf ihr Blatt Papier starrten, so taten, als hätten sie von der Frechheit der Lehrerin nichts mitgekriegt. Ignoranz als Grundlage unschuldigen Mitlaufens. Keiner stand auf, nicht in jenem Moment, auch kein Weilchen danach. Man tat, was verlangt wurde. Die Revolte war nicht einmal aufgeschoben, sie war überhaupt keine Option, nichts, was auch nur im Ansatz vorstellbar gewesen wäre - und schon gar nicht von denen, die sich sonst immer in die erste Reihe drängten. Ja, ich saß auch in dieser gelähmten Masse, habe mich ebensowenig hervorgetan, wie meine schweigenden Klassengesellen. Zur Entschuldigung ist bestenfalls vorzubringen, dass ich aber auch sonst ein schweigsamer, ja schüchterner Junge war, kein Rädelsführer, der, sobald die Lehrerin aus der Türe war, wort- und tatkräftig auf die Klassenschwächsten eingeschlagen hat.
Da wurde mir die Ohnmacht wahrscheinlich das erste Mal in meinem Leben bewusst. Mir wurde offenbar, dass eine große Masse Macht hätte, wenn sie nur wollte – mir wurde begreiflich, dass eine große Masse, die diese Macht aber nicht in Anspruch nimmt, eine schmerzhafte Erfahrung ist. Der Heranwachsende macht ja viele schmerzhafte Erfahrungen, man lernt nach und nach, dass die Welt kein Ort der Glückseligkeit ist. Diese Erfahrung, die Erfahrung der Ohnmacht, war eine der schmerzhaftesten, die mir widerfahren ist. Diese Ohnmacht schmerzt noch heute, sowohl wenn ich auf erlebte Ohnmachten zurückblicke, als auch aktuelle Ohnmachten, wenn die Lehrer an der Spitze der Politik und der Wirtschaft in die Pause hineinarbeiten lassen, obwohl es ihre eigene Unfähigkeit war, die zu diesem radikalen Schritt erst geführt hat.
Noch immer, obwohl lange Jahre vergangen sind, da ich aus dem Schulalltag ausschied, sitze ich als kleiner Junge in einem Klassenzimmer. Immer dann, wenn ich eine Ansammlung von Menschen wahrnehme, die von einer Lehrergestalt an der Nase herumgeführt wird, dann sehe ich mich in einer Schulbank sitzen, ohnmächtig und erschlagen von den hohen Wänden des Klassenzimmers. Viele meiner nächtlichen Träume, auch wenn sie nichts mit Schule zu tun haben, spielen in den Räumlichkeiten meiner ehemaligen Schule. Psychoanalytisch laienhaft könnte man interpretieren, dass meine Träume immer etwas mit Ohnmacht, immer mit etwas Kafkaesken, immer etwas mit der erdrückenden Allmacht meiner Schulkarriere zu tun haben könnte.
Gelernt habe ich zweierlei in der Schule. Lehrstoff und die Einsicht, dass die Ohnmacht allpräsent ist. Aber auch, dass man lernen kann, sich gegen diese Ohnmacht zu stellen. Die Revolte, die Fähigkeit des Neinsagens, die Courage einfach aufzustehen, sie schlummerte schon damals in mir. Mag das die doppelte Sturhaftigkeit eines Menschen sein, der aus zwei Bergvölkern hervorging, die ihrerseits für ihren sturen Kopf berühmt sind; mag das eben bayerisch-baskische Aversion vom Mitläufertum sein, uriges Ihr-könnt-mich-mal. Egal, warum, sie - die Revolte - schlummerte in mir, so wie sie auch schlummerte, als man uns den Toilettengang während der Schulstunde verboten hatte. Auch da entrüstete ich mich innerlich, war zerrissen zwischen Erwartungshaltung der Autorität und dem, was ich als natürliches Recht in mir verspürte. Aber ich schwieg, noch hatte die Autorität das Ruder in der Hand.
