Ghettozucht

Freitag, 27. Februar 2009

Fühlt man sich von einer Gruppe oder Gemeinschaft ausgestoßen, merkt man, dass man, warum auch immer, als nicht zugehörig behandelt wird, so folgt nach dem letzten vergeblichen Bemühen, doch noch irgendwie innerhalb der Formation Fuß zu fassen, die Resignation. Kultivierte Resignation bewirkt nicht selten, dass man den neuen, einsamen Status, zu einem Stolz auf das Pariadasein erweitert. Die Mitgliedschaft in einer Gruppe oder Gemeinschaft, die sich für arrogant oder elitär genug hält, ein bestimmtes Individuum nicht aufnehmen, es gleichwertig behandeln zu wollen, ist dann gar nicht mehr gewollt. Im Gegenteil, sie wird zum Makel, weil man als Verstoßener nicht in die Rolle des Verstoßenden einrücken möchte, sofern sich die obskure Gemeinschaft doch noch dazu erbarmt, ihre Arme auszubreiten - was man am eigenen Leib erfahren hat, will man anderen Leibern nicht zumuten.

Viele Gruppierungen haben von jeher auf diesen Pariastolz aufgebaut. Fruchtbar für den Sozialstaat und die Demokratie war jener Stolz der Arbeiter, der wenigstens in seinen Anfängen, zur klaren Abgrenzung gegenüber dem bürgerlichen Snobismus bereit war. Falsch verstandener Stolz auf das Anderssein kann aber blutig entarten, wie es uns die herrschaftliche Schelte der Studentenbewegung aufgezeigt hat, bei der man um Verständnis nicht bemüht war. Der fehlgeleitete Stolz einer Handvoll Parias führte in extremen Fällen zu mörderischen Anschlägen.

Wenn man in einem Staat lebt, in dem es eine Gruppe von Menschen gibt, für die Rechtssprechung kein ethischer Maßstab für jeden Einzelnen mehr ist; wenn also die Gruppe treiben darf was sie will, ohne dafür hinreichend belangt zu werden, während man Millionen von Menschen von dieser milden und großherzigen Justiz aussperrt, sie aufgrund geringfügiger Verdachtsmomente – nicht Vergehen, denn es reicht schon der Verdachtsmoment! – sanktioniert; wenn man also die illustre Gruppe abgrenzt, die die andere Gruppe, die der Ferngehaltenen und Deklassierten, sogar noch mit deren herrschaftlichen Instrumenten für Vergehen und Verdachtsmomente bestraft, die im viel größeren Stile innerhalb der Bessergestellten begangen werden, dann darf man sich nicht wundern, wenn eines Tages ein neuer Stolz erwacht, der sich des Andersseins, der Ausgeschlossenseins, des Benachteiligtseins bemächtigt.

Wenn man sein ganzes Leben erlebt hat, dass Menschen aus der eigenen Gesellschaftsklasse, die aus einem beliebigen Grunde vor Gericht stehen, meist als Verlierer aus einem Prozess kommen, während Bessergestellte das Victory-Zeichen in eine TV-Kamera halten; wenn man täglich mitbekommen hat, wie man den Alkoholismus einiger Zeitgenossen aus der eigenen Klasse als Untermenschentum, als Anzeichen einer Schmarotzerexistenz abtut, während der Suff aus höheren Kreisen als Galadinners oder Bankette durchgehen, wobei der höhergestellte Alkoholiker ansonsten gar nicht behelligt wird; wenn man ertragen muß, dass jeder Person aus der eigenen gesellschaftlichen Schicht beinahe alles Angesparte als Vermögen angerechnet wird, sofern sie in die Fänge des SGB II gerät, während sogenannte Leistungsträger Milliardenzuschüsse erhalten, damit sie ihr Versagen hinter diesen Bergen aus Geld verstecken können – wenn man diese und noch weitere Auswüchse der Ungleichheit erkennt, dann will man mit denen da Oben, mit den sogenannten Eliten, nichts mehr zu tun haben.

Man wendet sich voller Ekel ab und verwirft das Gesellschaftsbild, das manche Eltern versucht haben, einem einzubläuen – nämlich, dass man fleißig, zielstrebig und ehrlich sein muß, um vielleicht irgendwann einmal in den Kreis derer vorzustoßen, die derart bevorteilt leben, um zumindest aber einen Zipfel des üppig gedeckten Tischtuches zu erhaschen. Man will es gar nicht mehr, man will dieser Riege von Herrenmenschen nicht mehr zugehören – man wird stolz auf das eigene, auch wenn es wenig zu bieten hat, wenn es eigentlich kläglich ist. Diese resignative Einsicht, die sich zu neuem Stolz kultiviert, findet sich in vielen Ghettos dieser Welt – der Stolz armer junger Schwarzer in Stadtvierteln, in denen die ganze Armut des reichsten Landes der Welt geparkt scheint, ist Ausdruck einer solchen Mentalität. Man ist stolz auf die Klasse, der man entspringt, selbst dann, wenn es in dieser vor Not, geistiger Stumpfheit und Antriebslosigkeit nur so wimmelt.

Etymologisch betrachtet, entstammt der „Stolz“ dem lateinischen Wort „stultus“, was soviel bedeutet wie „töricht“ – Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz. Unangemessener Stolz wirkt nicht nur dumm und töricht auf andere, er kann auch zu himmelschreienden Dummheiten hinreißen. Ein solcher resignativer Stolz, der sich von den Bessergestellten abwendet, führt dann zuweilen zu kriminellen Strukturen, läßt eine Subkultur entstehen, in der gesellschaftliche Institutionen, die Polizei und Justiz, nichts mehr zu melden haben. So konnte man es während des Risorgimento auf Sizilien beobachten, als eine sizilianische Subkultur Fuß faßte, die sich gegen die herrenmenschliche Elite aus Norditalien organisierte; so kann man es noch heute in diversen New Yorker Stadtteilen erkennen.

Wenn Gesetzgebung, wenn Sozial- und Arbeitsrecht, wenn moralische Kategorien, wenn das ganze Klima innerhalb einer Gesellschaft einseitig erfüllt ist, dann erzieht sich diese Einseitigkeit sicherlich keine demokratisch gesitteten Menschen heran, sondern Parias, die früher oder später ihren gesellschaftlichen Stand nicht mehr als Bürde, sondern als Motiv des Stolzes herausarbeiten werden. Ein Stolz, der von den höheren Klassen nicht verstanden wird, nicht verstanden werden will, und daher zu irrgeleiteten Aktionen verführen kann. Diese Form des Pariadaseins ist kein humanistischer Gegenentwurf zur inhumanen Gesellschaft - er ist vielmehr das Spiegelbild, eine Karikatur des legalen Unrechts. Eine derart einseitige Einseitigkeit, wie sie dieser Staat mehr und mehr erlebt, erzeugt Aussperrung und ghettoisiert. Ghettos und die darin vorzufindende Mentalität, werden nicht auf architektonischen Reißbrettern entworfen – sie werden durch eine überall greifbare Einseitigkeit, die die gesamte Gesellschaft durchdrungen hat, vorbereitet. Subkulturen werden nicht geplant, sie sind Reaktion. Wenn eine Gesellschaft das Augenmaß verliert, wenn sie den Anspruch vollends aufgibt, jeden Menschen gleich zu behandeln, dann liefert sie sich einer Gesellschaft in der Gesellschaft aus. Man blicke auf die italienische Geschichte, auf die Generationen italienischer Politiker, die sich selbst bevorteilten - und dann blicke man auf das höllische Ausmaß an Subkultur, blutiger Subkultur wohlgemerkt.

Hier weiterlesen...

Stärke zeigen!

Donnerstag, 26. Februar 2009

Seid starkt, ihr jungen Menschen! Zeigt keine Schwächen! Preist eure Stärken an, versteckt die Schwächen, auch die noch so kleinen - kaschiert sie, verleugnet sie, drappiert sie ins Gegenteil. Erklärt die Antithese zur These, macht aus Schwächen Stärken! Schwächen offen zu bekunden, bedeutet sich als Schwächling zu offenbaren. Schwächlichkeit ist Ausdruck einer falsch verstandenen Humanität. Der Schwächling erntet nicht Sympathie, er erzielt Skepsis, Bedauern und Ablehnung, die zuweilen wie Sympathie wirken mögen, aber das glatte Gegenteil dessen sind. Wer Schwächen zeigt, bleibt auf der Strecke – drum zeigt eure Schokoladenseiten, zeigt Stärke, macht euch zu Starken, zu unfehlbaren und unkippbaren Größen, merzt in euch aus, was schwach anmutet, was auch nur in den Ruch der Schwäche geraten könnte!

Bewerbt euch mit Stärken bei potenziellen Arbeitgebern, zeigt eure Vorzüge auf, wiegelt alles an Schwächen ab, was in Bewerbungsgesprächen auftaucht. Ihr habt keine Schwächen! „Ich weiß nicht“ und „ich kann nicht“ gibt es nicht – habt ihr keine Antwort auf die Fragen des Personalleiters, antwortet dennoch, laviert und ufert aus, macht aus der vorübergehenden Schwäche eine zu verkaufende Stärke. Fragt er euch danach, ob ihr diese oder jene Tätigkeit schon einmal gemacht habt, so bejaht fern des wirklichen Wahrheitsgehaltes. Und seid ihr dann eingestellt, unterläuft euch einer jener Fehler, die jedem Arbeitenden unterlaufen kann, so schiebt es auf einen Kollegen. Keine Schwäche zeigen! Der Schwache ist immer der andere. Ihr wisst alles, ihr könnt alles – ihr seid alles! Geißelt euch euer Vorgesetzter, behandelt er euch ungerecht: seid stark - und schweigt! Wer schweigt verstärkt seine Stärke; wer erduldet erstarkt; wer Ungerechtigkeit und Unterdrückung seitens der Obrigkeit hinnimmt, dem ist Stärke nachsagbar.

Trifft euch dann ein Virus, kratzt es im Hals, drückt es im Darm, so bleibt hart zu euch selbst, bleibt stark. Krankheit ist Schwäche! Und Schwäche ist unmenschlich! Kämpft euch durch den Durchfall, damit ihr nicht als zu schwach durchfallt. Verschleppte Grippen als Gefahr sich schwerere Infekte einzufangen sind Erfindungen der Medizinbranche! Macht euch euer junges Menschenleben zwischenmenschliche Sorgen, zwickt es bei Liebesdingen, nötigt euch die Feierlaune, drangsaliert euch jugendliche Amüsiersucht? Das sind Schwächen - hinfort damit, verbeißt sie euch! Drückt doch einmal das Herz, macht Liebesleid das Leben unerträglich, so bekämpft die Tränen. Wer weint ist schwach; wer schwach ist, kann keinen Erfolg haben; wer keinen Erfolg hat, steigt sozial ab; wer sozial abgestiegen ist, fristet ein menschenunwürdiges Leben. Merkt euch: Wer schwach ist, ist kein Mensch mehr!

So hat man es euch gelehrt. So lehrte man es schon eure Väter und Mütter. Gezeigte Schwächen als Sinnbild der Menschlichkeit sind romantische Vorstellungen, sind anachronistische Anschauungen aus den Köpfen von Schwächlingen. Probiert es: Zeigt nur einmal Schwäche - ihr werdet ausgebeutet, geschächtet, hingerichtet! Probiert es ruhig! Aber behaltet ihr Souveränität, so werdet ihr dienlich und nützlich sein, werdet ihr nicht am Plump-Menschlichen leiden, werdet ihr ein nutzvoller Bestandteil der Gesellschaft sein. So lehrte man es auch euren Vorgängern, so lehrt man es seit Jahrzehnten. Stärke ist das Zauberwort, der Schwache wird geschmäht, wird durch diese Lehre aus der Welt gezüchtet. Wir brauchen keine Vernichtungslager mehr, die Menschheit hat gelernt, dass die Lehre von der Stärke das Schwache langsam aber sicher vertilgt. Wer Mitleid mit dem Schwachen hat, gefährdet das Starke - laßt es verrotten; laßt den Schwachen liegen, für ihn ist diese Welt nicht gemacht. Drübersteigen, weitermachen!

Keiner von euch jungen Menschen fährt mit einem aufgeklebten „Fahranfänger“-Schriftzug motorisiert durch die Lande – ihr erhaltet die Fahrlizenz und wißt aus den Kanälen, die die Lehre verbreiten, dass Schwäche nicht zur Schau gestellt werden darf. Einige von euch schämen sich ihrer dicken Körper, weil die Fettpolster einer Schwäche nach Schokolade, nach Chips oder nach anderen Köstlichkeiten geschuldet sind. Der Dicke ist der immer sichtbare Schwache auf dem Pranger des körperlichen Alltages. Ihr könnt alles, auch wenn ihr es nicht könnt; ihr wißt alles, auch wenn ihr keine Ahnung habt; ihr macht alles, auch wenn ihr nicht wißt, was genau ihr da eigentlich macht. Folgen des Starkseins, logische Folgen, die mittels der immer und überall aktivierten Prägung, wonach Schwäche den Untergang bedeutet, zu einem überhöhten Selbstbewußtsein führen sollten. Ein Selbstbewußtsein, dass sich aber durch höchste Verunsicherung junger Menschen äußert. Immer sollen sie stark, immer sollen sie souverän, blitzgescheit und lexikalisch gebildet sein, dürfen keine Schwächen haben, sollen private Schwächen vergraben, sich hinter der Maske vermeintlicher Stärke verstecken.

