Mantel oder Kürbis?

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Halloween mehrt seit Jahren seinen Anspruch, auch als eine Festlichkeit der Deutschen zu gelten. Mehr und mehr findet dieses Fest Einzug in den Kalender der hier lebenden Menschen - und dies, obwohl es keinerlei Tradition gibt, auf die sich dieses Fest stützen könnte. Eine andere Festlichkeit schwindet währenddessen, wird verstärkt ausgehöhlt oder einfach verworfen - der Martinstag. Dass ein Fest obsiegt, während ein anderes ins Hintertreffen gerät, ist natürlich kein einzigartiges Phänomen, zumal die beiden erwähnten Festtage zeitlich eng zusammenfallen. Und wenn man bedenkt, dass es beispielsweise im Ingolstädter Raum Kindergärten geben soll, die ganz basisdemokratisch die Kinderchen fragen, ob sie denn lieber dem Heiligen Martin huldigen oder um einen Kürbis tanzen wollen, dann braucht man sich auch nicht mehr wundern, dass der Martinstag langsam aber sicher zum Relikt anderer, vergangener Tage wird.

Welche Wahl man den Kindern läßt ist einfach zu erläutern - es ist die Entscheidung zwischen Maskenball und Unmengen von Süßigkeiten oder Laternenbasteln und singendes Wandern durch einen kalten Novemberabend. Man könnte es auch philosophischer zur Auswahl bereiten: Es ist der Widerstreit zwischen plumpen Materialismus und zwischenmenschlichem Idealismus. Oder wenn wir die Terminologie Erich Fromms heranziehen: Eine Auseinandersetzung zwischen der Charakterstruktur des Habens und des Seins. Dass der kindliche Egoismus, der in dieser Phase des Lebens freilich notwendig ist, sich für das Haben entscheiden wird, d.h. für Süßigkeiten und Freude durch Verkleidung, ist nicht weiter verwunderlich. Die Kritiklosigkeit der Eltern und Erzieher zeichnet aber ein treffendes Gemälde dieser Gesellschaft.

Stellen wir die beiden Festlichkeiten einmal gegenüber: Auf der einen Seite haben wir als Grundlage das Teilen, das Abgeben, das Entbehren. Martin teilt seinen Mantel mit einem Frierenden; er teilt, weil er seinen Nächsten nicht in den Kältetod entschlummert wissen will. Er klammert sich nicht an seinen Besitz, sondern gibt ab, läßt teilhaben an seiner Besserstellung. Stattdessen auf der anderen Seite: Man überrumpelt einen Menschen, klingelt bei ihm, läßt ihn wissen, dass er nun Süßes rauszurücken habe - tut er dies aber nicht, darf er mit Saurem rechnen. Dabei wird nicht gefragt, ob die Person, die man gerade mit Erpressung nötigt, überhaupt die Mittel zum Abgeben hat. Während Martin nicht fragt, was der Obdachlose für ihn tun kann, falls er ihm ein Stück seines Mantels reicht, wollen die kindlichen Rabauken bezahlt sein, wollen eine Gegenleistung dafür, friedvoll zu bleiben, wollen "Schutzgeld" in ihrem Beutel sehen. Bei Martin lernen die Kinder Selbstlosigkeit, an Halloween das "Prinzip der Gegenleistung"; Martin lehrt Rücksichtnahme, "der Kürbis" Ansichnahme. Während Martin alleine mit seiner praktizierten Mitmenschlichkeit steht, er einer jener seltenen Menschen ist, die nicht blind am Notleidenden vorbeigehen, treten die kindlichen Erpresser in der Gruppe auf, sind durch ebendiese stark genug, um rücksichtslos und ignorant loszuschlagen - hier Stärke im Alleinsein, dort Stärke durch entfesselte Gruppendynamik.

Die Halloween-Praktik paßt in unsere Zeit, in unsere Gesellschaft wie die Faust aufs Auge. Während wir den Kindern einmal im Jahr einen solchen zügellosen Freiraum lassen, scheint in der Welt der Erwachsenen der Halloween-Geist losgebrochen zu sein. Es ist eben nicht nur der kindliche Egoismus, der mehr Freude an Halloween als am Martinstag entstehen läßt, sondern auch die Tatsache, dass ersteres Fest einfach besser ins Hier und Jetzt paßt. "Süßes oder Saueres!" könnte auch "Lohnkürzung oder Arbeitsplatzabbau!" heißen; oder "Integration oder Ausweisung!"; oder in ganz misanthropischer Form "Arbeit oder Hunger!"; und in weltpolitische Formel gegossen: "Erdöl oder Krieg!". Dies sind die üblichen Erpressungsverhältnisse, die man dann mit Sachzwängen abstrakt rechtfertigen will. An Halloween legt man das Fundament einer solchen Weltsicht - nur im Kleinen freilich, nur begrenzt und mit kindlicher Naivität gewürzt, aber doch in einer solchen Weise, dass auch den Kindern klar wird, dass man mit Erpressung und unfreundlicher Miene, grußlosem Verhalten, dreisten Sprüchen etc. zum materiellen Erfolg kommt. Verziehung die man als Erziehung tituliert!
Im Gegenlicht steht da dann der Heilige Martin - wenn man ihn überhaupt noch zur Kenntnis nimmt -, der abgibt und am Ende mit weniger dasteht als ursprünglich. Aber, und das unterschlägt die materielle Gesinnung gerne, an diesem Weniger nicht leidet, sondern bereichert ist, weil er die Bande des Miteinander geknüpft hat, weil sein Teilen ein Akt nicht nur des Gebens war, sondern auch ein solcher des Entgegennehmens - die Hilfe ist für Martin nicht nur ein Akt des Weggebens, sondern ein Zustand der angenommenen Mitmenschlichkeit.

Das Schwinden des Martinstag zugunsten von Halloween ist sicherlich keine isolierte Erscheinung, sondern geht Hand in Hand mit der geistig-moralischen Umstrukturierung unserer Tage, in denen Nehmen seliger denn Geben ist. Wir zeigen unseren Kindern sowieso schon viel zu häufig, dass nur das Materielle von Bedeutung ist, man sich vorallem am Haben zu orientieren habe. Der Sozialarbeiter ist nichts, aber der Rechtsanwalt alles - solche Einteilungen lehren wir schon unsere Kinder. Und an Halloween zeigen wir ihnen, wie man es zu was bringt in dieser Welt, während es der Heilige Martin, dieser armselige Trottel, zu nichts gebracht hat, weil er aus seinem Mantel nicht zwei oder drei machen konnte, sondern diesen auch noch halbierte.

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Danke, lieber Gerhard...

Mittwoch, 29. Oktober 2008

Wir sind entrüstet! Da gratuliert der amtierende SPD-Vorsitzende dem ehemaligen Bundeskanzler für seine gute Arbeit, für die gute Zeit, die er den Menschen und unserer Demokratie beschert hat, und keiner von uns durfte sich dabei zu Wort melden. Dabei hätten wir soviel zu sagen, hätten unsere Gratulationen mit wahllosen Erlebnissen und Anekdötchen dieser ach so guten Zeit anzureichern, so dass eigentlich wir - und nur wir! - die wahrhaftigsten Gratulanten wären, wenn man uns nur ließe. Während der derzeitige SPD-Vorsitzende nur vom Schreibtisch aus, weit entfernt also vom herrlichen Wirken der schröderianischen Arbeit, herumphantasiert, kennen wir die Wirkungen haargenau, die uns unser Väterchen Deutschland, nun im Auftrage von Mütterchen Rußland, geschenkt hat. Auch wir wollen uns für diese köstliche Zeit bedanken, wollen dem Großen Vorsitzenden herzlichste Gratulationen zukommen lassen.

Wir, die Opfer der Agenda 2010, wollen ihm Huldigungen entgegenbringen. Durch ihn und mit ihm und in ihm, wurden wir für den Arbeitsmarkt aktiviert, wurden durch Repressionen und zwangsverordnete Hungermaßnahmen zu duldsamen Sklaven unmöglichster Arbeitszustände. Weil es ihn gab, dürfen wir heute arbeiten, dürfen ein Leben in Leiharbeit, in prekären Arbeitsverhältnissen fristen; weil dieser große Visionist für uns Politik betrieb, dürfen wir heute Probezeiten von bis zu sechs Monaten über uns ergehen lassen. Unser GröKaZ hat uns Sicherheit gegeben - die Sicherheit, dass nichts mehr sicher ist. Wir danken Dir, großer Schröder, dass wir keine Familienplanung mehr machen müssen, dass Du uns die Entscheidung eine Familie zu gründen dermaßen erleichtert, sie uns regelrecht abgenommen hast - weil Du warst, ist das kinderlose Familienmodell, gar das Einzelgängerdasein dank Arbeitsnomadentum, noch salonfähiger geworden. Ohne Dich wäre der mobile Wanderarbeiter bloß eine romantische Vorstellung aus Zeiten derbsten Manchester-Kapitalismus' - mit Dir wurde diese Anleihe an die Geschichte der Ausbeutung wieder Realität.

Und auch die sozialen Randgruppen wollen nicht wortlos am Rande stehen. Auch sie wollen dem großen Mann der deutschen Sozialdemokraite mit Ehrungen bedenken: Heiliger Schröder wir danken Dir! Unter Deiner Ägide wurden wir wieder öffentlich wahrgenommen. Durch Hatz, durch Diffamierung und Diskreditierung, durch Pogromstimmung hast Du die Augen der Öffentlichkeit wieder auf uns Rentner und auf uns Arbeitslose gelenkt. Endlich wurden wir wieder als lebendige Wesen wahrgenommen - allzu lebendig für manchen. Devot werfen wir uns zu Boden und lobpreisen Deine Weisheit, die sich darin äußerte, unsere Existenzberechtigung anzweifeln zu lassen, uns zu Freiwild zu machen, uns als Schmarotzer und Parasiten zu verunglimpfen - ohne diese Segnungen schröderianischer Arbeit wären wir womöglich unbeachtet oder lediglich von solchen beachtet, die es ja wirklich nicht gut mit uns meinen. Durch Deine Politik erkennt nun die Öffentlichkeit der Arbeitslosen Anliegen: Mehr Bier, mehr Faulheit, mehr Schmarotzertum! Du hast uns der Masse nähergebracht!

Erhöre auch uns, gesegneter Kanzler früherer Tage! Auch wir, die Opfer Deiner Deregulierungspolitik wollen nicht schweigen müssen, während Deiner so liebevoll gedacht wird. Das Prinzip der Deregulierung hast Du entfesselt wie niemand zuvor. In der Arbeits- und Sozialpolitik genauso wie auf dem Finanzmarkt. Maßlosigkeit hast Du zwar als Todsünde entlarvt, aber maßlos hast Du die Maßlosigkeit erst entfesselt. Steuersätze für Konzerne wurden beseitigt, Spitzensteuersätze herabgesetzt - Deiner Weisheit ist es heute zu verdanken, dass wir sicher in Unsicherheit ausharren, dass wir nicht mehr wissen, wo wir morgen unser täglich Brot verdienen dürfen, dass unsere Ersparnisse von einer gierigen Bankerschaft aufgefressen werden. Wir verdanken es diesem Politiker der ruhigen Hand, dass Heuschreckenplagen über unser Land zogen und noch ziehen; wir verdanken ihm den Ausverkauf gesellschaftlichen Besitzes; wir verdanken ihm PSA und legitimierte Leihsklavenschaft. Vorallem die Unsicherheit ist sein Erbe - Du, gütiger Sozialdemokrat, warst es, der in unsere Köpfe die Angst und Ungewißheit eingepflanzt hat, Du hast uns damit Beine gemacht und uns zur Unterwürfigkeit in allen Lebenslagen erzogen, hast uns Demut gelehrt, hast uns deutlich gemacht, dass wir keine Ansprüche mehr zu stellen hätten, dass wir selbst dem größten Ausbeuter vor die Füße zu fallen haben.