Heute würde ein solches Szenario anders verlaufen, noch einmal die Situationen erleben, denen man als Kind ausgesetzt war, noch einmal den kleinen und großen Ungerechtigkeiten dieser institutionalisierten Erwachsenenwelt ausgeliefert sein, als Kind ausgeliefert sein! Kind sein und wissen, was man heute weiß – das wäre mir ein provozierendes Vergnügen.
Meinen Kindern lehre ich, dass persönliche Courage einen Grundwert darstellt, den auch eine künstliche Autorität nichts entgegenzusetzen hat. Aber sie tun sich schwer, in einem Meer von Mitläufern, die den Freigeist wie einen verworrenen Spinner aussehen lassen. Stünde eines meiner Kinder auf, wenn die Klassenleiterin ein anderes Kind schlecht behandelte, würde laut verlangen, dass dieses Vorgehen sofort zu unterbleiben hat, ich wäre stolz, ich würde meinen Kind zur gezeigten Reife gratulieren. Dies hätte mehr Wert als hundert gute Zensuren, dies wäre ein Einser im nichtexistenten Schulfach „Mündigkeit und Zivilcourage“ - doch um solche "Fächer" geht es dieser Gesellschaft nicht, sie stellen einfach keinen Mehrwert her.
14 Kommentare:
Hallo Roberto, danke für den Gedanken und den Artikel. Auch wenn ad sinistram sicher nur was für "Minderheiten" ist, wenn dadurch jeden Tag nur EINER anfangen würde, mal nachzudenken, wäre das schon ein Erfolg.
zwei Dinge, die mir beim Lesen des Artikels einfielen:
x-fach erlebt: Elternabend in der Schule der Kinder, gewaltiger Aufruhr der Eltern, dass ein Lehrer als "untragbar", unerträglich einzustufen sei.
Nach Beginn des Elternabends eine wundersame Veränderung: die vorher empörten Eltern wählen lieber den Weg, sich als Kontrast zu den Revoltierenden darzustellen, weil sie sich so einen Vorteil für ihre Kinder erhoffen= Revolution gescheitert.
Wer nicht gelernt hat, für bestimmte Prinzipien auch einzustehen, wird es nicht tun.
das zweite: Muss man nicht fürchten, dass man eine "Revolution" wegen einer gerechten Sache anzettelt, diese aber von der "unkritischen Masse" nur missbraucht wird für ganz andere, eher niedrige Zwecke ? Ist es nicht das, was auch die denkende, kritische Minderheit in allen Ländern fürchtet: Sie weiss, dass ihre kritische Sicht der Mehrheit nicht vermittelbar ist, weil es dieser an der Fähigkeit zu Begreifen fehlt.
Unsere sog. Demokratie, unser System ist doch gerade deswegen untauglich, weil sie der Masse (Quantität)den Vorzug gibt vor der Sinnhaftigkeit eines Arguments (Qualität). Deswegen ist sie so gut geeignet als Herrschaftsinstrument.
Es gibt (vor allem im Vergleich zu Frankreich) in diesem Land ein tief sitzendes Gefühl, dass sich kollektiver Widerstand nicht lohnt und man durch angepasstes Verhalten besser fährt. Es war kein geringerer als Brecht, der dieses Verhalten auf das kollektive Trauma des 30-jährigen Krieges zurückführte. Auch wenn man an solche 'Langzeitwirkung' nicht glaubt, fällt es doch auf, das in Deutschland die Angst der Herrschenden vor dem Volk im umgekehrten Verhältnis zu dessen Renitenz stand und steht.
Eine engagierte Sozialarbeiterin sagte mir unlängst: Ich trete schon lange nicht mehr für meine Kollegen ein, da ich die Erfahrung gemaht habe, dass ich im entscheidenen Moment, wenn ich als Sprecherin auftrete, keinerlei Unterstützung erfahre, obwohl mir alle zuvor vehement versichert hatten, voll hinter mir zu stehen und dies auch zum Ausdruck bringen zu wollen.