Was herauskommt ist eine orientierungslose Jugend, die zwar die Prämissen des Hier und Jetzt einigermaßen kennt, wenn auch nur oberflächlich; eine Jugend, die die Prinzipien der Konsumgesellschaft, der Heilslehre der Kaufhauswelten begreift und umsetzt, aber keinerlei Werte außer Kosten- und Nutzwerte kennt. Denn was durch Kosten und Nutzen geschliffen wurde, dass hat sich als stark erwiesen – während alles, was vielleicht kostet, aber keinen wesentlichen Nutzen hat, weil es immateriell ist, weil es nicht faßbar ist für eine materialistische Gesellschaft, ein schwaches Etwas darstellt. Daher seid stark, ihr jungen Leute, knickt nicht ein, damit ihr innerhalb dieser Realität ein starkes Schauspiel abliefert. Entfernt das antiquierte Menschliche, entfernt die Schwächen des Menschen, das Vermenschlichte und Verweichlichte, merzt aus, was euch im irdischen Konsumdasein hemmt; tilgt, was euch im materiellen Verwertungsdiesseits einschränkt; beseitigt, was euch in eurer zugeteilten Rolle als Käufer und Angestellte molestiert. Dazu bedarf es der Stärke, denn wer schwach ist, wer zu schwächlich zum Ausmerzen, Ausrotten und Zerschlagen ist, der steht sich selbst im Wege, wird nicht weit kommen. Er bleibt prekärer Angestellter – bestenfalls; bleibt daher eingeschränkter Käufer, spielt seine zugedachte Rolle nicht mit der Hingabe, die man eigentlich von ihm erwartet.

Man wiederholt es stetig, zeigt es auf, macht es vor, verdeutlicht es: wer sich Schwächen erlaubt, macht sich schuldig am Gesellschaftauftrag, nimmt willentlich in Kauf, seinen Part innerhalb dieser Gesellschaft nicht übernehmen zu wollen. Diese Welt, diese radikal ökonomisierte Welt, ist aber ein Schauspiel der Starken, der Eingereihten, der im Gleichschritt Marschierenden – wer individuell ist, wer sich sein eigenes Menschleinsein zu gewichtig zu Herzen nimmt, der schwächelt, und sollte er diesem Irrglauben nicht abschwören, dann bleibt er zeit seines Lebens ein Schwächling. Das wird euch gelehrt! Das zeigt man euch auf! Was soll aus euch jungen Menschen denn dann auch anderes werden als orientierungslose, enthumanisierte und des Zusammenhangsdenkens unfähige Gesellen, die ihr einziges Heil, ihre einzige Bestimmung, ihre Rolle eben, lediglich in Konsum und Karriere zu sehen glauben? Stärke sollt ihr zeigen, pflanzt man euch allerorten in die Gehirnwindungen – und dann strotzt ihr so vor Stärkeglauben, dass ihr hilflos wirkt, vollkommen entmenschlicht, im höchsten Grade hilflos, weil ihr so entmenschlicht dreinschaut. Euch fehlt ein Bezugspunkt, eine Werteskala, etwas Transzendentes, dem man nicht aus Nutzenkalkül heraus frönt, sondern weil es, platonisch ausgedrückt, dem Schönen, dem Wahren und dem Guten zustrebt. Davon wißt ihr nichts, weil man euch dieses Wissen vorenthalten hat, weil es kein materialistisches Wissen ist, welches nutzvoll verwertbar wäre. In diesem Unwissen steht ihr da, laßt eure Muskeln spielen, seid stark und selbstbewußt und doch schwächlich ohne Heimat, weil das Menschsein euch mehr und mehr abhandenkommt, weil ihr der zur Kritik unfähige Automat eures Arbeitgebers, weil ihr das dumpfe Wahlvieh eurer Anführer, weil ihr der gierige Konsument eurer Versorgerkonzerne seid. Mehr sollt ihr, mehr dürft ihr nicht sein!

Damit steht ihr nicht alleine. Die Vorgängerjahrgänge waren auch einmal jung, erzählt hat man ihnen ebenso, dass in dieser Welt nur der Starke fortexistiert. Das haben sie aufgesogen, haben versucht es zu kultivieren. Heute sind sie nicht mehr orientierungslos in diesem Gemenge aus Konsum und Nützlichkeitsdenken. Sie leben darin und begreifen es als ihr zynisches Heil; als einzig machbares Heil; als Heil, welches dieser Welt immer irgendwie zugrundelag, als habe es nie etwas anderes als Konsum und Expansion und noch mehr Konsum und noch mehr Expansion gegeben. Im Materiellen haben sie ihr Transzendentes gefunden, ihr Schönes, Wahres, Gutes. Ihr Wert ist das Haben, das Verdienen – tut jemand etwas umsonst, aus Freude an der Sache, schreibt beispielsweise jemand Texte, ohne daran zu verdienen, ohne daran auch nur verdienen zu wollen, dann fragen sie nach dem Einkommen, welches so ein Schreiben mit sich bringe. Man enttäuscht sie, wenn man ihnen erklärt, dass nichts Kontofüllendes dabei herumkommt – was nicht bezahlt wird, hat keinen Wert; was keinen Wert hat, wird nicht bezahlt!

Seht aber in die trüben Augen dieser menschengleichen Wesen! Ist das die vielzitierte und vielbesungene Lebensfreude? Trübe, stumpfe, unterlaufene Augen? Mattheit und Müdigkeit im Blick? Ist das der Sinn des Lebens? Und wenn sie dann unnütz geworden sind, weil sie entweder das Alter oder die Arbeitslosigkeit dazu verdammte, entleeren sie ihr Dasein, finden darin keinerlei Wert mehr, empfinden sich als Ballast – ist dies das Ziel? Nachahmenswert? Ist es wirklich der Kopie eines solchen Lebensentwurfes wert, wie einst die Väter und Großväter sein Leben so weit zu entleeren, dass außer Konsumgüter horten und Karriere vorantreiben keinerlei Inhalt mehr bleibt?

Seid stark, ihr jungen Leute! Ja, seid stark! Laßt euch von denen, die euren Willen brechen, die euch manipulieren und verdrehen, die euch zu ihrem Werkzeug machen wollen, nicht unterkriegen. Dazu bedarf es geistiger Stärke. Nur diese Stärke, nur eure Stärke kann es bewirken, dass eines Tages ein Umdenken stattfindet. Findet wieder Werte, die sich am Schönen, Wahren und Guten orientieren, findet wieder Gefallen an Werten wie Freundschaft, Zeit, Liebe... ; schätzt wieder die sogenannten Kleinigkeiten des Lebens, die das Leben erst lebenswert machen; seht freie Zeit nicht als temporäre Spanne, die unbedingt mit irgendetwas, mit Einkäufen oder anderen Konsumeinheiten, ausgefüllt werden muß, damit sie möglichst schnell verrinnt; seht Zeit nicht als totzuschlagende Minuten- und Sekundeneinheiten. Transzendente Werte zu finden bedeutet nicht, sich einen neuen Gott zu erfinden – es bedeutet lediglich eine Rückkehr in ruhigere Gefilde, in weniger hektisches Wirtschaften, in ein gemütlicheres Dasein, in ein Leben in menschlicheren Bahnen. Der Fortschritt des menschlichen Lebens verfestigt sich nicht im rapiden Fortschritt einer technisierten Welt; der Fortschritt sollte sich daran messen, wie sehr Menschen abgesichert sind, ein freies und selbstbestimmtes Leben leben können, Zeit für sich haben dürfen und können. Doch für so einen Fortschritt braucht es Stärke...

Hier weiterlesen...

Nomen non est omen

Mittwoch, 25. Februar 2009

Heute: "sozial verträglich"
"HypoVereinsbank will weitere 1.500 Stellen sozialverträglich abbauen."
- FAZ vom 6. Februar 2009 -

"Die Deutsche Telekom will den Umbau ihrer Geschäftskundensparte T-Systems vorantreiben und schließt dabei betriebsbedingte Kündigungen nicht aus."
- Meldung bei tagesschau.de vom 23. Juli 2008 -

Die Begriffe der "Sozialverträglichkeit" bzw. der Formulierung vom "sozial verträglichen Stellenabbau" sollen suggerieren, dass im Sinne der ethischen und sozialstaatlichen Normen Menschen gekündigt, gefeuert bzw. aus der Firma geworfen werden. "Sozial verträglich" vermittelt eine Metapher des "weichen Fallens" aus der Firma bzw. dem Arbeitsplatz. Insofern ist es in erster Linie ein Euphemismus, welcher die individuelle Situation des soeben Gekündigten ausblendet.

Ob es für den Einzelnen überhaupt "sozial verträglich" sein kann, seinen Job zu verlieren, ist mehr als fraglich und ignoriert diese Formulierung. Stattdessen verweist sie auf die Struktur der Sozialstaatlichkeit, die das schon irgendwie anständig regeln würde. Zum Beispiel in Form von Abfindungen oder ähnlichem. Außerdem ist der Terminus ein gutes Beispiel für eine Methode der Sprachmanipulation von der Verbergung, Kaschierung und Beseitigung des handelnden Menschen aus der Sprache. In der Formulierung des "sozialverträglichen Stellenabbaus" verschwinden gleich zwei Subjekte: der Verantwortliche, der die Arbeiter gekündigt hat und der Gekündigte selbst. Dadurch wird zum einen die Verantwortlichkeit für die Kündigung und zum anderen das individuelle Schicksal der Gekündigten verborgen. Außerdem findet eine Versachlichung der Entscheidung statt, nicht der Mensch wird gefeuert und verliert seine Lohnarbeit, sondern: "die Stelle wird abgebaut".

Ein weiterer ähnlicher Satz, der einen Euphemismus darstellt und ebenfalls die Verantwortlichkeit des Unternehmers außen vor lässt, ist die der "betriebsbedingten Kündigung". Hier wird suggeriert, dass der Unternehmer durch einen "Sachzwang" keine andere Wahl hatte, als den Mitarbeitern zu kündigen. Ob "sozial verträglich", "betriebsbedingt", "Personalanpassung" oder "den Mitarbeiter freistellen" – der Arbeiter wird gefeuert und steht ohne Einkommen da. Letztendlich sollen diese Satzkonstruktionen die Kündigungsentscheidungen des Unternehmers legitimieren und einen Widerstand gegen die Kündigungen schon im Wortlaut unterbinden helfen.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

Hier weiterlesen...

De dicto

Dienstag, 24. Februar 2009

"Vorgesehen für den Job: die Präsidentin des Vertriebenenverbandes, Erika Steinbach (65, CDU).
Aber Berlin und Warschau streiten, als ginge es um viel mehr! Was haben die Polen nur gegen diese Frau?
[...]
Ist Erika Steinbach eine Ewig-Gestrige?
Nein!"
- BILD-Zeitung, S. Jungholt und H.-J. Vehlewald am 23. Februar 2009 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Die unbescholtene Frau Steinbach ist dem Springer-Blatt heute eine Frage, dazu einen Artikel wert. Was hat die arme Frau nur zu ertragen. Warum mögen die Polen diese Frau bloß nicht? Sie hat doch nichts getan! Nichts rechtfertigt die polnische Ablehnung, nichts könnte erklärbar machen, warum man ihr in Warschau den Posten im Stiftungsrat des geplanten deutschen Vertriebenenzentrums nicht gönnt. Warum ist man jenseits der Oder so bösartig, warum läuft man dort mit Schaum vor dem Mund herum? Dies könnte man sich jedenfalls fragen, wenn man dieses journalistische Meisterstück, diesen Artikel über Steinbach liest - oder besser: den Artikel für Steinbach, denn einer objektiven Auseinandersetzung kommt das aufgeführte Schmierenstück nicht gleich.

Man liest nichts darüber, dass das besagte Zentrum gegen Vertreibungen selbst hierzulande auf Kritik stößt. Der Bund der Vertriebenen, der hinter dem Projekt steht - Erika Steinbach ist Präsidentin des BdV, selbst 1943 im "Reichsgau Danzig-Westpreußen" geboren -, so wird befürchtet, würde dieses Zentrum revisionistisch instrumentalisieren. Diese Bedenken alleine wären ja noch irgendwie, mit gutem Willen vielleicht, aus der Welt zu schaffen. Das Wirken der Steinbach aber kaum. Was ihr die Polen vorallem zum Vorwurf machen ist, dass sie 1990 als Bundestagsabgeordnete gegen die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze gestimmt hat, weil diese "einen Teil unserer Heimat abtrennt". Bedenkliche Töne vernimmt man von ihr immer wieder. So warf sie den Polen zynisch vor, sie würden sich als "lupenreines Opfer" charakterisieren, einen Opferkult betreiben, der so tut, als wäre das Land jahrhundertelang immer schuldlos in schwierige Situationen geraten. Dieses Argumentieren kennt man aus nationalistischen Kreisen, die die einstigen Opfer und die alliierten Gegner als ebenso schuldig brandmarken wollen, um die eigene Schuld zu verbergen. So relativiert man beispielsweise in jenem Milieu den Genozid an den Juden, indem man versucht, auch den Amerikanern (an den indigenen Völkern) und den Engländern (an afrikanischen Sklaven) Völkermorde nachzuweisen. Zum Völkermord entrüstete sie sich kürzlich ebenso, zum Völkermord an den Deutschen freilich nur, als diese Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg fluchtartig verlassen mußten. Letztere Aussage ist insofern brisant, weil ihr Vater Besatzungssoldat im okkupierten und durch Völkermord geplagten Polen war. Steinbach, die sich selbst als Vertriebene sah - Polen gesteht ihr diesen Status nicht mehr zu -, ist demnach nie aus ihrer Heimat vertrieben worden, sondern bestenfalls dorthin zurückgejagt worden, woher die Besatzungsfamilie ursprünglich kam.