Friede sei mit Dir, Gerhard! Wir Pazifisten wollen in nichts nachstehen. In Deiner Amtszeit wurde die Bundeswehr wieder mächtig. Friedensarmee nanntest Du sie - und für dieses Wort muß man Dir pazifistisch-demutsvoll danken. Als Wegbereiter jungscher Pläne, war es Dir gegeben, uns Deutschen wieder einen Platz an der Sonne zu sichern. Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr seit 1945, danach die Teilnahme am Angriffskrieg gegen Afghanistan und natürlich die große Friedensgeste, als der Irak nicht von deutschen Soldaten erobert werden sollte, zeichneten die Ära Schröder als friedvolle, auf Diskussion nicht auf Aggression bedachte Zeitspanne aus. Der Friede sei mit Dir, weil Du ein Friedensengel warst und bist, weil Du selbst in suspekten Staatsmännern "lupenreine Demokraten" witterst - soviel Liebe zum Menschen, auch Liebe zum vermeintlich Bösen, kommt einer jesuanischen Lebensauffassung gleich! Ohne Dich, wären wir zwar friedlich, aber militärisch unbedeutend auf dem Erdenrund.

Nun haben wir aber geradegerückt, was von der deutschen Sozialdemokratie nicht erläutert wurde, was der hochgeliebte SPD-Vorsitzende in seiner Eile wohl vergessen hat - er hat womöglich nicht viel Zeit, wie in letzter Zeit viele SPD-Vorsitzende nur kurz Zeiten in Anspruch nahmen -; nun haben auch wir uns bedanken dürfen für diese herrliche Zeit in Deinem Regime, welches das heutige Regime so erstklassig befruchtet hat. Soviel Mut und Entschlossenheit muß man einfach lieben, auch wenn die Wirkungen und Folgen von Schröders Arbeit uns nicht sehr liebevoll entgegenschlagen - er hat es ja trotz allem gut gemeint mit uns. Und wir wollen auch dem Stümper, der gute Absichten hatte, an denen er aber schlußendlich böse scheiterte, respektvoll dankbar sein. Es hätte ja schlimmer kommen können: Wir hätten damals weiterhin eine konservative Regierung haben können, die soviel Mut und Entschlossenheit niemals auf die Beine gestellt hätte. Daher: Hoch soll er leben, unser allseits geliebter Volkstribun, dieser maximo líder der deutschen Sozialdemokratie. Ganz im Sinne des derzeitigen SPD-Häuptlings: Pack' wieder kräftig mit an! Laß uns noch mehr Deiner Gütigkeiten zukommen! Wir können es kaum mehr erwarten...

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Eine Haltung die NS-Vergleiche verbietet?

Dienstag, 28. Oktober 2008

Sind Vergleiche, zu denen man die Mißstände im Dritten Reich heranzieht, moralisch und statthaft? Oder muß man, wie eine Kommentatorin - Margarete Limberg - des Deutschlandfunk einfordert, eine Art selbstauferlegte Verbotshaltung einnehmen, die jeglichen Vergleich mit dieser Epoche deutscher Geschichte verbietet?

Die menschliche Historie ist keine stumpfe Ansammlung menschlicher Erlebnisse und Ereignisse, sondern ein Repertoire an solchen Erfahrungen, an denen man sich bedienen kann und geradezu soll. Die darin enthaltenen Inhalte sind zuweilen viel komplexer als ersonnene Geschichten, daher finden sich in der menschlichen Geschichte immer konkrete Beispiele, die man als Vergleichsmaterial rekrutieren kann, um den aktuellen Zustand der Geschichte - die Gegenwart - zu durchleuchten. Ein solches Heranziehen mag manchmal nicht ganz passend sein, kann in vielen Nuancen auch als vollkommend unpassend erachtet werden - Geschichte wiederholt sich eben nicht, schon gar nicht in identischen Bahnen. Was sich aber manchmal wiederholt sind Prozesse, die sich in ihrer Grundausrichtung ähneln. Sich an dem Repertoire menschlicher Geschichte zu bedienen, um die Gegenwart zu begreifen, sie faßbar zu machen, sie mit der Vergangenheit zu ermahnen, stellt eine Kulturleistung dar - sie ist kein hilfloser Versuch des Mahners, sondern ein möglicher Akt des Begreifens, ein möglicher Akt der Bildung, ein möglicher Akt des Lernens.

Würde man nun einen Kodex implantieren, der besagen würde, dass eine bestimmte Epoche menschlicher Geschichte niemals mehr als Vergleichspotenzial herangezogen werden dürfte - ganz gleich, ob dies nun der Nationalsozialismus ist oder nicht -, so würde man sich selbst verbieten, aus einer festumrissenen Zeitspanne menschlicher Geschichte, die Lehren ziehen zu dürfen. Diese Verbannung einer geschichtlichen Epoche würde auf einem geheiligten Altar stehen, dürfte nicht mehr kritisch begutachtet, nicht mehr in den öffentlichen Diskurs geworfen werden. Man könnte beinahe annehmen, dass jene, die solche selbstverpflichtenden Haltungen verlangen, zu der Erkenntnis gekommen seien, dass aus der "verbotenen Epoche" alle Lehren gezogen wurden. Deshalb: Klappe zu! Ausgelernt! Dem Neuen entgegen, ohne Rückgriffe auf mögliche Parallelen!

Nun ist es mir im konkreten Fall kein Anliegen, die Aussagen des Professor Sinn reinzuwaschen. Denn geschichtliche Reflexion kann zuweilen mißbraucht oder einfach nur falsch verstanden werden. Man kann also diese Kulturleistung umsetzen wollen und trotzdem ganz unkulturell daran scheitern. Dies muß nicht nur einem ideologisch verfangenen Professor zustossen, sondern kann jeden treffen - dann spricht man freilich von Geschmacklosigkeiten und Verfehlungen, moralisiert also. Aber dennoch, trotz dieser vermeintlichen Verfehlungen, kann der Lösungsansatz solcher Debatten nicht darin bestehen, die Geschichte des Dritten Reiches und auch - ganz speziell - die der Shoa als sakrosanktes totes Stück Historienfetzen einzustufen. Und gerade die Shoa ist die Geschichte eines zum Himmel schreienden Unrechts, die Geschichte von der Niedertracht und Bösartigkeit des Menschen am Menschen, sie ist zudem der mörderische Schlußakt einer langen abendländischen Irrung, die aus dem Juden einen rassischen - nicht mehr religiösen - Untermenschen gemacht hat. In der Schrecklichkeit der Shoa findet sich alles, was das Unrecht so grausam erscheinen läßt - warum soll dieses Mahnmal der Geschichte nicht vergleichbar sein dürfen, gerade auch wenn heute Unrecht begangen wurde?

Es ist schwer zu konkretisieren, wann Unrecht größer, wann es kleiner ist - Unrecht ist zunächst immer Unrecht. Für denjenigen, den Unrecht ereilt, steht sein erfahrenes Unrecht als bittere Erfahrung in der persönlichen Geschichte. Wir sprechen zuweilen von Ungerechtigkeiten, die sich auf dieser Erde abspielen, aber genau genommen ist es eine große, einzige Ungerechtigkeit - die Einzigartigkeit des erlittenen Unrechts ist widersinnig, ist Ausdruck einer Primatshaltung des einen Leidenden über den anderen. Um also das unbeschreibliche Unrecht an Europas Juden als Vergleich heranzuziehen - ein Unrecht das ja vielschichtig ist, weil es zwar in Mord endete, aber mit vielen kleineren und größeren Repressionen seinen Anfang nahm -, muß die Vergleichssituation Unrecht in sich tragen. Darf man historisches Unrecht denn nicht mit gegenwärtigen Unrecht vergleichen? Sie heranziehen um zu mahnen, Aufmerksamkeit zu erzeugen, zu warnen? Es muß doch kein Akt der Verhöhnung der damaligen Opfer sein, ganz im Gegenteil, zeigt es doch auf, dass man das einstige Unrecht vollauf erkannt hat - der Mißbrauch dieser Einsicht, wie vielleicht im Falle des Professor Sinn, kann natürlich nicht ausgeschlossen werden.

Es stellt sich gegenteilig dar: Wer fordert, man dürfe aus dieser Ära keine Vergleiche rekrutieren, der fordert somit, aus der Geschichte nicht mehr lernen zu wollen, läßt in einer unsäglich Arroganz erkennen, schon alles aus diesem Geschichtsabschnitt gelernt zu haben. Doch ausgelehrt hat uns keine Epoche, auch keine der früheren Epochen - immer wieder finden sich darin Lehren und Einsichten, die man für die Gegenwart als wertvoll erachten kann. Wer also fordert, das Vergleichspotenzial dieser braunen Ära zu verwerfen, der drängt in einen Geschichtsfaschismus hinein, der totalitär alles unter sich begraben will, was sich mit dieser Zeit auseinandersetzt, der aus lebendiger Geschichtsbetrachtung eine tote Wissenschaftlichkeit machen will; ein Faschismus, der den Kritiker verächtlich machen will, der ihn zum Unmenschen erklären will, weil er angeblich keinerlei Respekt vor den Opfern der damaligen Zeit habe.

Die Explosivität von Sinns Äußerungen lag darin, dass er aus Tätern Opfer machen wollte, und dass man herauslesen mußte, dass auch die einstigen Juden Opfer ihrer Täterschaft waren. Dies ist der (absichtliche?) Irrtum seines Vergleichs. Er hat nicht Opfer mit Opfern verglichen, sondern Täterschaften - nicht alle sind Täter - hinter Opferstatus verbergen wollen und damit wirklich das Andenken an jene beschmutzt, die einst Opfer waren...

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De dicto

Sonntag, 26. Oktober 2008

"Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager."
- Frankfurter Allgemeine, Hans-Werner Sinn zitierend am 26. Oktober 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Freilich zieht man nun einen ganzen Berufsstand in den Dreck, macht ihn für Auswüchse verantwortlich, an denen ebendieser Berufsstand mitgewirkt hat. Man darf sich aber nicht davon blenden lassen, dass auch Unternehmer und überallem die Politik ihren großen Teil dazu beitrugen - soweit könnte man Sinn noch folgen. Aber ihm geht es ja gerade nicht darum, die Bankergilde ihrer Alleinverantwortung zu entheben, um gleichzeitig auch andere Schuldige heranzuziehen - für ihn ist ein Abstraktum schuld und die Manager sind die bemitleidenswerten Opfer. Und um ihren derzeitigem Status auch gerecht zu werden, kann man diese nurmehr mit den verfolgten und ermordeten Juden des Dritten Reiches gleichsetzen - nur dieses geschichtliche Beispiel macht laut Sinn das "Leid" der heutigen Banker fassbar.

Als seinerzeit aus verschiedenen Richtungen die Anklage laut wurde, dass das Hartz-Konzept aus den Arbeitslosen Verfolgte und offensichtlich Mißliebige mache, dass man damit die betroffenen Menschen in eine Position hineindränge, die man durchaus mit der Position der Juden aus antisemitischeren Tagen dieses Landes gleichsetzen könne, da erhoben die inoffiziellen Institutionen der politischen Korrektheit sofort ihre mächtige Stimme. Soetwas dürfe man nicht verkünden, so ein Vergleich sei unhaltbar, beleidigend, würde die eigene, aktuelle Position der Arbeitslosen in dieser Gesellschaft nur grob verfälschen, würde sie zu Opfern machen, die sie offensichtlich, in einer kultivierten Zeit wie der unseren, nicht sind - gar nicht sein können, denn wir leben ja in einem Sozialstaat! Darüberhinaus rieche dies nach Volksverhetzung! Da liefen alle Berufsbetroffenen der verschiedenen Parteien auf und meinten, dass es eine krasse Form der Geschichtsklitterung sei, verfolgte Juden mit verfolgungsbetreuten Erwerbslosen in einen Topf zu werfen. Und wir erinnern uns: Selbst eine Bezeichnung wie "Montagsdemonstrationen", die von Gegnern des Hartz-Konzeptes nach ostdeutschen Beispiel so benannt wurden, sollten laut Aussage besonders korrekter Politiker, diesen Namen aus Respekt vor der "friedlichen Revolution" nicht mehr tragen dürfen.

