Das kochende Wasser
Sonntag, 20. September 2009
Nun lag er selbst auf der Pritsche. Kurz zuvor hatte er noch beobachten dürfen, wie der Patient, der in der endlosen Warteschlange vor ihm lümmelte, an eben jener Stelle lag, an der nun er seinen Körper ruhen ließ. Weil das Behandlungszimmer weder über Tür noch Vorhang verfügte, ward es möglich, dass er Zeuge eines unglaublichen Aktes medizinischer Heilkunst wurde. Der Heiler tastete den Bauch des Patienten ab, drang mit den bloßen Fingern ins Fleisch, Blut troff, ein Assistent wischte die herablaufende Flut weg, der Heiler zog ein undefinierbares Etwas aus der Bauchhöhle, vermutlich einen Tumor, warf ihn in ein Nierenschälchen, legte dann die Hände behutsam über die Wunde, zog sie langsam tastend von der Bauchgegend ab und zurück blieb nichts, keine Narbe, keine Wunde, nicht mal Schorf. Menschen, die keine Hoffnung mehr auf die Schulmedizin setzen konnten, weil diese mit ihrem Latein oder Griechisch am Ende war, fanden sich in diesen bescheidenen Räumlichkeiten des Wunderheilers ein. Wieviele solcher Hoffnungsloser es gab und wohl zu allen Zeiten geben wird, konnte man den Menschenmassen abmessen, die sich bis ins Freie ergossen.
Er lag dort, erwartete dasselbe Wunder nun an seinem geschundenen, ausgemergelten Körper, der zwar noch nicht vom Krebs zerfressen, aber doch schon angeknabbert war. Er, das war Andy Kaufman, US-amerikanischer Performance-Künstler, der zeit seines künstlerischen Lebens seinem Publikum eine lange Nase zeigte. Mal stand er starr und wortlos auf der Bühne, ließ provokant einen Plattenspieler laufen, mal las er stundenlang aus Fitzgeralds »Gatsby«. Er verblüffte durch Showeinlagen, die oft gar nicht als solche zu erkennen waren. So trat er bei David Letterman auf, ließ eine verbale Beleidigungsorgie auf einen anderen Gast herniederprasseln, so dass es beinahe zur Prügelei ausartete und kaum ein Zuseher ahnte, dass es sich um eine Inszenierung handelte. Kaufman hatte Freude daran, im ganzen Land als Arschloch zu gelten. Dies gelang ihm vortrefflich, als er anfing gegen die Emanzipationsbestrebungen der Frauen zu wettern, sie als gelungene Zofen und Bedienstete der Männer hinzustellen. Damit dem aufkeimenden Hass der Frauen auch ein Ventil geboten werden konnte, durften sie mit ihm ringen, sich an ihm abreagieren. Dabei war er aber gar kein Feind der Frauenbewegung, sie dürfte ihm relativ gleichgültig gewesen sein. Er hatte lediglich Freude an der Provokation, wollte polarisieren, hat damit nebenbei bewiesen, wie wenig abgeklärt emanzipierte Frauen seinerzeit waren, weil sie sich überhaupt mit so einem paternalistischen Flegel abgaben. Und dann war da noch Tony Clifton, eine gespielte Figur Kaufmans, ein untalentierter Entertainer, der vorallem dadurch glänzte, sein Publikum zu beleidigen. Dieses brauchte eine ganze Weile, um dahinter zu kommen, dass Clifton Kaufman war. Jahre später würde Miloš Forman diesem zerrissenen, zynischen, seltsamen Charakter US-amerikanischer TV-Geschichte einen Film widmen, in dem Jim Carrey die Rolle seines Lebens spielen würde. Kaufman hatte sein Publikum immer wieder genarrt, er ließ eine alte Frau auf der Bühne Steckenpferd zur Marschmusik reiten, übernahm den Taktstock des Dirigenten, ließ die Musik immer schneller, schneller, noch schneller werden, ermunterte die rüstige Seniorin, im Takt zu reiten, bis diese sich ans Herz faßte und umfiel – die Carneggie Hall, dort wo das Spektakel stattfand, war sprachlos. Ein herbeieilender Arzt stellte den Tod fest, bis Kaufman als Medizinmann die Bühne betrat, einen Tanz um den toten Körper aufführte, natürlich entgeisterte Blicke erntete, während die Dame zurückkehrte zu den Lebenden. Das war der Humor Kaufmans, sein Humor war, wenn er lachen konnte, wenn er sein Publikum zur Sprachlosigkeit verurteilte, wenn er sie dem Entsetzen ausliefern durfte. Als er selbst starb, jung und krebszerfressen, da glaubten es viele seiner Anhänger nicht. Bis heute nehmen einige standhafte Freunde seiner Komik an, er lebe noch, trete nur noch ab und an als Tony Clifton auf, sei aber selbstverständlich noch unter uns.