Was also haben die Polen nur gegen diese Frau? Für die BILD-Zeitung hat sie sich scheinbar nie derart ungebührend verhalten, dass eine polnische Steinbach-Aversion gerechtfertigt wäre. Man stilisiert sie als unschuldiges Opfer, als jemanden, der sicherlich nicht ewiggestrig ist, nur mißverstanden wird, Opfer einer Kampagne ist. Und genau damit schürt die BILD erneut den deutsch-polnischen Hass, versucht alles, damit der deutsche Leser seinen polnischen Nachbarn nicht versteht. Mittels Informationszurückhaltung in den Nationalchauvinismus...

Hier weiterlesen...

Was geht mich Vietnam an? Ich habe Orgasmusschwierigkeiten.

Dieser Ausspruch von Rainer Langhans (der irrtümlich Dieter Kunzelmann zugeschrieben wurde) beinhaltet alles, was nach der kläglich zusammengebrochenen Studentenbewegung zum Indikator einer neuen Jugend werden sollte. Die Utopie schien verschwunden; nicht im Sinne von Marcuse, der das „Ende der Utopie“ als eine Vollendung der selbigen begriff, weil die satten Zustände der Welt, Überproduktion und damit die Möglichkeit, jedem Menschen Lebensmittel, Obdach und soziale Sicherheit zu gewähren, das Utopische ins Hier und Jetzt hieven, damit des ou-topos, des Nicht-Ortes entledigen würde; sie war verschwunden, weil man sich am "schlecht Gegebenen" (Theodor W. Adorno) orientierte, weil man den Individualismus zum ausufernden Egoismus umdeutete; weil man zynisch und resignierend dazu überging, seinen persönlichen Mirkokosmos verändern zu wollen, dabei das Ganze aus den Augen verlor.

Zyniker würden heute sagen, dass das Orgasmus-Zitat eine „realpolitische Wende“ vorwegnahm; die Utopie als utopisch entlarvte, weil sie in der Gegebenheit des Seins nicht umzusetzen war. Und da die Welt nur veränderbar ist, wenn man sich der Regeln dieser Welt unterordnet, war eine Abwendung vom Vietnamkrieg, dafür eine Hinwendung zu Orgasmusschwierigkeiten notwendig. Zweifelsohne vernimmt man die Intention dieses Ausspruches auch heute noch, weniger reißerisch zwar, aber mit der gleichen Absicht. So hört man nicht selten, dass die Veränderung der Welt nur in kleinen Schritten zu bewerkstelligen sei, die zudem immer im eigenen Umfeld getätigt werden müssen. Was man selbst, was man individuell an Verbesserungen im persönlichen Kreise anbringen kann, wäre als Beitrag zur globalen Aufwertung der Lebensumstände zu begreifen.

Ganz fehlerhaft mag diese Ansicht auch nicht sein. Aber wenn der individuelle Schritt, der nur vor der Haustüre geschieht, ohne ein Fundament, ohne den Blick auf das Ganze vollzogen wird, dann ist der Einsatz zweifelhaft, mehr Aktionismus denn durchdachter Weltverbesserungbeitrag. Zwar ist es für viele Menschen hilfreich, wenn man sich beispielsweise ehrenamtlich bei den Tafeln engagiert, aber gleichzeitig fördert man damit eine Suppenküchenmentalität, die im Lande bewirkt, dass staatlich garantierte Hilfsleistungen zunehmend in die Hände privater Einrichtungen übergehen, womit die Garantie verworfen, die generöse Willkür aber installiert wird. Man hat im Mikrokosmos seiner Gemeinde sicherlich hilfreiches Engagement bewiesen, war seinem Mitmenschen dienend, aber ohne Blick auf das Gesamte, nur mit dem Feilbieten seiner kostenlosen Arbeitskraft, ohne die Geisteskraft miteinzubinden, strebt man dem eigentlich Gewollten diametral entgegen; rüttelt unwillentlich und unbewußt am sozialen Fundament.

Besonders prekär ist es aber, wenn die "Orgasmusmentalität" nicht einmal zum Engagement im eigenen Mikrokosmos führt, sondern zur reinen Konzentration auf das Selbst wird. Diese Mentalität erlebt man in diesen Tagen vermehrt, dominiert das Denken junger Konsumgesellschaften; nicht heutige Jugendliche alleine sind davon infiziert, sondern schon Generationen davor waren maßgeblich davon beeinflußt. Wir können das seit Jahrzehnten beobachten, in diesen Tagen, da gegenwärtige Beobachtungen immer einfacher als Rückschauen sind, erscheint es uns aber besonders einleuchtend. Während Erdöl-Kriege gegen das Völkerrecht geführt, während Menschen in Konzentrationslagern gehalten, während soziale Gruppen der Volksverhetzung ausgesetzt werden, kümmert sich ein Großteil der Menschen lediglich um ihr persönliches Wohlergehen, sorgt sich im erhöhten Ausmaß um den eigenen Orgasmus. Anteilnahme, Kritik, ein klein wenig Utopie: Fehlanzeige!

Die Gesellschaft der westlichen Industrienationen, heute mehr denn je, ist eine "Orgasmus-Gesellschaft". Sie suhlt sich in der Egozentrik, kennt keine einzelnen Gesellschaftsmitglieder, dafür aber ein Heer von vereinzelten Egozentrikern. Man sorgt sich um das eigene Ich, dem auch die Familie zugehörig ist, man engagiert sich – wenn überhaupt – nur im regionalen Aktionismus, verliert darüber hinaus den Blick auf das Ganze, der aber womöglich nie stattgefunden hat, schon vor der Zeit des regionalen Aktionismus nicht. Hilfe ist vorallem Selbsthilfe, denn man hilft sich gerne selbst; Protest, wenn man sich denn dazu durchringt, findet nur statt, wenn die eigene Haut verkauft werden soll; Kritik ist ein Fremdwort, solange man sich von dieser keinen Profit erhofft. Es ist eine vollwertig materielle Gesellschaftsordnung, die jegliches unstoffliche Ideal als Phantasterei verwirft – was man nicht anfassen kann, scheint nicht real zu sein. Die Utopie als Ansammlung von Werten, von Hoffnungen, von befreienden Momenten, von Emanzipation und Gleichheit, ist ein immaterielles Konstrukt, daher für die Köpfe der Konsumegozentriker nicht aufnehmbar.

Und weil zwischen Ich-Liebe und Haben-Mentalität (Erich Fromm) der Blick auf die Gesamtheit, der utopische Blick unmöglich gemacht wird, gilt die aktionistische Unbedachtheit als milde Tat. Deswegen wird großzügig gespendet, gleichzeitig aber Steuersenkung verlangt; deswegen blühen Tafeln und Suppenküchen auf, werden gleichzeitig aber Sozialleistungen gespart. Man glaubt in der schnellen guten Tat eine Verbesserung des "schlecht Gegebenen" zu erreichen. Dass damit dieses Gegebene nicht negiert, sondern im Gegenteil, zur dauerhaften Institution gemacht wird, derer man mit eiligem Aktionismus unter die Arme greift, erkennt man fern des utopischen Blickes nicht; man erkennt nicht, dass die „Utopie ein Sturmbock“ (Henri Lefebvre) wäre.

Das Ende der Utopie ist nicht, so wie es immer wieder postuliert wurde, die Befreiung des Menschen vor vorkalkulierter Enttäuschung. Die Befreiung von der Utopie ist selbst Enttäuschung, denn sie leitet den Menschen nicht zu einem besseren Dasein an, läßt ihn nicht „Umschau halten, nach einem besseren Land“ (Oscar Wilde). Die Aufgabe utopischer Ansätze bedeutet die Aufgabe zur Verbesserung der Lebensumstände – es ist Stillstand, heimliches Absegnen des status quo, stillschweigende Teilhaberschaft am immer noch vorhandenen Unrecht. Die von Langhans postulierte Orgasmus-Denkart ist nicht nur Ausdruck von Egozentrik, sondern vollkommene Abkehr von der Utopie, die Negation marcusianischer Soziologie, demnach das Ende der Utopie von der anderen Seite. Aber die Menschheit ohne Utopie ist eine stumpfe Masse, eine Ansammlung von Menschen oder Völkern, die irgendwann derart stillstehen, dass sie als Anachronismus von der Historie, dem dann heraufziehenden Zeitgeist, verspottet werden. Um es nochmals mit den Worten Lefebvres zu sagen:
„Diejenigen, die ihren Blick nur bis zum Horizont schweifen lassen und sich darauf beschränken, das zu betrachten, was man sieht, diejenigen, die sich zum Pragmatismus bekennen und nur mit dem auszukommen trachten, was da ist, haben keinerlei Chance, die Welt zu verändern... Nur diejenigen, die auf das blicken, was man noch nicht sieht, diejenigen, die über den Horizont hinausblicken, sind realistisch. Die haben eine Chance, die Welt zu verändern... Die Utopie ist das, was hinter dem Horizont liegt... Unsere analytische Vernunft weiß ganz genau, was wir nicht wollen, was man absolut ändern muss... Aber das, was kommen soll, was wir wollen, die ganz andere, neue Welt, kann uns nur unser inneres Auge, nur die Utopie in uns zeigen.“

Hier weiterlesen...

In nuce

Montag, 23. Februar 2009

Schon desöfteren wurde hier darauf hingewiesen, dass ein sauberer Schnitt nach 1945 nie stattfand, dass das Heute noch, diese Gegenwart also, fest verankert in der Vergangenheit ist. Dieses Projekt, ad sinistram, widmet sich in großen Stücken dieses Denkens, will immer wieder daran erinnern, dass die dunklen Jahre nicht isoliert dastehen, sondern schon vorher in den Köpfen der Menschen entstanden, so wie sie auch nie ganz verworfen, sondern nur verschwiegen und vergessen gemacht wurden. Diese Einsicht wird dann und wann offenbar, wie auch kürzlich, als die Times berichtete, dass der Contergan-Skandal als Produkt der nationalsozialistischen Forschung einzustufen sei. Wer die Geschichte der deutschen Ärzteschaft und der dazugehörigen Wissenschaft kennt, den wird das freilich nicht überraschen. Was da an Giftstoffen und Teufelswerken erfunden, an Unmenschlichkeiten betrieben wurde, wird mit Worten nie ganz begreifbar zu machen sein. Demnach sei Thalidomid als Gegengift gegen Nervengifte, vom nationalsozialistischen Wissenschaftler Otto Ambros, entwickelt worden. Dieser ging nach Kriegsende zur Chemie Grünenthal GmbH, welche 1957 das Beruhigungsmittel Contergan auf den Markt brachte. Wahrscheinlich wurde Thalidomid demnach bereits zu Kriegszeiten an Menschen versucht - an KZ-Häftlingen?
Mit einer Entdeckung, die an Kriegsgefangenen und KZ-Insassen erprobt wurde, Karriere machen? Es klingt unmöglich, aber es gab in der Nachkriegszeit gar medizinische Wissenschaftler, die in Kriegszeiten im Konzentrationslager Versuche leiteten und auf diesen Versuchen ihre spätere bundesrepublikanische Karriere begründeten. Selbst Schädelsammlungen, die in solchen Höllenlagern zusammengehortet wurden, galten eine Weile als moralisch völlig unbelastet, weil die Menschen so oder so ermordet worden wären und weil Wissenschaft ja nicht ethisch sein darf. Wir dürfen uns nichts vormachen: Die medizinische Wissenschaft ist und bleibt vom Nationalsozialismus gesudelt, das wissenschaftliche Heute ist nicht vom Gestern zu trennen...

Einige Worte zu des Deutschen liebster Tageszeitung. Wieder einmal, aber man darf sie einfach nicht ignorieren, denn zu sehr beeinflußt sie das Klima dieses Landes. Was derzeit an Plattheiten und windigen Reportagen dort vertrieben wird, dürfte selbst hartgesottenste BILD-Leser so noch nicht erlebt haben. Mal die übliche durchsichtige Hetze gegen Randgruppen beiseite schiebend: So berichtet man über Führerwinde und positioniert sich politisch derart, dass man nicht einmal davor zurückschreckt, den iranischen Präsidenten als Irren zu bezeichnen. Von dem kann man halten was man mag, aber eine derartige Bösartigkeit innerhalb der Berichterstattung ist schon sehr plump. Andere Staatsmänner, solche aus Texas, die ganze Weltregionen ins Chaos stürzten, die Blut an ihren samtweichen Händen haben, hätten die Dieckmann-Boys nie so benannt. Und damit die obligatorische Bigotterie der BILD nicht zu kurz kommt, hegt Franz Josef Wagner, Mitglied der anonymen Intellektuellen, die also ihren Intellekt in privaten Runden suchen, Verständnis für karnevalistische Alkoholorgien. Er schreibt, oder vesucht es zumindest: "Was ist der Vorteil, berauscht zu sein? Es ist die Sehnsucht, Träume zu erhaschen – ein fiktives Paradies." - Und gleichzeitig hetzt seine Zeitung, dann und wann, wenn ihn der Hass auf Entrechtete packt, auch er selbst, gegen all jene, die ihren SGB II-Regelsatz in Alkohol investieren. Selbst wenn dieses pauschalisierte Denken grundverkehrt ist, muß man doch in der Logik der Volksverhetzer fragen: Ist es kein Vorteil berauscht zu sein, wenn man diese Hetze nicht mehr erträgt, wenn man sich wie der letzte Dreck vorkommt? Ist da das Bier nicht die Sehnsucht des ALG II-Beziehers, ein kleines bisschen Paradies zu erhaschen?
Diese Tageszeitung ist kaum mehr zu ertragen und der Schlüssel zum Umdenken liegt vorallem darin, dieses Machwerk irgendwie zum Einsturz zu bringen, dafür zu sorgen, dass immer weniger Menschen diesen zu Druckerschwärze gewordenen Haufen Dreck, lesen. Aber wie?