Sind beide Vergleiche haltbar? Dies scheint schwer zu beantworten, denn Geschichte wiederholt sich nicht - und wenn es doch danach aussieht, dann wiederholt sie sich als Farce, sagt man, sagte Marx (in "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte"). Aber man darf Geschichte heranziehen, darf in ihr Ähnlichkeiten mit der Gegenwart suchen und finden, sich an ihr bereichern oder an ihr - allzuoft leider - verzweifeln. Jedenfalls ist der Vergleich mit den Erwerbslosen eher zutreffend, als jener Sinn'sche Vergleich, der die Manager zu verfolgten Opfern macht. Bei den Erwerbslosen handelt es sich um eine beinahe rechtlose Bevölkerungsgruppe, die öffentlich diffamiert und verächtlich gemacht wird, während die Bankerschaft noch nicht einmal mit ihrem Privatvermögen für ihre Gier herangezogen wird, stattdessen ein Milliardenpaket gewährt bekommt, dieses fast ohne staatliche Auflagen. Die Banker fielen nun vom hohen Roß - nicht mal das ist gewiss -, während die Erwerbslosen schon vorher im Dreck lagen. So besehen ist das mediale Verbalflatulieren des Sinn eine unerträgliche Verdummung und Zurechtstutzung, eine Form des Mundtotmachens derer, die die Ackermänner auch bestraft sehen wollen.

Man darf gespannt sein, wann die Saubermänner und -frauen, die Verfechter politischer Korrektheit auflaufen, um die Ausführungen Sinns als Frechheit und Beleidigung an den Opfern des Holocausts zu entlarven. Ob sie aber überhaupt auflaufen werden?

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Solche und solche Nonkonformisten

Ob man Marcel Reich-Ranicki und Elke Heidenreich gleichermaßen als Nonkonformisten einstufen kann, ist höchst zweifelhaft. Immerhin - und da hat Grass nicht ganz unrecht - war Reich-Ranicki lange Zeit Teil des von ihm kritisierten Apparates und hat die Literaturkritik durch Trivialisierung medientauglich gemacht. Was vorallem diesen Zweifel nährt ist sein Auftritt bei der Plauderrunde mit Thomas Gottschalk. Als Reich-Ranicki beim Fernsehpreis einen "Eklat" bewirkte, da konnte man ihm noch beistehen, konnte sich trotz aller außereinandergehenden Ansichten noch auf seine Seite schlagen - was er aber danach bot, war an Inhaltslosigkeit kaum noch zu überbieten. Konkret wurde er gegenüber Thomas Gottschalk nie, und wenn doch, fabulierte er von Brecht und Schiller und meinte mit denen - und nur mit denen - sei wertvolle Unterhaltung gesichert.

Vielleicht bot man auch daher Reich-Ranicki ein öffentliches Forum, weil man wußte, dass dieser Mann trotz aller sprachlichen Begabung, trotz der Fähigkeit mittels Sprache die Malaise auf den Punkt zu bringen, eigentlich selten konkret wird - nicht weil er nicht wollte, sondern weil diese Form der Schwammigkeit zu seinem Wesen gehört. Man wußte, erahnte es aber zumindest, dass er das greifbare Wort scheut, die direkte Konfrontation nicht suchen wird - man konnte voraussehen, dass er sich in seiner überheblichen Art nicht dazu herablassen wird, konkrete Sendekonzepte an den Pranger zu stellen. Zwar hat er seine Finger in den wunden Punkt der Unterhaltung gelegt, aber dies nur sehr zögerlich, wie es zuweilen seine Art ist - erst lospoltern, aber dann nicht deutlich werden, nicht darlegen, was eigentlich genau den Unmut erzeugte. Einem solchen Zeitgenossen, der es gerne in Schwammigkeit beläßt, räumt man zwar nicht gerne ein Forum ein, aber man tut es dennoch, denn man muß keine Angst haben, dass aus dem "Eklat" eine regelrechte Sinnkrise folgern könnte. So können sich die Medienanstalten mit Kritik arrangieren; so wissen sie sich sicher innerhalb oberflächlichen Kritikgeplappers und haben damit den Eindruck erweckt, als hielte man viel von basisdemokratischer Gesinnung.

Anders im Falle Heidenreichs. Sie wurde deutlich, überdeutlich geradezu. War nicht auf dumpfe Diplomatie aus, die es erlauben würde, der Verdummung und Verblödung auch nur den Anstrich von Legitimität zu erteilen. Heidenreich warf den Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vor, sie seien "verknöcherte Bürokarrieristen, die das Spontane längst verlernt haben, das Menschliche auch, Kultur schon sowieso" - das saß! Eloquente Worte fand auch sie, doch waren diese eindeutig positioniert und Heidenreich wüßte, wenn man sie nur ließe, wenn man mit ihr einen "gegebenen Anlass" in Szene setzen würde, auch wohlweislich deutlich und konkret zu werden. Die Gefahr, dass sich eine Heidenreich nicht in den Fluten schöner, aber nutzloser Worte werfen würde, wäre einfach zu groß für das Fernsehen. Sie könnte, würde sie Sendeplatz für eine Kritik erhalten, womöglich eine Sinnkrise bewirken, Sendekonzepte aus den Dreck herausholen, in dem sie schon liegen, um sie in den öffentlichen Diskurs zu werfen. Heidenreich könnte ich aller Direktheit bewirken, dass sich mehr Menschen der Abartigkeit und Perversität somancher Sendekonzepte bewußt würden. Sie könnte womöglich Casting-Shows als das bezeichnen, was sie sind - Prostitution; politische Talkshows als das, was sie seit Jahren sind - gezielte Verblödung; Realityshows als solche, die sie ganz offenbar sind - als konzeptlose Abstumpfungssendungen.

Sowas kann sich das Fernsehen, ganz unabhängig davon, ob wir hier das private oder öffentlich-rechtliche meinen, nicht gefallen lassen. Von einer solchen Kritikerin geht Gefahr aus, eine solche Kritikerin muß mundtot gemacht werden - muß also entlassen werden aus ihrem Vertragsverhältnis und nach Möglichkeit ohne weiteres öffentliches Engagement bleiben. Während Reich-Ranicki den Nonkonformisten in verdaulicher Form gibt, ja während er den Nonkonformisten vielleicht sogar nur in schlechter Großsprecherei mimt, könnte hinter der verärgerten Fassade Heidenreichs eine wahre Nonkonformistin stecken, die man freilich nicht behalten will.

Gleichschaltend gibt sich das Fernsehen, geben sich alle Medien, seit Jahren - und wer nicht gleichgeschaltet werden will, wer sich die Frechheit einer eigenen Meinung erlaubt, wer nicht wie Thomas Gottschalk - dieser Fahnenträger öffentlich-rechtlicher domini canes ("Hunde des Herrn") - nach oben, dem Zeitgeist entgegen buckelt, der hat einfach keine Berechtigung mehr, einen Sendeplatz zu behalten. Der Sendeplatz ist zu wertvoll, könnte mit Zeitgenossen wie Beckmann ausgefüllt werden, der ja brav Werbung für eine Privatversicherung leistete; der zudem vorbildlich wie sein Berufsgenosse Johannes B. Kerner, jede Sau durchs Dorf der öffentlichen Diskussion jagt, nur um seine unerträgliche Talkquatscherei einigermaßen interessant zu gestalten - interessant im Sinne seiner Auftraggeber, ob es die Zuschauer sehen wollen oder nicht. Derlei gleichgeschaltete, oft farblose Abziehbilder, gibt es im Fernsehen zu viele - man kann und will sich die Namen solcher austauschbaren Irgendwers gar nicht merken.

Reich-Ranicki jedenfalls hat die Wahrheit nur angedeutet und so wirr umschrieben, dass sie keiner mehr erfassen konnte - daher durfte er in einem öffentlichen Gespräch nachlegen. Heidenreich war konkreter, benannte die Wahrheit beim Namen, war überdeutlich, nicht wirr sondern präzise, so dass man in den Sendeanstalten Angst haben mußte, durch sie eine Sinnkrise heraufzubeschwören, wenn man ihr nur den nötigen Raum ließe, in dem sie ihre Kritik ausführlicher darlegen dürfte - daher wurde sie mundtot gemacht. (Man denkt unwillkürlich an Marcuses Ausarbeitung der "Repressiven Toleranz".) Im Deutschland 2008 atmet man weniger den frischen Duft der Meinungsfreiheit ein, als den modrigen Gestank stalinistischer Reinigungsprozesse. Fehlt nur noch, dass Heidenreich öffentlich ihrer Häresie abschwören muß, dabei weinend und sich selbst geißelnd...

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Sit venia verbo

"Sogar Experten mit großem Fachwissen beschreiben Nordkorea gern als "Land jenseits der Spiegel", wie eine Szene aus "Alice im Wunderland" oder eine "Kreuzung" zwischen Lewis Carroll und George Orwell. Diese Art der Analyse nährt die Auffassung, Nordkorea sei der böse Gegenspieler und es handele sich bei ihm um eine Art "orientalische" Tyrannei.
Natürlich hat Nordkorea ein paar Besonderheiten, wie jedes andere Land auch. Aber viele Dinge, die als besonders ungewöhnlich gelten, verlieren einen großen Teil ihrer Eigenheit, wenn man sie in drei sich überschneidenden Kontexten betrachtet: der koreanischen Geschichte, den kommunistischen Systemen und der ostasiatischen Gesellschaft. Nehmen wir zum Beispiel die Juche-Zeitrechnung, die mit der Geburt Kim Il Sungs beginnt. Sie ist nicht ungewöhnlicher als die Zeitrechnung nach den Regierungsdevisen der Tenno, die in Japan auch heute noch Verwendung findet. Kim Il Sungs Mausoleum lässt sich mit Lenins Grab vergleichen und sollte im Rahmen desselben Konfuzianismus betrachtet werden, der dem Bau der Gedächtnisstätte für den Antikommunisten Chiang Kai-Shek in Taipeh zu Grunde liegt. Die riesigen Museen für die Geschenke, die Kim Il Sung und Kim Jong Il gemacht wurden, werden vor dem Hintergrund vieler hundert Jahre obligatorischer Tributzahlungen Koreas an den chinesischen Kaiser verständlich: Wer wahrhaft unabhängig ist, dem wird Tribut gezollt, sagen die Nordkoreaner. Eine staatlich gelenkte Wirtschaftsentwicklung, wie sie nach dem Koreakrieg so erfolgreich war, ist nicht nur sinnvoll, was die kommunistische Strategie des Aufbaus einer Schwerindustrie angeht, sondern auch angesichts der staatlich gelenkten Wirtschaftsentwicklung in Japan, deren Beispiel auch Südkorea folgte."
- John Feffer, "Nordkorea und die USA" -

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Die moderne Variante des Eichmann

Freitag, 24. Oktober 2008

Kürzlich wurde ein zwölfjähriges Mädchen von der Deutschen Bahn, das heißt: von einer Mitarbeiterin derselbigen, an die frische Luft gesetzt. Das Mädchen hatte seine Fahrkarte vergessen, versprach aber sie nachzureichen - die Schaffnerin kannte allerdings kein Erbarmen und schmiss den blinden Passagier an der nächsten Bahnstation über Bord. Die Bemühungen anderer Fahrgäste wurden freilich auch ignoriert, denn einen "Fahrschmarotzer" auch noch zu schützen, kam für die Bahnangestellte nicht in Frage. Problematisch an der Aktion der pflichtversessenen Person war: Das Mädchen wurde in abendlicher Dunkelheit, fünf Kilometer von ihrem Zuhause, ohne Geld - die vergessene Fahrkarte war ja im vergessenen Geldbeutel - ausgesetzt.