Natürlich ist das Unbehagen, das Ohnmachtsgefühl vorhanden, aber man richtet die angestaute Wut lieber gegen die Frau, den Hund, die Kinder, oder auch gegen sich selbst...
Mit meinem Ohnmachtgefühl umzugehen, lernte ich mit ca. 40 Jahren. Ich entschloss mich zu jener Zeit den Aufenthaltsort der Nonne ausfindig zu machen, in deren Obhut ich vom 10. bis zum 15.Lebensjahr war. Ich wolle ihr endlich sagen, was ich von ihren damaligen Erziehungsmethoden hielt.
Beim ersten Telefongespräch, nachdem sie mir meine Frage bezüglich ihres Alters beantwortete, geschahen tausend Dinge gleichzeitig.
Der Felsbrocken, den ich all die Jahre mit mir herumschleppte, löste sich in nichts auf. Da Nonnen im allgemeinen älter aussehen als sie sind, hätte ich mir nie vorstellen können, dass der Altersunterschied nur 15 Jahre war. Sie war also gerade mal 25 als ich ins Heim kam,30 bei meiner Entlassung und hatte die Verantwortung für 50 Kinder im Alter von 0 bis 15 Jahren.
Eine einzige Frage stellte ich mir und genau im folgenden Wortlaut: "Wie hättest du dich verhalten an ihrer Stelle?
Meine Antwort konnte nur sein: Wahrscheinlich viel schlimmer, mit deinem Hang zum Choleriker. Ich dankte dem Leben, dass es mich vor dieser Situation bewahrt hat.
Heute darf ich diese mir einst so verhasste Nonnen zu meinen besten Freundinen zählen.
Ich habe daraus gelernt, dass es auch die Seite des "Feindes" zu bedenken gibt. Jedenfalls kann ich heute aufstehen und ein Zeichen setzen, auf meine Art.
Ohne diese beschriebene Situation wäre ich mit Sicherheit nicht da wo ich heute im Leben stehe. DANKE!
Liebe Grüße
Margitta Lamers
Nachtrag:
Natürlich gelingt mir das nicht immer, aber immer öfter.
Ich glaube, diese Ohnmacht, diese Hilflosigkeit ist all jenen ein Begriff die sich ein gewisses Maß an Empathie und Leidensfähigkeit erhalten haben.
Und sofern diese Gefühle nicht in der erwähnten kafkaesken Paralyse enden sondern als Quell eines gesunden Zorns dienen (ich habe größten Respekt vor Georg Schramm)
stellen sie einen Wert an sich dar.
Ich fühlte mich irgendwie gerade auch in meine Schulzeit zurückversetzt und musste glatt automatisch an ähnliche Situationen denken, die mir auch wiederfahren sind. Ich war eine, die den Mut hatte auch jenen Lehrern zu widersprechen, die im Ostblock nur systemkonform unterrichteten und die solche Widersprüche nicht geduldet hatten. Ich habe aber auch zum Glück Eltern gehabt, die ihrerseits auch sehr kritisch über Vieles dachten, die mich deshalb auch ermutigt hatten, das zu sagen, was ich denke, so dass meine Mutter tierisch erbost war, als ich mich eines Tages erdreistete einige Beschönigungen im Geschichtsunterricht richtig zu stellen und mir dadurch der Rausschmiss drohte. "Wenns so kommt, werden wir es schon irgendwie durchstehen" - waren damals ihre Worte. Damals hatte das System auch schon breite Risse
Der Mut zur Wahrheit aber hat mich aber auch nicht wirklich weiter gebracht, denn oft erlebte ich eben jene Unmacht, die Du so gut beschrieben hast, und die Erfahrung, dass man am Ende immer der Dumme ist, wenn zu viele zu sehr gleich geschaltet sind. Ich habe deshalb auch viele Jahre in einer Art innerer Migration verbracht, mit dem Gefühl mit meiner ganzen Wut allein und machtlos zu sein. Die letzten Jahre waren deshalb fast schon eine Art Heilung, denn das Gefühl 'es immer schon gewusst und gesagt zu haben' ist ein sehr befriedigendes Gefühl für jemand, der eigentlich bloss nur die Welt so verstehen will, wie sie wirklich ist, ohne dabei durch eine Farbbrille durch zu sehen. Die Ohnmacht spüre ich aber auch immer noch, aber ein Gefühl in mir drin sagt mir, dass dieses Ohnmachtsgefühl nicht mehr von langer Dauer sein wird. Immer mehr Menschen sehen selbst, dass der Kaiser keine Kleider trägt und spüren am eigenen Leib das, was sie vor Jahren höchstens mal aus irgendwelchen Berichten kannten. Sozialer Abstieg, Schulden, Arbeitslosigkeit, Existenzängste, u.s.w. sind Themen geworden, die Masse betreffen, auch wenn die Leitmedien immer wieder versuchen das alles klein zu reden. Der Staat zerfällt in seiner Grundsubstanz immer mehr und das macht inzwischen viele Leute echt wütend. Man kann die Leute nämlich zwar für eine Weile zu Entbehrungen zwingen, aber wenn die einen sich nur bedienen und die anderen nur existieren, dann ist irgendwann selbst bei dem dümmsten Michel das Mass voll.