Die Wirtschaftskrise rettet Leben. Wer hätte das gedacht? Weil das staatliche Töten in den USA hohe Kosten verursacht, weil zudem die Kassen in Zeiten der Krise leer sind, werden wahrscheinlich einige Bundesstaaten die Todesstrafe abschaffen, zumindest aber einstellen. Hier, auf dieser Webpräsenz, wird immer wieder auf den ökonomischen Faktor des Menschen hingewiesen, dass er also immer mehr zum Gegenstand degradiert wird, den man einzig nach Kosten und Nutzen bewertet. Hier trifft dieses funktionalisierte Denken ebenso zu. Auch wenn die abgeschaffte Todesstrafe für die betroffenen Verurteilten ein Grund zur Erleichterung sein mag: Man hat sie - die Verurteilten - mit dieser Entscheidung einem rein ökonomischen Muster unterworfen. Philosophisch gesehen hat man sie womöglich unwürdiger behandelt, als bei einem Prozessmarathon, der über Tod oder Leben entschieden hätte. Auch wenn es zynisch klingt: Das Töten aus ethischen Gründen, war demnach vielleicht ein würdevolleres Auseinandersetzen mit dem Verurteilten, als das blanke Abschaffen der Todesstrafe aus ökonomischen, d.h. unpersönlichen Gründen. Freilich muß man sich darüber nun nicht philosophisch entrüsten, sollte lieber hoffen, dass diese Entscheidung aus falschen Gründen, irgendwann die richtigen Gründe in die Köpfe betoniert. Vielleicht heißt es dann einmal nicht mehr, dass man Menschen nicht aus Geldgründen nicht mehr töten darf, sondern weil der Mensch den Menschen nicht töten soll, weil Seinesgleichen ihm heilig zu sein hat, egal was er auch verbrochen hat. Ethisch einwandfreie Resultate werden aber durch unmoralische Begründungen zweifelhaft...

Hier weiterlesen...

Wegbereiter - ein kurzer Nachtrag

Sonntag, 22. Februar 2009

Das kommentierende Völkchen innerhalb des Axel Springer-Konzernes, das eine eigene Sparte innerhalb der dortigen Gazettenwelten besitzt, sich dort den Standesdünkel von der Seele schreiben darf, setzt nun zur Ehrenrettung des jugendlichen Wegbereiters an. Denn eigentlich, wenn man es recht bedenkt, ohne zu großen moralischen Eifer an den Tag zu legen, ist der betreffende Karrierist doch ein feiner Kerl - er traut sich eben auch mal unangenehme Themen aufzuwerfen, traut sich künstliche Hüftgelenke für Rentner und die Suchterkrankungen von Leistungsbeziehern zu thematisieren. Das dürfe man ihm nicht als Fehler anrechnen.

Und, das scheint der wesentliche Leitgedanke des Mißfelder-Hagiographen Lambeck zu sein, er hat sich vorallem um die Kinder gesorgt, die ihm scheinbar schon immer am Herzen lagen. Denn um sich sein Studium selbst finanzieren zu können, schrieb er einst ein Kinderbuch. Doppelt soll hier hervorgehoben werden, dass dieser flegelhafte Musterknabe sein Studium selbst bezahlt hat, niemanden auf der Tasche lag und dass er nebenher auch noch etwas für Kinder getan hat, sich Kindern so sehr gewidmet hat, dass er ihnen sogar ein Buch schrieb. Das besagte Buch, das berichtet uns Lambeck nicht, nennt sich "Money" und trägt den bezeichnenden Untertitel "Tipps, wie du dein Geld vermehren kannst". Ein phantasievolles Kinderbuch, so wie es sich der Leser des lambeckschen Heiligentextchens vorgestellt hat, ist dies Machwerk sicherlich nicht. Es paßt zu Mißfelder, ein höchst mittelmäßiges Konsumstück für Jugendliche abgeliefert zu haben - als jemanden, der sich in Kindergedanken und -welten hineinversetzen kann, kann man sich Mißfelder auch nur schwerlich vorstellen. Mit Finanztipps für Jugendliche hat er also sein Studium finanziert - aber das klingt in einer Reinwaschungskampagne freilich nicht sehr liebevoll und würde auch nicht zu dem passen, was Lambeck da an Hervorhebungen und Bauchpinselungen in die Welt setzt.

Und freilich wäre Peter Hahne kein Mann Gottes, würde er sich nicht für die Sache des (Selbst-)Gerechten einsetzen. Wer sich nun über die Worte des Mißfelders aufrege, wer nun den moralischen Zeigefinger schwenke, der sei nichts anderes als ein Gutmensch. Solche Stimmen kennen wir üblicherweise aus Kreisen der Republikaner, der NPD und der DVU, die jeden als Gutmenschen abtun, der sich gegen die zweifelhaften Thesen dieser nationalen Einheitsfront stellt. Wenn man deren Ansicht nicht wahrhaben und akzeptieren will, wonach beispielsweise ausländische Mitbürger die Kriminalitätsrate Deutschlands derart in die Höhe treiben, dann ist man ein unverbesserlicher Gutmensch, der an multikulturellen Irrtümern festhält, nur um im bequemen Genuss zu leben, ein "guter Mensch" zu sein. Diejenigen, die Mißfelder nun entgegentreten sind Gutmenschen, Hahne geht noch weiter, es sind "weichgespülte PC-Politiker" (PC = political correctness). Es ist freilich keine Überraschung, wenn sich Männer Gottes, ob nun Kleriker oder Theologen ist einerlei, nicht für die Sache der Entrechteten und Geknechteten einsetzen - so etwas hat das Abendland immer wieder erlebt, häufiger erlebt als andersherum. Aber es verdeutlicht doch immer wieder, wie man Ideologien zum Machtmißbrauch heranziehen kann, selbst wenn diese Ideologien direkt vom Machtzentrum abgeschnitten sind. Mit seiner kuschelweichen Sonntagsrhetorik lobt Hahne Mißfelder, zieht sogar Sarrazin als Musterbeispiel heran, auch Steinbrück erhält Lob - man muß fürchten, dass dieser Prediger viele Menschen erreicht, wenn er das Repertoire seiner theologischen Verbalgiftküche gebraucht. Und am Ende steht die Erkenntnis, Politik sei Lebenshilfe, weshalb der praktische Ratschlag dazugehöre. Aber dass das alles nicht zu praktisch werden darf, erzählt uns Hahne irgendwann in den nächsten Wochen, wenn er uns erklären will, dass die Regierung nicht zu praktisch Steuern für Besserverdienende oder Unternehmen erhöhen darf, weil zuviel praktische Staatsintervention purer Sozialismus sei, die gesamte Wirtschaft zu Boden ringe - eine Wirtschaft, die nun am Boden liegt, obwohl seit Jahren Steuern gesenkt wurden. Aber das wäre ja Logik, die hat im theologischen Kosmos nichts zu suchen.

Kurzum: Wir, die wir uns entrüsten, sind Gutmenschen, die den wahren Wert des Herrn Mißfelders nicht erkannt haben. Der liebevolle Kinderfreund und Kinderbuchautor hat nur praktische Ratschläge erteilt, habe sich damit als Politiker empfohlen, weil er auch unbequeme Wahrheiten ausspricht - (Man spricht nicht von Thesen oder Ansichten, sondern von Wahrheiten. Mißfelders Auswurf ist bereits zur Wahrheit geworden. Die Wahrheit, dass Leistungsbezieher saufen und rauchen, ihre Kinder vernachlässigen und das Sofa dauerbelagern.) - und sich durch der Gutmenschen Intervention nicht aus seinem Konzept bringen läßt. In all dem ist wiederum ein Wandel zu spüren, wiederum eine Verschärfung der Zustände, die auch schon vor der Krise ein unerträgliches Maß angenommen hatten. Vor einiger Zeit mußte man sich für solche Aussetzer entschuldigen, auch wenn dies nur pro forma, ohne Inhalt, nur Floskel war. Heute laufen die Gazetten zur Höchstform auf, einen solch elitären Schwachkopf in Schutz zu nehmen, ihn aufzupolieren, ihn zum mutigen Vordenker zu küren.

Man feiert die Sozialdarwinisten und es ist eine Frage der Zeit, bis man härtere Maßnahmen als willkommene Vorschläge zur Behebung des Problems feiert; es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis die heutigen Worte verhallen, nur um dann zu Taten geworden zu sein. Wenn erst der "unnütze Esser", in Zeiten des vorgeschlagenen Hamsterkaufens, zur Parole geworden ist, dann ist die Drosselung der unnützen Esser keine Utopie mehr...

Hier weiterlesen...

Wegbereiter

Samstag, 21. Februar 2009

Die bundesdeutsche Gesellschaft muß keine Angst haben, muß sich nicht fürchten, dass eine aufblühende Wirtschaftskrise die Sitten verroht. Die Furcht, wonach eine zunehmende Pauperisierung der Massen, immer mehr in wirtschaftliche Nöte geworfene Menschen, anwachsende Heere von Arbeitslosen, um ihren Besitzstand bangende Unternehmer, das Land derart herabziehen würden, und das nicht nur wirtschaftlich sondern auch moralisch, ist hierzulande völlig unbegründet. Verrohte Zustände erleben wir schon seit Jahren, brauchen gar keinen vorbereiteten Boden mehr, sondern haben sich den Boden schon selbst aufgelockert.

Vor diesem Kontext, vor dieser schon längst gemachten Tatsache, muß man auch Philipp Mißfelders verbale Menschenschlächterei sehen. Er nutzt eben nicht die (relative) Verelendung aus, um seinen herablassenden Sozialdarwinismus zur Schau zu stellen, einen Sozialdarwinismus, den er ja schon vor einigen Jahren an den Rentnern dieses Landes ausgespieen hat, sondern er folgt dem längst zu Prinzip gewordenen Muster, stetig und beharrlich Spitzen gegen jene auszustoßen, die der Gesellschaft Kosten verursachen, die im Jargon antiquierter Rassenlehre "Ballastexistenzen" genannt wurden. Das waren nicht nur jene, die kosteten, sondern vorallem diejenigen, für die zwar zu zahlen sei, die aber angeblich nebenher ein reges und unsittliches Leben führten, die also soffen und Rauschmittel konsumierten, die ständig wechselnde Sexualpartner hatten und viele Kinder in die Welt setzten.

In dieser Tradition deutscher Wissenschaftlichkeit steht nicht nur Mißfelder. Womöglich müssen wir ihn als irrgeleiteten Jungen sehen, der sich mit solchen Sprüchen wieder einmal Meriten verdienen wollte, der glaubte, mit starken Floskeln seinen Ahnherrn zu gefallen. Nicht seinen Ahnherrn in grauer Vorzeit des deutschen Reiches, sondern die noch viel antiquierteren Ahnherrn, die aktuell auffallen, schon seit Jahren ihr menschenverachtendes Geschäft betreiben und mit Erwerbslosen umgehen wie mit Resten, die man auf den Müll werfen darf. Die BILD-Zeitung, euphemistisch wie eh und je, reiht vier solcher Chauvinisten auf, benennt sie als solche, die "auch schon mal aneckten". Dass man bei dem, was man umgangssprachlich "anecken" nennt, eine Situation meint, bei der zwei relativ gleichstarke Positionen aufeinandertreffen, so dass im übertragenen Sinne Ecke an Ecke steht, wird hier künstlich als Motiv erzeugt. In Wahrheit haben aber jene Personen, Hartz IV-Empfänger, keine Möglichkeit auf gleicher Augenhöhe zu diskutieren, weil ihnen die Medien nur offenstehen, wenn sie zugeben zu betrügen, nicht arbeiten zu wollen oder wenn sie ihre acht Kinder präsentieren möchten, die sie mit sieben verschiedenen Männern gezeugt haben.

Was die BILD als Galerie präsentiert, ist keine feine Aneinanderreihung von Aneckenden, sondern eine Horde von Subjekten, die willentlich und mit Kalkül ein Klima in diesem Land erzeugt hat, welches Arbeitslose als Prügelknaben und letzten gesellschaftlichen Dreck ermöglichte. Wenn ein SPD-Politiker öffentlich verkündet, dass mit Waschen und Rasieren ein Arbeitsplatz offensteht, dann ist das Ressentiment vom stinkenden und dreckigen Arbeitslosen in den Köpfen angekommen; wenn ein anderer Sozialdemokrat als These in den Raum wirft, dass Untergewicht das kleinste Problem von Arbeitslosen ist, dann ist für den unkritischen Menschen gewiss, dass dicke Arbeitslose der Regelfall sind; wenn ein liberaler Geck meint, Arbeitslose könnten Ratten sammeln und damit Geld verdienen, dann gibt man solchen Stammtischbrüder Vorlagen, die Arbeitslose sogar in Arbeitslager stecken würden, wenn sie nicht jede, aber wirklich jede Arbeit annehmen; wenn ein ausgebleichter Grüner vom fressenden und saufenden Schmarotzern auf Sofas fabuliert, dann nährt er den guten deutschen Traditionalismus in dieser Frage, der als (zunächst) finale Antwort die Sterilisation parat hatte.