Ein moralischer Aufschrei ging durch den Blätterwald. Sogar zurecht - was bei vielen Aufschreien ja nicht der Fall ist. Und als es dann hieß, dass der dienstpflichtige Eichmann suspendiert wurde, da zeigte man so etwas wie Erleichterung: Die Bahn sei doch nicht so schlecht, kenne also Moral und Anstand!

Ein moralisches Unternehmen? Sowas gibt es? Die Frage scheint berechtigt, wenn man einen der Mitgründe der Suspendierung beachtet: Man sah sich zu dieser Handlung gezwungen, weil die Bestimmungen der Bahn vorsehen, dass Minderjährige nicht des Zuges verwiesen werden dürfen. So sieht es also aus: Die Schaffnerin war nicht unmoralisch, kannte nur den Maßnahmenkatalog des Arbeitgebers nicht exakt. Sie wurde suspendiert, weil sie gegen eine Dienstanweisung verstieß, nicht weil sie ein unerträgliches Maß an fehlender Mitmenschlichkeit aufgezeigt hatte. Stellen wir uns vor, die Bahnbestimmungen würden einen solchen Passus nicht kennen: Die "Fanatikerin für Recht und Ordnung" wäre vielleicht noch im Dienst.

Die Schaffnerin ist ein Eichmann-Typus mit Mängel. Denn der "beliebige Hanswurst" (Hannah Arendt) hatte sein Regelwerk exakt im Kopf, wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er seine eigenen Spießbürgerlichkeiten zum Maßstab seines Handelns küren könnte. Nein, dazu gab es Vorschriften, die er strikt und ohne Hinterfragen anwandte. Er war nur der Hammer, der den Nägeln zum Eindringen verhelfen sollte - derjenige, der das Ziel des Einhämmerns markierte, war er nicht. Einmal soll er ein Konzentrationslager besucht und sich dabei übergeben haben - fortan war der moralische Aspekt, d.h. das eigentliche Motiv seines Tuns, aus dem Denken verbannt; fortan war sein Schreibtisch das Schlachtfeld seines bürokratischen Treibens. Bei aller Kritik an Eichmann, muß man Arendts Betrachtungsweise zu seiner Person doch zustimmen: Er war nicht unmoralisch, er war nicht getrieben von Judenhass, er war einfach nur "schier gedankenlos" und "realitätsfern" - er war nur alltäglich, nur banal, war nur Ausdruck der "Banalität des Bösen".

Unsere Schaffnerin ist auch nur alltäglich, sicherlich kein Aushängeschild mitmenschlicher Lebensphilosophie - aber ein Eichmann im klassischen Sinne ist sie nicht. Sie hatte das Regelwerk nicht im Kopf und hat ihre eigene verkrüppelte Unmenschlichkeit zum Maßstab gemacht, der es ihr erlaubte, so herzlos gegen dieses "schmarotzende Kind" vorzugehen. Zudem kann in einer Gesellschaft, die medial aufbereitet an jeder Ecke Schmarotzer und Parasiten vermutet, eine solch degenerierte Humanität nicht verwundern. Die Unmenschlichkeit ist solchen bornierten, zur eigenständigen Denkweise unfähigen Zeitgenossen auch nur ins Handeln eingepflanzt, quasi zur gesellschaftlichen Konvention erhoben, die sie dann in jedem alltäglichen Bereich aufbereiten, immer versteckt hinter Regelwerken und Gesetzen. Nur diesmal irrte sich einer dieser Eichmann-Typen, konnte sich nicht hinter Bestimmungen verstecken, weil diese nämlich das glatte Gegenteil dessen ausdrückten, was der Eichmann schlußendlich tat.

Was also bei der Schaffnerin zum Tragen kommt, ist womöglich die Verschärfung des eichmännischen Prinzips, denn zum Handeln gesellt sich nicht "geistiger Stillstand" und damit kritikloses Vorgehen, sondern die kleinkarierte Bösartigkeit des Alltags, mit der es erlaubt ist, seine eigenen Vorurteile, seine Aversionen, seine Unmenschlichkeit und Härte zum Imperativ innerhalb eines Büros, eines Zugabteils oder eines Klassenzimmers zu machen. Dieser Typus des bürokratisierten Technokraten, der uns in Amtszimmern genauso begegnet wie im Zug oder schlicht an der Tankstelle, ist die Zuspitzung des Adolf Eichmann, die Verschlimmerung des vormals schon Schlimmen. Er ist der Alltagsfaschist, der aus jeder Lappalie einen Verwaltungsakt, aus allen Nichtigkeiten bürokratische Kraken formt. Und im Gegensatz zum historischen Eichmann hat dieser moderne Typus, frustriert durch ein oftmals erbärmliches Leben im (zwar satten) Materialismus, verdummt durch Medien und verblödet durch Gleichschaltung, oft depressiv ob eines unterdrückten Individualismus, eine wahre Freude an der praktizierten Misanthropie, an der Niedertracht und Hinterlistigkeit, an der Boshaftigkeit am Nächsten.

Eichmann kümmerte sich nicht um seine Opfer - ihm war egal ob sie brennen oder frei herumlaufen durften. Nur die Vorschrift verband ihn mit seinen Opfern. Der neue Typus des alten Trottels allerdings, sieht sich mit seinem Opfer durch mehr verbunden. Freilich auch durch die Vorschrift, aber diese dient vorallem dazu, die eigene ethische Verkrüppelung zu verschleiern. Er fühlt sich seinen Opfern verbunden, weil er an ihnen seine Sadismen ausleben darf, dafür auch noch bezahlt wird - darin liegt die Würze seines erbärmlichen Daseins. Ohne seine Opfer, wäre er ein großes Nichts, könnte er nicht einmal die dunklen Seiten seiner Persönlichkeit ausleben, wäre auf ewig nur derjenige, der "ganz unten" steht.

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Das Fundament des elitären Klassenbewußtseins

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Ist eine Gesellschaft, die offen von "sozial Schwachen" und "bildungsfernen Schichten" spricht, eingebettet in ein sozialdarwinistisches Fundament? Meint eine solche Gesellschaft etwa damit, dass Armut und mangelnde Bildung vererbte Mängel sind? Oder handelt es sich bei solchen und ähnlichen Begrifflichkeiten nur um unglücklich gewählte Wortkonstrukte?

Dazu ein kurzer Abriss zur Geschichte der Evolutionstheorie: Charles Darwin weigerte sich viele Jahre, seine gewonnenen Erkenntnisse zu veröffentlichen. Er scheute den Konflikt mit der Religion, die ja seit Jahrhunderten von der Unveränderbarkeit der Natur und der Kreaturen predigte - Darwin aber hatte erkannt, dass diese Unveränderbarkeit ein Märchen sein muß. Als er sich dann doch dazu entschloss, seine Theorie offenzulegen - vielmehr wurde er dazu genötigt, weil ein anderer Laienwissenschaftler Darwins Theorie unabhängig von ihm erahnte - entstand tatsächlich ein wissenschaftlicher Disput darüber, inwiefern die Evolutionstheorie mit der Religion vereinbar sei.
Während sich diese Form der religiösen Auseinandersetzung nur in England verbreitete, wurde um den Darwinismus - wie die Theorie nun immer öfter genannt wurde - in Deutschland ganz anders gerungen. Ernst Haeckel vertrat die Positionen der Evolutionstheorie, während Rudolf Virchow sie strikt leugnete. Dies tat letzterer nicht, weil die Theorie womöglich irrig wäre, sondern weil sie nicht ins politische Konzept paßte, besser verschwiegen werden sollte, um den Status quo nicht zu gefährden. Der begeisterte Darwinist Haeckel baute die Theorie allerdings aus und verband sie mit dem damals grassierenden Nationalismus. Er radikalisierte Darwins Theorie dahingehend, in der Vererbung die Grundlage allen Existierenden erkennen zu wollen - und vorallem hievte er die Theorie in Sphären menschlicher Gesellschaft. Darwin hatte sich strikt geweigert, die Evolutionstheorie anhand des Menschen zu erklären. Aus dieser Radikalisierung erwuchs überdimensionales Herrenmenschengehabe, offener Rassismus und die ersten Anklänge einer Untermenschentheorie. Da Blut alles war, da auch Intelligenz, Fleiß, Leistungsfähigkeit und dergleichen vererbt würden und nicht Produkt der Lebensverhältnisse seien, so schlußfolgerte man aus dem Haeckelismus, könne man durch eine gelenkte Zuchtwahl die positiven Erbanteile expandieren, gleichzeitig die negativen und unwerten Erbträger zurückdrängen. Dies habe mittels Sterilisationen und "erbgesunden Eheverhältnissen" zu geschehen. Die Evolutionstheorie in Deutschland hatte also keinen wirklichen Verfechter, die Diskussion war geprägt von Leugnern der Theorie und von denen, die die Theorie aus ihren niederträchtigen Gefühlen heraus interpretierten.
Der Schritt von der Sterilisation zur Tötung minderwertigen Lebens war nurmehr ein kleiner, wenngleich dieser erst mit Etablierung des Dritten Reiches zur realpolitischen Möglichkeit wurde. Davor wurde aber munter darüber spekuliert, wie man "erbungesunde Subjekte" entfernen könnte. Jetzt war der Sozialdarwinismus deutscher Schule nicht mehr auf Deutschland alleine beschränkt, sondern fand im angelsächsischen Raum Anklang. Ab 1907 verabschiedeten viele US-amerikanische Bundesstaaten Sterilisationsgesetze, die es erlaubten, "Epileptiker, Schwachsinnige und Geistesschwache" von Nachwuchs zu befreien. In einigen Fällen wurden sogar Kastrationen vorgenommen. Die Eugenik war Kind seiner Zeit, nicht alleine nationalsozialistisches Sektierertum, sondern schon vormals, seit geraumer Zeit, geisterten Herrenmenschengehabe und Untermenschentum in den Köpfen der Eliten herum. Und dies nicht nur in deutschen Köpfen, sondern überall in der industrialisierten Welt.
Der Sozialdarwinismus, Hand in Hand mit seinem Bruder, dem Evolutionsrassismus, wurde zur Weltanschauung des Bürgertums. Eines Bürgertums, welches sich mehr und mehr als Elite verstand, als Prätorianergarde ihrer jeweiligen Nation. Hierbei berief man sich vorallem auf die Schriften Herbert Spencers, in denen er Mildtätigkeit und Hilfsbereitschaft am Armen als Zeichen von Schwäche wertete. Denn damit würde man den "Kampf ums Dasein" und das "Überleben des Stärksten" unnatürlich beeinflussen und dem Armen (durch Vererbung) zu Vorteilen verhelfen, die für ihn von Natur aus nicht vorgesehen waren - man würde also die Natur verfälschen. Noch Jahrzehnte nach Spencers Tod, würde ein "böhmischer Gefreiter" ganz im Sinne Spencers argumentieren - manchmal so wortgetreu, dass man davon ausgehen muß, dass Hitler Spencers Schriften kannte. Durch Spencer war die Gesellschaftstheorie zum Naturgesetz erklärt worden und die Eliten aller Herren Länder konnten sich wohlig von jeglicher sozialen Verantwortung drücken, konnten weiterhin ausbeuten und Pression ausüben, weil dies ja ausdrücklich dem Naturgesetz entspräche.

