Wenn ein zum Tode Verurteilter die hohen Stufen zur Hinrichtungsstätte hinaufgeschritten wird, dabei bereits die auf der Anhöhe wartenden Beiwohnenden des Gerechtigkeitsrituals erblickt, die ihm allesamt höflich zulächeln, ihn zuvorkommend grüßen und ihm einen schönen Tag zurufen; wenn der Verurteilte dann sanft auf das spröde Holz der Vorrichtung gebunden, mit der Brust auf die harte Auflagefläche gebettet wird, sich dabei fragen lassend, ob die derzeitige Stellung genehm ist; wenn nun der andere Hauptakteur, der beilschwingende Protagonist vom anderen Ende der Bühne heraufsteigt, dem fixiert Liegenden die Hand reicht, sich dabei mit freundlichem Worte vorstellt, Name und Beruf nennt, auf gute Zusammenarbeit drängt, im Anschluss seine gesetzlich geregelte Position einnimmt, sich das Werkzeug seiner Berufung reichen läßt, um sich in die Haltung der notwendigen Gerechtigkeitsumsetzung zu begeben; wenn der ausharrende, auf Erlösung hoffende, festgeschnürte Darsteller um sich blickt, dabei warmherzige und wohlwollende Antlitze entdeckt, Lippenpaare erspäht, die ihm Hoffnung und Zuversicht zurufen, ihm Mut mit auf dem Weg geben, und er diese Bekundungen der Sympathie mit Freude entgegennimmt, versucht dem engen Riemen ein Schnippchen zu schlagen, um optimistisch den Mutmachern zuzunicken; wenn dann der Urteilsspruch noch einmal verlesen, die Vollstreckung bestätigt, das Beil für seine Berufung freigegeben ist, worauf sich die Henkersmuskulatur verhärtet, dessen Hände sich wie rettungssuchende Finger eines Ertrinkenden an den Stiel des Werkzeuges klammern, das Beil daraufhin langsam, bedächtig und voller Gemütlichkeit die Flugbahn zum Halse erschleicht, für das menschliche Auge stillsteht, keine Eile kennt, mitten des optischen Stillstandes auch faktisch anhält, sobald es dem Ausführenden an Nase oder Ohr juckt; wenn also die Gerechtigkeit nicht als eiliges Ritual, automatisiert und für die Masse gesprochen, sondern als behäbige Zeremonie vonstatten geht, das Beil nicht in einem Augenblick des Wimpernschlages herunterjagt, sondern zur sinnbildlichen Schnecke wird, selbst noch langsamer als dieses schleimige und kriechende Kleinsttier ist, welches keine Schnelligkeit kennt, wohl aber den konsequenten und sturen Willen, eine bestimmte Strecke, gleichgültig in welcher Zeit, hinter sich zu bringen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, einerlei was Zeiger einer Uhr, Kalender oder Mondphasen vorgeben; dann hat die Justiz die Willkür verlassen, urteilt sie nicht mehr massenhaft oder wie am Fließband, sondern nimmt sich für jeden Abgeurteilten individuell Zeit, läßt ihn Mittel nicht Zweck sein, hat sie die Berechtigung wiedergefunden, weil sie nicht mehr Leben von jetzt auf gleich aufhören läßt, sondern dem Lebensende noch eine Schonfrist, ein Weilchen des Wartens schenkt, ein Stück resozialisierter Gegenwart; sie ist wieder berechtigt, weil sie nicht mehr Mord austeilt, sondern unterlasse Hilfeleistung zum Imperativ erhebt.
So verweilt der Verurteilte augenblicklich in trüber Erwartungshaltung, weiß dass ihm das Beil im Nacken sitzt oder bald dort sitzen wird, weiß nicht genau wann, kann das heranbummelnde Werkzeug noch nicht in den Augenwinkeln erkennen und vergißt, nötigt sich zum Vergessen, um sich ein Leben auf dem harten Grund seines Daliegens einzurichten. In dumpfen Stunden, wenn die Herumstehenden ein Nickerchen machen, weil auch ihnen die langgezogene Zeremonie Kräfte raubt, holt ihn die weggeschlossene Gewissheit wieder ein, belastet seine Existenz, treibt ihm Schweiß auf die Stirn. Bald schon hofft er zunehmend auf die nun vertraut gewordenen Gesichter, die abseits seines Liegens um ihn herumstehen. Mögen sie doch stets schnell aus ihren Träumen erwachen, um ihn vom Nachdenken zu beurlauben. Die Herumstehenden, sofern erwacht, widmen sich dieser Aufgabe rührend, klemmen ihm einen Strohhalm zwischen die Lippen, geben ihm so kleine Rationen Wassers, ernähren ihn aufopfernd mit kümmerlichen Einheiten deftiger Hausmannskost, führen Löffel um Löffel in des Hilfebedürftigen Rachen und tätscheln ihm gelegentlich väterlich den Kopf. In solchen Momenten, da der Liegende nicht mit sich alleine ist, glaubt er nicht an die Existenz des Beils, ist von der Überzeugung erfüllt, dass der längst verhallte Urteilsspruch vergessen ist, das angedrohte Beil nur eine leere Drohung war, um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen, und ihm Demut zu lehren. Immer wieder spricht man ihm Mut zu, es würde sich alles zum Besten wenden, er müsse nur an sich selbst glauben, sein Herz mit Optimismus füllen. Und die Zuversicht erfüllt ihn tatsächlich, sie schreitet gar so weit voran, die Mutmacher darum zu bitten, ihn von seiner unmenschlichen Stellung zu entbinden, damit