Kurzum: Das sind keine Herrschaften die aneckten. Das sind knallharte Sozialdarwinisten, die sich in einem Moment geistiger Umnachtung, einem Thanatos der eigenen Machtgier vielleicht, dazu verleiten ließen, ihren wahren, tiefsten und innersten Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Anecken wäre verzeihlich, zielgerichtete Hatz ist es nicht.

Es geht in diesen Tagen nicht um Mißfelder. Soviel der Ehre hat diese Karikatur eines Berufspolitikers gar nicht verdient. Es geht darum, dass die Verrohung schon seit Jahren fester Bestandteil der Sozialpolitik ist, und es geht darum, dass eine lang anhaltende Krise zu bitteren Rückgriffen in der deutschen Geschichte führen kann. Es ist nicht damit getan, einen neuen Tyrannen zu vermeiden, denn bereits in der Weimarer Republik wurden Stimmen laut, die mehr Härte gegen Schmarotzer forderten. Wäre Hitlers Kanzlerschaft nie Wahrheit geworden: Wer weiß wie die Vertreter der ersten deutschen Demokratie reagiert hätten, wer weiß, ob nicht sie Zwangslager und Reichsarbeitdienst entworfen hätten. Man braucht keinen Tyrannen und keine rassisch motivierte Ideologie - es reicht Mißfelders, Becks, Metzgers, Sarrazins und Schmidts zu haben, die wie der steten Tropfen den Stein höhlen, die immer wieder verheilte Wunden aufreißen, immer wieder Wege bereiten, die wir dann vielleicht eines Tages, wenn ethisches Denken noch weniger als heute wert ist, zu gehen bereit sind.

Mißfelder ist nur Auswurf dieses Denkens, ist kleiner, unbedeutender Teil eines Mechanismus, der lebensunwertes Leben vielleicht (noch) nicht beseitigt wissen will, aber zumindest kontrolliert, in geordnete Bahnen gelenkt sehen möchte. Mit euphemistischem Anecken kann man das nicht gleichsetzen; man darf es auch nicht. All jene, die des Denkens noch mächtig sind, müssen diese Mißstände formulieren, aber schonungslos und ohne falsche Sachlichkeit. Wer Menschen derart herabwürdigt, wie es diese exemplarischen Herren taten, vielleicht wieder tun werden, der hat keine Sachlichkeit verdient. Wenn Gedanken erstmal zu Worten wurden, dann werden Worte eines Tages auch zu Taten - derjenige, der offen eine solche menschenfeindliche Meinung vertritt, der bereitet demnach schon die Tat vor; der ist Mörder und Lagerleiter im Geiste. Da darf man keine falsche Freundlichkeit an den Tag legen, muß die Dinge beim Namen nennen - wo Menschen unterdrückt und entwürdigend behandelt werden, da darf man sich einfach nicht zurückhalten. Wenn man solche demnach als Anecker bezeichnet, egal wer das im aktuellen Falle tat, ob BILD oder ein verirrter Leser dieses Blattes, ob die TAZ oder ein Stammtischbruder, der bagatellisiert die Misere, der macht sich zumindest geistig mitschuldig...

Hier weiterlesen...

Der Großinquisitor

Freitag, 20. Februar 2009

Wie kannst du dich nur trauen, nach sovielen Jahren wieder aufzukreuzen? Und das just in dem Moment, da wir im Begriff sind, mittels deiner Lehren und Einsichten den Laden zu übernehmen. Wir berufen uns auf dich, auf die soziale Marktwirtschaft, benutzen dein Gesicht für Werbezwecke, die obligatorische Zigarre, das zerknauschte Gesicht, die in Falten gehüllten Wesenszüge des gealterten aber weisen Staatsmannes, die in deinem Antlitz deutlich werden – du bist unser Kapital. Und dann tauchst du auf, suchst dir einen öffentlichen Platz und beginnst Reden zu halten, die die Menschen nur verwirren. Nein, sag' nichts, antworte nicht. Ich habe heute schon genug von dir gehört, als du die Massen mit deinem fränkischem Dialekt aufgehetzt hast.

Die Marktwirtschaft habe den Menschen zu dienen. Nur eine solche Marktwirtschaft sei sozial. Der Staat dürfe intervenieren, damit er die Rolle des nützlichen Idioten ablegt und für das Wohl aller Bürger sorgen kann. Was du den Menschen da verkündet hast, dieses heilige Wort aus anderen Tagen dieser Republik, verwirrt uns die Massen. Verstehst du das nicht? Sie werden sich fragen, warum der Schöpfer der sozialen Marktwirtschaft so anders predigt als seine Jünger. Sie werden uns, damit alle Kultur, alle Zivilisation, jeden Fortschritt hinwegfegen, nur weil wir uns in den Lehren nicht einig sind, keinen lebenswichtigen Dogmatismus an den Tag legen. Lächel' nur, du Unerwünschter, wärst du doch nur dort geblieben, wo du warst!

Ich gebe es ja zu, es hört sich alles fein an. Und auch wir, die wir uns auf dein Lebenswerk stützen, sogar Initiativen für neue Modelle sozialer Marktwirtschaften entworfen haben, wollen ja Wohlstand für alle Menschen. Aber mit Umverteilungen und solchen dem Privateigentum feindlich gesonnenen Irrlehren, werden wir das nicht umsetzen. Nicht, weil wir glauben, es führte nicht zu mehr Gleichheit und sozialer Sicherheit, ganz im Gegenteil. Es geht uns nur darum, die Leistungsfähigen, diejenigen die Geldberge verdienen, zu schützen, deren Leistungsfähigkeit zu adeln. Wenn wir da umverteilen, wenn wir solchen das Geld entwenden, um irgendeinen dahergekommenen Straßenfeger zu alimentieren, dann stellen wir beide auf eine Augenhöhe. Willst du das? Haben wir dich verkannt? Warst du etwa doch einer aus den roten Horden?

Wir haben Gegenmodelle entworfen, wollen den Sozialstaat anders gestalten. Und in aller Bescheidenheit sei gesagt, dass uns das schon gelungen ist. Eigeninitiative nennen wir das, oder Eigenverantwortung. Wir animieren die Menschen, nicht auf Umverteilungen zu warten, sondern selbst Sicherheiten zu schaffen, selbst zu sparen, sich zu versichern. Ja, wir haben es so weit gebracht, dass die Menschen an der Umverteilung sogar etwas Widerliches vermuten, etwas dem Menschsein diametral Entgegengesetztes. Da nimmt sich deine heutige Predigt bescheiden aus, geradezu anachronistisch – aber Anachronismen sind gefährlich. Du hast heute Brennstoff verkündet, du Biedermann mit Zigarre; du zündelst am Gefüge, machst uns die Menschen abtrünnig.

Dabei haben die Menschen mittlerweile ein anderes Bild von dir. Als du von uns gegangen bist, da haben wir langsam das Ruder übernommen, haben uns den guten Namen deines Lebenswerkes gesichert, dein Bild zu einer Art Ikone umgedeutet. Alles was wir den Menschen verkündeten, alles was wir ihnen als Botschaft mit auf dem Weg gaben, war immer von deinem Bild flankiert. Du warst unser bester Werbeträger, hast unserem Treiben ein sonniges Gemüt verliehen. Deine ausgestrahlte Weisheit, deine Integrität war unser Kapital. Und nun bist du aufgetaucht, wirbelst unseren Laden durcheinander, ruinierst unser Werk. Wir brauchen dich nicht, du hättest nicht zurückkehren müssen, wir können das Geschäft auch alleine führen, ohne dich; sogar viel besser ohne dich; nein, nur ohne dich. Mit dir ist es unmöglich, denn deine Absichten scheinen wirklich nur Humanität zu sein, antiquierter Altruismus. Aber damit kommen wir nicht weiter, denn er hindert den Markt an der Entfaltung.

Und der einzige soziale Markt, du hättest es besser wissen sollen, ist der freie Markt. Die unsichtbare Hand ist sozial, auch wenn man das auf Anhieb nicht erkennt. Was du predigst in die Erfüllung menschlicher Sehnsucht auf die Schnelle, eine temporäre Erfüllung, weil alle Humanisierung des Marktes zwangsläufig auf Enttäuschungen stößt. Das tut der freie Markt auch, kein Zweifel; der selbstständig gewordene Markt erfüllt nicht jedermanns Traum. Aber wir lügen den Menschen wenigstens nichts vor. Und über kurz oder lang regelt der Markt die Bedürfnisse von alleine, auch wenn zunächst vielleicht sogar Menschen sterben müssen. Sie sterben nicht umsonst, sondern zur Erfüllung einer sozialeren Ordnung. Wenn da der Staat eingreift, wenn er dieses naturwissenschaftliche Phänomen mit seinen Chemikalien, seinen Steuern und Umverteilungsmechanismen also, beeinflußt, dann erzielt er vielleicht kurzfristige Erfolge, sichert sich dadurch die Akzeptanz der Menschen, aber irgendwann wehrt sich die Natur und sie muß dann drastisch ausmerzen, wen und was zum Mitziehen und Mitschleppen sie nicht mehr in der Lage ist - ein Pyrrhussieg also.

Wir Jünger deiner Lehre wußten immer, dass du da sozialromantisch veranlagt warst. Du kamst ja auch aus einer Generation, die an die Macherqualitäten des Menschen glaubte, die nicht einsehen wollte, dass sie der Natur bedingungslos ausgesetzt ist. Ihr habt doch geglaubt, die Erde sei euch untertan, ihr könntet die Welt grenzenlos manipulieren und beeinflussen. Aber ihr habt euch getäuscht, du hast dich getäuscht. Der Markt ist ein natürlicher Kreislauf, er läßt sich nur ertragen, nicht beeinflussen; man braucht ein stoisches Gemüt, um die Verwerfungen des Marktes, um die kleinen Ungerechtigkeiten, auch die großen freilich, als evolutionäre Notwendigkeit zu begreifen. Unsere Generation hat das begriffen, hält sich daher vornehm zurück, läßt der Natur ihren Gang. Wir wußten immer wie du dachtest, haben nach und nach aber bewirkt, dass dieses humanistisch geprägte Denken deinerseits aus der Öffentlichkeit verschwindet.

Du wirst nun sicherlich behaupten, dass wir deine Jünger nicht länger sind, weil wir nur den Namen, nie aber die Inhalte übernahmen. Nein, sag' nichts, ich ertrage dieses blasierte Herummenscheln nicht. Laß' mich für dich antworten: Mag sein, dass daran etwas Wahres ist, aber wir sehen es anders, differenter, realistischer. Du hast das Grundmodell geliefert, den guten Namen, unter dem wir uns einrichten konnten. Und dann hat dein System sogar noch eine ganze Weile funktioniert. Ein Glücksfall für dich, ein Glücksfall für uns. Wir haben ausgehöhlt, was uns nutzlos erschien, und durch bessere, handfestere, naturwissenschaftlichere Dogmen ersetzt; wir haben dein Lebenswerk reformiert und einer Revision unterzogen. Was heute als soziale Marktwirtschaft gilt, lebt von den feinen Erinnerungen an das Wirtschaftswunder, aber auch von unseren neuen Inhalten. Wir benutzen den Namen deines Werkes, benutzen deinen persönlichen Namen, benutzen sogar einschlägige Textpassagen aus deinem famosen Schaffenswerk – aber all das hat mir dir wenig zu tun, vielleicht gar nichts. Aber du bist unsterblich, merkst du das? Nicht weil deine Lehren noch aktuell wären, sondern weil wir uns deiner angenommen haben. Verurteile uns also nicht, sei dankbar für den Ruhm, den wir dir zugeteilt haben - selbstlos zugeteilt haben. Der Meister hat erst die Jünger geprägt, damit dereinst die Jünger ihren Meister umzudeuten vermochten. Dir geht es da nicht anders wie Jesus oder wie Marx.

Und wir haben die Menschen schon weit gebracht, sehr weit. Sie beten unsere Parolen nach, in jeder Fernsehsendung sitzt einer unserer Vertreter, in jeder Partei, in jedem Unternehmen sowieso. Im Radio laufen unsere Schlagworte rauf und runter, in den Zeitungen stehen Artikel aus unserer Feder; Studien werden von uns in Auftrag gegeben und wie gewünscht geliefert. Wir haben es beinahe geschafft, das Volk liegt uns zu Füßen - Widerspenstige gibt es freilich immer. Aber letztere sind in der Minderheit und wir haben bewirkt, dass Medien über solche Elemente nicht zu ausgiebig berichten. Das ist soziale Marktwirtschaft, so wie du sie dir nie hast denken können. Unsere Marktwirtschaft wird verinnerlicht, wird zum dominierenden Gesetz; dein Vorläufermodell, zweifellos wichtig, zweifellos existenziell notwendig für deine Jünger, war nur ein gelebtes Modell, ein akzeptiertes Modell solange es Erfolg hatte, ein Modell welches keiner in seinem Innersten trug, niemand verinnerlicht hatte qua Lehrsätze und Dogmen. Deswegen konnten wir es auch so spielend abändern, ohne dass uns Gegenwehr von der Bahn gebracht hätte. Die Menschen glauben doch heute, dass du es warst, der Eigenverantwortung und Staatsrückzug gepredigt hat; sie glauben unsere naturwissenschaftlichen Wahrheiten ebenso – und wir haben dir diese Ehre zum Geschenk gemacht. Du bist der Messias der Bewegung, aber was du heute vor den Massen gepredigt, was du ihnen da an Flausen in den Kopf gesetzt hast, das war wenig messianisch.