Wenn heute selbsterklärte Eliten von "sozial Schwachen" und "bildungsfernen Schichten", wenn sie zudem von sogenannten "Sozialhilfekarrieren" sprechen, die "generationenübergreifend fortgeführt" werden, dann sieht es doch sehr danach aus, als ob eine altbewährte Theorie wiederbelebt worden wäre. Während Friedrich Merz frohen Mutes von "Sozialhilfefamilien" sprechen darf, in denen der soziale Status quasi vererbt würde, fabuliert Oswald Metzger davon, wie Menschen den ganzen Tag betrunken und vollgefressen vor dem Fernsehgerät sitzen, und ihre Kinder zukünftig in gleicher Weise vor sich dahinvegetieren werden. Gleichzeitig erklären die Eliten, dass das deutsche Bildungssystem durchlässig sei, dass jeder eine Chance erhielte, wenn er nur qualifiziert genug sei - dabei außer Acht lassend, dass gerade in Deutschland - so wie nirgends sonst in Europa - kaum Kinder aus der Unter- oder Arbeiterschicht in den Genuss eines Studiums kommen. Die frühe Selektion derer, die auf das Gymnasium gehen werden, der damit vorgezeichnete Weg bereits ab dem zehnten Lebensjahr, will sich die Elite zudem bewahren - eine Einheitsschule, mit der Möglichkeit später höhere Schulen - vielleicht ab der achten oder neunten Klasse - zu besuchen, kommt für sie nicht in Frage. Ihre Kinder sollen dem Elitestatus gemäß geschult werden.

Im Wirken der Eliten, gerade im letzten Punkt betreffend dem Schulsystem, wird erkennbar, dass sie nicht im System oder den Lebensverhältnissen die Grundlage der Ungleichheit erkennen. Mutig genug, im Blut, in den Genen, kurz: in der Vererbung, die mögliche Ungleichheit zu vermuten, sind sie freilich in Zeiten politischer Verbalkorrektheit nicht. Aber der Unterton schwingt mit, wenn sie ganze Familien als faules, nichtsnutziges Gesindel stilisieren, wenn sie Arme zu "sozial Schwachen" degradieren, wenn sie das Schulsystem trotz aller offensichtlichen Mängel als funktionierend betrachten. Schuld ist in ihren Augen nicht die Welt, wie sie ist - nicht das System, nicht Ausbeutung, nicht Unterdrückung, nicht die Armut. Schuld hat das Individuum - in ihm liegt der Grund der Schuldigkeit. Es liegt ihm quasi im Blut, ist seine persönliche biologische Konditionierung und ist, so muß man schlußfolgern, eben Ausdruck seiner Vererbung. Er ist leistungsschwach, weil sein Vater nur Hilfskraft war; er ist dumm, weil seine Mutter die Hauptschule abbrach oder die Sonderschule besuchte - dass Leistungsschwäche und "Dummheit" womöglich auf ein falsches Schulwesen, auf die Armut der Eltern oder auf die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber Unterschichtenkindern zurückzuführen ist, auf diese Idee kommen die Eliten freilich nicht. Dürfen sie gar nicht kommen, wenn sie ihr selbsterrichtetes Weltbild nicht zerstören, wenn sie darin weiter in wohliger Weltentrücktheit leben wollen. Und wie sie eine Karriere, wie die des Albert Camus, erklären wollen, bleibt im Nebel ihrer bornierten Weltsicht gefangen. Denn Camus war Kind einer Analphabetin, die zudem nicht mit großem Intellekt gesegnet war - als Camus 1957 den Literaturnobelpreis erhielt, konnte seine Mutter nicht verstehen, was dies genau bedeuten soll. Würde die Erblehre zutreffen, die so unterschwellig das Weltbild unserer Eliten kennzeichnet, so wäre Camus niemals über den Status eines Hilfsarbeiters hinausgekommen.

Aber man muß es in drastischer Form klar formulieren: Wer heute so auftritt, wer leugnet, dass die reale Welt die Hauptschuld für soziale Ungleichheit trägt, wer damit einem (meist) latenten Sozialdarwinismus frönt, in dem er die Schuld in den Genen des Dummen, Armen, Kranken oder Leistungsschwachen sieht, der ist Bestandteil einer alten Tradition, in der von "Erbungesunden" gesprochen wurde und in der es kein Tabu mehr war, von eugenischen Radikalschritten zu schwärmen. Auschwitz nahm seinen Anfang eben nicht mit Hitlers Machtergreifung, sondern schon lange vorher - der Massenmord an Juden, Sinti und Roma, an Homosexuellen, Kranken und Behinderten, fand bereits Jahrzehnte vorher in den Köpfen der Eliten statt. Und noch etwas ist zu erwähnen: Politische Gegner und Oppositionelle wurden im Dritten Reich verfolgt und als krank betrachtet, als gesellschaftszersetzende Elemente begriffen - der Sozialdarwinismus hat es erlaubt, aus jedem Mißliebigen einen "erbkranken Idioten" zu machen. Mit dieser Scheinwissenschaftlichkeit läßt sich das elitäre Bürgertum seit mehr als einem Jahrhundert blenden - und heute wieder mehr denn je.

Wer sich also in solcher Weise äußert, genauer: wer sich in solcher sozialdarwinistischen Weise äußert, der muß sich gefallen lassen, dass man ihn als Jünger von Auschwitz bezeichnet - als jemanden, der aus der Geschichte nicht gelernt, für die Zukunft nichts begriffen hat. Freilich werden solche Zeitgenossen einen solchen Einspruch nur schwerlich dulden, werden sich soetwas nicht gefallen lassen wollen. Aber hätte man jene Sozialdarwinisten vor der Auschwitz-Ära mit Auschwitz konfrontiert, mit der Zukunft also, die aus dem Sozialdarwinismus erblühte, so hätten sie sich einen Vergleich mit den Zukünftigen auch verbeten. Auch hier stehen die heutigen Jünger ihren Vorfahren im Geiste, in nichts nach...

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Nomen non est omen

Mittwoch, 22. Oktober 2008

Heute: "Sozial schwach/bildungsferne Schichten"
„Angesichts der gestiegenen Energiekosten-Lasten gerade für sozial schwache Menschen werde voraussichtlich ein Bündel von Maßnahmen geschnürt."
- Handelsblatt am 5. Juni 2008 zum Vorhaben der SPD -
"Es scheint für bildungsferne Schichten interessanter zu sein, in etwas zu investieren, was sich lohnt."
- Jörg Dräger, Wissenschaftssenator Hamburgs, bei Spiegel Online am 8. April 2008 -
Um das Wort der Unterschicht und damit ein neues altes Klassendenken zu vermeiden, werden Wortphrasen wie "sozial schwache Menschen" oder "bildungsferne Schichten" bevorzugt. Schließlich gäbe es, laut dem ehemaligen SPD Arbeitsminister Müntefering, in Deutschland keine Unterschichten, sondern nur Menschen, die es schwer haben. Das Schlagwort "sozial schwach" wird als Bezeichnung für Menschen mit wenigen finanziellen Ressourcen verwendet. Da der Begriff jedoch impliziert, dass ein Mensch mit wenig Geld zugleich auch soziale Probleme schürt oder besitzt, wie z.B. Kriminalität, Alkoholkonsum oder mangelnde Kommunikationskompetenzen, ist der Begriff diskriminierend. Einen generellen kausalen Zusammenhang herzustellen, dass wenig Geld gleich wenig Mensch bedeutet, ist menschenverachtend. Ähnlich verhält es sich bei dem verwandten Begriff der bildungsfernen Schichten. Hier werden finanziell schwachen Menschen zugleich unterstellt, sie seien dumm. Bei beiden Begriffen geht es darum finanziell ärmeren Menschen generelle Eigenschaften zuzuweisen ohne sie direkt als arme Menschen oder Unterschicht klassifizieren zu müssen. Sozial schwach sind im eigentlichen Sinne des Wortes eher Menschen, denen das Leid anderer völlig egal ist. Denn sozial bedeutet eben nicht grenzenloser Egoismus und Kosten-Nutzen-Kalkül, sondern Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit und Altruismus. Der Begriff der bildungsfernen Schichten würde eher zu vielen Politikern und Unternehmern passen, deren Sinn für Realität völlig verzerrt ist und die offensichtlich sämtlicher Bildung fern geblieben sind.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Fördern und Fordern

Dienstag, 21. Oktober 2008

Man sollte nicht zu lange zögern, die von Wirtschaftsminister Glos eingeforderte Demut der Banker, auch in einen Gesetzestext zu gießen - nur so kann man Demut auch wirklich erwarten, muß nicht auf eine vage Möglichkeit hoffen, sondern weiß diese rundum gesichert. Dies entspricht übrigens dem herrschenden Menschenbild, das seit Jahrzehnten klarmacht, dass der Mensch eben nicht aus freien Stücken hilfsbereit und gut ist, sondern nur unter Androhung verschärfter Sanktionen. Im Hartz-Konzept nennt man sowas "Anreize schaffen", was soviel heißt wie: den Arbeitslosen mit finanziellem Würgeeisen reizen, ihm die existenzielle Daumenschraube anlegen. Überhaupt wäre das Ausarbeiten eines Demutsgesetzes gar kein großer Aufwand, vielmehr Anpassung als Ausarbeitung, bietet doch das Sanktionierungsrepertoire des Hartz-Konzeptes bereits Grundzüge einer möglichen Verfahrensweise an - man muß also das Rad nicht neu erfinden, hat es im Wesentlichen schon entdeckt.

Zunächst ist der Verzicht auf die Boni freilich ein selbstloser Akt, den wir moralisch honorieren wollen - aber auch nicht zu sehr, denn es ist nur zu selbstverständlich, dass man nach dem Fördern nun auch das Fordern großschreiben sollte. Und dementsprechend erlaubt uns das Hartz-Konzept die Anrechnung von Vermögen. Im § 12 SGB II wird dargelegt, welche Freibeträge zu gelten haben - diese sollen Bemessungsgrundlage sein. Um konkreter zu werden, ziehen wir "das Beispiel Josef Ackermann" heran, und errechnen, wieviel Vermögen diesem Banker bleiben darf, bevor er überhaupt wieder ein Gehalt beziehen dürfte. Da Herr Ackermann knapp nach der Bestandsschutzgrenze (1. Januar 1948) geboren ist, darf er pro Lebensjahr anstatt 520 nur 150 Euro einbehalten. Dementsprechend kämen wir auf ein berechtigtes Vermögen von 9.750 Euro - alles was darüber liegt, muß in den nächsten Monaten - wohl eher Jahren - aufgebraucht werden, bis ihm wieder ein Jahresgrundgehalt zusteht. Bevor Herr Ackermann diese Vermögensobergrenze nicht erreicht hat, ist er also als "nicht anspruchsberechtigt" einzustufen.

Sollte Herr Ackermann wider aller Erwartungen tatsächlich unter dieser Vermögensgrenze liegen, so muß folgend überprüft werden, ob er nicht über seinen Verhältnissen lebt. Dazu wird berücksichtigt, ob Herr Ackermann einen "angemessenen Hausrat" besitzt, ein "angemessenes Kraftfahrzeug (Höchstwert von 7.500 Euro)" und "angemessenen Wohnraum im Privatbesitz" - sollte hierbei unangemessene Verhältnisse vorgefunden werden, z.B. ein Kraftfahrzeug, welches mehr als 7.500 Euro wert ist, so ist der Mehrwert als Vermögen zu berechnen. Dem Hilfebedürftigen wird demnach nahegelegt, sein Kraftfahrzeug zu verkaufen, um sich eines zuzulegen, welches unter der Wertgrenze liegt.

Würde auch nach dieser Prüfung die Obergrenze unterschritten - wider Erwarten natürlich -, so hätte Herr Ackermann Anspruch auf Fortzahlung seiner Gehaltsbezüge. Allerdings abzüglich seiner Nebentätigkeiten und des Gehalts derer, die mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft leben. Sollte Herr Ackermann erklären, in keiner Bedarfsgemeinschaft zu leben, so hat er den Beweis hierfür zu erbringen - dies deckt sich natürlich mit dem negativen Menschenbild, wonach der Mensch nur durch Pression zur Ehrlichkeit und Verantwortungsbewußtsein getrieben werden kann. Hierfür bietet das SGB II die Beweislastumkehr an - dieses ist problemlos auch auf das neue Demutsgesetz anwendbar. Anzumerken sei auch: Falls Herr Ackermann meint, er müsse sein spärliches Gehalt durch Nebentätigkeiten aufpolieren, sind diese umgehend den Behörden zu melden, damit diese sein zugesprochenes Gehalt um den in Nebentätigkeit erzielten Verdienst reduzieren. Hierbei gilt, dass 100 Euro/Monat nicht angerechnet werden, während ein Gehalt von 100 bis 800 Euro/Monat mit 80 Prozent, bzw. ein Gehalt zwischen 800 und 1500 Euro/Monat mit 90 Prozent angerechnet würden. Die Behörde behält sich vor, stichprobenweise zu überprüfen, ob der Bedürftige Schwarzarbeit betreibt.

