Sit venia verbo

Donnerstag, 2. April 2009

"Zahlreiche Ärzte, die sich im Dritten Reich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, beginnen nach Kriegsende eine zweite Karriere. Manche werden nie ausgeforscht, andere nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt oder begnadigt. Gerichte halten den Massenmord in den Gaskammern für „eine der humansten Tötungsarten“. Ärztekammern vermögen in der Teilnahme an der Euthanasie oder an Menschenversuchen kein standeswidriges Verhalten zu erkennen. Ärzte, die in den Konzentrationslagern an der Rampe standen, dürfen wieder praktizieren. Professoren, die unwertes Leben selektierten, bilden akademischen Nachwuchs aus. Legitimationstheoretiker der nationalsozialistischen Rassen- und Vererbungslehre fahren in ihren wissenschaftlichen Publikationen dort fort, wo sie nach Kriegsende verunsichert innegehalten hatten.
Viktor von Weizsäcker, der Onkel des späteren Bundespräsidenten, darf zwei Jahre nach Kriegsende wieder schreiben: „So wie die Amputation eines brandigen Fußes den ganzen Organismus rettet, so [rettet] die Ausmerzung der kranken Volksteile das ganze Volk.“ Er fühlt sich im Recht: „Wenn das ganze Volk in Lebensgefahr schwebt und durch Beseitigung einzelner Individuen gerettet werden kann, müssen diese Individuen geopfert werden.“ Er habe sich „berechtigt und verpflichtet“ gefühlt, „diese Opfer zu erzwingen, also zu töten.“
1942 hat sich Weizsäckers Neurologisches Forschungsinstitut an der Universität Breslau von der oberschlesischen Kinderfachabteilung Loben mit Gehirnen getöteter Schwachsinniger beliefern lassen. Nach 1945 wird der uneinsichtige Neurologe zum Vorbild jener Medizin-Verbrecher, die sich in den Prozessen auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit berufen.
Otfried Foerster, Weizsäckers Vorgänger in Breslau, der die entsetzlichsten Versuche an lebenden Menschen ausführte, wird von der Kollegschaft postum verherrlicht. Die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie verleiht 1953 zum ersten Mal eine Otfried-Foerster-Medaille.
Foersters Lehrmeister Robert Gaupp, Legitimationstheoretiker der Euthanasie, der auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie 1925 für die „Unfruchtbarmachung geistig und sittlich Kranker und Minderwertiger“ votiert hat, wird in dem 1959 erschienenen dreibändigen Werk „Große Nervenärzte“ als „vorbildlicher Wissenschaftler“ beschrieben. Herausgeber Kurt Kolle glorifiziert Väter der Euthanasie wie Max de Crinis oder Carl Schneider ebenso überschwänglich wie jene Wissenschaftler, die mit den Organen Ermordeter experimentieren. Sein Lob für Euthanasie-Befürworter und „Irrenanstalten alten Stils“ gipfelt in der Aufforderung an junge Kollegen, „den großen Vorbildern nachzueifern“.
Als die Sterilisation geistig Behinderter Mitte der siebziger Jahre in Deutschland wieder zum Thema wird, betont eine Drucksache des Deutschen Bundestages die Einwilligung der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte. Deren Vorsitzender: Professor Werner Villinger, Euthanasie-Gutachter des NS-Regimes, der nach Kriegsende eine zweite Karriere gestartet hat.
Professor Hermann Muckermann, der sich schon 1926 für seine Erbgesundheitsforschung vom Jesuitenorden hat freistellen lassen, publiziert nach dem Krieg so weiter, als hätte es die Politik der Ausrottung nie gegeben. In der Diktion nationalsozialistischer Propagandapamphlete wettert er dagegen, dass man „schwer belastete Geisteskranke“ mit großem Aufwand unterbringe, während „gesunde Mütter vieler Kinder in Kellerlöcher verelenden“. Angesichts der Tatsache, dass Menschen in Heil- und Pflegeanstalten ein hohes Alter erreichen, könne man sich ausrechnen, „wie viel wir für erbgesunde Familien gewinnen würden, wenn die Fürsorgebedürftigkeit eingeschränkt werden könnte“.