Lieber Roberto J. de Lapuente,
wieder einmal treffend formuliert, und dies schreibe ich obwohl ich als Schüler eine komplett andere Erfahrung gemacht habe: Einen regelrechten Klassenstreik gegen eine ungerechte Lehrerin, und nur eine wollte da nicht mitziehen.
Es war damals 1985 als die Hauptschule noch einen realen Wert hatte, und evtl. noch zu einer Zeit als man - auch als Schüler - noch gegen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft mehr sensibilisiert war.
Obwohl? Vielleicht lag es nur daran, dass damals die "Unterschicht" noch gegen die da oben zusammenhielt?
Ich weiß es nicht, aber ich machte eine komplett andere Erfahrung mit der Klasse (!: als unterstem Teil der Gesellschaft, auf die du, wie ich bemerkt habe, deine Beispiele immer beziehst).
Gestern beim Rumzappen habe ich übrigens auch eine Diskussion mit zwei "Ossis", und ein paar "Wessis" bei Maybrit Illner gesehen - Fazit: Unsere "Eliten" - wovon ich die "ostdeutschen" noch ausnehmen will - haben keine Ahnung vom Leben der Mittel- und Unterschichten. Es ist die reinste Apartheid im Gange, die "Eliten" reden zwar über die "Unterschichtler", aber bekommt man, wie der Typ gestern von Gregor Gysi reale Beispiele präsentiert, dann stellt er sich so an als hätte er noch nie von den Nöten und Sorgen von HartzIVlern gehört.
Irgendwie erinnert mich die Situation heute an den Vorabend der Großen Französischen Revolution 1789 - Ausgang offen, aber ich meine ja auch keine Revolte, sondern die Lebensverhältnisse.
Ich bin sicher, die damalige selbsternannte franz. "Elite" hatte ebensowenig Ahnung von der "Unterschicht" wie ein heutiger westdeutscher "Elite"-Vertreter, der sich von einem ostdeutschen - wie Gregor Gysi (Die Linke) über die Lebensverhältnisse von HartzIVlern aufklären lassen muss bzw. noch schlimmer über die Ungerechtigkeiten dieses Gesetzes.
Kein Wunder, dass dt. Neoliberale uns die Begriffe "Gerechtigkeit" und "Solidarität" neu erklären wollen - Man hat einfach keine Ahung mehr vom Leben der NormalbürgerIn in Deutschland.
Merkel, Münte, Hund(t), Sinn & Co. leben in ihrem virtuellen Versailles völlig abgeschottet von der Außenwelt, und wollen dieser Außenwelt noch ihre Unkenntniss und Unwissenheit als Wissen verkaufen.
Fraglich wie lange dies noch gut geht - Die Finanzkrise, die angeblich per order de mufti ab heute vorbei sein soll, wird die nicht bekehrten - eher eine echte (friedliche) Revolte....