Noch lebte Kaufman aber, zwar nur mehr schlecht als recht, aber noch am Leben festgeklammert, als sich der Wunderheiler auf Augenhöhe dieses nächsten Patienten seine Hände wusch, sich abtrocknete und zur kaufmanschen Bauchhöhle schritt. Da, nur für einen kurzen Moment, erblickte Kaufman etwas, was in der Handfläche des Heilers ruhte, unmerklich dort auf seinen Einsatz wartete. Was er dort verborgen hielt, war das undefinierbare Etwas, aus dem Kunstblut quoll, das kurz danach als Tumor, Zyste oder Entzündungsherd zum Vorschein gebracht werden sollte. Kaufman, so zeigt es uns wenigstens Regisseur Forman in seinem Film, protestiert nicht, zeigt sich nicht entrüstet. Er lacht, erst leise und sacht, dann sich in Gelächter hineinsteigernd; er lacht, wäre er nicht so schwach gewesen, würde ihn der Krebs nicht so sehr gezeichnet haben, er würde sich geschüttelt haben vor Lachen. Seine letzte Hoffnung auf Heilung: dahin! Der Wunderheiler ist ein Betrüger. Jedoch Kaufman lacht.
Warum lacht er? Kaufman ist einem Kollegen aufgesessen. Zeit seiner Schaffensperiode hatte er sein Publikum gefoppt, hatte Illusionen verbreitet, ihnen Dinge so dargestellt, wie sie ja gerade nicht waren. Und nun liegt er auf der Pritsche eines Mannes, der ebenso foppt, Illusionen nährt, Dinge darstellt, wie sie nicht sind. Liegt er im Behandlungszimmer eines Betrügers? Das auch, aber was Kaufman klar wird: Er liegt hier entblößt vor einem Berufskollegen, vor einer Art Performance-Künstler, der nicht auf der großen Showbühne steht, sondern in einer Arztpraxis seine Stücke aufführt. Er hat unversehens erkannt, dass sich Menschen seines Schlages verschiedene Showbühnen aussuchen, dass er mit seiner leidenschaftlichen Gabe des Foppens und Nasführens, ebenso als Wunderheiler hätte enden können. Und noch etwas wird deutlich, etwas Bedeutendes: Da kommt der Performance-Künstler, diese nichtige Gestalt der Weltgeschichte, die nichts kann außer Betrügereien ihr Geschäft zu nennen, halbnackt und hoffnungsvoll zu einem Heiler, dieser großen, pompösen Erscheinung, die Wichtigkeit durch Gabe erhielt, nur um am Ende zu erfahren, dass Heiligkeit ebenso mit Wasser kocht. Der medizinische Betrüger ist demnach genauso nichtig, wie sein künsterlischer Kollege - oder aber, der Performance-Künstler ist genauso heilig, wie sein Heiler. Alle kochen mit Wasser, nichts ist so überhöht, als dass wir es nicht alle erfassen könnten: dies lehrt uns jene Filmszene mit der üblichen erzählerischen Leichtigkeit, in denen Formans Filme gehalten sind.
