Armut für alle!

Sonntag, 12. Oktober 2008

Viele Jahre lang mußte man verärgert zusehen, wie um des shareholders value willen prekäre Lebensverhältnisse, und damit in letzter Konsequenz Armut, erzeugt wurden. Von Lohnzurückhaltung wurde gepredigt, ebenso von notwendigem Personalabbau und der unumgänglichen Verschlankung des Sozialstaates - alles des großen Zieles wegen: des Wohlstandes. Dieser Wohlstand war aber nur Lebensrealität einer kleinen Schicht, die sich nach oben hin abgesetzt hat - für "die da oben" wurden Wohlstände geschaffen, die man eigentlich allen versprochen hatte. Maßlosigkeit war das Leitmotiv jener Wohlständler, die immer engere Gürtel predigten, um weitere Schichten Goldes über ihre Türgriffe und Wasserhähne überziehen zu können. An ihr Verantwortungsgefühl hat man zuweilen appelliert, etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit eingefordert, die wenigstens ein kleines Stück des Wohlstandes auch an "die da unten" ermöglichen sollte. Man hat gewarnt, gehört wurde man aber nicht - und wenn doch, dann hat man keck gelächelt und einen ewiggestrigen Sozialromantiker aus dem Moralisten stilisiert.

Dass sich die Mitspieler der Oberschicht dagegen gewehrt haben, mag zwar nicht moralisch sein, ist aber in Anbetracht der ideologischen Verblendung, in der sie wie Vieh gehalten wurden, wahrscheinlich nachvollziehbar. Was aber weniger nachvollziehbar war, was aber stets Hand in Hand mit der Propaganda "von oben" ging, war die Tatsache, dass die sogenannten Mittelschichten, Menschen die in Lohnarbeit standen, sei diese auch noch so dürftig, zu großen Teilen die hoheitlichen Dogmen schluckten und sogar noch nachbeteten. Die Hetze gegen Arbeitslose, die zuweilen ein unerträgliches Maß an Menschenverachtung annahm, ist nur dann zu begreifen, wenn man sich bewußt macht, dass sie gerade bei den Mittelschichtlern nicht auf taube Ohren stieß. Gerade aus diesem Lager wurde gerne mit dogmatischen Sinn- und Merksprüchlein der Oberschichten herumgeschmissen, wurden Anfeindungen goutiert und täglich auch umgesetzt. Eine breite Front innerhalb der sogenannten Mittelschicht hat sich, egal aus welchen Gründen - ob aus Dummheit, Boshaftigkeit, Mitläufertum -, zum Handlanger und Büttel der herrschaftlichen Maßlosigkeit aufgeschwungen.

Nun bricht eine Krise über die Weltgesellschaft herein, vorallem über die westlichen Industriegesellschaften, wie sie von denen, die die Warnungen nicht hören wollten, nie erwartet worden wäre. Die maßlosen, jetzt aber nach dem Staat rufenden, ansonsten aber in Schweigen gehüllten Oberen dürften relativ gesichert sein und keine lauernde Armut befürchten müssen. Aber die Büttelschicht, diejenigen, die einst auf die Ärmsten der Gesellschaft gespuckt haben, die dürfen sich nun die Dogmen ihrer Herrn selbst vorbeten und versuchen nach dieser "Philosophie des Egozentrismus" selig zu werden, wenn man ihnen den Arbeitsplatz nimmt, und später ihren Besitz oberhalb des Existenzminimums. Sie dürfen, sollte es so schlimm kommen, wie mehr und mehr befürchtet wird, in kleinen Wohnlöchern lebend von Eigeninitiative sprechen, die man an den Tag legen muß, wenn man bei den "Tafeln" ganz vorne in der Warteschlange landen will. Und wenn das fade Mittagessen nicht vollwertig ist, der Hunger über Nacht bleibt, dann können sie sich selbst die Leviten lesen, weil die Müdigkeit und der leere Magen den Eindruck von Antriebslosigkeit und Faulheit entstehen läßt.