Wir wollten dich noch heute in ein Flugzeug nach Afghanistan setzten, dich außer Landes fliegen; wir verbrennen heute ja niemanden mehr auf dem Scheiterhaufen – auch unsere Zeit kennt Rückschritte. Du kannst es Sentimentalität nennen, dass wir davon absehen. Wir können dich nur warnen, weiterhin so aufzutreten. Tust du es doch, ich bin bester Zuversicht, dass unsere Medienmaschinerie auch dich in Grund und Boden trampelt, auch wenn du die zentrale Leitfigur unserer neuen Marktkultur bist. Wir pfeifen und die Nachrichtensprecher machen Männchen; wir werfen das Stöckchen und die Quatschtanten aus politischen Sendungen bringen es uns hechelnd zurück; wir ziehen an der Leine und die Journalisten werden vor ausufernder Berichterstattung zurückgehalten, egal wie sehr sie des zugeschnürten Halsbandes wegen auch winseln. Du schadest dir mit deinen Auftritten nur selbst, denn die Menschheit rettest du nimmermehr, die Bürger dieses Landes sind derart in unserer Hand, dass du am Ende wie ein altertümlicher Spinner aussiehst. Frag' jene, die täglich gegen uns anschreiben; gehe hin und frage sie, sie erzählen dir wie es ist, gegen uns, den zur Institution gewordenen Zeitgeist, anzugehen. Gehe lieber wieder dorthin, wo du warst, wo immer das auch war. Bleib den Menschen in guter Erinnerung, bleib uns dienlich. Davon haben alle mehr. Die Lebenden ihren Wohlstand, die durch den freien Markt Sterbenden die Gewissheit und Ehre für den sozialen Fortschritt zu sterben, und du, du hast die Ehre unser Messias bleiben zu dürfen.

Wir brauchen dich nicht mehr, du bist überflüssig geworden. Was an dir wertvoll war, das haben wir uns gesichert, haben wir in schöne Schablonen gegossen, haben wir kultiviert. Viel war es nicht, aber es war nützlich. Keiner hatte die Reputation, die du einst hattest. Wenn wir heute feststellen, du habest bereits vor fünfzig Jahren gepredigt, was wir heute als unumgängliche Notwendigkeit deklarieren, selbst wenn dein damaliger Ausspruch aus dem Zusammenhang gerissen wurde, gilt es als Offenbarung. Die Menschen verbeugen sich dann vor dir, nennen dich einen Propheten, eine große Gestalt der Geschichte, einen Allwissenden, jemanden der Visionen hatte, die erst jetzt, unter der Fuchtel seiner Nachfolger, wirklich und wahrhaftig zur realpolitischen Wahrheit werden. Du bist uns nur als schemenhafte Erinnerung nützlich, so wie der Kirche nur ein Abbild eines Gottessohnes dienlich ist. Nach und nach hat man die Komponente des jüdischen Sozialrevolutionärs aus den Gedanken der Menschen getilgt. Heute ist der Jude Jeschua ein Religionsstifter, der er nie war, heute ist er kein Revolutionär mehr und seine Liebeslehre wurde ebenso verwässert. Du bist also in besten Gesellschaft, solltest dich nicht grämen.

Aber wisse, dass du unnütz geworden bist. Deine nützliche Phase ist passé, Geschichte, aus und vorbei. Was du zu sagen hattest, hast du schon gesagt in deinem vormaligen Leben. Wärme die Brühe nicht nochmal auf, revidiere deine Rückkehr, denn deine Mission war schon vor Jahrzehnten erfüllt. Und nun gehe, predige meinethalben, mach dich lächerlich, alter Mann. Wir werden leugnen, dass du der bist, für den die Menschen dich halten. Du wirst ein irrgewordener Greis sein für unsere Presse, du wirst nicht der sein, der das Fundament gegossen hat. Der ist lange tot, und hätte weiterhin tot bleiben müssen. Du hast versucht Einfluss zu nehmen, aber mit dir werden wir spielend fertig, leichter als mit allen anderen Kritikern. Denn dein öffentliches Bild ist derart gefestigt, dass dich keiner für den Vater der sozialen Marktwirtschaft halten wird - du wirst ein Romantiker sein, ein Querulant, mehr nicht! Predige und werde vergessen; schweig und werde ewig in den Köpfen der Menschen bleiben.

Und nun geh' mir aus den Augen...

Hier weiterlesen...

Bürgerliche Zivilcourage

Donnerstag, 19. Februar 2009

Täglich mehrmals warnt die örtliche Radioanstalt Ingolstadts vor sogenannten Blitzern, was soviel bedeutet wie: sie warnt vor allgemeinen Verkehrskontrollen. Hierzu sind die Hörer aufgerufen, eine bestimmte Telefonnummer zu wählen, um den Ort des Geschehens zu benennen, um alle daran teilhaben zu lassen, nur nicht die Polizei. Notorische Raser werden folglich durch die Allgemeinheit gewarnt, drosseln aufgrund redaktioneller Warnungen die Geschwindigkeit, entkommen einmal mehr einer Geldstrafe oder einem Fahrverbot, werden nicht zur gebotenen Vernunft gebracht, wähnen sich in Siegerpose, glauben einmal mehr immer davonkommen zu können. Man kann getrost behaupten, dass der örtliche Radiosender eine der größten Verkehrsgefahren dieser Stadt ist, so wie wahrscheinlich diverse Radiosender dieser Republik in ähnlicher Weise Gefahrenquellen darstellen.

Freilich könnte man nun einwenden, dass viele Verkehrkontrollen, insbesondere das Blitzen in schwer wahrzunehmenden Tempo 30-Zonen Gängelung ist, alleine einem ökonomischen Prinzip folgen, nämlich das Säckel der Stadtkasse zu füllen. Aber gerade diese Unterscheidung zwischen Sinn und Unsinn, zwischen angebrachter und drangsalierender Kontrolle wird vom Radiosender nicht vorgenommen; vielmehr ist es so, dass vor polizeilichen Fotografen auf gefährlichen Haupt- und Landstraßen gewarnt wird, dort wo es offenkundig ist, welche Geschwindigkeit einzuhalten sei, wo man also nicht überrascht in die Falle tappen kann. Und da man hier in jener bayerischen Großstadt mit dem höchsten Verkehrsaufkommen lebt, daher die Gefahr der Verunfallung sowieso schon erhöht ist, gefährden passionierte Bleifüße die anderen Verkehrsteilnehmer beträchtlich und verschärfen das schlechte Klima auf Ingolstadts Straßen. Eine Gefahr, die durch die Unbedachtheit des Radiosenders unterstützt und mutwillig ausgebaut wird.

Man hat es hier mit einem Sender zu tun, wie man ihn in diesem Lande zuhauf findet. Vornehmlich wird unkritisch berichtet, vorallem auch über die Geschehnisse in der Region. Wenn der amtierende Bürgermeister zum Schaeffler-Boy wird, der Milliarden zur Rettung des Maschinenbauunternehmens gesichert wissen will, dann wird es so hingenommen. Kritik findet nicht statt, eine kommentierende Rubrik, gleich einem Feuilleton, existiert nicht. (Natürlich muß ein Medium objektiv berichten, aber das gilt eben auch für die Negation des Geschehens. Wenn ein Bürgermeister sich für eine Milliardenspende für ein Unternehmen ausspricht, dann müssen auch die Kritiker dieses Denkens zu Wort kommen.) Es ist, auch wenn er locker und flockig daherkommt, nervtötende Moderatoren mit optimistischen und immerfröhlichen Sprüchen und schlechten Witzchen auf Sendung schickt, ein bürgerlicher Sender; keine Informationsquelle, sondern ein Zubringer von herrschenden Botschaften. In diesem Kontext ist auch das Warnen vor Verkehrskontrollen zu sehen. Auch wenn die Redaktion vielleicht gar nicht willentlich die Absicht hegt, so steckt doch ein Mechanismus dahinter, eine stille Konditionierung, die den Sender zu einer derart unkritischen, unbedachten und teilweise gefährlichen Haltung hinreißen läßt.

Was dahinter steckt ist die zweifelhafte Zivilcourage bürgerlicher Färbung. In dieser ist alles zu bekämpfen, was dem Bürger an den Geldbeutel will. Und wenn dieses Etwas eine staatliche Einrichtung ist, Polizei oder Finanzamt, dann ist jeder Widerstand, egal wie fadenscheinig, wie gefährlich und wie sehr auch falsche Kreise davon profitieren, ein Gebot der Bürgerpflicht. Auch wenn die Mehrzahl der Verkehrskontrollen durchaus sinnvoll sind, es ist der bürgerlichen Courage einerlei, sie will nicht im Fall der Fälle bezahlen, sie will sich den Griff in den Geldbeutel ersparen, glaubt daher in medialen Warnungen, in dieser Vergesellschaftung des Warnsystems, einen befreienden und autonomen Charakter entfesselt zu haben, ein Spiegelbild des politisierten Bildungsbürgers, des citoyens abzubilden. Dahinter steckt der Bürgerlichen Phobie, dass alles, was vom Staate kommt, etwas Teuflisches, Hinterlistiges, Anachronistisches darstellt - ein Staat, den sie als abstrakte Größe sehen, dem sie nicht zugehörig zu sein glauben.

"Der Staat" und seine Institutionen sind Ausdruck von Freiheitsberaubung, er fesselt die Leistungsfähigen an den Pöbel, ist daher immer ein obskures Etwas, das eigentlich zu verdammen wäre. Doch so einfach ist es nicht, denn jene Kreise die den Staat als Leviathan brandmarken, als fressendes Ungetüm, als Vernichter der Freiheit, sehen nur in finanziellen, wirtschaftlichen und ökonomischen Fragen den staatlichen Makel. Sichert der Staat ihnen aber Privilegien, baut er ihnen benötigte Infrastruktur, installiert er für sie Schwimmbäder und Theater, fährt er ein Polizeiheer zum Schutz vor andersdenkenden Demonstranten auf, schickt er Militär ins Ausland, um gesellschaftliche Interessen zu wahren oder wiederherzustellen, dann ist der Staat erwünscht und beliebt. Deutlich erkennt man dies in den derzeitigen Betteleskapaden großer Unternehmen, die sich jahrzehntelang mit Abscheu von allem Staatlichen abwandten, die Unternehmenssteuern für einen sozialistischen Anachronismus hielten und nun um Steuereinnahmen winseln, die sie zu leisten nicht bereit waren und wahrscheinlich auch in Zukunft zu leisten nicht bereit sind. Dasselbe Konzept konnte man wahrnehmen, als Unternehmen und bürgerliche Ökonomen den freien Markt zur Religion erhoben, gleichzeitig aber verkündeten, dass Straßen und Schienen vom Staat zu stellen seien, weil Infrastruktur ja Rahmenbedingung sei, die immer der Staat und damit der Steuerzahler bereitzustellen habe.

Dieses Denken dominiert auch in Nichtigkeiten, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche des bürgerlichen Lebens. Deshalb ist für den bürgerlichen Radiosender, der vornehmlich der Abrichtung der Menschen dient, sie prägen und konditionieren soll - was selbiger natürlich vehement verleugnen würde -, auch eine Verkehrskontrolle ein schwerwiegender Eingriff in Persönlichkeitsrechte, die erst ab dem bürgerlichen Geldbeutel Geltung haben. Die Maßnahme kann noch so sinnvoll sein, kann als Maxime haben, notorische Raser zur Räson zu bringen, sie zu enttarnen und zu sanktionieren, alles im Namen der Verkehrssicherheit - dem bürgerlichen Medienorgan ist das einerlei. Lieber warnt man die großen Sünder ebenso, damit die kleinen Sünder, die unbescholtenen Autofahrer, verschont bleiben. Diese Warnmentalität ist nichtigster, aber deswegen ebenso besorgniserregender Ausdruck irrgeleiteter bürgerlicher Zivilcourage. Courage geht bei den Jüngern pseudoliberaler Lehren immer erst beim eigenen Geldbeutel an - und hört dort auch wieder auf.

Hier weiterlesen...

De auditu

Ein Gespenst geht um in Deutschland, jeder spricht davon, viele entrüsten sich darüber, viele sehen den Untergang des Krämerlandes gekommen, erahnen schon Hammer und Sichel über den Eingangspforten deutscher Banken. Von Enteignung wird gesprochen, vom sogenannten Enteignungsgesetz; nun würde wieder enteignet in diesen Landen, gerade einmal zwanzig Jahre nach Mauerfall. Erst enteignet man Banken, dann womöglich Unternehmen, vielleicht will man sogar Schaeffler, sollte man der derzeitigen Medienkampagne zugunsten des Maschinenbauunternehmens doch noch erliegen, teilenteignen. Welch Frevel an den guten Sitten des freien Marktes!