Generell sollte das Demutsgesetz klar regeln, dass Kontrollen in allen möglichen Bereichen des Bankerlebens stattfinden dürfen - ganz im Sinne der Solidargemeinschaft, die nicht betrogen sein will. Dies bedeutet auch, dass die Privatwohnungen der Bedürftigen durchsucht werden dürfen, Zuwiderhandlungen diesbezüglich mit einer "Sanktion wegen einer Pflichtverletzung" (Mitwirkungspflicht) geahndet werden. Sollte "Sozialmißbrauch im Sinne des Demutsgesetzes" durch eine Wohnungsdurchsuchung nachgewiesen worden sein - eventuell durch gehortete Vermögensbestände oder aufgefundenen Lohnzetteln von nicht angegebenen Nebentätigkeiten -, so hat der Bedürftige ebenso mit einer Gehaltsminderung von 30 Prozent zu rechnen. Bei einer erneuten Pflichtverletzung sogar mit 60 Prozent - ab einer Minderung von 30 Prozent können allerdings bei der Behörde Sachleistungen - z.B. Lebensmittelgutscheine - beantragt werden, die auch erteilt werden, sofern in der Bedarfsgemeinschaft Kinder leben. Zusätzlich sollen "Verstösse gegen die Mitwirkungspflicht" durch Strafanzeigen wegen Leistungsbetruges geahndet werden.

Dies soll nur ein kleiner Rahmen sein, in welchem sich ein solches Gesetz einbetten ließe. Nun liegt es an der Politik, ebenso schnell tätig zu werden, wie beim Beschluss, das Milliardenpaket zur Verfügung zu stellen. Lange Vorarbeit müßte gar nicht geleistet werden, denn die Hartz-Kommission von 2002 hat hervorragend vorausgearbeitet - viele Passagen des SGB II könnten 1:1 übernommen werden. Warum also nur an den guten Willen appellieren, wenn man diesen mit allerlei Pressionsmittelchen erzwingen kann? Dieses Hartz-Konzept könnte in vielen Bereichen gelten - auch bei der Grundsicherung für Banker. Man hat gefördert, nun soll auch noch verbindlich gefordert werden. Nicht um Demut bitten, sondern abnötigen; nicht vom Guten und Vernünftigen im Menschen ausgehen, sondern vom Verschlagenen und Hinterlistigen in ihm; nicht Freiwilligkeit, sondern Zwang - das SGB II könnte dafür Pate stehen!

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De dicto

Montag, 20. Oktober 2008

"Die viel gescholtene Große Koalition zeigte Größe und verzichtete auf kleinliches Gezerre, wem das größte Lob gebühre: der CDU-Kanzlerin oder dem SPD-Finanzminister. [...] Die oppositionelle FDP ließ sich – anders als Grüne und Linke – in die Pflicht nehmen und stimmte zu."
- BILD-Zeitung, Hugo Müller-Vogg am 19. Oktober 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Als vor Monaten über die steigenden Lebensmittelpreise berichtet wurde, und in Verbindung damit mit den kaum noch schulterbaren Lebenshaltungskosten für Rentner und Empfänger des Arbeitslosengeldes II, da hat Müller-Vogg nicht zur Eile getrieben, sondern zu Bedachtsamkeit geraten, als Stimmen laut wurden, die eine Anpassung von Renten und Arbeitslosengeldern forderten. Da waren die langwierigen Wege, die so ein Beschluss in Anspruch nimmt, nicht relevant, sollten keinesfalls verkürzt und verknappt werden. Man wolle eben ruhig prüfen, nichts überstürzen, langsam aber korrekt nachrechnen - und dann schauen wir eben weiter. Den Beziehern von kleinen Renten und den Arbeitslosen ging und geht es immer noch um die Existenz, während die Existenzen der Banken innerhalb einiger weniger Tage gerettet waren.

Welche Vorstellung von Demokratie im Kopfe des Müller-Vogg herumspukt, läßt sich eindeutig aus seinen Zeilen herauslesen. Das Parlament hat sich demnach nicht aus verschiedenen politischen Sichtweisen zusammenzusetzen. Trifft dies aber doch zu, so haben alle an einem Strang zu ziehen und die schwächeren Positionen - überlicherweise die der Opposition - haben ihre Bedenken aufzugeben und sich einzureihen. Deine Weltsicht ist nichts, Einigkeit und Burgfrieden sind alles! Weil sich die beiden Koalitionspartner ausnahmsweise nicht stritten - was sie sowieso selten tun und wenn, dann nur um den Bürgern deutlich zu machen, dass man doch noch nicht eine Einheitspartei darstellt -, weil sie schnell und ohne Umwege das Rettungsgesetz einleiteten und verabschiedeten, sei diese Demokratie funktionstüchtig. Ob im Schnellverfahren sachliche Fehler gemacht wurden, womöglich bestimmte Kritikpunkte gar nicht erst aufgeworfen wurden, in aller Eile für solche irgendwann einmal teueren "Nebensächlichkeiten" keine Zeit mehr war, interessiert das Kanzler-Zäpfchen natürlich nicht.

Was Müller-Vogg hier als Demokratie durchgehen lassen will, ist jene konservative Verunglimpfung des Parlamentes, wie sie in der Weimarer Republik stattfand. Da sprach man von der "Plauderbude", von denen, die viel reden aber nicht handeln, von der "schwachen Demokratie", die es nicht erlaube, einen starken Führer zu installieren, der die Lethargie der Republik mit einem Handschlag hinfortwischt. Es erinnert in besorgniserregender Art und Weise an solche hartgesottenen Antidemokraten der damaligen Epoche, wenn Müller-Vogg nun so tut, als sei eine Demokratie nur dann funktionstüchtig und wirksam, wenn in ihr nicht geredet, gestritten, beratschlagt und sich auch einmal nicht geeinigt wird, sondern nur eine solche, in der man keine Parteien mehr kennt, sondern nur noch die Einigkeit zugunsten der Wirtschaft - kurzum: anstatt demokratischer Streitkultur, ist nur der kritiklose Konsens als Demokratie zu werten. Das Parlament also nicht mehr als Sammelbecken verschiedener Interessen, sondern als Gleichmacher politischer Weltanschauungen; als Gleichschaltungsinstitution, die vorgaukelt, dass subjektive Sichtweisen keinerlei Anrecht habe im Angesicht des herrschenden Klimas.

Und nachher sind es ausgerechnet solcherart feine Herren, die in Lafontaine und Gysi vulgäre Antidemokraten erblicken wollen...

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Mehr Sokrates wagen...

Ich weiß wenig - dessen bin ich mir bewußt. Manchesmal weiß ich auch gar nichts. Obwohl ich wenig, manchmal nichts weiß, bin ich doch nicht unwissend. Was mir in meinem beschränkten Wissen bleibt, ist die Einsicht, dass ich nicht alles was es zu wissen gibt, auch wirklich wissen kann. Dies ist nicht nur ein kümmerlicher Trost, reaktiviert aus der antiken Philosophie, sondern eine Weisheit, die darüber hinwegtröstet, dass wir alle - alle Menschen die es je gab, gibt und noch geben wird -, niemals alles wissen können, was sich an möglichem Wissen in der Welt herumtreibt. Diese beschränkende Tatsache, dieser "Trost im Negativen", verbindet den Obdachlosen mit Albert Einstein, Thomas Mann mit Dieter Bohlen, ist unser aller "täglich Brot". Irgendwann stoßen wir alle auf unsere Grenzen; wissen individuell betrachtet vielleicht viel, doch auf die Gesamtheit der Wissensmöglichkeiten gerechnet, äußerst wenig, nur einen verschwindend geringen Anteil. Die Gewißheit, nicht alles wissen zu können, die eigene Beschränktheit also, tröstet sich damit, dass man nicht alleine in seiner Begrenztheit ausharren muß, sondern diesen Mangel mit jedem Menschen teilen darf.

Zuzugeben etwas nicht zu wissen, scheint heutzutage ein Frevel am Zeitgeist zu sein. Zu jedem Thema werden Prominente, durchaus nicht nur Menschen aus der Politik, sondern querbeet durch alle Nischen der Alltäglichkeit, befragt und um "Analyse" gebeten. Kaum einer von denen, vielleicht sogar keiner, gibt zu, dass er zu bestimmten Themen keinerlei Ansichten hat, weil es einfach an Informationen mangelt, weil das Wissen also spärlich ist. Dabei kommen nicht selten unqualifizierte Aussagen heraus; Scheingedanken, die besser nie den Weg zur Schallwelle angetreten hätten. Und wieviele Politiker gibt es, die ihr Nichtwissen hinter hohlen Phrasen und maßgeschneiderten Sinnsprüchen verstecken? Oder die sich zu Diskussionsgegenständen, von denen sie offensichtlich wenig wissen, über den sophistischen Ausweg der Themenverfehlung herauswinden, Diskussionen in andere Richtungen bugsieren, um bloß nicht beweisen zu müssen, dass sie in Unwissenheit darben? Hat man schon einmal gehört, dass sich einer dieser Zeitgenossen dahingehend äußerte, zu diesem Thema keine Aussage treffen zu wollen, weil erst noch Informationsbedarf das Nichtwissen verdrängen soll? Hat man schon mal wahrgenommen, dass einer dieser Immerwissenden zugab, sich einstmals geirrt zu haben?

Und so wie vermeintlich wichtige Menschen dieser Gesellschaft zu jedem Thema ihren Rüssel in die Kameralinse drücken, so versucht man den Bürgern auch im Kleinen, in Alltag, das Nichtwissen auszutreiben. Nicht indem man sie bildet, somit Wissen aufblühen läßt, sondern indem man sie dazu ermutigt, das Nichtwissen penibel zu kaschieren. Bewerbungsratgeber erklären einem dann, dass man bei einem Bewerbungsgespräch Fragen nicht mit einem "Ich weiß es nicht" beantworten soll, sondern sich aus der Situation winden muß - herumlavieren und ja nicht zu konkret werden. Das Nichtwissen sei ein Makel, den man sich bei einer Bewerbung nicht leisten dürfe. Andere Ratgeber in Buchform trimmen für das Berufsleben, erklären lang und breit, wie man fehlendes Wissen ausgleicht, wie man ohne ein peinliches Eingeständnis seinen Arbeitstag bewältigen kann, kurz: wie man Nichtwissen als Kompetenz verkauft. Bloß keine Schwäche zeigen, heißt es da, als ob das Wissen über die eigene Wissensbeschränktheit ein abnormer Makel sei, mit dem nicht jeder herumzukämpfen habe - eine Schwäche die als unerlaubt zu gelten habe. Die Wissensgesellschaft, wie sich diese Gesellschaft arroganterweise selbst bezeichnet - obwohl öffentliche Berichterstattung eher auf Verdummung, d.h. Nichtwissen aufbaut -, erklärt jene, die offenherzig genug sind ihr Nichtwissen zuzugeben, zu Schwächlingen und Verlierern.