Zwei Jahre nach Kriegsende wird sein Buch „Der Sinn der Ehe“ neu verlegt, dessen Erstfassung 1938 erschienen war. So liest es sich auch. Muckermann mahnt zur national orientierten Gattenwahl: „Wer das ureigene Gesicht eines Volkes bewahren will, wird sich [...] für Ehen innerhalb des gleichen Volkes einsetzen. Ehen von Menschen, deren Prägung so große Verschiedenheit aufweist, wie sie zwischen europiden und negriden Völkern stehen, sind abzulehnen.“
Zu seinem 75. Geburtstag erhält der Mann, der der Ausmerzung Minderwertiger so beredt Vorschub geleistet hat, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik, 1957 ehrt man ihn anlässlich seines achtzigsten Geburtstags als „eine der ehrwürdigsten Erscheinungen des deutschen Geisteslebens“.
In dem 1940 erschienen Buch „Erbpflege und Christentum“ wird als Pendant zu Muckermann auf katholischer Seite Professor Hans Harmsen als „Wegbereiter der Erbpflege in der evangelischen Kirche“ gewürdigt. Der Legitimationstheoretiker des NS-Regimes setzt nach Kriegsende seine Agitation im Sinne des nationalsozialistischen Erbgesundheitswahns ungerührt fort. Einige Monate nach der Kapitulation wird ihm die Leitung der Hamburger Akademie für Staatsmedizin anvertraut. Dort darf er angehende Amtsärzte davon überzeugen, dass es falsch sei, dem Sterilisationsgesetz „eine typisch nationalsozialistische Ideologie unterzuschieben“, weil sich dieses „schon vor 1933 organisch entwickelt hat“. An der Hamburger Universität gründet Harmsen die Deutsche Akademie für Bevölkerungswissenschaft, an der Kollegen wie Hermann Arnhold tätig werden, der im Dritten Reich dem Reichssicherheitshauptamt als Zigeunerexperte dienstbar war.
Harmsen sammelt Titel und Ämter wie andere Briefmarken. Er gehört in führender Position der Ernst-Barlach-Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie und der Weltgesundheitsorganisation an. 1952 avanciert er zum Vorsitzenden von Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie e.V. In dieser Funktion rückt Harmsen in den Beirat des Bonner Familienministeriums auf, das sich auch dann nicht von ihm trennt, als seine Fixiertheit auf die erbbiologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus öffentlich thematisiert wird. „Es gibt Menschen, die immer auf der richtigen Seite stehen: dort, wo Karrieren vergeben werden“, schreibt Ernst Klee über ihn.
Ohne Sensibilität für die Nöte der Opfer bestärken selbst höchste Repräsentanten der Politik die Öffentlichkeit in ihrer Haltung, die Selbstreinigung von einer verbrecherischen Ideologie zu verweigern. Als ein ehemaliger NS-Mediziner aus dem Mitarbeiterstab von Propagandaminister Joseph Goebbels vor der Deutschen Bundespräsidentenwahl 1954 wissen will, ob das „entsetzliche Gerücht“ stimme, dass Theodor Heuss „Judenmischling“ sei, antwortet dessen persönlicher Referent ungerührt: Bereits im Jahr 1932 habe eine gerichtliche Auseinandersetzung mit einer nationalsozialistischen Tageszeitung die „reine Rasse“ seines Chefs dokumentiert.
Mehr als vierzig Jahre später ist die Sensibilität kaum größer. Als Hannelore Kohl von der Medizinischen Fakultät der Greifswalder Universität zum 50. Jahrestag des Kriegsendes den Doktortitel honoris causa entgegennimmt, bleibt unerwähnt, dass diese Bildungsstätte mit ihrem Institut für Vererbungswissenschaft Vorreiter nationalsozialistischer Vernichtungspolitik und Tatort zahlloser medizinischer Verbrechen war. Arthur Gütt, Mitautor des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, hat hier sein Medizinstudium absolviert. Politiker scheint das ebenso wenig zu interessieren wie die auf Vertuschung und Verdrängung eingeschworene Ärzteschaft."
- Hans-Henning Scharsach, „Die Ärzte der Nazis“ -

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