Kaufman gleicht einem Kinde, das hinaufblickt in die Erwachsenenwelt, dort eine schrecklich komplizierte, beinahe sakrale Welt vermutend, sich ängstlich sorgend, wie man sich wohl dort je zurechtfinden möge. Alles wirkt von dort unten so tiefgründig, so diffizil, so schwer überschaubar. Wie soll man nur je in einer solchen Welt Fuß fassen? Erwachsene leben wie selbstverständlich in diesem Kosmos, scheinen alle Winkel und Ecken zu kennen, wirken abgeklärt in allen Fragen, die ihren Alltag streifen. Sie sehen sich selbst, dieses vielleicht kränkliche Kind, dieser schwächliche Jugendliche - und dann sehen Kind und Jugendlicher hinüber, dort wo Erwachsene zusammenstehen und zusammenwirken: kann ich je dort aufgenommen werden, in diesen Zirkel geheimbündlerischer Erwachsenenart? Langsam tastet man sich heran, mit den Jahren sucht man sich seinen Platz als Erwachsener. Manche suchen Jahre, Jahrzehnte, andere finden sich schneller zurecht und erkennen: Es wird ja mit Wasser gekocht! Auch hier, auch in der Welt der Erwachsenen. Gerade in der Welt der Erwachsenen! Dort steht die Wiege dieser Praxis des Kochwassers. Eines Tages fühlt sich das nun erwachsen gewordene Kind, gleich eines Andy Kaufman, auf einer Pritsche liegend, auf einen großen mythischen Akt wartend, nur um zu erkennen, dass nichts so kompliziert und heilig ist, als dass es nicht mit der eigenen Nichtigkeit, mit den eigenen Mängeln, mit den eigenen Diskrepanzen zwischen Soll und Sein zu vereinbaren wäre.
Man liegt verkrampft auf der Pritsche, erinnert sich daran, wie man das eigene Leben mit Notlügen und scheinbaren Kompetenzen und Qualitäten aufpoliert hat, damit man nicht als Pfuscher, als Nichtskönner auffällt, schämt sich seiner Mängel im Stillen, weiß von sich, dass man Makel aufweist, die einen nie Selbstvertrauen erlauben würden. Man begegnet täglich Könnern, die scheinbar mit Leichtigkeit ihrem Treiben nachgehen, die keine Schwächen kennen, die perfekt und ohne menschliche Unzulänglichkeiten behaftet funktionieren. Könner, an denen nicht gezweifelt werden kann – bis man hinter deren Fassade blickt. Dort schlummern ebensolche Stümper, gehemmte Angsthasen, die sich den Akt des Könnens nur erfunden, daraus einen rituellen Akt gemacht haben, um ihre Schwäche zu tarnen, sie vor den anderen, die man allesamt für besser, schneller, klüger hält, zu verstecken. Man drapiert den eigenen Mangel hinter klugen Reden, hinter ablenkenden Handgriffen, hinter gespielten Expertentum. Dies ist das Tuch, das über das dampfenden Wasser gelegt wurde; über jenes Wasser, mit dem jeder kocht, von dem aber keiner weiß, keiner auch nur erahnt, dass es jedermanns Lebensgrundlage ist. Je schwächer man sich fühlt, desto großmännischer der Akt des Verbergenwollens, desto ausführlicher das ritualisierte Expertentum.
