Sit venia verbo

Donnerstag, 21. Mai 2009

"Wenn man nach Erklärungen sucht, warum die muslimische Welt heute von Gewaltausbrüchen erschüttert wird, muss man folglich nicht auf jene Spekulationen zurückgreifen, dass den Islam eine gewaltfördernde Geisteshaltung auszeichne. Die islamische Welt hat die Orientierung verloren, weil sie unter dem Schock der geistigen Revolution steht, die mit der fortschreitenden Alphabetisierung und der allgemeinen Verbreitung der Geburtenkontrolle einhergeht. In einigen nicht muslimischen Ländern, die eine solche Revolution hinter sich haben, brauchen gewaltsame politische Unruhen aus, die alles bislang auf islamischen Boden Beobachtete in den Schatten stellten.
In Ruanda wurde die Mehrheit der jungen Männer bis 1961 und die der Frauen bis 1980 alphabetisiert. Der Geburtenrückgang setzte um 1990 ein. Die rassistischen Zusammenstöße zwischen Tutsis und Hutus gipfelte 1994 in einem Völkermord, der in seinen Ausmaßen an die schrecklichen Massaker in Europa erinnert. Dabei ist Ruanda fast ausschließlich christlich geprägt, ohne dass jemand auf den Gedanken käme, die dortigen Gräuel auf eine gewaltfördernde Geisteshaltung des Christentums zurückzuführen.
In Nepal wurde die mehrheitliche Alphabetisierung der jungen Männer um 1973 und der jungen Frauen um 1997 erreicht. Der Geburtenrückgang setzte 1995 ein. Dass die maoistische Guerilla dort weiterhin Zulauf fand, obwohl die kommunistische Ideologie auf internationaler Ebene zusammengebrochen war, stellt einen Anachronismus dar, passt aber zeitlich perfekt ins Schema der geistigen Modernisierung des Landes. Aber kann man den Hinduismus und den Buddhismus für die Gewalt, die dieses Land erschütterte, mit verantwortlich machen?
Der Grundirrtum besteht freilich darin, dass man die ideologischen oder religiösen Krisen in den muslimischen Ländern, in Ruanda oder in Nepal als Erscheinungen des Rückschritts betrachtet. Dabei handelt es sich im Gegenteil um die Krisen einer Modernisierung, welche die jeweilige Bevölkerung ihrer Orientierung beraubt und das politische Regime destabilisiert. Diese Fehldeutung wird in den kommenden Jahren wahrscheinlich systematisch auf alle afrikanischen Länder - die muslimischen wie die christlichen oder animistischen - übertragen werden, denn sie folgen in kurzem Abstand der arabischen Welt auf dem Weg in die Modernisierung. Dann wird man - was schon heute geschieht - die noch immer herrschende Stammesgesellschaft oder andere archaische Phänomene für Konflikte verantwortlich machen, die in Wahrheit Krisen der Modernisierung sind. In den am weitesten entwickelten Küstenzonen des Golfs von Guinea dominieren Katholizismus oder Protestantismus. Bei kommenden Ausschreitungen werden dort folglich überwiegend Christen beteiligt sein, wie es bereits an der Elfenbeinküste und in Nigeria der Fall war, wo die ideologischen Unruhen vor allem an den Küsten aufflammten, die stärker alphabetisiert und christlich geprägt sind. Obwohl Häme völlig unangebracht ist, können solche Unruhen den Europäern und Amerikanern vor Augen führen, wie töricht es ist, den moralischen Zeigefinger auf den Islam zu richten.
Auch die Gewaltausbrüche, die Europa von der Reformation bis zum Zweiten Weltkrieg erschütterten, fanden über einen größeren Zeitraum verteilt vor dem Hintergrund einer mentalen Modernisierung statt. Wenn die Welle über sie hinweggerollt ist, kommen die Länder wieder zur Ruhe. Dann blicken sie gerne erstaunt, ja herablassend auf die ihnen nachfolgenden Staaten, in denen die Fluten noch toben. Diese Fehlsichtigkeit offenbart das spärlich ausgebildete historische Bewusstsein, das Europa und die Vereinigten Staaten kennzeichnet. Unser Zeitalter feiert das kollektive Gedächtnis, kultiviert aber zugleich das Vergessen."
- Youssef Courbage, Emmanuel Todd, "Die unaufhaltsame Revolution - Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern" -

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