Was waren da oftmals die Argumente, mit denen man die Armen drangsaliert hat! Man müsse selbst arbeiten gehen, also soll auch der Hartz-IV-Empfänger gefälligst seinen Hintern hochkriegen, um dieses Prinzip der Gleichheit umzusetzen. Von den Gründen der Empfängerschaft wurde am "Stammtisch Bundesrepublik" nur sehr selten gesprochen. Ob sich das ändert, wenn die Finanzkrise langsam die realen Märkte erreicht und aus den Legionen von Arbeitslosen eine ganze Armee macht? Ob man dann nicht mehr von den Gründen als vom Sollen oder besser: "Sollten" spricht? Dann ist immerhin die Gleichheit erreicht, mit dem der Spießbürger seine Mitmenschen verächtlich gemacht hat - dann haben alle gleichviel vom "nichts mehr". Ob dann dem ehemaligen Handlanger der Oberen in den Sinn kommt, dass er ein Opfer des üblichen divide et impera war? Braucht es immer erst den Unglücksfall, um zu erkennen, dass der Nächste auf der Straße einem näher steht, als der Weitentfernte in seiner Luxusvilla?

Nicht dass man auf "Armut für alle" hoffen sollte, nur weil "Wohlstand für alle" aufgrund Spaltung und Zerrüttung innerhalb des Volkes nicht erwirkt werden konnte - aber wenn es ganz schwarz über uns kommt, wenn die Millionen der Erwerbslosen wöchentlich Zuwachs bekommen, weil das gesamte Wirtschafts- und Finanzsystem an der Habsucht verreckt, dann könnte daraus zeitweilig ein Besinnen resultieren, welches wieder sichtbar macht, wer zueinanderzustehen hat, wenn man mehr Gerechtigkeit erreichen will. Als Handlanger der Oberen ist das Durchsetzen von Verteilungsgerechtigkeit nicht umsetzbar - man muß die Basis, die Habenichtse ins Boot holen, wenn man eine harmonischere Gesellschaft möchte. Denn wenn man die Armen aussperrt, dann nutzen sie die Machthaber, um damit Ressentiments zu schüren, Sündenböcke zu kreieren. Kurzum: Womöglich liegt in der drohenden Kollektivarmut des Volkes die "List der Vernunft", wonach aus einem Mißstand eine Verbesserung des Daseins entstehen kann.

Und vielleicht bedarf es gar keine wirklich eintretenden Armut für alle, vielleicht reicht das drohende Gespenst schon aus, um ein wenig mehr kritisches Denken und Skeptizismus ins politische Leben zurückzuholen...

7 Kommentare:

Anonym 12. Oktober 2008 um 20:59  

Ich bin da leider etwas skeptisch u zynisch. Denn ich befürchte, selbst wenn es vermehrt massenhafte Armut geben sollte (auch u gerade unter den Mittelschichten) wird kein Umdenken so schnell stattfinden.

"Die da oben" sind nicht doof. Die wissen ganz genau um ihre fehlende Verteilungsgerechtigkeit, aber es ist ihnen einfach mal scheiss egal, wenn "die da unten" (und seien es noch soviele) elendig verrecken.

Eine herrschende Ideologie überlebt noch lange die Realität. Das sehen wir beim Neoliberalismus doch schon seit Jahrzehnten.

Ich vermute, nur eine Bewegung von unten oder eine völlig andere politische Konstellation könnte etwas verändern.

Anonym 12. Oktober 2008 um 22:33  

Hallo Epikur:

"[...]Eine herrschende Ideologie überlebt noch lange die Realität. Das sehen wir beim Neoliberalismus doch schon seit Jahrzehnten.[...]"

Sehe ich ganz genauso, aber es gibt einen Fall wo eine herrschende Ideologie die Realität nicht mehr überlebt hat - oder redet heute noch jemand vom alten Sowjetkommunismus/-sozialismus der UdSSR bzw. des Ostblocks?

Ich denke du hast schon Recht, aber du solltest eben auch bedenken, dass es positive Beispiele der Veränderung auf dem Globus gibt.

Übrigens, was derzeit in fast ganz Lateinamerika abgeht hat eben mit dem autoritären Sozialismus/Kommunismus sowjetischer Prägung nichts mehr zu tun, aber dank weitgehender "Gleichschaltung" der dt. Medien bekommt man davon hier nur die üblichen antikommunistischen Vorurteile zu hören, wenn man überhaupt etwas über den Veränderungsprozeß in den Ländern hört wo der Neoliberalismus zuerst gewütet hat.

Kein Wunder, dass die einen anderen Weg gehen, der eben weder mit dem alten neoliberalen Thatcher-Neoliberalismus noch mit der gescheiterten Sowjetideologie was zu tun haben will...

Falls du mehr darüber erfahren willst hier ein Hinweis auf ein Nachrichtenportal mit diversen Medienberichten aus Lateinamerika:

http://www.amerika21.de/amerika21/nachrichten

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

Anonym 13. Oktober 2008 um 07:14  

Es war auch für mich schockierend, immer wieder erleben zu müssen, wie wenig beispielsweise die Hartz IV Gesetze und die sie beinhaltenden Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen hinterfragt wurden.