Wir beginnen zu lachen. So wie Kaufman die Verkrampfung vom Gesicht wich, der Entspannung Raum gebend, so ergeht es uns, die wir erkannt haben, dass das Kochwasser die Konstante dieser Welt ist. Das eigene Stümpern, die Fehlerhaftigkeit, die man an sich entdeckt hat im Laufe seines Lebens, es fällt von uns herab. Nicht nur wir sind Blender, auch der andere, der so selbstsicher auftritt, ist ein Illusionist. Wir sind alle genauso gut oder schlecht, genauso verunsichert, genauso dumm in unserer Geltungssucht und Geltungsangst. Wir sind alles Kollegen, die ihre Berufung im Versteckthalten von selbsteingeredeten Schwächen haben; Schwächen, die man uns beigebracht, die man uns eingeredet hat. Hätte man uns gelehrt, das Menschsein vorallem eine Ansammlung von Schwächen ist, dass Schwäche zum Leben gehört, dann wäre der Minderwertigkeitskomplex keine Dominante unserer Gesellschaft. Menschen fühlten sich nicht unzulänglich, zögen sich nicht mehr zurück, weil sie meinten, ihre missliche Lage, Arbeitslosigkeit oder Krankheit, sei ihre persönliche Schwäche und Schuld. Kaufmans Lachen, in jenem Zimmer des Betrügers, sollte uns dabei lernen helfen, im anderen den gleichen Pfuscher zu erkennen, für den wir uns selbst halten. An jenem Tage war er ein Demokrit, ein lachender Philosoph. Dieser Erkenntnis müssen wir lachend begegnen, denn sie lehrt uns, dass Wasserdampf nicht ausschließlich von James Watt nutzbar gemacht wurde, sondern ein Wesensbestandteil jener Spezies ist, die laut Sartre, alles sein kann, was sie selbst will und somit auch Blender sein kann, wenn es ihr beliebt. Wir sind allesamt blendende Kollegen. Wenn das kein Grund zum Lachen ist!
Diese Zeilen erschienen bereits am 27. August 2009 bei Zeitgeistlos.
Er lag dort, erwartete dasselbe Wunder nun an seinem geschundenen, ausgemergelten Körper, der zwar noch nicht vom Krebs zerfressen, aber doch schon angeknabbert war. Er, das war Andy Kaufman, US-amerikanischer Performance-Künstler, der zeit seines künstlerischen Lebens seinem Publikum eine lange Nase zeigte. Mal stand er starr und wortlos auf der Bühne, ließ provokant einen Plattenspieler laufen, mal las er stundenlang aus Fitzgeralds »Gatsby«. Er verblüffte durch Showeinlagen, die oft gar nicht als solche zu erkennen waren. So trat er bei David Letterman auf, ließ eine verbale Beleidigungsorgie auf einen anderen Gast herniederprasseln, so dass es beinahe zur Prügelei ausartete und kaum ein Zuseher ahnte, dass es sich um eine Inszenierung handelte. Kaufman hatte Freude daran, im ganzen Land als Arschloch zu gelten. Dies gelang ihm vortrefflich, als er anfing gegen die Emanzipationsbestrebungen der Frauen zu wettern, sie als gelungene Zofen und Bedienstete der Männer hinzustellen. Damit dem aufkeimenden Hass der Frauen auch ein Ventil geboten werden konnte, durften sie mit ihm ringen, sich an ihm abreagieren. Dabei war er aber gar kein Feind der Frauenbewegung, sie dürfte ihm relativ gleichgültig gewesen sein. Er hatte lediglich Freude an der Provokation, wollte polarisieren, hat damit nebenbei bewiesen, wie wenig abgeklärt emanzipierte Frauen seinerzeit waren, weil sie sich überhaupt mit so einem paternalistischen Flegel abgaben. Und dann war da noch Tony Clifton, eine gespielte Figur Kaufmans, ein untalentierter Entertainer, der vorallem dadurch glänzte, sein Publikum zu beleidigen. Dieses brauchte eine ganze Weile, um dahinter zu kommen, dass Clifton Kaufman war. Jahre später würde Miloš Forman diesem zerrissenen, zynischen, seltsamen Charakter US-amerikanischer TV-Geschichte einen Film widmen, in dem Jim Carrey die Rolle seines Lebens spielen würde. Kaufman hatte sein Publikum immer wieder genarrt, er ließ eine alte Frau auf der Bühne Steckenpferd zur Marschmusik reiten, übernahm den Taktstock des Dirigenten, ließ die Musik immer schneller, schneller, noch schneller werden, ermunterte die rüstige Seniorin, im Takt zu reiten, bis diese sich ans Herz faßte und umfiel – die Carneggie Hall, dort wo das Spektakel stattfand, war sprachlos. Ein herbeieilender Arzt stellte den Tod fest, bis Kaufman als Medizinmann die Bühne betrat, einen Tanz um den toten Körper aufführte, natürlich entgeisterte Blicke erntete, während die Dame zurückkehrte zu den Lebenden. Das war der Humor Kaufmans, sein Humor war, wenn er lachen konnte, wenn er sein Publikum zur Sprachlosigkeit verurteilte, wenn er sie dem Entsetzen ausliefern durfte. Als er selbst starb, jung und krebszerfressen, da glaubten es viele seiner Anhänger nicht. Bis heute nehmen einige standhafte Freunde seiner Komik an, er lebe noch, trete nur noch ab und an als Tony Clifton auf, sei aber selbstverständlich noch unter uns.