Gruß
Nachdenkseiten-Leser
@christophe
Ich würde da nicht "das kollektive Trauma des 30-jährigen Krieges zurückführte" schreiben. Die Sache fing an als ein gewisser Mönch - namens Martin Luther - die Bauern zum Aufruhr gegen ungerechte Lebensverhältnisse anstachelte, und diese - im Verein mit seinem Predigerkollegen Münzer, diesen wagten - Flugs war Martin Luther wieder ein Fürstenfreund und rief in einer Streitschrift gegen eben die Bauern zum Kampf auf, die er selbst zum Aufruhr angestachelt hat. Ähnliches erlebten dt. Revolutionäre immer - zuletzt 1918/19 als die SPD die Arbeiter zum Aufstand aufrief, und diesen Aufstand, den die SPD selbst gefordert hatte, dann im Verein mit rechtsextrem-monarchistischen Freischärlern niederschlagen ließ.
Ich denke nicht nur, dass es in der Politik/Wirtschaft eine "typisch dt. Verlogenheit" gibt sondern wohl einen "Hang zum Verrat" bei den "Eliten" seit Arminius dem Cheruskerfürsten, der von Angela Merkel so gefeiert wurde - 2000 Jahre Varusschlacht.
Aus röm. Sicht ist Arminius (Hermann) nichts weiter als ein römischer Bürger der seine eigenen Landsleute verriet.
Ein uraltes Trauma? Ich weiß nicht, aber der Verdacht liegt nicht weit weg....
Gruß
Nachdenkseiten-Leser
Die Menschen werden in den "demokratischen" Ländern in frühester Jugend auf ihre Individualität getrimmt.
DU kannst es schaffen.
DU bist der Größte.
DU bist besser als die anderen. usw.
Dazu kommt dann im Berufsleben u.a. die Arbeitsvertragsklausel, dass man über Gehalt nicht reden darf. Folge des Verstoßes: Entlassung.
Gemeinschaft wird verteufelt und als Gleichmacherei hingestellt.
Die individuelle Freiheit wird heilig gesprochen.
Alles läuft nur darauf hin, Gemeinsamkeit zu verhindern. Das höchste was noch geduldet wird, ist der Sportverein.
Dazu dann ständige Panikmache in den Medien. Angst vor allem schüren.
Nachts in der Bahn.
Nachts auf der Straße.
Alleine im Wald.
Alleine in der Wohnung.
Und am wichtigsten: Zur Demo zu gehen, da dort auf jeden Fall Randale kommt!
Durch diese Maßnahmen wird eines erreicht: Gemeinschaftsgefühle im Volk von vorne herein nicht aufkommen zu lassen!
Wenn ich leise bin, wird vielleicht der andere, nicht ich gefeuert!
Dazu passt das oft Gehörte:
"Jeder ist sich selbst der Nächste" oder "Einer für alle - alle auf einen".
Wie groß die Angst der Regierenden vor der Gemeinschaft ist, kann man bei den letzten Demos sehr gut erkennen. Familien und Kinder in der Demo und am Rand wütend bellende Polizeihunde und Polizisten unter Helmen! Panik machen, damit viele die die TV Bilder sehen auch beim nächsten mal nicht kommen!
Man muss nur dafür sorgen, dass immer ein kleines Schärflein gereicht wird damit die Masse nicht kippt. Und solange sich JEDER noch sein TV, sein HANDY und sein PILS leisten kann....
"stünde eines meiner Kinder auf..."
was, in Gottes Namen, soll ich mit diesem Konjunktiv II anfangen? Zu klein, zu hilf- und wehrlos? Selbst Vater von gerade 16 Monate alten Zwillingen mache ich mir große Gedanken um jeglichen Konjunktiv, welcher als literarisches Mittel in Ordnung ist, aber als Lebensentwurf
mir unerträglich erscheint. Warum ducken wir uns weg, wenn es eigentlich zu kämpfen gilt? Warum erzählen wir unseren Kindern nicht, dass Ducken und Konjunktiv Brüder im Geiste sind? Wir haben, so glaube ich, Angst. Angst, nicht dazu zu gehören, Angst, ausgeschlossen zu sein vom sozialen "Standard", Angst, dass das eigene Kind (verbales) Opfer gleichaltiger Markenfetischisten sein könnte. Vielleicht auch Angst, dass der Nachwuchs ein wenig vom Zorn der Alten mit in die Schule nimmt.