Wie beschränkt fühlen sich Menschen, wenn sie täglich mitansehen müssen, dass prominente Zeitgenossen zu jedem Thema Wissen versprühen. Dass die dann geäußerten Aussagen nur peinliche Beweise für deren zum Wissen stilisiertes Nichtwissen ist, bleibt freilich unkommentiert. Wünschenswert wäre, dass auch einmal jemand in der Politik zugäbe, er wäre derzeit ohne Wissen in einem bestimmten Bereich des öffentlichen Diskurses, hätte sich erstmal zu informieren. Diese sokratische Einsicht würde sicherlich nicht abstossen, sondern die Abgehobenen zurückführen zu denen, für die sie eigentlich engagiert sein sollten. Ach, wüßten sie doch einmal, dass sie nicht wissen - das würde die öffentliche Diskussion befruchten, wäre demokratischer als jenes Wissensgetue, mit dem wir heute ständig konfrontiert werden. So aber schweben sie über allen Sphären, liebkosen ihre immer gleich klingenden Phrasen, reden viel und sagen nichts, wähnen sich wissend in allen Themenkomplexen. Aber in der heutigen Form von Meinungsmache, die ja verdeutlichen will, dass man zu jedem Problem eine Antwort anbieten könne - Antwort, die die Machthabenden vorgeben, deren Interessen fördern -, wird aber ebendiese Hoffnung, wonach auch mal gesagt werden dürfe, dass man nichts wisse, unbefriedigt bleiben müssen. Dies wäre ja, mit den Wortes Sokrates' - in Platons Politeia -, der Staat der Philosophen - etwas, was in dieser Phase der menschlichen Historie nicht umsetzbar scheint.

Kurzum: Der Mensch sollte in diese Tagen sozialer Eiseskälte, in der er wie eine Nummer behandelt wird, sich dazu bekennen, auch wieder menschliche Schwächen zugeben zu dürfen. Denn diese gehören zum Menschsein, wie die objektive Analyse zur Wissenschaft gehören würde. Aber ohne menschliche Schwächen, die auch Schwächen sein dürfen, wird der Mensch mehr und mehr zu einem Maschinendasein verurteilt, in dem nur die Leistungskraft und Stärke relevant ist. Der Weg in die Opposition wider dem Zeitgeist, ist ein Eingeständnis des sokratischen Ausspruches, wonach man wisse, dass man eigentlich nichts wisse. Die Abkehr von der medialen Massenverdummung setzt Zweifel voraus, aber auch die bittere Einsicht, jahrelang wahrscheinlich nichts wirklich und wahrhaft gewußt zu haben. Der Zweifel wird dann - als in Opposition stehender Mensch - zum steten Begleiter und flüstert einem immer wieder ins Ohr, dass man wissen sollte, eigentlich nichts zu wissen. Skepsis muß uns immer wieder zum Nachdenken, Überprüfen und notfalls Verwerfen führen. Mit dem Wissen von menschlicher Wissensbeschränktheit entlarvt man auch jene als peinliche Gestalten, die immer und überall den Wissenden mimen, zu jedem Thema das Gesicht in die Kamera halten, um ihre unerklärliche Allwissenheit zu präsentieren.

Trotz ihrer vorgegaukelten Stärke, trotz dieser Allwissenheit die zur Schau gestellt wird, sind sie genau genommen keine Exponenten der "Schwächenkaschierung", sondern frönen selbst einer menschlichen Schwäche - der Eitelkeit! Es gibt kaum etwas Verlachenswerteres, als einen erwachsenen Menschen, der sich in seiner offensichtlichen Eitelkeit zu wichtig nimmt...

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Ablaßhandlungen

Samstag, 18. Oktober 2008

Drei Beispiele - drei Fälle von Symbolik. Folgend drei aktuelle Geschehnisse, die den Anschein von Toleranz aufrechterhalten, Ausdruck von repressiver Toleranz sind. Dreimal wird dem Zeitgeist Ausdruck verliehen, wird er mit der beruhigenden Scheintatsache genährt, wonach der öffentliche Diskurs als Grundlage demokratischer Veränderungsmöglichkeit noch funktioniere und auch Früchte trage. Dreifach erzeugte Bestätigung dafür, dass das Ausleben differenter Meinung und damit einhergehend die "Vernunft der Minorität" eine Heimstatt in dieser Gesellschaft habe.

Erster Fall: Nun hat Marcel Reich-Ranicki gründlich darlegen dürfen, was ihm am Fernsehen so übel aufstößt. Sagen wir so: Er hätte es gedurft, wenn er nur konkret geworden wäre. Doch er sprach lediglich davon, dass sich die Fernsehmacher "mehr Mühe geben" sollten - alleine damit meinte er seine Kritik begründet zu haben. Kein Wort zu den Sendekonzepten, die das tiefgründig Blödsinnige erst an die Oberfläche lassen, die Menschen zu immer profunderen Scheußlichkeit animieren; kein Wort zu Modelsuchereien, zu mit Bohlen-Sprüchen verunglimpften Jugendlichen, zu Konzepten die da lauten "Drei Bewerber, eine Stelle" - von den wirtschaftlichen und politischen vorgeprägten Sendungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten war sowieso gar keine Rede. Statt über die soziologischen Folgen dieser Fernsehenlandschaft zu sprechen, anstatt die offensichtliche Konditionierung der Zuseher aufzugreifen, wurde eben nur banal über Wert oder Unwert des Fernsehprogrammes gesprochen, jede Konkretheit derart vermieden, wie der Teufel das Weihwasser meidet. Aber einerlei: Bewiesen wurde hiermit, dass differente Meinung auch ins Fernsehen transportierbar ist, dass sich dieses nicht abschottet, sondern offensiv an Kritik herangeht und Kritikern auch ein Forum bietet. Gegenöffentlichkeit sollte damit bewiesen werden! Ob es wirklich Gegenöffentlichkeit war, ob demokratische Strukturen Wirkung zeigen werden, indem kritische Anmerkungen zur Besserung des "kranken Mannes" weitergeleitet werden, steht wiederum auf einem anderen Blatt - wahrscheinlich aber eher auf gar keinen Blatt. Reich-Ranickis halbstündiges Nichtkonkretwerden war der Ablaßhandel des Fernsehens gegenüber dem kritischen Betrachter.

Zweiter Fall: Da verzichtet der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, auf seine Bonuszahlungen in Millionenhöhe und kehrt dies freilich auch zielgerichtet in die Öffentlichkeit. Jeder soll schließlich erfahren, wie geläutert die Bankenbranche doch ist, wie einsichtig man nun zu Kreuze kriecht. Das ackermannsche Heldenstück soll verdeutlichen, dass gerade jene, die die Krise mitverursacht haben, fortan spartanischer leben werden, nurmehr einen einstelligen Millionenbetrag einstreichen werden, anstatt - wie es zur Gewohnheit wurde - einen zweistelligen. Die Millionenzahlungen der letzten Jahre, die Ackermann und seine Kollegen sich eingeschoben haben - 2004 waren es z.B. 10,1 Millionen Euro; im Jahre 2005 gar 11,9 Millionen Euro! -, finden im öffentlichen Diskurs um die Reue der Banker freilich keine Erwähnung. Dass mit dem Ersparten dieser Herren, den Summen, die sie sich selbst erteilt haben, während ihre Mitarbeiter um ihre Arbeitsplätze fürchten mußten, ein Großteil des staatlichen Geldpaketes bezahlt werden könnte, wird nicht als mögliches Thema der Öffentlichkeit angeschnitten. Und warum auch? Offensichtlich funktionieren die demokratischen Mittel dieser Gesellschaft wunderbar - die Reue beweist es! Man hat jahrelang geplündert und wurde dafür auch noch von Seiten einer orientierungslosen Politik verteidigt - und nun da die Lage prekär wird, leistet man öffentlich Abbitte, bezahlt seinen Ablaß, und ist abermals der Held.

Dritter Fall: ARD und ZDF haben sich entschieden, die Tour de France im nächsten Jahr nicht mehr zu berücksichtigen. Die jüngsten Dopingskandale haben die Einsicht entstehen lassen, dass man einem solch schmutzigen Sportspektakel keine Beachtung mehr schenken sollte. Natürlich ernten die beiden öffentlich-rechtlichen Sender dafür Zuspruch und Lob, sogar von Mut wurde gesprochen. Dass dieses Aus der Berichterstattung zu einem Zeitpunkt geschieht, da Deutschland keinen hoffnungsvollen Gewinnertyp im Radsport vorweisen kann, in einem Moment, da die deutsche Gewinnergeneration entweder im Ruhestand ist oder eine Dopingsperre absitzt - oder auf selbige wartet -, findet in der Öffentlichkeit kein Sprachrohr. Wäre es der ARD und dem ZDF um die Sauberkeit des Radsports gegangen, hätten sie sich spätestens im Jahre 1998 zurückziehen müssen. Damals, dem Siegerjahr Marco Pantanis, überführte man das gesamte Festina-Team des Dopings, traten alle spanischen Radfahrer die Heimreise an, weil sie sich von der französischen Polizei mißhandelt fühlten (nächtliche Durchsuchungsorgien, brutale Verhaftungen etc.). Doch seinerzeit gab es einen deutschen Hoffnungsträger, der während der Tour 1998 auch noch der amtierende Toursieger des Vorjahres war - Jan Ullrich. Zudem hatte dieser auch noch Siegchancen für das Rennen 1998; und Radsportexperten sagten dem jungen Talent eine glorreiche Zukunft voraus, die ihn womöglich zum Rekordsieger der Tour de France machen könnte. Zwar wurde aus dieser Prognose nichts und nach 1997 folgte kein Tour-Sieg mehr, aber damals konnten die öffentlich-rechtlichen Sender dies nicht wissen. Warum also damals aussteigen, wenn Ullrichs Zukunft eine maßlose Sendequote bescheren konnte? Jedenfalls war 1998 das Skandalpotenzial genauso groß wie heute. Aber jetzt, da Deutschland niemanden mehr hat, der irgendetwas bei der Tour gewinnen kann, und sei es "nur" ein grünes Trikot - Stefan Schumacher wird wohl gesperrt, Erik Zabel ist in Rente etc. -, rückt man von der Berichterstattung ab. Aber wen kümmern die wahren Motive? Hauptsache ist doch, dass die beiden Sender Moral bewiesen haben , dafür selbst auf die horrenden Zuschauerzahlen - die wegen fehlender deutscher Siegchancen gar nicht mehr so horrend waren - verzichten. Mit dem vorgeschobenen Dopingargument betreiben die beiden Sender ihre Form des Ablaßhandels und winden sich aus einer Berichterstattung, die ihnen mangels deutscher Gewinnchancen nurmehr lästig erscheint.

Drei Beispiele für scheinbar gegenöffentliche Positionen in der Öffentlichkeit, die bei genauem Hinsehen deutlich machen, dass nichts davon gegenöffentlich ist - sie sind Ausdruck der gleichen Eindimensionalität, mit der der Konformismus vollzogen wird. Sie glänzen mit derselben Inhaltslosigkeit, mit der die konformistischen Positionen glänzen; sind nicht Ausdruck gegenöffentlicher Denkweise, sondern Öffentlichkeit von der anderen Seite; sind Mahnmale der repressiven Toleranz, die uns vorgaukelt, es stünde demokratischerweise alles zum Besten, während an der Aushöhlung des Rechts- und Sozialstaates fleißig weitergewerkelt wird. Dreifacher Ablaßhandel gegenüber der Öffentlichkeit - verkauft als basisdemokratische Gesinnung; dreifache Reinwaschung im Angesicht der Öffentlichkeit.