Vor allem auch gerade deswegen, weil es bei denjenigen, die besipielsweise die Außerkraftsetzung von Grundrechten wegen einer vermuteten Bedarfsgemeinschaft für legitim erachteten, durchaus um einigermaßen gebildete Mitbürger handelt (z.B. ein Psychologe), bei welchen man durchaus mehr kritisches Denken erwarten darf, ja sogar muss.

Ein anderer Bekannter (Sozialpädagoge) äußerte mir gegenüber gar, die Armen seien die einzigen, die sich überhaupt noch Kinder leisten könnten. "Den Lebensunterhalt für fünf Kinder aufbringen, dass kann nur ein Sozialhilfeempfänger. Das muss man mit Arbeit erst mal verdienen." tönte er. Was grundsätzlich richtig ist, nur ist es ja nicht die Schuld von Hartz IV Empfängern, wenn Arbeit so schlecht bezahlt wird.

Desweiteren scheint man nicht zu bemerken, wie sehr sich die Debatte in Richtung geradezu menschenverachtender, an rechtsradikale Ansichten wie "...die vermehren sich wie die Karnickel..." bewegt.

Und um den Kreis hier noch einmal zu schließen, möchte ich noch einmal betonen, dass es sich bei meinen Gesprächspartnern ganz sicher nicht um Leute handelt, die diesen Kreisen zuzuordnen wären.

"Divide et impera" - Teile und herrsche. Da wird nicht nachgedacht, und deswegen funktioniert es.

Anonym 13. Oktober 2008 um 09:02  

Zur sich selbst hocherkürenden "Elite" gibt es heute einen erhellenden Beitrag hier:

http://www.zeitgeistlos.de/zgblog/2008/elite-bewusstsein-und-elitebewusstsein

Ich dachte schon immer, dass das "Elite"denken was mir der uralten SS-Ideologie zu tun hat, aber so offensichtlich schreiben wie der Blogger - mit Nachweisen - lag mir nicht.

Nur soviel:

Manchmal hasse ich es regelrecht, wenn ich richtig liege was unsere "Eliten", und die Kamarilla - auch aus den Mittel- und Unterschichten (ja, dass soll es auch geben) - angeht.

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

PS: Ich warte schon gespannt auf das neue Buch "Meinungsmache" von Gunter Haug und Albrecht Müller, dem Macher von Nachdenkseiten.de. Lt. deren Aussagen wollen die die herrschenden rechtslastigen "Elite"kreise, auch Konservative genannt, leider auch in den GRÜNEN und der SPD vertreten, benennen. Ich hoffe, es erscheint bald....

Anonym 13. Oktober 2008 um 12:55  

Für mich ist es ein Zeichen von gehöriger Dummheit, nicht zu erkennen, daß menschliches Zusammenleben auf Dauer nur funktioniert, wenn das Verhältnis der Menschen zueinander einigermaßen ausgewogen ist. Schon die Erfahrung im kleinsten Kreis lehrt, daß man von einem Menschen, der immer nur nimmt, sich alsbald distanziert.

Anonym 13. Oktober 2008 um 13:24  

@persiana
Hartz IV ist ein gutes Stichwort, weil die nie enden wollende und von interessierter Seite auch immer wieder angefachte Debatte zeigt, dass keine Realität zu krass ist, als dass es nicht möglich wäre, sie ideologische so zu verbrämen, dass die wahren Verantwortlichen ans Licht kommen. Es ist doch so, dass das Kainsmal an den Bedürftigen klebt und nicht etwa an denen, die dafür verantwortlich sind, dass die Teilhabe am Wohlstand für einen immer größer werdenden Anteil der Menschen nicht mehr stattfindet. Teile und herrsche, den Rest schaffen die PR und die Spindocters. Andererseits kann es passieren ,dass es wieder heißt "wir sind das Volk" und wir schicken die Junta zum Teufel. Ich bin wie Epikur eher skeptisch, hätte aber nichts dagegen, hier klar auf dem Holzweg zu sein.

Anonym 13. Oktober 2008 um 15:53  

persiana hat gesagt:

"Divide et impera" - Teile und herrsche. Da wird nicht nachgedacht, und deswegen funktioniert es.

Da wird schon nachgedacht: wie bekomme ich Macht? Nun, in dem ich mich anpasse und mitmache. Schlussfolgerung: weil so gedacht wird funktioniert es.

@Roberto: vielen Dank für die Erinnerung an Erich Fromm!

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