Noch lebte Kaufman aber, zwar nur mehr schlecht als recht, aber noch am Leben festgeklammert, als sich der Wunderheiler auf Augenhöhe dieses nächsten Patienten seine Hände wusch, sich abtrocknete und zur kaufmanschen Bauchhöhle schritt. Da, nur für einen kurzen Moment, erblickte Kaufman etwas, was in der Handfläche des Heilers ruhte, unmerklich dort auf seinen Einsatz wartete. Was er dort verborgen hielt, war das undefinierbare Etwas, aus dem Kunstblut quoll, das kurz danach als Tumor, Zyste oder Entzündungsherd zum Vorschein gebracht werden sollte. Kaufman, so zeigt es uns wenigstens Regisseur Forman in seinem Film, protestiert nicht, zeigt sich nicht entrüstet. Er lacht, erst leise und sacht, dann sich in Gelächter hineinsteigernd; er lacht, wäre er nicht so schwach gewesen, würde ihn der Krebs nicht so sehr gezeichnet haben, er würde sich geschüttelt haben vor Lachen. Seine letzte Hoffnung auf Heilung: dahin! Der Wunderheiler ist ein Betrüger. Jedoch Kaufman lacht.
Warum lacht er? Kaufman ist einem Kollegen aufgesessen. Zeit seiner Schaffensperiode hatte er sein Publikum gefoppt, hatte Illusionen verbreitet, ihnen Dinge so dargestellt, wie sie ja gerade nicht waren. Und nun liegt er auf der Pritsche eines Mannes, der ebenso foppt, Illusionen nährt, Dinge darstellt, wie sie nicht sind. Liegt er im Behandlungszimmer eines Betrügers? Das auch, aber was Kaufman klar wird: Er liegt hier entblößt vor einem Berufskollegen, vor einer Art Performance-Künstler, der nicht auf der großen Showbühne steht, sondern in einer Arztpraxis seine Stücke aufführt. Er hat unversehens erkannt, dass sich Menschen seines Schlages verschiedene Showbühnen aussuchen, dass er mit seiner leidenschaftlichen Gabe des Foppens und Nasführens, ebenso als Wunderheiler hätte enden können. Und noch etwas wird deutlich, etwas Bedeutendes: Da kommt der Performance-Künstler, diese nichtige Gestalt der Weltgeschichte, die nichts kann außer Betrügereien ihr Geschäft zu nennen, halbnackt und hoffnungsvoll zu einem Heiler, dieser großen, pompösen Erscheinung, die Wichtigkeit durch Gabe erhielt, nur um am Ende zu erfahren, dass Heiligkeit ebenso mit Wasser kocht. Der medizinische Betrüger ist demnach genauso nichtig, wie sein künsterlischer Kollege - oder aber, der Performance-Künstler ist genauso heilig, wie sein Heiler. Alle kochen mit Wasser, nichts ist so überhöht, als dass wir es nicht alle erfassen könnten: dies lehrt uns jene Filmszene mit der üblichen erzählerischen Leichtigkeit, in denen Formans Filme gehalten sind.