man in bequemerer Haltung Konversation führen könne, Brüder auf gleicher Augenhöhe sei. Aber dazu sind die Damen und Herren nicht befugt, erfinden nebulöse Ausreden, die nicht von Logik erfüllt sind, dafür von freundlicher Erbauungsrhetorik. Sie praktizieren den Imperativ des Unterlassens, sind strikte Gegner des Mordes, würden einer Gesellschaft die in Sekundenschnelle töten läßt, niemals ihren Dienst zukommen lassen; aber Hilfe auszuteilen, jedenfalls konkrete Hilfe zur Befreiung, das kann niemand von ihnen verlangen, denn schließlich morden sie nicht, stehen auch nicht im Dienste eines verordneten Mordes, ganz im Gegenteil, sie tun alles dafür, einen Schuldigen so vorbildlich als möglich durch eine schwere Zeit zu geleiten. Sie schaffen Lebensqualität, schütteln in der Arroganz jeder Gegenwart gegenüber ihrer Vergangenheit den Kopf, wenn man ihnen vom Damals berichtet, als sich die Gesellschaft das Morden hat nicht nehmen lassen. So rückständig, so menschenverachtend, Gott sei Dank, sei man heute nicht mehr, endlich habe die Gesellschaft ein lebenswertes Maß an Zivilisation erlangt, endlich herrsche der gebotene Respekt vor jedem menschlichen Leben. Endlich sei eine Ordnung entstanden, in der vielleicht nicht geholfen, nicht befreit wird, aber in der jeder Mord in einer Weise hinausgezögert würde, dass von Mord schlussendlich gar nicht mehr die Rede sein könne. Unterlassen ist kein Morden.
Irgendwann einmal, der Grund des Daliegens wird nur noch schemenhaft in der Erinnerung verhaftet sein, gerät ein undefinierbares Etwas in das begrenzte Sichtfeld des Liegenden. Zunächst wird er nur eine Ecke dieses Gegenstandes, dann stückchenweise mehr erblicken. Eine Kante wird sichtbar werden, vielleicht wird er eine Schneide erkennen, oder fähig sein, das Material einzuordnen, Metall sicherlich, da verrostet. Endlich wird ihm deutlich, dass es sich um ein Beil handelt und deutlich wird auch die nervliche Anspannung des Verurteilten, der nun trotz aller Fixiertheit zappeln und nervös mit den Augen rollen wird. Lange wird er in seiner Erinnerung kramen, versuchen das Gotteszeichen zu deuten, erschrocken aufschreien, wenn ihm seine Situation wieder bewußt, ihm der Beilsgrund wieder ins Gedächtnis fallen wird. Er wird flehen und betteln, bitte ihr Herumstehenden, schnallt mich ab, ich bin in Not, der Tod sitzt mir im Nacken, er naht heran, langsam zwar, aber überdeutlich. Er wird bei ihnen Trost finden, sie werden ihm den Kopf streicheln, nur Mut, nur Zuversicht, Bruder, der Tod bedroht uns alle, alle sind wir dem Tod verhaftet, alle sterben wir früher oder später und alle wissen wir es genauso sicher, wie du es in dieser Stunde weißt. Das Betteln wird verstummen, der auf der Brust Liegende wird leugnen seinem Ende entgegenzugehen, wird sich mit der verbliebenen Zeit trösten, wird voller Lebensfreude neue Pläne schmieden, wird der Gewissheit nicht ins Auge sehen, sondern mit aller Kraft leben, als könnte er damit das drohende Ende vom Wege drängen. Doch dann, nach einer kurzen Nachtruhe wird er den Kopf anheben und kaltes Eisen im Nacken spüren, wird er erkennen, dass die Vereinigung mit dem verrosteten Werkzeug und damit die Abtrennung eines ihm liebgewordenen Körperteiles, kurz bevorsteht. Abermals wird er winseln, nochmals die Herumstehenden anbetteln, die ihm ihrerseits wieder Mut zusprechen, ihn füttern und versorgen werden. Die schönsten Momente seines Lebens werden sie aufreihen, sie ihm nochmals in Erinnerung rufen, um ihm den Wert seines nun ausgelebten Lebens begreiflich zu machen. Beruhigungsmittel wird er erhalten, Schmerzmittel sowieso. Zuversicht wird ihm gepredigt, nicht alles wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Rinnende Tränen werden abgetupft, die jetzt austretenden Augäpfel, die dem Druck von Beil und Holz nicht mehr standhalten können, werden behutsam in die Augenhöhlen zurückverfrachtet, die Augenlider geschlossen, eine Augenbinde angelegt. Niemand wird von den Herumstehenden verlangen können, sich diese widerwärtige Sequenz in aller drastischen Ausformung zu Gemüte zu führen. Eine letzte Gabe wird ihm auf die Zunge gelegt werden, ein schnellwirkendes Serum, den Moment des abgequetschten Kopfes wird er nicht mehr erleben, die Gerechtigkeit hat auch ohne sein bewußtes Dabeisein gesiegt. Niemand wird vom Mord sprechen, sondern von humaner Unterlassung, die am Ende zwar nicht konsequent angewandt, vom Todesserum unterbrochen wurde, aber letztendlich dennoch Prinzip war. Auch das Verabreichen wird nicht als Mord angesehen sein, sondern als humaner Akt, als Gnadenleistung einer durch und durch humanen Gesellschaft, als eine Erleichterungstat, um das Leiden zu verkürzen, das Leiden der Zusehenden.
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