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Ridendo dicere verum

"Von der Opposition in die Regierung
Eine Allegorie mit zwei Eseln

Vor einigen Wochen oder Jahren eilte ich die belebte Hauptstraße hinunter, denn ich hatte einen äußerst wichtigen Termin, und plötzlich, ganz plötzlich stellte ich mit Entsetzen fest, welche Ausmaße der Verkehr genommen hat. Ich mußte meinen ganzen Mut zusammennehmen, um mich über eine Kreuzung zu wagen, denn unsere übergeschnappten Autofahrer halten Fußgänger offenbar für Freiwild. Arrogant lümmeln sie hinter dem Steuer, während sie grundlos auf die Hupe drücken, nur, um sich am Schrecken der Fußgänger zu weiden. O Gott, fast hätte mich dieser schwarze Wagen überfahren. Ein Sprung rückwärts. Ein Sprung vorwärts. Wie ein besoffenes Huhn. Stop. Mit ohrenbetäubendem Kreischen hält dieser Depp. Wo brennt's denn? Wieso hat der's denn so eilig? Ich verstehe kein Wort von dem, was der Idiot mir zubrüllt. "Esel", schreie ich sicherheitshalber zurück. "Einen Fahrer wie dich sollte man notschlachten!" Was, er hält an, er steigt aus? Ach, das ist doch mein guter Freund Jossele, Schalom Jossi, wie nett. Er will mich mit nehmen. Wirklich lieb von ihm. Ich setze mich neben Jossi, na los, gib Gas, mein Junge. Ich bin schon spät dran. Kannst du nicht ein bißchen schneller fahren?
Natürlich kann er nicht. Wenn Jossi nur ein klein wenig aufs Gas drückt, springt ihm an der Kreuzung gleich irgendein übergeschnappter Fußgänger vor die Räder, vorwärts, rückwärts, wie ein besoffenes Huhn. Habt ihr denn keine Augen im Kopf? Was habt ihr's denn so eilig? Wo brennt's denn? O Gott, fast hätte sich dieser Kerl überfahren lassen! Wie ein Schlafwandler rennt der herum. Da hilft nur noch lautes Hupen. Hup noch lauter, Jossi. Stop! Im letzten Moment konnten wir mit quietschenden Bremsen anhalten. Jetzt fällt der Depp doch glatt auf die Schnauze. Wie witzig. Und wagt es auch noch, den Mund aufzumachen. "Idiot!" schreit er. Man sollte dich wirklich alle Fußgänger notschlachten. Ich verstehe kein Wort von dem, was der brüllt, aber ich schreie "Esel!" zurück, sicherheitshalber..."
- Ephraim Kishon, "Wer's glaubt, wird selig" -

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Neues Heldentum

Freitag, 17. Oktober 2008

Wen die Medien, so wie sie seit einigen Jahren berichten und unterhalten, reinwaschen und hofieren, muß gerade in diesen Tagen, da das Fernsehen in zaghafter Kritik steht - (Es wird ja nur der "Eklat" Reich-Ranickis behandelt, nicht aber der Grund der Kritik, der sich in stumpfsinniger Unterhaltung und oberflächlicher Berichterstattung deutlich macht.) -, ausgesprochen werden. Wer sind die Sieger einer solchen TV-Landschaft, oder besser: wer sind die Sieger einer solchen Medienlandschaft als Ganzes? Da gibt es viele Gruppierungen, die als Saubermänner und Weltenretter stilisiert werden. Politiker werden kaum noch kritisch beäugt, sofern sie nicht Mitglieder der LINKEN sind; Wirtschaftsbosse werden, wenn überhaupt, nur dezent kritisiert und dann auch nur, wenn sie sich krimineller Handlungen hingeben; angeblich unabhängige Wissenschaftler können ihre Thesen ohne Gegenwehr hinausposaunen. Weniger offensichtlich, doch durchaus erkennbar, wird jene Gruppe hofiert und medial geadelt, die den Interessen dieser Herrschaftskasten unmittelbar untergeben ist - der Büttel!

Kaum ein TV-Sender, der in seinem Programm nicht einen Büttel beim Dienst begleitet. Da werden Widrigkeiten behandelt, Sanktionen ausgesprochen, manchmal nur von oben herab vermahnt, in seltenen Fällen sogar Handschellen angelegt. Meist handelt man dabei gegen die Wehrlosen, Ausgebeuteten und Armen dieser Gesellschaft. Gleichheit in ihrer stumpfsinnigen Sanktionierungswut beweisen lediglich diverse Politessen, die jeden mit Verwarngeldern belegen, unabhängig vom gesellschaftlichen Status. Und freilich mag mancher Fall gerechtfertigt, manche Handschelle am richtigen Handgelenk befestigt sein - doch ob dies Entertainment sein soll, und ob nicht oftmals der lieben Kamera wegen grober verfahren wird als nötig, bleibt zu fragen. Was aber deutlich wird: Der Büttel ist salonfähig geworden, seine Dienste haben Vorbildfunktion bekommen, werden im Wohnzimmer bejubelt und gefeiert, sind Ausdruck freiwilliger Unterordnung unter herzlose Paragraphen und eiskalte Gesetzestexte.

Der Büttel, der willfährige Helfer und Helfershelfer von Herrschaftsinteressen hatte einstmals keinen guten Ruf. Er war als tumber Bediensteter, war als gefügiger Lakai berüchtigt, der immer dann Männchen machte, wenn es sein Herr von ihm verlangte. Eigenständiges Denken, Skrupel oder Mitleid waren nicht seine Stärke, ganz konträr sogar: ein freidenkerischer und mitleidiger Büttel galt als schwacher Vertreter seiner Zunft. Mit schrittweiser Umsetzung des bürgerlichen Staates sollte dieser Typus des Helfers verschwinden - zumindest theoretisch. Jetzt sollte er Dienst am Bürger tun, nicht bevormunden und bestrafen, sondern als hilfreicher Partner desjenigen, der ein Anliegen an der Gesellschaft hat, zur Seite stehen. Da der bürgerliche Staat immer der Staat der Bourgeoisie, nur sehr geringfügig solcher des Citoyens war, war für die armen und ausgebeuteten Bittsteller selten Freundlichkeit und Partnerschaft zu erwarten. Die Eiseskälte der Büttelei von einst, hatte sich in die Dienstzimmer der Beamtenschaft geschlichen und wie eine Konstante durch die Zeiten gezogen - Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel.

Und ausgerechnet jetzt, da man allerorten von höheren Druck spricht, mit dem man den Bittsteller belasten sollte, da man von höherem Sanktionierungspotenzial schwelgt, da man härtere Strafen für allerlei Taten fordert, wird der Büttel zum allabendlichen Helden umgedeutet. Wenn die Kamera ihn begleitet, dann werden Stromleitungen gekappt, Regelsätze beschnitten, Ordnungswidrigkeiten mit aller Härte des Gesetzes geahndet - und nebenbei werden aus Opfern der Gesellschaft die Verbrecher und Totengräber derselbigen kreiert. Wenn dann mit eiskalter Mimik und noch kälteren Hindeuten auf das Gesetz - wofür man als Büttel ja nichts kann - Mitschuld von sich weist, dann erzeugt man ein Szenario der Schadenfreude, anstatt zu fragen, warum der gerade sanktionierte alkoholisierte Leistungsempfänger möglicherweise dem Alkohol zuneigt. Wenn man der gesellschaftlichen Eiseskälte ausgesetzt ist, wird mancher vielleicht nur im Schnaps ein wirksames Wärmemittel entdecken. Passend dazu reichert man die Reinwaschung dieser Zunft auch damit an, dass man terminologische Neuschöpfungen schafft - Euphemismen, die z.B. einen "Fall-Manager" auferstehen lassen, der vermuten läßt, der zuständige Büttel würde sich eines Falles - eines Bittstellers also - mit allem Interesse widmen, würde jeden speziellen Fall konkret und nicht mit Gleichmacherei begegnen.

Opfer oder Täter? - Diese Frage wird heute nicht mehr als selbstverständlich in den Diskurs der Gesellschaftskritik geworfen. Ist der, der Helfershelfer perverser Herrschaftsstrukturen ist, selbst nur Opfer? Oder ist er qua seines Standes als Vernunftsträger, als mündiger Mensch, bewußt und daher "semi-kriminell" involviert? Aber die humanistische Einsicht, dass jemand der klaren Verstandes ist, nicht teilnehmen will an Enteignung, Drangsalierung und Bestrafung, kann man nicht einfach von der Hand weisen. Und das stete Hindeuten auf Gesetzespassagen und Regelwerke, auf die man ja keinen Einfluß habe, die man nicht einfach umgehen könne, weil Ordnung eben sein müsse, scheinen eine billige, freilich auch willkommene Ausrede zu sein. Es ist, in aller Radikalität formuliert, das "Eichmännertum" des heutigen Büttels, welches gefügig ohne Widerrede denen folgt, die menschenverachtende und undemokratische Verfahrensweisen ersinnen. Da wird dann nicht selbst durchdacht, bewertet und mit dem Gewissen ausgefochten, sondern einfach abgesegnet und zynisch umgesetzt. Freilich, sie schicken nicht wie jener Technokrat aus anderen Tagen, Menschen massenhaft zur Vernichtung - sie handeln nicht mit Massen, sondern behandeln Schritt für Schritt, Fall für Fall, Mensch für Mensch. Und sie vernichten auch "nur" auf Raten, gerade so langsam, dass man juristisch nicht von Mord sprechen kann. Sie entziehen nur das Brot, lebenswerte Wohnverhältnisse, erschweren medizinische Versorgung, entziehen Mitmenschlichkeit, treiben manchmal zum Selbstmord - stossen aber kein Messer zwischen die Rippen.

Es ist schon ein seltsamer Held, der da medial verbreitet wird. Einer, der dem Heldentum aus der Literaturgeschichte so gegensätzlich gegenübersteht, dass keinerlei Gemeinsamkeiten mehr zu verzeichnen sind. Der Held alten Typus war rebellierend, revolutionär, hatte sein eigenes Denken zum Maßstab seines Handelns erkoren. Dies hat ihm die Feindschaft der ganzen Gesellschaft eingebracht, weswegen er verschmäht wurde, verachtet und verstossen! Zu guter Letzt erkannte diese Gesellschaft aber - manchmal allerdings schon nach Ableben des Einzelgängers -, dass dieser Individualist richtig gehandelt hatte, dass er heldenhaft zu seinem Einzigartigsein stand. Der Held des Vorabends, der Protagonist des Büttel-Fernsehens, stand im Gegensatz dazu, niemals der Gesellschaft kritisch gegenüber oder war gar von dieser ausgestossen. Er agiert im Namen dieser Gesellschaft, verurteilt und sanktioniert im Namen des Volkes. Sein eigenes Denken ist nie Maßstab - dies übernimmt der Vordenker, der Gesetze und Regeln entwirft, nach denen er sich strikt zu halten hat. Der Vorabend-Held ist daher ein Anti-Held - kriecherisch, fern eigener Denke, menschenverachtend und zynisch. Der alte Typus des Heldentums handelte, weil sein Handeln ihm als einzig richtiger Weg erschien; er nahm dafür Nachteile ihn Kauf; das Büttel-Heldentum allerdings tut und macht, um diese Nachteile nie am eigenen Leib erfahren zu müssen.

Es wirft ein trauriges Licht auf die Gesellschaft, wenn man stupide sanktionierende Büttel zum Vorbild stilisiert, quasi die verbeamtete Eiseskälte zum neuen Leitbild des neuen Menschen, der neuen Gesellschaft verklärt. Das Ekelhafte der TV-Landschaft rekrutiert sich vorallem daraus, das Nicht-Denken und den alltäglichen Nihilismus zum Zentrum der Unterhaltung zu machen, aus welchem sich wiederum eine Stimmungslage heranzüchtet, die auf eine gesamte Gesellschaft übergreift - die Stimmung der sozialen Kälte und der obrigkeitstreuen Mitläuferschaft. Was damit außerhalb jeglichen öffentlichen Diskurses bleibt, ist kritische Betrachtungsweise, Verweigerungshaltung, ethische Kategorien und der Mut, sich auch einmal seines eigenen Verstandes zu bedienen. Neben der Verdummung durch Nichtigkeit, erwächst aus dem Unterhaltungsapparat, der verdummte, kriechende und nihilistische Bürger einer schönen neuen Welt. Wie John Locke ein Vordenker der Aufklärung, oder Jean-Jacques Rousseau des Sozialismus war, so ist der gemeine Büttel der Vormacher des neuen Menschentypus, wie ihn sich die Herrschenden dieser Erde vorstellen...

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