Was ihr dem Geringsten meiner Brüder...

Mittwoch, 15. April 2009

Wo den gesellschaftlich Ausgestoßenen geschmäht wird, da wird auch mir geschmäht.
Wo des Ruheständlers Lebensberechtigung angezweifelt, sein Alter als Bürde für die Gemeinschaft verunglimpft wird, da entzieht man auch mir die Lebensberechtigung und macht mich zur Bürde.
Müssen Kinder mit gesellschaftlichem Segen in Armut ausharren, so wandle ich zum harrendem Kinde.
Raubt man Kranken in finanziellen Zwängen die Therapie, die Hoffnung, die Schmerzfreiheit, so wirft man mich ebenso in Schmerzen, nimmt mir ebenso Hoffnung.
Leidet der Wanderarbeiter an Ruhe- und Heimatlosigkeit, sieht seine Zukunft als schwarzes Loch, so ist auch meine Zukunft löchrig und schwarz, so hemmen auch mich fehlende Ruhe und verlorengegangene Heimat.
Spottet man Behinderter, grenzt sie aus, sieht sie als humane Mangelerscheinungen, möchte auch ich ausgegrenzt, verspottet und als Mangelerscheinung verschrien werden.
Benachteiligt man Schwule, reimt man ihre sexuelle Emanzipation zu Spöttelversen, so stiehlt man auch mir die sexuelle Emanzipation, so macht man auch mich schwul.
Beseitigt man Obdachlose, um das Stadtbild zu säubern, säubert man dieses städtische Bild auch von mir, werde ich zum Obdachlosen.
Verfolgt man Menschen ob ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer politischen Gesinnung, so verfolgt man auch mich, tastet meine Hautfarbe, meine fehlende Religion, meine politische Gesinnung an.
Sperrt man Andersdenkende weg, so bestehe ich darauf, auch selbst weggesperrt zu werden.
Fällt man in Landstriche ein, mordet und brandschatzt, vergewaltigt und foltert, ermordet man auch mich, brandschatzt an meiner Würde, vergewaltigt man meine Ethik, foltert man meine pazifistische Haltung.
Unterdrückt man Meinung, unterdrückt man meine Meinung; unterdrückt man Persönlichkeitsrechte, unterdrückt man meine Persönlichkeitsrechte; unterdrückt man Freiheit, unterdrückt man meine Freiheit.
Interniert man Flüchtlinge auf australischen Inseln, sperrt sie jahrelang hinter Zäune, so interniert man mich, sperrt meinen Gerechtigkeitssinn hinter Zäune.
Ich werde zum Juden, wo man Juden als Übel beleidigt; ich werde zum Schwarzen, wo man Schwarze als faule Nichtsnutze entwürdigt; ich werde zum Indio, wo man Indios aus ihren Dörfern jagt, sie interniert oder vergiftet.

Was man dem Geringsten meiner Mitmenschen antut, das tut man auch mir an. Was an Unrecht und Ungerechtigkeit in der Welt steht, steht auch in meinen Räumen. Nichts geschieht auf der Erde, was nicht auch mich betrifft. Was mich immer betrifft. Wenn sie heute das Gesindel einsperren, ich dabei schweigend, wenn sie morgen die Alten in Kollektivheime stecken, ich dabei schweigend, wenn sie übermorgen ganze soziale Schichten in Wohngegenden pferchen, ich dabei schweigend, wer soll dann sein Schweigen brechen, wer wäre dann noch da, der sein Schweigen brechen könnte, wenn sie mich holen? Jede begangene Untat, jede von Staaten, Industrien, Ideologien, Parteien, Organisationen willkürlich in Kauf genommene oder mit Kaltschnäuzigkeit begangene Untat, ist eine Untat an mir.