Kaufman gleicht einem Kinde, das hinaufblickt in die Erwachsenenwelt, dort eine schrecklich komplizierte, beinahe sakrale Welt vermutend, sich ängstlich sorgend, wie man sich wohl dort je zurechtfinden möge. Alles wirkt von dort unten so tiefgründig, so diffizil, so schwer überschaubar. Wie soll man nur je in einer solchen Welt Fuß fassen? Erwachsene leben wie selbstverständlich in diesem Kosmos, scheinen alle Winkel und Ecken zu kennen, wirken abgeklärt in allen Fragen, die ihren Alltag streifen. Sie sehen sich selbst, dieses vielleicht kränkliche Kind, dieser schwächliche Jugendliche - und dann sehen Kind und Jugendlicher hinüber, dort wo Erwachsene zusammenstehen und zusammenwirken: kann ich je dort aufgenommen werden, in diesen Zirkel geheimbündlerischer Erwachsenenart? Langsam tastet man sich heran, mit den Jahren sucht man sich seinen Platz als Erwachsener. Manche suchen Jahre, Jahrzehnte, andere finden sich schneller zurecht und erkennen: Es wird ja mit Wasser gekocht! Auch hier, auch in der Welt der Erwachsenen. Gerade in der Welt der Erwachsenen! Dort steht die Wiege dieser Praxis des Kochwassers. Eines Tages fühlt sich das nun erwachsen gewordene Kind, gleich eines Andy Kaufman, auf einer Pritsche liegend, auf einen großen mythischen Akt wartend, nur um zu erkennen, dass nichts so kompliziert und heilig ist, als dass es nicht mit der eigenen Nichtigkeit, mit den eigenen Mängeln, mit den eigenen Diskrepanzen zwischen Soll und Sein zu vereinbaren wäre.
Man liegt verkrampft auf der Pritsche, erinnert sich daran, wie man das eigene Leben mit Notlügen und scheinbaren Kompetenzen und Qualitäten aufpoliert hat, damit man nicht als Pfuscher, als Nichtskönner auffällt, schämt sich seiner Mängel im Stillen, weiß von sich, dass man Makel aufweist, die einen nie Selbstvertrauen erlauben würden. Man begegnet täglich Könnern, die scheinbar mit Leichtigkeit ihrem Treiben nachgehen, die keine Schwächen kennen, die perfekt und ohne menschliche Unzulänglichkeiten behaftet funktionieren. Könner, an denen nicht gezweifelt werden kann – bis man hinter deren Fassade blickt. Dort schlummern ebensolche Stümper, gehemmte Angsthasen, die sich den Akt des Könnens nur erfunden, daraus einen rituellen Akt gemacht haben, um ihre Schwäche zu tarnen, sie vor den anderen, die man allesamt für besser, schneller, klüger hält, zu verstecken. Man drapiert den eigenen Mangel hinter klugen Reden, hinter ablenkenden Handgriffen, hinter gespielten Expertentum. Dies ist das Tuch, das über das dampfenden Wasser gelegt wurde; über jenes Wasser, mit dem jeder kocht, von dem aber keiner weiß, keiner auch nur erahnt, dass es jedermanns Lebensgrundlage ist. Je schwächer man sich fühlt, desto großmännischer der Akt des Verbergenwollens, desto ausführlicher das ritualisierte Expertentum.