Enteignen, enteignen, enteignen. Dieses Wort fällt in diesen Tagen oft. Es hat einen kriminellen Beigeschmack, steht im Ruch des Entwendens, Stehlens, Raubens; es klingt nach derbem Habhaftmachen, nach einem Raubzug, nach Aktivität aus der Unterwelt. In der feinen Glanzwelt der westlichen Wirtschaft gelten Verträge. Man entwirft selbige beispielsweise für Konzerne, die mittels dieses Schriftstückes ein ruiniertes Land der Dritten Welt zu nötigen in der Lage sind, Rohstoffe möglichst preiswert ausbeuten zu lassen. Dabei weist man dezent auf mögliche Konsequenzen bei Zuwiderhandlung hin - aber alles geht seinen geordneten Lauf, den Lauf derer, die sich diese Regeln ersonnen haben.

Vor dem Eigentum anderer haben jene, die nun laut vom Untergang der guten Sitten sprechen, wenig oder gar keinen Respekt - man bedenke nur die unbeschreibliche Chuzpe, mit der man Steuergelder, des Steuerzahlers Eigentum, abstauben will, um Fehlinvestitionen glattzubügeln; man denke also nur an Schaeffler und Konsorten. Geht es aber an ihr Eigentum, geht es an das Eigentum derer, die für sie Brüder und Schwestern im Geiste sind, dann spricht man nicht von notwendigen und gerechten Regeln, die ein Sanierung auf Steuerzahlerkosten mit sich bringen, sondern von Enteignung. Selbst Begriffe wie "Verstaatlichung" oder "Vergesellschaftung" werden gemieden, weil sie nicht eindeutig Stellung beziehen, eher gegenteilig, einen Hauch von Legalität durchschimmern lassen. Die "Verstaatlichung" entzieht der Möglichkeit des Staatseinstieges - (lassen wir hier beiseite, dass die Möglichkeiten gering sind, weil erstmal die Aktionäre zustimmen müssen) - den kriminellen Effekt, raubt den Apologeten des immerwährenden Eigentums die Option, den Staatseingriff als Verbrechen zu stilisieren.

Deshalb gilt es nun für die Westerwelles und Hundts, verstärkt von Enteignung und Entwendung zu sprechen, immer wieder darzulegen, dass die Kriminalität die Regierungsgeschäfte übernommen hat, das mögliche Vorgehen "des Staates" als verbrecherische Machenschaft aus Old Chicago zu deklarieren; deshalb werden die Kampagneros der sich entrüstenden Kreise auch weiterhin von "Enteignung" schreiben und sprechen, die "Verstaatlichung" als mögliche Alternative meiden. Jeder soll schließlich wissen, welch unsägliches Verbrechen an denen, die beim Steuerzahler bettelten, begangen wird.

Hier weiterlesen...

Geteilt und beherrscht

Mittwoch, 18. Februar 2009

Weil er seinen Lohn für zu dürftig hält, weil die Arbeitszeiten zu lang und die Arbeitsbedingungen zu schlecht sind, treibt es den Angestellten auf die Straße, treibt es ihn zum gewerkschaftlich organisierten Streik. Nun sei es an der Zeit höhere Löhne und bessere Arbeitszustände zu erzwingen. Am Rande des Geschehens steht ein Arbeitsloser, beobachtet das Spektakel, schüttelt verärgert den Kopf. Wie kann man nur in Zeiten wie diesen, in Zeiten millionenfacher Arbeitslosigkeit mehr Lohn fordern? Wieso zerstört der Angestellte mit seiner Forderung weitere Arbeitsplätze? Warum ist er nicht einfach froh, dass er überhaupt Arbeit hat?

Jener Arbeitslose geht seines Weges, verläßt diesen Ort der Demonstration, diesen Ort vermeintlicher fehlender Wirtschaftsvernunft, kehrt in seine Stammkneipe ein, auf einen Kaffee oder ein Bier. Dort angelangt beklagt er sich beim Wirt über die unerträglichen Zustände, die man hierzulande als Erwerbsloser ertragen müsse. Immer trage man den Stempel der Faulheit auf der Stirn, ja förmlich eingebrannt habe sich dieses Vorurteil, immer glauben die Menschen, man würde sich Sozialleistungen erschleichen, allerlei arglistige Täuschungen am Sozialstaat begehen. Eine in Mittagspause befindliche Alleinerziehende mokiert sich, er habe wenigstens freie Zeit, da könne man diese Vorwürfe, die ja übrigens nicht immer unbegründet sind, auch mal ertragen. Freie Zeit koste eben etwas, in diesem Falle kostet es lediglich ein zu ertragendes Vorurteil. Das sei ein gutes Geschäft, wenn man sie fragt, zumal die Arbeitslosengelder üppig auf die Konten der Bedürftigen überwiesen werden.

Abends trifft die Alleinerziehende auf ihren Vater, mittlerweile Rentner. Wieder einmal ist sie abgekämpft, wieder einmal glaubt sie die Doppelaufgabe nicht mehr bewältigen zu können. Kind und Beruf, Beruf und Kind - wie man es dreht und wendet, es paßt in alleinerziehender Weise einfach nicht zusammen. Alleingelassen werde man, wenn man alleine ein Kind erzieht und selbst die Brötchen verdient, freie Zeit für sich selbst habe man gar nicht mehr und das Geld reiche vorne und hinten nicht aus. Zwar tröstet der verrentnerte Vater seine Tochter, läßt sie aber wissen, dass sie an der Misere selbst schuld habe. Sie habe sich für ein Kind entschieden. Außerdem könne sie sich aufgrund ihrer Jugend und strotzenden Gesundheit noch selbst helfen, vielleicht noch einen Minijob antreten, um die Familienkasse zu füllen, während man als Rentner mit kleinen Bezügen und großen gesundheitlichen Einschränkungen, keine Möglichkeit der Eigeninitiative mehr habe und mit dem kläglichen Gnadenbrot auskommen müsse.

Tagsdrauf sucht der Rentner seinen Hausarzt auf, wieder einmal diverse Gelenke, die ihm schmerzend das Leben bereichern. Im Wartezimmer ein junger Bekannter, mittlerweile chronischer Kranker. Schlimm stehe es um ihn, beklagt sich der Rentner. Ständig quälen ihn Schmerzen, die Rente sei zu klein und er könne sich wegen seiner Schmerzen nicht einmal ein Zubrot verdienen. Tragisch sei das freilich, meint der Chroniker, aber man müsse auch zur Kenntnis nehmen, dass diese Leiden ja erst im Rentenalter auftraten, gegen Ende des Lebens hin, während er noch keine Vierzig ist und schon geplagt ist. Immerhin habe der verrentnerte Jammerlappen ja ein einigermaßen schmerzfreies Leben gehabt, während er sowas wie Schmerzfreiheit seit Jahren schon nicht mehr kennt.

Überhaupt liege die wahre Tragik darin, als chronisch kranker Mensch in ein Gesundheitswesen gebettet zu sein, welches einen wie eine Nummer behandelt, schlecht versorgt und nebenbei auch noch ordentlich kostet. Als kranker Mensch wisse man erst, wie schlecht es um die Gesellschaft bestellt sei, alleine schon der abschätzigen Blicke der Mitmenschen wegen. Alle anderen Jammernden pflegen in Wirklichkeit nur größere oder kleinere Luxusproblemchen. Ein im Wartezimmer mitwartender Leiharbeitnehmer, heute nicht verliehen sondern krank, fügt nur trocken hinzu, dass man als chronisch Kranker wenigstens nicht hart buckeln, seine ganze verbliebene Kraft nicht derart verschwenden müsse, wie es Leiharbeitnehmer täten. Von wegen Luxus, keinem gehe es derart dreckig wie Seinesgleichen.

Bei der abendlichen Skatrunde bricht der Leiharbeitnehmer wieder einmal, wie er es neuerdings beinahe regelmäßig tut, nervlich zusammen. Die Kraft schwinde ihm, der dauernde Arbeitsplatzwechsel, das Warten am Telefon um seinen Einsatzort zu erfahren, die oft sehr langen Anfahrten, die illegalerweise nicht einmal bezahlt werden, dazu der lächerlich geringe Lohn – alles sei ihm zuviel, alles lasse in ihm die Vermutung aufkeimen, dass es im Tode besser als im Leben sei. Aberaber, tröstet der studentische Skatbruder, er habe doch wenigstens Arbeit, wenigstens ein wenig Teilhabe am sozialen Miteinander; das dürfe man doch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Natürlich sei es nicht einfach, aber das Leben sei nun einmal so; niemand habe behauptet, dass das Leben einfach sein müsse. Optimismus würde ihm helfen, ein Lebensratgeber in Buchform könne ihm vielleicht helfen. Es gäbe immer noch Schicksale, die viel schlimmer dran seien, wird als Abschlußsatz altklug hinterhergeschoben.

Einige Tage später tritt der Student seine Praktikumsstelle an. Schon nach dem ersten Tag stellt er nüchtern fest, dass er ausgebeutet wird. Lange Arbeitszeiten, Erledigen von Arbeitseinheiten, die ansonsten keiner machen will, zudem eine mickrige Aufwandspauschale als „Lohn“. Seinem Nachbarn, einem Arbeiter, schüttet er sein Herz aus, beklagt die asoziale Gesellschaft als Ganzes und hadert mit seinem Schicksal. Auf Verständnis stößt er aber nicht. Zwar verstehe man seinen subjektiven Eindruck, aber wer etwas werden möchte, wer nach seinem Studium eine Karriere aufs Parkett legen will, der müsse eben zu Beginn kleinere, auch mal ganz kleine, Brötchen backen. Murren sei da nicht angebracht, denn der Berufseinstieg per Praktikum sei der Preis der vielleicht baldigen Karriere. Später, wenn es im Beruf vortrefflich vorangeht, bekäme man den nun fast kostenlosen Arbeitseinsatz doppelt, drei- und vierfach, achwas, zehnfach, zurückgezahlt.

Noch am gleichen Abend im Sportverein äußert sich der Arbeiter zu seinem Monatslohn. Seit Jahren übe die Branche Lohnzurückhaltung, die Kosten seien aber rapide angestiegen. Er wisse nicht mehr, wie er mit dem Lohn auskommen solle. Streiken müßte man endlich mal, richtig streiken, Generalstreik und was es da an Mittel alles gäbe. Du Träumer, entrüstet sich ein Mannschaftskollege, Angestellter einer großen Firma. Diese Lohnzurückhaltung habe ihm doch den Arbeitsplatz erst gesichert; habe ihm Arbeit gesichert, die ansonsten auch in Tschechien oder in China hätte gemacht werden können. Wenn man nun mehr Lohn fordere für „minderwertige Arbeit“, dann würde man damit faktisch Arbeitsplätze abbauen, man würde sich ins eigene Knie schießen. Mehr Lohn für Facharbeit, für qualifizierte Tätigkeiten - ja, das wäre verständlich, auch für Verwaltung und dergleichen, aber doch nicht für Arbeiten, die im Grunde jeder machen könnte, wenn er nur den Willen habe, sich seine Hände schmutzig zu machen.

Am Folgetag steht der Angestellte wieder vor dem Tor seines Unternehmens, trägt gewerkschaftliche Mützen, bläst in Trillerpfeifen, streikt für die Verbesserung der untragbaren Arbeitsbedingungen und entrüstet damit Arbeitslose, die zufällig des Weges kommen...

Hier weiterlesen...

Der "Think positive-Minister"

Montag, 16. Februar 2009

Wenn jemand den Bürgern wohlige Märchen erzählt, wenn jemand ihnen Heilsgeschichten und ein kleines Utopia vorbetet, wenn jemand Erleichterungen und neue Werte verkündet, wenn jemand nicht schonungslos realpolitische Sachzwänge konstruiert, die er den Menschen dann in gemäßigter Form an den Kopf wirft, dann gilt er im bundesdeutschen Politikalltag als Populist. Nach der offiziellen Lesart des Begriffes ist ein solcher Mensch verabscheuungswürdig, weil er falsche Hoffnungen schürt, in Kauf nimmt Bürger zu enttäuschen, weil er höchst unmoralisch die Notwendigkeiten verleugnet, um stattdessen eine kleine heile Welt zu propagieren.

Paradebeispiel dieser Sorte, sei ein gewisser Lafontaine, der in genau jener Weise Menschen ködert, sie einfängt und mit seinen Irrlehren gefügig macht.

Was ist aber jener adlige Spross, der nun das Wirtschaftsministerium leitet, sich täglich auf der ersten Seite diverser Tageszeitungen findet, von denen herunter er Optimismus predigt? Was ist mit seiner Aussage, wonach spätestens im Herbst der Aufschwung käme, das Jammertal durchschritten sei? Auf Fakten und Zahlen kann er sich bei letzterer Aussage nicht stützen, und selbst wenn er welche hätte, dürfte man diese nur mit äußerster Vorsicht genießen - haben doch alle Zahlenspielereien der jüngsten Vergangenheit keinen Bestand gehabt. Was niemand in dieser Phase wagt, was gar kein vernünftiger Mensch wagen kann, wagt jedoch er: Er verkündet eine Heilslehre, ein Paradies am Ende des Horizonts, verteilt kleine Stückchen Hoffnungsschimmers.