Die Welt im Kleinen, vor der eigenen Haustüre zu ändern, damit sie auch vor anderen Haustüren, vor Hütteneingängen, vor Iglupforten, unter Palmenblättern verändert wird, ist ein Ansatz. Das oft gehörte, immer wieder von der Bürgerlichkeit als Praxis der direkten Tat postulierte Reduzieren auf ein "bloß vor der Haustüre ändern", damit eine unsichtbare Hand auch fern unserer zur Hölle werdenden Heimat Änderungen vollziehen würde, greift zu kurz. Den Blick für das Ganze nie verlieren, es persönlich nehmen, wenn Freiheit am anderen Ende der Welt mit Stiefelspitzen getreten wird, solidarisch sein, wenn nicht physisch, so doch psychisch! Wo man dem Geringsten meiner Mitmenschen Unrecht antut, und sei er Mörder, sei er Verbrecher, dem die Vertreter eines Rechtsstaates dennoch Unrecht widerfahren lassen, da tut man mir Unrecht an. Eine Gesellschaft der Zukunft muß begreifen, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings Orkane auslösen kann; muß aber auch begreifen, dass Gewalt am anderen Ende der Welt, ebenso Orkane im eigenen Umfeld entstehen lassen kann.

8 Kommentare:

Margitta 15. April 2009 um 09:17  

Lieber Roberto,

danke, dass Du Deine Seelen-Befindlichkeit für die Öffentlichkeit sichtbar machst und somit auch meine Seelen-Befindlichkeit wiederspiegelst.

Liebe Grüße
Margitta Lamers

Anonym 15. April 2009 um 09:48  

"[...]Eine Gesellschaft der Zukunft muß begreifen, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings Orkane auslösen kann; muß aber auch begreifen, dass Gewalt am anderen Ende der Welt, ebenso Orkane im eigenen Umfeld entstehen lassen kann.[...]"

Hallo Roberto,

ja, die Welt wäre besser, wenn alle so denken würden wie du.

Ich erlebe sogar bei der örtlichen Linkspartei genau das Gegenteil - Frei nach dem Motto: "Es kehre gefälligst jeder vor seiner Haustüre".

Austreten werde ich dennoch nicht, da es eben (noch) nur die örtliche Linkspartei ist, die so denkt.

Ein Beispiel gefällig:

Man will sich bei den Wahlen auf rein örtliche Themen konzentrieren.

Was global abgeht, dass hängt lokal natürlich nicht zusammen, wenn es nach denen geht, und dies äußerte der Vorstand obwohl er in einem Ort referierte wo global und lokal in Form einer Bundeswehrkaserne, die regelmäßig Truppen nach Afghanistan & sonstwo schickt, aufeinanderprallen wie sonst nirgends.

Wie bereit erwähnt, dies gilt nur für die örtliche Gruppe hier, Die Linke insgesamt sieht es völlig anders.

Übrigens, wie ich schon erwähnte, sollte die sich auch in diese Richtung entwickeln, oder gar pro-neoliberal-marktradikal (wie im Berlin Wowereits bereits geschehen) werden, dann ist Die Linke für mich auch ein Ding von gestern, d.h. ich trete aus dieser Partei aus.

Derzeit sieht es aber - zum Glück - nicht so aus.

Liebe Grüße
Nachdenkseiten-Leser

PS: Was mich an der Linkspartei in Berlin auch stört ist, dass dort offensichtlich abweichende nicht-neoliberale Meinungen, z.B. die von SAV-Mitgliedern wie Lucy Redler, auch mundtot gemacht werden sollten. Sollte dies "Gehirn abgeben, und parteiisch denken" auch für die komplette Linkspartei gelten, dann bin ich auch draussen, aber derzeit sieht es eben nicht so aus.

Anonym 15. April 2009 um 11:47  

lieber roberto.
ich lese deine texte sehr gerne,und empfinde auch gleich, nur denke ich mir manchmal, ob es nichts positives auf dieser welt gibt, ob wirklich alles durch und durch schlecht und verkommen ist. vielleicht hast du ja mal lust, einmal in der woche über was "schönes" zu berichten?
gruß
nachdenkseitenleser

Anonym 15. April 2009 um 13:22  

@nachdenkseitenleser

Könntest du den Pseudonymklau aufgeben?

Gruß
Nachdenkseiten-Leser
(!!!der echte)

Anonym 15. April 2009 um 13:24  

Lieber Roberto J. de Lapuente,

ich werd mich hier mal rar machen.

Sollte demnächst was von mir hier stehen, nach diesem Posting - unter "nachdenkseitenleser" ist es nicht von mir.