Wir beginnen zu lachen. So wie Kaufman die Verkrampfung vom Gesicht wich, der Entspannung Raum gebend, so ergeht es uns, die wir erkannt haben, dass das Kochwasser die Konstante dieser Welt ist. Das eigene Stümpern, die Fehlerhaftigkeit, die man an sich entdeckt hat im Laufe seines Lebens, es fällt von uns herab. Nicht nur wir sind Blender, auch der andere, der so selbstsicher auftritt, ist ein Illusionist. Wir sind alle genauso gut oder schlecht, genauso verunsichert, genauso dumm in unserer Geltungssucht und Geltungsangst. Wir sind alles Kollegen, die ihre Berufung im Versteckthalten von selbsteingeredeten Schwächen haben; Schwächen, die man uns beigebracht, die man uns eingeredet hat. Hätte man uns gelehrt, das Menschsein vorallem eine Ansammlung von Schwächen ist, dass Schwäche zum Leben gehört, dann wäre der Minderwertigkeitskomplex keine Dominante unserer Gesellschaft. Menschen fühlten sich nicht unzulänglich, zögen sich nicht mehr zurück, weil sie meinten, ihre missliche Lage, Arbeitslosigkeit oder Krankheit, sei ihre persönliche Schwäche und Schuld. Kaufmans Lachen, in jenem Zimmer des Betrügers, sollte uns dabei lernen helfen, im anderen den gleichen Pfuscher zu erkennen, für den wir uns selbst halten. An jenem Tage war er ein Demokrit, ein lachender Philosoph. Dieser Erkenntnis müssen wir lachend begegnen, denn sie lehrt uns, dass Wasserdampf nicht ausschließlich von James Watt nutzbar gemacht wurde, sondern ein Wesensbestandteil jener Spezies ist, die laut Sartre, alles sein kann, was sie selbst will und somit auch Blender sein kann, wenn es ihr beliebt. Wir sind allesamt blendende Kollegen. Wenn das kein Grund zum Lachen ist!
Diese Zeilen erschienen bereits am 27. August 2009 bei Zeitgeistlos.
3 Kommentare:
Ich habe gerade meine Erfahrungen dieses Sommers in den Zeilen wieder gefunden. Ich habe oft in diesen Monaten lachen müssen, aber nicht über meine Unzulänglichkeit, sondern weil ich erkannt habe, dass das Leben eigentlich grenzenlos ist, wir aber es damit verschwenden uns ständig Grenzen selbst zu setzen. Diese Grenzenlosigkeit hat nur eine Beschränkung, nämlich die eigene Moral, die einem das diktiert, was sie für vereinbar mit dem eigenen Gewissen hält. Wenn man ein gesundes Gewissen hat und anfängt seine moralischen Grenzen für sich neu zu definieren, dann wird man schnell merken, dass die meisten Komplexe durch die Gesellschaft (Familie, Freunde, Kollegen, usw.) uns auferlegt wurden und davon wiederum die meisten uns das Leben gar nicht erleichtern, sondern nur erschweren und je mehr dieser Komplexe man weg wirft, umso freier und leichter fühlt man sich. Es war eine wunderbare Erfahrung, die mich gelehrt hat, dass das Machbare noch in ganz anderen Sphären liegt, als ich es vermutet hätte, was mir sehr viel neue Hoffnung gab und die gab und gibt mir seitdem viel Kraft.
Ich gebe zu, dieser Weg braucht viel Selbstvertrauen, aber im Leben muss man auch lernen an sich selbst zu glauben, wenn man ein Mensch mit Charakter sein möchte.
Nichts ist, wie es scheint! Wir alle wissen das, doch glauben wollen wir es nicht.
Zu groß ist manchmal die Angst vor uns selbst - bis wir erkennen, daß wir klein sind. Dann wird auch die Angst kleiner und man wird zu seinem Selbst.
Klingt ja toll deine Erkenntniss Manul.
Nur was ist der Gewinn, wenn niemand mehr Moral und Grenze akzeptiert?
Dann kannst auch du mein Sohn zum Spitzenverkäufer avancieren, zum Superbetrüger oder aufsteigen bis zum Kanzler. Deine Moral muss nur verrotet genug sein.
Nein Danke. Diese Erkenntnisse werden gerne auch in Satanistenkreisen so oder ähnlich heruntergebetet.
Kindisch, rücksichtslos und Selbstgerecht ist es, sich seine eigenen Schranken wegzureißen, zur großen Freiheit zu erklären, zu machen und zu lassen was man will.
Möglich das Sie dies nun gerade nicht gemeint haben, dann ließe sich dem beipflichten. Wenn gemeint ist, daß die auferlegten Stereotypen, die auferlegten Pflichten hinterfragt werden, abgewägt, mit dem eigenen Leben abgeglichen werden sollten.
Es ist allerdings ein großer Unterschied und ihre Rede erinnert an das Gesülze eines Satanisten...
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