Nur: wieviel Konjunktiv ertrüge der Mensch wenn die Welt eine andere wäre?
Eine geniale Botschaft! Dies ist ein wunderbar verpackter Text über die deutscheste aller Zwickmühlen.
Ich wünschte mir, die edelsten Perlen (sprich: Beiträge) aus Deinem Blog würden in Form eines Buches einen sehr viel breiteren Leserkreis erreichen.
@Christophe
Ergänzung:
Auch die letzte dt. Revolution - eine weitgehend friedliche - anno 1989 wurde wohl so ähnlich behandelt.
Weißt du evtl. noch wie schnell aus dem Ruf "Wir sind DAS Volk!" "Wir sind EIN Volk" wurde - nachdem Westgeld floß?
Ich weiß ja nicht, ob du der Generation angehörst, die dies noch persönlich miterlebt hat bzw. dies als Teil ihres Lebens ansieht.
Meine gehört dazu und ich frage mich - als Ex-BRDler - immer noch wie schnell die revolutionäre Begeisterung der DDRler ins Gegenteil umschlug nachdem Geld - aus "dem Westen" floß.
Fazit:
Mein Beispiel seit Luthers Verrat an den Bauernkriegen läßt sich auch auf die friedliche Revolte der Ex-DDR-Bürger 1:1 übertragen - mit dem Unterschied, die wurde nicht durch brutale Gewalt erstickt sondern mit was viel wirksamerem: Dem Versprechen von sehr viel Geld und blühenden Landschaften.....im Osten....
Wäre mal interessant wo die Ex-DDR-Bürgerrechtler so alle gelandet sind nachdem die ihre einstigen Ideale, wie eben die der "Volksherrschaft" verraten haben - Ich würde mal raten: Bei der CDU/CDU/FDP/SPD/GRÜNEN.
Sicher nicht bei den Linken, und zumindest eine Partei - Die GRÜNEN - hat ja schon Erfahrung - seit 1968er, und der Schröder-Fischer-Gang, was den Verrat an alten Idealen anlangt.
Gruß
Nachdenkseiten-Leser
@Anonym
Was die 'friedliche Revvolution' von 1989 betrifft, hat mich dieser Begriff immer irritiert. Unter einer Revolution stelle ich mir etwas anderes vor...
Es war, und da sind wir wieder beim Thema, eine sehr deutsche Revolution, die ein ohnehin marodes Regime einem beschleunigten Ende zuführte. Nicht umsonst wird diese 'Revolution' zu ihrem 20-jährigen Jubiläum von all denen in den höchsten Tönen gefeiert, die sonst diesen Begriff nur mit der Feuerzange anfassen.
In den 70er Jahren gab es die österreichische Gruppe 'Schmetterlinge', die mit ihrer 'Proletenpassion' eine gewisse Bekanntheit erreichte. Auch wenn die Texte etwas schwülstig geraten waren (die Musik ging unter die Haut!), werden darin die Niederlagen der 'kleinen Leute' von den Bauernkriegen bis zum NS-Staat gut herausgearbeitet.
Ohne Führer heißt die Macht der Masse Ohnmacht.
Jetzt reicht's, sagt der Machthaber. Einer, vielleicht, steht auf; die Michel bleiben hocken.
Macht dräng immer mit allen Mitteln auf Ausweitung: das ist ihr Sinn und zugleich ihr Versagen.
Macht ist Gewalt. Wird Gewalt nicht demokratisch kontrolliert, wird Macht zur Diktatur.
Wenn sich Macht der Kontrolle durch den Bürger entzieht, ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung bedroht.
Dann wird Macht zu Terror.
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