Gruß
Nachdenkseiten-Leser
(!!!der echte)

romano 16. April 2009 um 14:55  

Die Menschheit in mir.
Es scheint, dass es für Menschen die am schwierigsten zu erlernende Fähigkeit ist, Gedanken und Taten zu reflektieren und zu universalisieren.
Die Inzision der Achsenzeit im Eurasischen Raum brachte in mannigfaltigen Traditionen Wege hervor, den eigenen Standpunkt zu transzendieren und seine Lebensvollzüge an der universalisierten Variante auszurichten, anstatt die eigene Seele im unendlichen Mühsal des Ego darben zu lassen. Es ist wohl die Lebensaufgabe schlechthin. Wer sie bewältigt und durch das Tal der Angst gegangen ist und ihre lang anhaltenden Schattenfäden erträgt, wird sehen, alles gewonnen zu haben und nichts verloren. Im Dickicht des Alltags versteckt sich der Weg leider gut, sodass er selten genug als Möglichkeit überhaupt erscheint.
Schön kommt der Gedanke im Christentum vor. Man denke an die Heiligen. Im vollen Vertrauen auf den guten Gott handelten sie bedingungslos gut. Die Kirche hat leider zunehmend ein besonderes Talent, die schlechtesten Seiten des Christentums zu den offiziellen zu machen. Schade.
Ich halte es für wichtig, diese tiefe menschliche Fähigkeit zu kultivieren und mitzuhelfen, dass sie dem scharfen Wind des Ego standhält. Schämen muss sich der, der sich nicht aufraffen kann, an die Stelle des Geringsten zu denken und aus dessen Welt heraus seine eigenen Handlungen auch gegen seine Interessen zu setzen. Mit diesem Theorem rührt man zweifellos am Kern der Grundlagen der heutigen Ökonomie: das nutzenmaximierende Rationalsubjekt.

Anonym 16. April 2009 um 15:26  

"[...]Die Kirche hat leider zunehmend ein besonderes Talent, die schlechtesten Seiten des Christentums zu den offiziellen zu machen. Schade. [...]"

@romano

Das war schon immer so, da die Kirche eine Wandelungsfähigkeit hat wie ein Chamäleon - Heute "Demokratisch", aber zu DDR-Zeiten "Kommunistisch/Sozialistisch" und in der Zeit des Dritten Reiches sogar "Nationalfaschistisch" (um mal den Nationalsozialismus ehrlicher zu beschreiben als Neoliberale die im Nazi-tum Sozialismus sehen).

Schau mal bei meinem Buchtipp weiter unten vorbei.

Übrigens, der Atheist und Denker Michel Onfray schreibt selbst in seinem Buch, dass das Christentum eine tolle Seite hat, die sich aber in der Realität nie durchgesetzt hat, weil seit Paulus das Christentum so verfälscht wurde, dass es immer mit den "Mächtigen" kungelt, im kompletten Bereich der Oberen der Kirche.

Hätten sich die Befreiungstheologen, die Ketzer (Waldenser, Katharer etc.) durchgesetzt - wir hätten heute keinen Großinquisitor, und Feind der Befreiungstheologie, als Papst Benedikt XVI.

Leider ist es anders gekommen, seit der Machtergreifung des Christentums im totalitären Staat des Kaisers Konstantion - Mehr dazu eben bei Michel Onfray "Wir brauchen keinen Gott".

Anonym 22. April 2009 um 21:41  

bester roberto,

dein wunsch ist mir befehl;
doch mit welchen mitteln ?
welcher waffe ?

wie wäre es mit dem wort.
das selbige mag manchmal schneiden wie ein schwert ...

... nur fürchte ich das es menschen gibt, speziell diejenigen die sich an anderen aus welchen gründen auch immer, vergreifen, also auf worte kaum reagieren werden, mögen sie vernünftig sein, gerecht oder sogar richtig ...



nein,
ich möchte hiermit keinesfalls zum ausdruck bringen; "es bringt eh nix" ...
ich frage mich lediglich; wie stelle ich sicher, das ungerechtigkeiten und diskriminierungen in zukunft zumindest minimiert werden wenn wir gleichzeitig in einer welt leben die oftmals genau das gegenteil propagiert da es sich auf dem rücken anderer leichter leben lässt ...

ich finde das ist eine frage auf die ich bisher keine antwort gefunden habe ...



lg,
e

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