"Politisch vernünftig", werden viele sagen. "Populistisch", müßte man aber antworten. Denn des Guttenbergs Prophezeiungen sind einzig und alleine seiner Intuition geschuldet, atmen nicht wissenschaftliche Luft, sondern verteilen den fauligen Dunst jenseitiger Heilslehren, die genauso gut wahr wie unwahr sein können. Ihm geht es nur darum, sein trübes Steuersenkungsgeschäft hinter jenseitigem Optimismus zu kaschieren; auch darum, den vermeintlichen Aufschwung von seines Geistes Gnaden, hinter die anstehende Bundestagswahl zu schieben, um die Wirtschaftskrise nicht zur Gefahr für einen schwarz-gelben Wahlerfolg werden zu lassen.

Aber Guttenberg wird mit so einer fadenscheinigen, inhaltslosen Aussage nicht zum Populisten erklärt. Er ist der Presse neuer Liebling, den keine noch so schwammige Zukunftsprognose in den populistischen Ruch bringen kann.

Dies liegt vorallem daran, dass die offizielle Lesart des Populisten-Begriffes nicht jene obige ist, die auch wirklich herangezogen wird, wenn es mal wieder darum geht, eine öffentliche Person zu verunglimpfen. Populist ist man nicht, wenn man fadenscheinige und daher anzuzweifelnde Heilslehren von der Kanzel predigt – das alleine ist nicht ausreichend. Zum Populisten wird man erst, wenn man solche Heilslehren auf Kosten der herrschenden und besitzenden Kreise verkündet; wenn aus dem Kitzeln an gerechten Umständen beispielsweise ein politisches Programm wird, in welchem Unternehmen, hohe Einkommen, herrschaftliche Privilegien und dergleichen mehr herangezogen werden, um eine Umverteilung und damit gerechtere Zustände zu erwirken.

Solange der Messias aber vage These ins Land ruft, solange er optimistisch vor sich hin brabbelt, dabei aber keine Namen, keine konkreten Maßnahmen, keine Forderungen benennt, solange gilt er als vernünftiger Zeitgenosse, als Seelsorger, der den Menschen Mut zuspricht und ihnen beim Ertragen des Leides moralisch unter die Arme greift. Aber wehe demjenigen, der konkrete Vorschläge macht, der nicht nur lamentiert und im Trüben fischt, der seinen Gerechtigkeitssinn unverfrorenerweise an die Realpolitik bindet: der ist Populist, Menschen- und Rattenfänger, ein neuer Verführer.

Auch aus diesem Grunde sind die Apologeten der Think positive-Industrie heute sehr beliebt. Sie werden nie handfest, bleiben immer in milchigen Gewässern, bedienen sich allerlei Unklarheiten, deuten nebenher auf die Quelle des Verbesserungspotenzials, welche in einem selbst liegt – „Ändere dich, wenn du die Zustände nicht ändern kannst!“ – und zeitigen damit Erfolg. Würden sie konkret, würden sie verkünden, dass es Maxime des think positive sei, die Reichen und Mächtigen zur Verantwortung zu ziehen, fänden diese Taschenbuch-Populisten keine Leserschaft mehr. Der adlige Betriebswirtschafter ist ministerieller Ausdruck dieser Mentalität, schwimmt in Unkonkretheit und nährt nebenbei innerhalb dieser Gewässer das uralte Leitbild deutscher Liberaler, wonach die Steuern weiter und weiter und weiter zu senken seien. Da wird er wiederum konkret – aber auf der richtigen Seite, auf der Seite herrschender Meinungsmache.

Hier weiterlesen...

Sit venia verbo

"Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen. Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun beteiligen! Ich denke immerhin so gut von der Menschheit, daß ich glaube, dieser Spuk wäre schon längst verschwunden, wenn der gesunde Sinn der Völker nicht von geschäftlichen und politischen Interessenten durch Schule und Presse systematisch korrumpiert würde."
- Albert Einstein -

Hier weiterlesen...

Der unnütze Esser

Sonntag, 15. Februar 2009

Der historische Rückgriff mag gewagt sein, man darf sich aber nicht scheuen, sich dessen zu bedienen. In diesem Lande wird viel von der Aufarbeitung der nationalen Geschichte gesprochen, alleine deshalb muß jeder rückgreifende Vergleich erlaubt und sogar erwünscht sein. Nur wenn wir das Heute am Gestern messen, können wir gefährliche Entwicklungen erahnen. Wer das Heute nur am selbigen mißt, wer ohne Vergangenheitsgeplänkel versucht ist, eine Bewertung des Aktuellen zu vollziehen, der kennt kein Vergleichspotenzial und wird daher in jeder noch so menschenverachtenden Erscheinung zunächst kaum Menschenverachtung wittern, sondern einfach den zwar vielleicht dümmlichen, aber durchaus legitimen Ausdruck des Zeitgeistes.

Dies nur als knappes Geleitwort; nun zum historischen Rückgriff. Als das nationalsozialistische Regime die sozialdarwinistischen Gedanken aufgriff, die schon seit mehr als drei Jahrzehnten in den Gehirnwindungen und Publikationen von Ärzten und Wissenschaftlern vorzufinden waren, als es dazu überging, Gedanken nicht nur aufzugreifen, sondern auch in physische Wirklichkeit zu transportieren - Sterilisationsgesetze für Kranke und später für sozial Schwache; danach sogar Euthanasie für sogenanntes "unwertes Leben" -, da wurde das nicht im Stillen vollzogen, sondern als Errungenschaft der Zeit gegenüber veralteten Positionen, wie der Nächstenliebe und dem Humanismus, gefeiert. Ein starker Staat müsse bedingungslos ausmerzen, müsse Schwache daran hindern, den ganzen Volkskörper zu versauen, indem sie selbigen mit schwachen Kindern versorgen. Um einen Konsens zu erzeugen, um Jahrgänge bedingungsloser Verfechter der Sterilisationsgesetze heranzuzüchten, war es für das Regime sinnvoll, schon Kinder im schulischen Alltag damit zu konfrontieren.

So durften sich Schüler nicht nur im Rassekundeunterricht "informieren", sondern ebenso in der Mathematik den neuen Lehren ausgesetzt fühlen. Eine Aufgabe, die so oder ähnlich in den Rechenbüchern der damaligen Zeit zu finden waren: "Wenn der Nachwuchs einer Schwachsinnigen der Volksgemeinschaft im Jahr 300 Reichsmark kostet - wieviele unterbundene solcher Schwachsinnsgeburten würden eine Sozialwohnung im Wert von 36.000 Reichsmark finanziell ermöglichen?" Bereits in den jungen Schuljahrgängen wurden Kinder auf die Positionen des Nationalsozialismus bzw. die Positionen der Wissenschaft und Medizin getrimmt; mit vorauseilendem Gehorsam widmete sich das gesamte deutsche Bildungswesen solcher praktischen Aufgabenfelder, die einerseits den Kindern Rechnen, aber viel wichtiger, andererseits unterschwellig die angeblichen Notwendigkeiten der neuen Zeit mitteilen sollten. Hat man erstmal von Kindesbeinen an vernommen, dass Sterilisation eine Normalität moderner Zeit sei, dann war das eine unumstößliche Prämisse im Leben des Heranwachsenden, die kaum mehr aus dessen Denken zu tilgen war.

Was in Volksschulen gelehrt wurde, war auch an höheren Schulen, an Gymnasien und Universitäten, Usus, wenngleich dort die Aufgabenstellungen wesentlich komplexer gewesen sein mögen. Und in späteren Jahren hat man nicht mehr nach "unterbundenen Geburten", sondern nach der Ausmerzung solcher Gestalten gefragt, besser gesagt: nach den finanziellen Mitteln, die solche Ausmerzungen ermöglichen würden. Von der "Ermordung" wurde indes kaum gesprochen, denn was heute noch die deutsche Gesellschaft hemmt, nämlich das ständige Lavieren, die Tatsache bloß nicht konkret werden zu wollen, der damit verbundene Hang zum Euphemismus, war damals Auswuchs perversester Form.

Warum dieser Rückgriff? Antwort: Egal wohin man heute auch blickt, man stellt Rechnungen auf, die die Ärmsten der Armen dieser Gesellschaft verunglimpfen. Aus dem Boden schießen freilich keine Rechnungen, die die Sterilisation heranziehen, aber Speisepläne werden errechnet, die angeblich finanziell einzuhalten möglich sind, wenn man nur möglichst diszipliniert vorgeht, sich jeden außerplanmäßigen Genuss versagt. Allerlei Stümper berechnen einseitige, oft auch widerliche Essensvorschläge, versuchen den Regelsatz als Ganzes herunterzureglementieren oder fassen ihre Berechnungen in Kochbüchern aller Art zusammen. Neuerdings entwickeln sogar Studenten - wir erinnern uns an den vorauseilenden Gehorsam des Bildungswesen von 1933 bis 1945 - Speisepläne für Langzeitarbeitslose. Das Herumrechnen an der Not der Armen ist zum Volkssport geworden. Wissenschaftler und Studenten bedienen sich dieses Aufgabenfeldes aus der alltäglichen Praxis, selbst Betroffene agieren im blinden Pragmatismus, fordern damit ein Arrangement mit den Zuständen, anstatt ihre Energie darauf zu verwenden, die Untragbarkeiten des SGB II zu verdeutlichen.

Freilich kann man jetzt einwenden, dass die heutigen Rechnungen nicht vergleichbar sind mit den Rechnungen der damaligen Volksschulen. Eins zu eins vergleichbar ist aber in der Geschichte kaum etwas, Tendenzen lassen sich aber sehr wohl deuten, gleichen sich oft auf erschreckende Art und Weise. Wenn man weiß, dass schon vor der Machtergreifung Hitlers die wissenschaftlichen Kreise Deutschlands über eine Bändigung der Massen von Schwachsinnigen und Erbkranken sinniert haben, weil sie immer noch den Irrungen des Haeckelismus folgten, die Evolutionstheorie gehörig mißverstanden, dann ist der heutige Diskurs anders, d.h. kritischer zu interpretieren. In der Diskussion der damaligen Tage, in Weimarer Tagen folglich noch, sprach man gerne von sogenannten "unnützen Essern", die die Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes beeinträchtigen. Wenn es gelänge, diese "unnützen Esser" zu reduzieren, vielleicht sogar vollkommen zu beseitigen, dann würde die geschundene deutsche Nation, dieses von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges so gebeutelte Reich, endlich wieder aufstehen, mittels dann erbgesunder und rassisch einwandfreier Bevölkerung, zu neuem Glanze emporsteigen.

Heute würde niemand mehr diesen Begriff benutzen, wenngleich man nachschieben müßte, dass ihn noch niemand gebraucht - die zeitgenössische Erfahrung hat gezeigt, dass Rückgriffe in schäbigen Jargon durchaus wieder legitim erscheinen; man bedenke nur, dass ein sozialdemokratischer Wirtschaftsminister vollkommen ungeniert von Parasiten und Schmarotzern sprach, auch Broschüren in dieser Tonlage drucken ließ. Und auch wenn man derzeit den Begriff nicht gebraucht, so verläuft die Tendenz genau in diese traurige Richtung. Denn heute geht es (noch) nicht um die Ausmerzung "unnützer Esser", sondern um die möglichst kostengünstige Bändigung der Problemfälle. "Unnütze Esser" sollen tunlichst preiswert abgespeist werden, gerne auch mit qualitativ minderwertiger Ware. Das ist der Liberalismus dieser Zeit, der gerne generös freiheitlich tut, aber im gleichem Atemzug der Freiheit des Armen Ketten anlegt, ihn bevormundet und gesellschaftlich und politisch kaltstellt.

Der Rückgriff auf die braune Geschichte dieses Landes, aber auch auf die durch und durch braune Geschichte der deutschen Wissenschaft und Ärzteschaft, scheint nicht gewagt, sondern durchaus berechtigt. Demokratische Zustände müßten das Gegenteil dessen bewirken, was im Rahmen der "Esserfrage" derzeit veranstaltet wird; Demokratie müßte bewirken, dass man über bessere Bezüge, damit bessere Versorgung aller Menschen spricht, nicht über kostengünstiges Abspeisen der Unterschichten. Wenn in einer Demokratie eine verklausulierte und kaschierte Diskussion zu "unnützen Essern" stattfindet, dann muß man sich um den demokratischen Wert dieser Demokratie sorgen, muß sich fragen, ob das alles noch sehr demokratisch und sozialstaatlich ist, was uns da über den Weg der Medien zugeworfen wird. Wenn wir heute immer noch - oder wieder - pragmatische Rechnungen zu "unnützen Essern" anstellen, wenn wir heute Fragen stellen wie vor 70 Jahren: was hat sich dann im Wesentlichen geändert? Letztlich sind die Speiseplanberechner und Kochbuchschreiber nicht anders zu bewerten, als die pseudo-intellektuellen Kreise der Weimarer Zeit, die den "unnützen Esser" zum Schlagwort machten, der dann später zum "Schwachsinnigen, erbkranken Subjekt und Asozialen" umgemünzt wurde. Erst spricht man nämlich von Essern, dann davon, wie sie möglichst wenig, irgendwann möglichst gar nichts mehr essen sollen; erst wird das Mitessen zum Sujet, dann das "Es reicht!" und nochmals später ertönen Parolen wie "Das Essen den Leistungsfähigen!"...

Hier weiterlesen...

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP