Gefühle sind unbezahlbar

Donnerstag, 30. September 2010

Der UNO-Gipfel in New York, auch Milleniums-Gipfel 2010 geheißen, erklärte nicht nur das Scheitern der eine Dekade zuvor gefaßten Ziele, betrauerte nicht nur den immer noch herrschenden Hunger: er machte ohne viel Federlesens deutlich, dass die ernüchternde Situation fortan in erster Instanz die Sache der hungernden Weltregionen selbst ist - erst in zweiter Instanz kümmerten sich die Industrieländer durch gezielte Finanzgabe auch darum. Das war der Tenor von Merkels, aber auch von Obamas Ansprache, den man hinter Floskeln wie "Mitverantwortung der betroffenen Staaten" oder "Hilfe zur Selbsthilfe" verbirgt - wobei ausgeklammert wird, dass erstens, nicht Staaten sondern hungernde Menschen betroffen sind und, zweitens, hinter der Hilfestellung zur Selbsthilfe gerne der Sparfuchs lauert.

Natürlich ist Hilfeleistung, die später dazu führt, dass die Betroffenen sich selbst helfen können, als Ziel nicht von der Hand zu weisen - es ist richtig. Jedoch nur dann, wenn kein entgegengesetzter Einfluss ausgeübt wird. Wer aber Bodenressourcen auf der einen Seite aus Hungerregionen presst, auf der anderen Seite von Selbsthilfe spricht, der ist unglaubwürdig - und genau daran leiden Gipfeltreffen der Industriestaaten ständig. Hinter Gipfeln und Organisationen verkappter Postkolonialismus eignet sich nicht für Glaubwürdigkeit. Erschreckend sind hierbei die Zusprüche aus breiten Teilen der Bevölkerung, die lobende Worte für die resignative Rhetorik der reichen Länder aussprechen. Und genau dort, beim öffentlichen Konsens, ordnen sich die Ereignisse in New York in die allgemeine Geisteshaltung ein: man wirft dem Befürworter einer nachhaltigen und großzügigeren Entwicklungshilfe vor, an gutmenschlichen Idealen angekleistert zu sein, von denen er sich in Zeiten pekuniärer Engpässe strikt lösen sollte.

Innenpolitisch ergeht es den Unterstützern des Sozialstaatsgedankens ähnlich. Endlich sei eine Zeit gekommen, kriegt man dann zu hören, in der nicht mehr zwischenmenschliche Werte oder ethische Grundsätze zählen - jetzt sei die Zeit des aktionistischen Saubermachens heraufgezogen. Jedenfalls sollte eine solche reinigende Gewitterwolke endlich am Horizont erscheinen, wenn man als Gesellschaft überleben will. Es würde endlich Zeit, mit dem Gesindel aufzuräumen, mit den schlaffen Arbeitslosen, den faulen Ausländern, den bettelnden Roma. Wielange will der Staat denn noch zusehen! Und wielange wollen Gutmenschen noch an überkommenen Wohlstandstugenden festhalten, die den Armen Geschenke zukommen lassen, während der Arbeitende und der Wohlhabende alles bezahlen müsse!
Das ist freilich die Eloquenz der Bierbänke - auf Staatsgipfels klingt es schöner. Ähnlich ist die Denkweise aber auch dort - innenpolitisch sowieso. Aber auch im Kontakt mit den ärmsten Weltregionen. Natürlich helfe man, schließlich habe man Verantwortung, nachdem die westliche Hemisphäre über Jahrhunderte hinweg Ressourcen geplündert und Völker dezimiert, damit gesellschaftliche Strukturen zerstört hat. Was bei solchen Einsichten latent mitschwingt, klingt vereinfacht ausgedrückt so: Aber das ist doch alles schon so lange her! Und: Warum sind Europäer so fleißig, während es den Negern nicht mal gelingt, eine befestigte Straße zu errichten?

Der UNO-Gipfel fügt sich blendend in einen Zeitgeist ein, der immer kälter, immer eisiger spukt. Und nicht nur das: er erkühnt sich auch immer frecher, all jene zu kritisieren und lächerlich zu machen, die tatsächlich noch an Humanität glauben, die das Zwischenmenschliche für das oberste Prinzip des Gemeinwesens erachten. Gutmenschen nennt man das heute - in einer anderen deutschen Ära hieß es, dass sich das deutsche Volk keine Humanitätsduselei erlauben könne, wolle es überleben. Als Humanitätsdussel geht man auch heute durch, wenn man mehr will als sparwütige Reförmchen, wenn man Gerechtigkeit, Ausgleich, Solidarität einfordert. Immer mehr werden diese Wünsche zu irrealen Phantasien abgestempelt. Nur wenn jeder sich selbst der Nächste ist, jeder Mensch für sich und jedes Volk für sich: nur dann gäbe es Fortschritt. Seien Sie doch nicht so humanitätsduselig - das behindert nur! Mitleid mit den Hungerleidern dieser Welt? Spenden Sie was! Aber bleiben Sie realistisch: mehr als Spende ist nicht drin!

Wo hört man heute zwischen dem ganzen Hartz IV-Reformengeschwafel noch Sätze wie: Wir müssen aufstocken, damit diese Leute leben können! oder Eine Erhöhung ist notwendig, damit diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können! Gut, solche Sätze fallen nicht, weil nicht erhöht wird - also konjunktiv gefragt: wo vernähme man solche Bemerkungen? Sie finden (oder fänden) nicht statt, denn sie atmen Gefühls- oder Humanitätsduselei. Der humanistische Gedanke, selbst das christlich geprägte Leitbild der Nächstenliebe - Christentum bedeutet nicht nur Bigotterie und eingeimpfter Arbeitsethos! -, sind in Anbetracht ökonomischer Gesellschaftsausrichtung chancenlos. Nächstenliebe, Solidarität: das klinge alles wundervoll! Aber sie rechnen sich nicht! Gefühle, Humanität kosten Geld - Gefühlsduselei ist daher gefährlich, Humanitätsduselei ist fast schon Terrorismus. Es wird immer häufiger als Terror bezeichnet, wenn man humane, fürsorgliche, respektvolle Umgangsformen mit den Unliebsamen erwartet, wenn man gar Hilfe einfordert - rückständig ist die humanitäre Masche, dieses Überbleibsel einer sentimentalen, viel zu rührseligen Welt.

Das Geschwätz von "Mitverantwortung hungernder Staaten" oder "Hilfe zur Selbsthilfe" zeigt in die Richtung dieser Denkart: Entwicklungshilfe auf klitzekleinem Level, dies aber nur, wenn weiter Ressourcen geplündert und das Primat des westlichen Lebensentwurfs als Überbau für die zerrissenen und ausgezehrten sozio-ökonomischen Strukturen der Dritten Welt gestülpt werden dürfen - und ein Schuldenerlass verbietet sich ohnehin. Nur nicht wehleidig, nicht gefühlsduselig werden - bloß keine Humanitätsduselei aufkommen lassen! Das ist die Programmatik der Egomanie, das ist der Stoff, aus dem Tea-Parties sind. Eine Programmatik, die im Kleinen und Inneren genauso Anwendung findet, wie im Großen und Äußeren. Nicht Erbarmen führt zur Nächstenliebe der kapitalistischen Konditionierung: der Nutzwert läßt vielleicht, mit ein wenig Glück, Erbarmen machen. Alles ohne Sentiment - denn Gefühle sind einfach zu teuer!



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Sit venia verbo

Mittwoch, 29. September 2010

"Aber zwei Dinge lassen mich sofort wieder stutzen. Wenn Deutschland und die Deutschen so demokratisch gereift sind, wie es allenthalben und zu Recht behauptet wird, warum fürchten dann Herr Kohl und seine Koalition einen Verfassungsprozeß zur demokratischen Gestaltung der Einheit nach dem Beitritt der DDR wie der Teufel das Weihwasser? Traut man dem Volk und seiner Demokratie nicht viel Gutes zu? Wenn dem aber so ist, dann haben da offensichtlich ganz andere Leute noch ein ganz anderes und tiefer sitzendes Mißtrauen gegen die neue deutsche Demokratie. Oder vielleicht auch recht merkwürdige Interessen.
Überhaupt die Verfassung, unser allseits so lauthals gepriesenes Grundgesetz - allerdings nur so lange, wie es paßt. Unsereins kommt sich fast wie der letzte Konservative vor, wenn man sich darüber empört, daß die Einheit gleich mit zwei krachenden Manipulationen am Wahltermin und am Wahlrecht und damit an der Verfassung beginnen sollte. Da wird passend gemacht, wie es in den machtpolitischen Kram paßt. Und das schafft Vertrauen, ganz viel Vertrauen in die demokratische Substanz der Regierenden.
Und das zweite, was mein Mißtrauen trotz Strickjackendiplomatie und Bonner Großonkelkultur nicht schwinden läßt, ist die Offenbarung eines gnadenlosen Geschichtsbewußtseins, von dem man nicht weiß, ob Blödheit oder Absicht oder gar beide dahinterstecken und was im Zweifelsfalle politisch als fataler zu bewerten ist. Fast gleichzeitig mit der Unterzeichnung des Vertrages in Moskau am 12. September 1990 verkündete die Bundesregierung einen Einwanderungsstopp für sowjetische Juden, die angesichts einer Welle von Antisemitismus in der Sowjetunion diese verlassen wollen! Spätaussiedler mit "deutschem Blut" in den Adern dürfen einwandern, sowjetische Juden sind unerwünscht. Ach, Deutschland.
Jetzt kommt Ihr von drüben, tretet bei, und dabei wird kaum etwas von Euerm Beitrag übrigbleiben zu diesem Deutschland. Wozu auch, knurrt da die FAZ. Wir hier im Westen, wir leben in der denkbar besten aller Welten, so lese und höre und sehe ich es seit Wochen. Also keine Sentimentalitäten bitte, sondern abräumen!"
- Joschka Fischer, am 1. Oktober 1990 im Spiegel -

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Regelsätze nach Gutdünken

Dienstag, 28. September 2010

oder: die Überlegenheit der Demokratie besteht darin, transparente Regelsatzneuberechnungen ins Leben rufen zu können, die hernach zu demselben Ergebnis führen wie vormals - mit dem Unterschied, jetzt als legitim zu gelten.

Lobenswert an der Demokratie ist, dass man gegen Unrecht und Ungerechtigkeit aufstehen, Gerichte aufsuchen kann. Man muß nicht still erdulden, man kann laut dagegen anrennen. Das macht die Demokratie zum überlegenen Gesellschaftsentwurf, zum erfolgreichen Gegenmodell zur Autokratie, Oligarchie oder Plutokratie. Nicht ohnmächtig zu sein: das ist das Verdienst demokratischer Kultur.

Theoretisch jedenfalls! Praktisch gestaltet sich der Weg beschwerlicher. Sicher, der Weg auf die Klägerbank ist offen, man kann nach Karlsruhe preschen, wenn man sehnige Nerven und gepolstertes Sitzfleisch besitzt. Und dort, es ist noch gar nicht so lange her, thronte das ansässige Bundesverfassungsgericht zur Frage der Regelsatzberechnung - die bis dahin geltende Berechnung dünkte willkürlich, hatte keine klare Linie, wäre nicht am Bedarf, sondern eher an dem bemessen gewesen, was vorher schon offiziös als Endsumme im Raume stand. Daher urteilte man am 9. Februar des laufendes Jahres, es müsse neu berechnet werden - und das so, dass man blind für Vorgaben, allerdings sehend für den jeweiligen Bedarf ist.

Gesagt, geurteilt und getan! So halbwegs getan. Natürlich hat man berechnet und kalkuliert und nochmals berechnet und abermals taxiert, hie abgerundet, dort gefeilt, drüben veranschlagt. Und siehe da, der Regelsatz war tatsächlich ursprünglich zu niedrig angesetzt. Um ganze fünf Euro! Knapp fünfundzwanzig Euro wären es gewesen, wenn man Zigarettengeld und Alkoholzuwendung nicht gestutzt hätte. Denn so lief die gesamte Neuberechnung: man kürzte hier etwas, beschnitt dort ein wenig; kupierte das, was vormals im Regelsatz hineingerechnet war, um die Dreingaben, die einst nicht mit einberechnet wurden, wieder zu neutralisieren. Geben ist selig, Nehmen noch seliger! Und so läpperte sich das Einsparvolumen.
Was die Mathematiker und Bedarfs-Geometer an Finten und Winkelzügen aufbrachten, war nur ein Teil der Farce - die Medien lieferten den anderen. Deren salamitaktische Bekanntgabe des frisch berechneten Regelsatzes, war eine Höchstleistung: rund zwanzig Euro mehr würden es, hieß es zuerst; auf bedeutend weniger als zwanzig Euro, reduzierte es sich etwas später; tagsdrauf waren es plötzlich nur noch zwischen zehn und dreizehn Euro; dann minütlich: etwas mehr als zehn Euro, wohl genau zehn Euro, weniger als zehn Euro, bedeutend weniger als zehn Euro; schlussendlich wurden es dann bekanntlich fünf Euro - da hat man emsig hinter den Kulissen bereinigt, berechnet, gekürzt, gespart, einbehalten, abgewertet, dezimiert, heruntergeschraubt und nebenbei auch noch den Medien eine zeitnahe Wasserstandsmeldung geliefert! Und als sich die Zeit dem Ende zuneigte, man endlich Zahlen präsentieren musste, jedoch bei den Kinderregelsätzen nichts fand, was noch kürzenswert wäre, da erklärte man keck, dass diese ohnehin höher wären als die Neuberechnung ergeben hätte, weswegen man zukünftig bei möglichen Erhöhungen den Kinderregelsatz leer ausgehen läßt. Derzeit blieben die Kinderregelsätze aber in alter Form erhalten: im Rahmen des Vertrauensschutzes - ave Ursula, gratia plena! Das ist innovativ: als Imagekampagne gleichfalls wie als Sparmodell!
Es wird an Hartz IV gespart - und durch Hartz IV. Denn dieses Machwerk hat einen uferlosen Niedriglohnsektor entstehen lassen, ist neben Existenzsicherung auch Subventionsprogramm für Unternehmen, die billiges Personal Profite erwirtschaften lassen wollen - und an dieser erwerbstätigen Unterschicht orientieren sich die neuen Regelsätze. Am Einkommen derer also, die von Hartz IV geschleift und geformt sind. Hartz IV an Hartz IV bemessen, könnte man dazu sagen - das soziokulturelle Existenzminimum so zu beziffern: auch ein Kniff, sich ein würdiges Leben billig zu rechnen. Vielleicht überhaupt der am meisten durchtriebene Kniff dieser Rechenkünstler!

Dies sind die Segnungen der hiesigen Demokratie! Nicht die Rechenkünste und Subtraktionsschlichen, nicht die schwarze Arithmetik - die gibt es auch in anderen Staatstheorien. Ja, Theorien: denn praktisch happert es mit dieser Demokratie mehr und mehr - mit einer, die von Wirtschaftsverbänden und Massenmedien, welche wiederum von Wirtschaftsverbänden bezahlt und angeleitet werden, delegiert wird. Denn dort gestaltet sich die Demokratie wenig demokratisch - es sei denn, man empfindet Manipulationen und Schmiergeldzahlungen als demokratischen Akt. In einer solchen Demokratie, in der die freie Meinung und der freie Wille von Leitartiklern und Wirtschaftsschranzen den Menschen oktroyiert wird, da kann man freilich auch vor Gericht ziehen, wenn man sich veräppelt oder ungerecht behandelt fühlt. Es bringt halt nur nichts... nur wenig!

Demokratie in der Bundesrepublik 2010 ist: gegen alles klagen zu dürfen und vor Gericht Recht zu bekommen, damit am Ende ein Rechtstitel erwirkt wird, der Überarbeitung vorschreibt, welche allerdings zu denselben Resultaten wie vormals führt - nur dann mit dem Unterschied, dass derselbe Schmu mit höchstrichterlichem Auftrag verabschiedet wurde und eine Art hoch- und überdemokratischen Anstrichs erhält. Demokratie ist, wenn vormals Erwerbslose über Willkür bei der Festlegung der Regelsatzhöhe moserten, diesen Nörglern die Prämisse ihres Jammers zu entziehen: die Willkür! Höhere Regelsätze wären auch eine Möglichkeit dem Nörgeln ein Ende zu bereiten: aber das wäre wiederum nicht demokratisch - das wäre populistisch und damit sozialistisch; was kein Gegensatz zur Demokratie sein muß, aber heutzutage als solcher verstanden wird.

All das zeigt, dass die parlamentarische Demokratie, mit all ihren Parteigängern aus Wirtschaft und Presse, die sie stützen und rechtfertigen, nur deshalb so lobenswert ist, weil sie die weniger schlechte Staatsform ist. Daran sollte man immer denken: Demokratie ist kein perfekter Zustand, keine mustergültige Konstellation, sie ist unzureichend und in einer Gesellschaft, die infiziert von Krämerkleingeist und befallen von Profitgelüsten ist, ein abgekartetes, semi-diktatorisches Spiel. Sie ist nicht die beste Staatsform, sie ist die schlechteste Staatsform, ausgenommen all den anderen, die bereits erprobt wurden. Es ist wird stetig schwieriger, mehr Optimismus in eine Demokratie zu stecken, die zwar jede Form des Rechtswegs erlaubt, die aber simultan bereits weiß, dass sie sich dem richterlichen Spruch nicht beugen wird; die den status quo modifiziert und überarbeitet, damit am Schluss ein status quo ante dabei herauskommt.

Dabei geht es nicht um die Höhe des Regelsatzes, den die Karlsruher Richter damals ja nicht beanstandet haben: es geht um die Rechenkünste, die angewandt wurden, um endlich einen Betrag zu erhalten, den man vorher schon festgesetzt hatte - man hat genau das, was die Richter anmahnten, neuerlich praktiziert. Warum auch nicht, fragen sich die Hüter der hiesigen demokratischen Kultur, die ministerienübergreifend ein bisschen addierten, wesentlich mehr subtrahierten, um zu ihrem Wunschresultat zu gelangen. Warum auch nicht; wenn es den Nörglern nochmals nicht gefällt, sollen sie halt klagen gehen - irgendwann hat auch Karlsruhe die Nase voll, klemmen sich die Richter das Jabot erst gar nicht mehr vor den Latz, wenn wieder so ein raffgieriger Arbeitsloser einen höheren Regelsatz erwirken will. Auch das ist Demokratie 2010: Kläger solange vor Gericht gehen lassen, bis sie brechen, bis sie einknicken, bis sie mürbe werden - eine unverbindliche Veranstaltung, die sich schön schreibt, die sich gut auf dem Briefkopf macht, die aber nicht übertrieben werden sollte.

Die Ohnmacht in einer Demokratie ist insofern problematischer, weil sie den Anschein des Abhelfens, des Einrenkens und Geradebiegens mit sich trägt - in einer Diktatur ist Ohnmacht nur das, was sie ist: Ohnmacht. In einer Demokratie riecht es immer nach Rechtsweg, Überarbeitung und möglichem Wetterwechsel. Wenn diese Optionen jedoch immer häufiger nur Requisiten aus Pappmaché sind, dann scheint die Hoffnungslosigkeit im Demokratischen gravierender zu sein, als sie es je in einem autoritären Regime wäre. Das klingt abgehoben und unverschämt gegenüber jenen, die eine Diktatur am eigenen Leib erfahren mussten. Aber die Literatur des 20. Jahrhunderts eilt dieser These zur Hilfe: Huxleys schöne neue Welt oder Orwells 1984 bergen diese beschriebene Hoffnungslosigkeit; diese Szenarien entfesseln beim Leser eine Wirkung von absoluter Gefangenschaft im Missstand, aus der es kein Entkommen geben kann - und sie tun es, weil sie eben nicht die böse Fratze der Diktatur sind, sondern sich demokratisch, human verkaufende Gesellschaften. In der Diktatur ist das Unrecht manifest und ersichtlich, in demokratischen Gebilden empfiehlt man den Ohnmächtigen, es doch mal mit dem Rechtsweg zu probieren - Unrecht und Willkür werden nur mühsam erkannt; sie werden als Kinder der Diktatur angesehen, nicht als Produkte der Demokratie. Das eigentliche Verdienst der Demokratie ist es, jedenfalls aus Sicht der hiesigen (Wirtschafts-)Eliten, dass unliebsame Entscheidungen auf den Rücken aller Bürger abgewälzt werden können, "im Namen des Volkes" sozusagen... das kann kein plutokratischer oder autokratischer Staat bieten: daher gilt für die Eliten, die keinen Funken demokratischen Geistes in sich tragen, ein strenges Bekenntnis zur Demokratie! Zur Demokratie wie sie heute ist - nicht wie sie sein könnte...



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Disziplin durch Abstinenz

Montag, 27. September 2010

Der zechenden und schmauchenden Unterschicht soll es an den Kragen gehen! Kein Geld mehr für Alkohol und Zigaretten auf Konten von Langzeitarbeitslosen zu überweisen, fordern nun etliche lasterlose Herrschaften aus Politik und Wirtschaft. Hartz IV soll den Grundbedarf abdecken, erklären diese, in den Alkohol und Tabak als Genussmittel nicht dazugehörten. So einfach ist dieses Erklärungsmodell allerdings nicht.

Abstinenz der kleinen Zahlen

Es handelt sich um ein Spiel mit Peanuts: 11,58 Euro sind im derzeitigen Regelsatz für Zigaretten, 7,52 Euro für Alkohol vorgesehen. Bildlicher ausgedrückt: Zwei Packungen Zigaretten und fünf bis sieben 0,5 Liter-Flaschen besseren Bieres sind monatlich eingeplant. Ein Lotterleben sieht anders, sieht wesentlich üppiger aus. Bedenkt man zudem, dass pro erworbener Zigarettenschachtel etwa 75 bis 85 Prozent des Verkaufspreises an den Fiskus erstattet werden, so überrascht der Aktionismus umso mehr. An der relativ geringen Summe, die zudem größtenteils in die Steuerkasse zurückfließt, kann es jedenfalls nicht liegen, dass plötzlich Bier und Tabak zur Diskussion stehen. Dahinter steckt mehr: die falsche Auslegung des Sozialstaatsgedankens und damit einhergehend ein symbolischer Akt, den man dem schmalen Geldbeutel der Hilfebedürftigen abringt.

Der disziplinierende Sozialstaat als Folge falscher Prämissen

Das Sozialwesen, in effigie das Sozialgesetzbuch (SGB), kennt keine unmittelbare disziplinierende Absicht - jedenfalls keine, die nicht direkt an der Inanspruchnahme sozialer Leistungen gebunden ist. Zweck ist, "ein menschenwürdiges Dasein zu sichern; gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen; die Familie zu schützen und zu fördern; den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen" (SGB I § 1 Aufgaben des Sozialgesetzbuchs). Zwar wird an dortiger Stelle auch von "erzieherischer Hilfe" gesprochen. Gemeint ist damit aber nicht ein pädagogischer oder disziplinierender Auftrag seitens der Behörden, ins Privatleben der Hilfebedürftigen schulmeisterlich hineinzureden - gemeint sind Hilfestellungen in Erziehungsfragen.

Der neue Sozialstaat, wie er vielen Reformern in den Köpfen umhergeht, will nicht lediglich Teilhabe sichern - eher soll dieses Aufgabenfeld verkleinert werden! -, er will die Bittsteller erziehen, will sie kontrollieren, sie disziplinieren und ihre Anlagen verändern, sie zu Büßern formen. Hieran wird von einer fehlerhaften Prämisse ausgegangen: Süchte seien die Sache der Unterschicht, Alkoholismus und ausschweifender Zigarettenkonsum seien die Laster des kleinen, des armen Mannes. Konsequent wird dabei die Schichtdurchlässigkeit der Suchtproblematik übersehen - nicht nur Armut oder Arbeitslosigkeit spornen zum Saufen an, gleichermaßen sind beispielsweise Berufsstress oder Ehesorgen Faktoren. Alkoholismus und sonstiges Suchtverhalten sind keine Milieuschäden - die gesamte Gesellschaft ist damit durchwoben.

Der Grundgedanke, Hilfebedürftige nicht nur teilhaben zu lassen, sie auch einer schwarzen Pädagogik, einer Disziplinierung zu überschreiben, existiert schon seit geraumer Zeit - in den letzten Jahren hat diese Sicht Aufwind erfahren. Somit war nicht der Langzeitarbeitslose Opfer wirtschaftlicher oder arbeitsmarktbedingter Entwicklungen, Leidtragender einer Krankheit oder sonstiger Hemmnisse: er war nur schlecht erzogen und damit für den Arbeitsmarkt unbrauchbar und mangelhaft (geworden). Diese Denkart ist die Basis dafür, dass sich das Sozialwesen mit sozialwesensfremden Elementen und Personen aufgeladen hat: mit Coaches und Lebensberatern, Ratgebern und Mentoren. Nicht nur die nach dem SGB ausgerichtete Hilfebedürftigkeit - das gilt verstärkt für das SGB II - ist demnach Gegenstand zwischen Behörde und leistungsberechtigten Bürger: dessen Lebensführung, dessen Lebenstil, dessen Benehmen und teils dessen Gesinnung geraten ins behördliche Blickfeld.

Überwachen und Strafen

Michel Foucault behandelt in seinem 1975 erschienenen Buch Surveiller et punir (Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses) die Entwicklung des modernen Strafsystems und malt dabei ein Bild vom Wandel der Strafnormen: von der Marter hin zur Strafnüchternheit; von der unmittelbaren körperlichen Bestrafung hin zur Disziplinierung; von der Leibesstrafe auf dem Schafott hin zur disziplinierenden Zeitplanung im Gefängnis. In dieser strafnüchternen Tradition steht der disziplinierende Sozialstaat heutiger Prägung; steht die Armenverwaltung nach SGB II - das Sozialwesen ist zum Strafwesen und damit zum Disziplinierungswesen degradiert. Dem Sozialstaat wurden im Laufe der Jahre Repressionsrezepte an die Hand gegeben, damit er nicht nur Teilhabe sichern, sondern den jeweiligen Menschen "zurück auf die rechte Bahn geleiten" kann.

Die Bestrafung erhält in Foucaults Rückschau einen disziplinierenden Auftrag - der Richter ist dabei nicht mehr nur Richter, er muß nicht einfach plump die Straftat sanktionieren; er hat den Täter als Individuum zu sehen, muß dessen Zukunft anhand sachverständigen Rates ins Auge fassen; nicht nur richten, sondern erzieherische und disziplinierende Aspekte berücksichtigen. Dies läßt sich auf die Reformer des Sozialstaats weiterspinnen und übertragen: für viele stellt das, was volkstümlich Hartz IV genannt wird, einen Form des offenen Vollzugs dar. Das mag übertrieben und dramatisierend klingen, jedoch reiht sich die Umsetzung der hiesigen Arbeitslosenverwaltung, mitsamt ihren allerhand disziplinierenden Maßnahmen, nahtlos in Foucaults Galerie ein. Der körperlichen Marter, so erläutert er, sei die seelische Züchtigung des Körpers gefolgt - körperliche Strafe durch Disziplinierungsmodelle; Hartz IV ist keine Marter, keine unmittelbare Leibesstrafe, will ohne gewaltsamen Körperkontakt drillen, was jedoch selbst dann körperliche Disziplinierung bleibt - denn auch die Sperre von Bezügen wirkt sich körperlich aus.

Die direkte Gewalt ist gewichen, hat der Disziplinierung ohne körperlicher Gewalt Spielraum erteilt. Diese "körperlose" Form der Strafe - und es ist bezeichnend und traurig, dass wir das Sozialwesen unter den Aspekten der Bestrafung bewerten müssen! - ist das Produkt der Macht, die sich heute nicht mehr physisch an jene wendet, die sie bestrafen will. Sie arbeitet heute mit symbolischer Gewaltschau: "Die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn [Anm.: den Körper]; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen." Ein solches Zeichen soll der symbolische - durch Entzug eines Quäntchen Regelsatzes - Verzicht auf Alkohol und Zigaretten sein. Ein Zeichen von nur kleiner Tragweite, von umgerechnet 19,10 Euro, das man den Verfechtern der wiederbelebten Abstinenzbewegung, eher symbolisch denn handfest darzubringen hat.

Symbolische Unterwerfung

Es geht nicht um die kleine Summe selbst, nicht darum, dass einige Flaschen Bier und zwei Schachteln Zigaretten im Monat zu teuer wären. Dahinter ist eine symbolische Geste zu vermuten, die vom Arbeitslosen ausgeführt werden soll. Eine Geste, die der puritanischen Ethik entstiegen ist. Dabei wird sich auf Stereotype gestützt, die seit geraumer Zeit verstärkt zum Einsatz kommen - zwei Widerparte, die künstlich gegeneinander positioniert werden: dem faulen, sittenlosen, tagesstrukturarmen, verwahrlosten Erwerbslosen stellt man eine Gestalt gegenüber, die es so nicht gibt: den fleißigen, sittsamen, durchstrukturierten, gepflegten Erwerbstätigen, der nebenher auch noch der Ernährer seines negativen Gegenentwurfes ist. Schwarz und weiß; gut und böse!

Darauf läßt sich ein disziplinierendes Sendungsbewußtsein türmen. Der negative Bürgerentwurf ist an den positiven Bürgerentwurf anzugleichen - das Sozialwesen ist damit ganz im Sinne Foucaults zu einer schleifenden und drillenden Instanz geworden, die überwacht und straft, um ihre gewünschten Lernziele umzusetzen, Lebensentwürfe im Sinne der gesellschaftlichen Normen bestmöglich anzugleichen. Der Verzicht des Lotterhaften, um damit den Tugendhaften näherzukommen, ist daher eine symbolische Handlung, ein quasi-zeremonieller Akt, der den zu Belehrenden endlich wieder auf die tugendhafte Bahn geleiten soll. Der zu disziplinierende Schüler hat den Beweis vor aller Augen zu erbringen, fortan keine Unterstützung für seine Laster mehr erfahren zu wollen - denn dem Laster selbst, wenn es dieses überhaupt gibt, kann man leider nicht moralisierend Einhalt gebieten.

Müßiggang ist aller Laster Anfang - der pädagogische Sozialstaat will wenigstens das resultierende Laster eingrenzen. Er ist nicht mehr normenneutral, blind für die Vorlieben und Lebensvorstellungen und -einstellungen seiner Hilfebedürftigen - er ist bewertend und parteiisch, er ist nicht weltanschaulich neutral, versucht zu disziplinieren, den aus dem Produktionsverfahren ausgeschiedenen Menschen auf die wirtschaftlich bevorzugten Normen und Ideale einzuschwören. Somit wandelt er auf den Spuren spießiger Sittlichkeitsbewegungen, die vor 120 Jahren dazu aufriefen, das Elend durch einen neuen Sittlichkeitkodex zu beenden.

Das Wiedererwachen des Temperenzler

Eine angeblich mangelnde Tugendhaftigkeit war es, was die Enthaltungs- oder Temperenzbewegung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert dazu veranlasste, für eine strikte Ablehnung des Alkohols einzutreten - am Ende stand die Alkoholprohibition in den USA und ein viel wüsteres Gemeinwesen als jemals zuvor; die moralisch einwandfreie Gesellschaft, die Suchtverhalten gesetztlich verboten hatte, wurde zum eigentlichen Sodom und Gomorrha - zu jenen Orten also, die bibelfeste Abstinenzler vormals in einer Gesellschaft, in der Alkoholtrinken erlaubt war, schon erkannt sehen wollten. Der Alkoholkonsum stellte für die durchweg bürgerlich initiierten Abstinenzvereine, die gleichfalls durchweg an puritanischen Einschlag litten, die Ursache für den Jammer der unteren Klassen dar. Der Suff war die Sucht der Underdogs, der Habenichtse - sie soffen nicht, weil sie arm und illusionslos waren; sie waren arm und ohne Aussichten, weil sie chronisch dem Suff zugeneigten. Dass Alkohol auch in höheren Kreisen aus zu großen Bechern genippt wurde, entsprach schlichtweg nicht der Scheuklappenwirklichkeit der Temperenzler.

Beschwerlich, auch schon fast klischeehaft, immer wieder mal auf Max Webers Schrift hinzuweisen, in der er die protestantische, puritanische Ethik zur Mutter des kapitalistischen Geistes ernennt. Dennoch offenbart sie, dass sozialreformatorische, puritanisch angelehnte Pädagogik, vermengt mit protestantisch hergebrachten Kapitalismus, zu einem programmatischen Ferment verschmelzen. Beides zusammen will disziplinieren, will den Menschen sittsamer, nutzvoller, effizienter gestalten. Darauf zielen Maßnahmen ab, die Alkohol und Zigaretten, beides gesellschaftlich akzeptierte Suchtmittel, verbieten wollen - bei der Unterschicht verbieten wollen, bei denen also, die aufgrund Erziehungsmängel in die Bredouille gerieten: nach elitärer Lesart jedenfalls.

Das entlarvt eine weltanschauliche Nähe zum Vorabend der Eugenik, als man sich noch brav und bieder mit Rassenhygiene beschäftigte, bevor man zu blutigeren Mittelchen griff. Der Alkoholismus war dort ebensowenig ein Phänomen aller gesellschaftlichen Schichten: er galt als Laster der Asozialen - und war damit Grund und Erkennungsmerkmal gleichermaßen. Temperenzler waren auch unter denen zu finden, die der Rassenhygiene wissenschaftlichen Charakter verliehen - und letztlich war auch der höchste Mann im Lande Abstinenzler. Ist es da Zufall, dass in Tagen, in denen einer ganz offen sozialeugenischen Hokuspokus betreibt, auch die dazu kompatible Abstinenzdogmatik zum Tragen kommt? Wenn diese auch nur symbolisch ist, quasi gleichnishaft einige Groschen einbehalten will, die keinem richtig wehtun, weil knapp 20 Euro weniger die Armut auch nicht ärmer machen. Es handelt sich um eine Dogmatik, die die Alimentierung gesellschaftlich akzeptierter Süchte verbieten will, um die Habenichtse zu drillen, zu dressieren, zu einem "richtigen Dasein" ohne Suff, ohne Rauch zu treiben, sie mit sittsamen Geist zu beatmen. Eine bigotte, erzieherische, belehrende Dogmatik, die praktischerweise immer verstärkter ins Sozialwesen verfrachtet wird.



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Küssen heißt spucken!

Samstag, 25. September 2010

„Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft!”, empfahl Tucholsky einstens. Das fiele heute schwer, denn so richtige, so richtig richtige Faschisten gibt es nur mehr wenige. Nur einige Sektierer, die fast als solche durchgingen, die mit glänzendem Glatzkopf aufwarten — doch wer will schon schweißbenetzte Kopfhaut herzen! Aber es gibt durchaus Quasi- oder Semifaschisten, Herrschaften ohne Uniformfetisch, ohne Brüllerei, ohne Heilgeplärre; Herrschaften aus der gesellschaftliche Mitte, manchmal sogar aus der Sozialdemokratie. Ja, solche gibt es — faschistoide Gestalten, noch nicht ganz im Faschismus angekommen, indes mittels Stechschritt auf gutem, das heißt treffender: auf schlechtem Wege dorthin. Schon alleine deshalb ist es unmöglich, Faschisten zu küssen. Daher: Man küsse die Faschistoiden! Aber ergibt das Sinn?

In einer Zeit, in der es um schnelle Lacher und eilfertige Zoten geht, in der die Welt im Scherz zuallererst das Lachpotenzial wahrnimmt, in der Kabarettisten Comedians geheißen werden, da ist der perfide, feinsinnige Humor auf verlorenem Posten. Der moderne Humor will lachen machen, er will nicht die Wahrheit im Narrenkostüm kundzutun. Im Humor wird heute kaum mehr die Fähigkeit der Bloßstellung erahnt – es muss gelacht werden, laut und herzhaft. Die Ernsthaftigkeit im Humor oder das Humoristische im Ernst: dergleichen hat momentan wenig Konjunktur. Versteht man da die Blamage noch, die man einem Kontrahenten zufügt, wenn man ihn mürbe küsst? Begriffe man noch, dass man in einen liebevollen Kuss auch Verachtung, Lieblosigkeit, ja Hass packen kann? Ob unsere Zeit heute noch nachvollziehen kann, welches geistreiche Ende Dostojewski für seinen Großinquisitor auserkoren hat, als dieser nämlich nach seiner Philippika, die er an den zurückgekehrten Jesus richtete, von ebenjenem auf seine welken Lippen geküsst wurde? Durchschaut man diese Form des paradoxen, arglistigen Humors überhaupt noch, bei dem es darum geht, spielend, lächelnd, spöttelnd auf einen ernsten Umstand, Missstand zu verweisen?

Wahrscheinlich nicht! Es ist bestenfalls der Humor einer randständigen Gruppe – heute will man lachen, nicht über den humoristischen Akt selbst nachdenken, keinen Ernst dahinter erahnen müssen. Ach, schnöde Gedankenschwangerschaft! Gedankenlos prusten und quietschen: das ist zeitgemäßer Humor. Man stelle sich nur mal vor, man küsste heute einen Mann, der öffentlich über Sozialeugenik fabulierte – so einen Mann soll es tatsächlich geben. Sicher erntete der Küsser Lacherfolge. Das wäre eine ganz große Show – aber dann würde man auf ihn deuten, ihn einen Schwulen heißen, ihm den Scheibenwischer zeigen, ihn verspotten, ihn für etwas verrückt, vielleicht sogar für etwas sehr verrückt erklären. Der entstellende Kuss auf die Lippenwülste des Faschisten, zeitgemäß gesagt: des Faschistoiden gepresst, wäre nicht mal verpufft, weil er sich gar nicht erst entfaltet hätte – er wäre die Aktion eines Idioten geblieben, eine Aktion ohne Sinn, ohne Hintergedanken, ohne Absicht, ohne Ernst. Lustig – mehr nicht! Für den Tiefsinn des dekuvrierenden Humors gibt es in diesen Tagen keinen Markt. Der Küsser würde verspottet, der Geküsste bedauert. Mitleid erntete er, so eine sabbernde Schnute im Gesicht gehabt haben zu müssen.

Faschisten… Faschistoide küsst man heute nicht mehr. Man brüskiert sie nicht auf subtile Weise – dafür ist die sich kugelnde Öffentlichkeit nicht sensibilisiert. Humor ist heute keine Waffe mehr – wer heute in Fragen der Politik oder der Wirtschaft den aufweckenden Humor, den humoristischen Ernst bemüht, gilt ohnehin als unseriös. Daher küsst nicht! Tut das, was der Kuss eigentlich ausdrücken will: spuckt! Ersetzt den Kuss zum Verständnis aller! Ersetzt den Kuss aber nicht durch ein Pendant, durch eine Ohrfeige beispielsweise – diese Zeilen sollen ja kein Gewaltaufruf sein! Wir sind doch anständige Leute! Neinnein, tretet vor den Herrn eurer Wahl, reicht ihm die Hand nicht, begrüßt ihn nicht, und lasst euch nicht auf die demokratische Masche ein, mit jeden, gleich was für ein Lump er ist, zu diskutieren, zu argumentieren, Zahlenstatistik auszutauschen. Toleranz ist gut – aber nicht gegenüber Intoleranten. Auf Satzfetzen wie „…soundsoviel Prozent aller Türken wollen nicht arbeiten!“ oder „…werweißwieviele von hundert Arabern wollen des Deutschen nie mächtig werden!“ — auf solche Satzfetzen bloß nicht eingehen! Denn dann haben sie einen, dann ist der kleinste gemeinsame Nenner gefunden – und wenn es erst mal so weit ist, dann sind deren kleinkarierte Ausdünstungen legitimiert.

Verweigert den Handschlag, verweigert die Gegenargumentation, verweigert euch, ihn als eine leicht fehlgeleitete demokratische Erscheinung zu betrachten! Und dann zieht euch, rümpft euch nasalen Schleim in die Mundhöhle herab, setzt an und tut es: spuckt! Zielt und spuckt. Traut euch! Spuckt… spuckt vor ihm aus. Vor ihm! Oder neben ihn zu Boden. Oder über ihn drüber, wenn ihr das könnt! Nicht jedoch ins Gesicht! Ein bisschen Anstand muss schon noch sein. Wo kämen wir sonst hin?

Man küsst nicht mehr, man spuckt – das ist die moderne, zugegeben etwas öde, etwas unoriginelle Form, jemanden seine Verachtung mitzuteilen. Was soll man aber tun in einer derart humorlosen Zeit? In einer humorlosen Zeit, in der zwar viel gelacht wird, der kommerzialisierte Humor als Selbstzweck floriert, der alberne Humor Fußballstadien füllt, Rekorde bricht, in der allerdings so gut wie nie über das Dahinter der humoristischen Aktion, über den Ernst des Witzes gegrübelt wird? Schön wäre es ja küssen zu dürfen, auch seine Feinde küssen zu dürfen, wenn sie denn glatt rasiert sind – aber am Ende begriffen die Zuseher das als Zusage, als spontane Zustimmung, als Liebesbeweis. Dann schon lieber ausspucken: vielleicht lacht sogar jemand darüber, bevor der Denkvorgang eintritt…

Dieser Text erschien erstmals am 13. September 2010 im Blättchen.



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Ridendo dicere verum

Freitag, 24. September 2010

"Herr Keuner sagte: "Auch ich habe einmal eine aristokratische Haltung (ihr wißt: grade, aufrecht und stolz, den Kopf zurückgeworfen) eingenommen. Ich stand nämlich in einem steigenden Wasser. Da es mir bis zum Kinn ging, nahm ich diese Haltung ein."
- Bertolt Brecht, "Eine aristokratische Haltung" -

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Fragmente einer apokalyptischen Epoche

Donnerstag, 23. September 2010

Wir wissen nicht viel über die Zeit vor dem großen Weltenbrand, der das Ende der alten Zeitrechnung und unseren Beginn, den Anfang der Neuzeit darstellt. Noch weniger wissen wir über die Kreativität, die Kunst oder Literatur jener begrabenen Tage. Die archäologische Arbeit gestaltet sich schwierig - was wir jedoch als historische Wahrheit betrachten können ist, dass vor dem Weltenbrand ein exorbitanter, global verabschiedeter Bücherbrand wütete. Damit wird uns erklärbar, weshalb nurmehr wenige Bücher aus der damaligen Zeit in Erdschichten verschüttet liegen.

Einige Fragmente eines Buches wurden vor geraumer Zeit freigelegt. Es handelt sich um ein Buch, das den Namen Unzugehörig trägt. Der Autor war ein gewisser Roberto J. De Lapuente. Viel wissen wir von ihm nicht - war er arm oder reich, jung oder alt, berühmter Schreiber oder doch eher randständig und unbekannt, war dies sein richtiger oder sein Künstlername? Die Fragmente, die erstaunlich gut erhalten sind, helfen uns aber, diese alte Welt, die die Welt des Autors war, besser zu verstehen. Als Zeitzeuge jener letzten Jahrzehnte vor dem damaligen Weltende, erlaubt er der historischen Wissenschaft Einblicke in die Befindlichkeit eines Menschengeschlechts, das uns in vielen Punkten, in vielen Denk- und Verhaltensweisen, unverständlich und fremd erscheint.

Aus Unzugehörig entschlüsseln wir, dass sich da eine Gesellschaft herausentwickelte, die den Weltenbrand nicht zufällig erleiden mußte - sie hat ihn jahrzehntelang, vielleicht sogar jahrhundertelang, heraufbeschworen. De Lapuente schreibt von einer Gesellschaft, in der Menschen wie Ware, wie Gegenstände behandelt wurden. Menschen mußten Nutzen haben, durften nicht unnütz essen, durften nur etwas kosten, wenn sie diese Kosten selbst tragen konnten. Für uns heutige Menschen ist das schwer vorstellbar, wenn er in einer Erzählung skizzenhaft einen Sachbearbeiter einer Behörde, auf wesentliche Funktionen reduziert, die ausreichten, um Dienst tun zu können:
"Man sitzt dem Verschwender [Anm.: damit meint er den Sachbearbeiter] gegenüber [...], malt sich aus, wie eine zweckdienlichere Variante Dienst im Kämmerchen tun könnte. Würden es nicht auch weniger körperliche Extremitäten tun? Man malt sich aus, wie ein bloßer Rumpf auf dem pompösen Thron sitzt, aus dessen rechter Seite ein dürres Ärmchen erwächst, worauf wiederum ein mageres Händchen sprießt, aus dessen Ende zwei dreigliedrige und zwei zweigliedrige Fingerstummel hervorkriechen."
- Unzugehörig, Erhobenen Hauptes, Seite 66 f -
Die Forschung ist sich darüber einig, dass De Lapuente diesen Ausruf polemisch meinte. Er war, nach derzeitigem Stand, kein Jünger der Rationalisierung, die wir anhand einiger anderer Texte jener Zeit, schon als Grundmaxime dieser gestrigen Gegenwart entlarvt haben. Dennoch greift der Autor einer Entwicklung voraus, die sich Jahrzehnte später manifestieren sollte. Wir fanden solcherlei Humanapparaturen, die genetisch programmiert und erzeugt wurden, um billige und effektive Arbeitskraft zu bewerkstelligen - einige solcher grausigen Funde liegen der Archäologie vor. Wir nehmen an, dass die Menschen zunächst das Tier (welches ihm laut eines ziemlich erfolgreichen Bestsellers jener Vorzeiten, der sich Bibel nannte, Untertan sein sollte) zum effektiven Gebrauchsgegenstand umfunktionierte. Es wird von Geflügel berichtet, dass aufgrund genmanipulierter fleischiger Brüste nicht mehr gehen oder auch nur stehen konnte, von Schweinen die im Akkord gemästet und am Fließband getötet wurden - dieses Prinzip des effizienten Biomechanismus fand später für einzelne Menschengruppen Anwendung.
War nun De Lapuente Visionär oder eher Vordenker des Effizienzbiologismus? Hat er Phantasien gespeist, Genetiker zum Träumen gebracht? Das können wir nicht beantworten, wir wissen einfach zu wenig über des Autors Einfluss. Sollte er gesellschaftlich Gehör gefunden haben, könnte er tatsächlich unabsichtlich und ungewollt seiner polemischen Laune erlegen, zum Urvater dieses grausamen Gedankens geworden sein.

Es gehört zu den unerklärbaren Tatsachen unserer Forschung, dass wir etwas über ein römisches Reich wissen, auch etwas über ein sogenanntes Mittelalter - auch wenn wir nicht wissen, von was es die Mitte war!; Epochen, die lange vor dem Weltenbrand existiert haben müssen. Die unmittelbare Zeit davor aber, die erschließt sich uns nur mühsam. Das liegt einerseits am Verbrennen möglicher gedruckter Hinterlassenschaften, aber auch an der mit Euphemismen verbrämten Ausdrucksweise jener Zeit. Uns wird ziemlich deutlich, dass dieses römische Reich ebenso wie das Mittelalter, sehr blutige Zeitalter waren. Es gab Todeskämpfe in großen Stadien oder Menschenverbrennungen und Folter - De Lapuente berichtet in seinen Fragmenten von seiner Epoche, die sich human, friedfertig und vernünftig gibt, die aber hinter der Fassade dieselben Merkmale aufweist, wie die ihr vorangegangenen Vorzeiten. Es scheint ihm ein zentrales Anliegen gewesen zu sein, dieses zweite Gesicht seiner Zeit abzubilden - dabei bedient er sich selten einer nüchternen Sprache, die er wahrscheinlich abgelehnt hat, weil sie als Sprache seiner Zeit auch dem Effizienzgedanken unterworfen schien. In seinem Text Hättest Du nur Teitelbaum ermordet... beschreibt er den Mord an einen offensichtlich berühmten Mann namens Buback. Vielleicht ein heiliger Mann: wenn man liest, welche Verehrung ihm anscheinend seitens der Gesellschaft zuteil wurde - aber das ist nur eine Vermutung. Wir wissen auch nicht, wer Teitelbaum war - aber dem zeitgenössischen Leser wird klar, dass sich De Lapuente darüber ereifert hat, dass Mord nicht gleich Mord war. Dieses zweite Gesicht, diese Doppelmoral trieb ihn wahrscheinlich an.

Leider wissen wir nicht viel von jener Zeit, die langsam aber sicher dem Abgrund immer näher kam. Wir wissen, dass eines Tages Bücher dem Feuer übergeben wurden, weil sie die Nutzbarkeit und Wirtschaftlichkeit der Humanressource (vermutlich ein damals zeitgemäßes Wort für Mensch) behinderten. Erst brannten Bücher, dann Menschen, dann die ganze Welt - so in etwa muß es sich abgespielt haben. Zufall scheint es nicht gewesen zu sein: das können wir aus unserem spärlichen Wissen dennoch ableiten. Wir wissen zwar nicht, warum die Welt brannte - aber wir können behaupten, dass sie folgerichtig und konsequent brannte: lange genug scheint auf eine Welt hingearbeitet worden zu sein, die dem Menschen nicht gerecht war, die zum Ausbruch aus dieser fremden Umwelt ermunterte, die den Brand willentlich in Kauf nahm.

Um die Befindlichkeiten des homo apocalypticus besser zu verstehen, sollten De Lapuentes Fragmente, die nun zu einem Buch zusammengefasst wurden, gelesen werden. Sollte der Autor in seiner Welt eine unbekannte Größe gewesen sein: hier und heute erlangt er posthumen Ruhm. Seine Aufzeichnungen werden die historische und soziologische Wissenschaft noch beschäftigen - aber sie werden auch einem breiten Publikum Einblick in eine traurige, dem Tode überschriebene Welt gewähren. Unzugehörig ist ab sofort erhältlich.



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Eine linke Tour

Mittwoch, 22. September 2010

Das ausschlaggebende Problem sei dieser linke Esprit, der sich durch die Mehrzahl der Zeitungen, der Kolumnen und Feuilletons ziehe. Ein Geist, der sich zu verständnisvoll, zu zurückhaltend und blind für Realitäten präsentiere. Einer, der Reformen behindert, unbequeme Wahrheiten unterbindet und die Sachzwänge dieser Welt einfach nicht durchblicken will. Ein Geist, der aus den bedruckten Blättern entweicht und sein Bukett in der gesamten bundesrepublikanischen Welt verströme; der den Institutionen Links um! zurufe, die CDU weichspüle und sozialdemokratisiere, eine Sprache der political correctness installiere. Der linke Zeitgeist, so sind sich nicht wenige Publizisten und Meinungsmacher sicher, habe die Bundesrepublik fest im Griff.

Dieser stählerne Griff ist vielen Meinungsmachern schier unerträglich. Komisch ist nur, dass die Kritiker der linken Umklammerung gar keine Minderheit sind: so gut wie jede deutsche Tageszeitung ereifert sich in ihrer Kommentarspalte über den Zeitgeist, füttert mindestens einen von diesen Kritikern mit durch. Die sozialdemokratisierte CDU ist quasi zum Standardrepertoire ideenloser Schreiberlinge geworden; ebenfalls das Zürnen gegen einen Slang, den man mit political correct zertifiziert. Besonders kühne Gestalten trauen sich gar, dem heutigen Deutschland das Prädikat DDR zu bescheinigen - wobei die DDR allenfalls so was wie das Produkt eines gelinkten linken ursprünglichen Denkens war. Kurzum, einige couragierte Meinungsmacher, im Auftrag ihrer Herrn, fühlen sich recht unwohl in der Volksrepublik Deutschland, mit all ihren linken Parteien - es laufen treu hintendrein politische Bankrotteure, die den "Ton der linken Schickeria" nicht ausstehen können oder linkes Denken generell für einen Fehler halten. Alle wohlvereint im Kampfgetümmel gegen das linke, das zurückgelassene 68er-Denken, das nicht weichen will.

Fast möchte man es glauben, bei dieser Absolutheit an gleichlautenden Sichtweisen, bei dieser "Summe gleichzeitig stattfindender Monologe". Nur einige Details passen nicht ins Bild eines linken Zeitgeistes: Weshalb ist es beispielsweise möglich, dass ein Angriffskrieg unterstützt und mitgetragen, und von der schreibenden Zunft, die angeblich von links her verdorben ist, verteidigt wird? Wie lassen sich Sozialabbau und einseitige Reformen - nur ein Stichwort: Elterngeld! - erklären in einem solchen Klima? Braucht es einen linken Zeitgeist, um sozialeugenische und klassistische Bierkellerparolen großzügigst publizieren zu dürfen? Ist anschwellende und angestachelte Fremdenfeindlichkeit das Werk linker Gesinnung? Wieso ist der Gleichheitsgedanke in Schieflage, das deutsche Schulsystem schichtundurchlässig wie nie - ist das linkes Ideal? Ein linkes Ideal wie jenes, dass sich nicht erwerbstätige Menschen, Rentner, Kranke und Arbeitslose, zunehmend wie Menschen zweiter Klasse fühlen müssen, weil sie keine ökonomische Brauchbarkeit mehr aufzuweisen haben, weil sie sich auf dem freien Markt nicht mehr verkaufen können?

Die Welt als Wille zur Vorstellung! Denn mehr als eine trübe Vorstellung ist das Gespenst, das in Deutschland umgehen soll, ja nicht. Der linke Zeitgeist ist eine grandiose Erfindung, bei manchen vielleicht auch eine hysterische Einbildung - es ist jedem Falle eine linke Tour, von einer linken Mode zu berichten, die es überhaupt nicht gibt; die es nicht geben kann, wenn man betrachtet, wie sich diese angeblich linke Republik entwickelt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander: die linke Macht- und Meinungsergreifung ist ein Mythos, ein rhetorisches Mittel, um einen Konservatismus abzugrenzen, der schon lange nicht mehr konservativ ist, sondern zum Handlager der Ökonomisierer aller Lebenslagen wurde - und aus dieser Nische kommt auch die angeprangerte Sprache der political correctness; denn ökonomisierte Lebensverhältnisse müssen ganz korrekt verniedlicht werden, damit die Menschen sie ertragen können. Das linke Monopol ist ein Stilmittel, das die Parteien der politischen Mitte konturieren soll - weil man selbst so schrecklich profillos ist, keine sich scharf absetzende Silhouette besitzt, zeichnet man die linke Gefahr an die Wand. Irgendwie muß man sich ja selbst herausputzen!



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De dicto

Dienstag, 21. September 2010

"Innerhalb von drei Monaten sollen Arbeitslose bei Fehlverhalten künftig sanktioniert werden. Das Arbeitsministerium will den komplizierten Gesetzestext vereinfachen, damit Jobcenter-Mitarbeiter bei ihrer täglichen Arbeit einfacher durchgreifen können. Gleichzeitig sollen Sanktionen so in allen Jobcentern gleich angewendet werden. Bisher liegt es oft auch im Ermessen der Arbeitsvermittler, wie hart sanktioniert wird."
- Paul Ronzheimer, BILD-Zeitung vom 20. September 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Obige Belegstelle entstammt einem Text, der unter dem Aufmacher "Hartz IV-Revolution" logiert. Was von einem Elaborat unter diesem Label zu halten ist, muß nicht gesondert konkretisiert werden. Fraglich ist aber dennoch, was die BILD-Zeitung mit der Textstelle ausdrücken will. Reichlich Fragezeichen blühen auf; drei Seltsamkeiten springen dabei besonders ins Auge:
  1. Das beginnt bereits damit, dass Fehlverhalten bereits heute nicht "innerhalb von drei Monaten" sanktioniert wird, sondern umgehend. Wer sich heute fehlverhält, wird umgehend sanktioniert und erhält bereits im Folgemonat, bei der nächsten Überweisung auf das Konto, den gekürzten Regelsatz.
  2. Der Arbeitsvermittler hat Ermessensspielraum - so weit stimmt es noch. Er kann ermessen, ob ein bestimmtes Verhalten ein Fehlverhalten war oder nicht. Kommt er zu dem Eindruck, dass sich jemand etwas zuschulden kommen ließ, so sind die Sanktionsmechanismen eindeutig. Zehn Prozent der Regelleistung werden abgeschlagen, wenn es sich um ein so genanntes Meldeversäumnis handelt - dreißig Prozent der Regelleistung sind fällig, wenn man eine Pflicht verletzt, beispielsweise eine zumutbare Arbeit ablehnt. Es ist nicht so, wie es die BILD oder namentlich Paul Ronzheimer suggerieren möchte, dass der Arbeitsvermittler willkürlich mit Prozentwerten um sich werfen darf. Dir gebe ich fünf Prozent Kürzung, Dir fünfzehn - und Du da hinten, Du hast nicht ordentlich gegrüßt: Du kriegst vierzig Prozent! - So wird das jedenfalls (noch) nicht gehandhabt...
  3. Sanktionen sollen bundesweit angeglichen werden? Aber das sind sie doch schon: das SGB II läßt da kaum Fragen offen - der oben dargelegte Ermessensspielraum der Vermittler, der womöglich mit der Angleichung gemeint sein könnte, fällt als Angleichungsfaktor jedenfalls raus. Es besteht nämlich die behördliche Verpflichtung, jeden Fall einzeln zu prüfen - eine pauschale Ermessensangleichung kann damit überhaupt nicht umgesetzt werden, zumal dieser Spielraum ohnehin nur zwischen schuldig und unschuldig aussiebt.
Kurzum: Was die BILD-Zeitung hier veranstaltet ist eindeutig. Der ganze Spuk um schärfere Sanktionen, die im Anreißer des Artikels schon angesprochen werden, besitzt überhaupt keine Grundlage. Möglich ist, dass die Arbeitslosenverwaltung teurer wird - Arbeitslose sind, das wird gerne unterschlagen, auch Menschen. Und als solche haben sie Bedürfnisse, Forderungen und Rechnungen zu bezahlen, womit diese Erhöhung öffentlicher Ausgaben zunächst nur begrüßenswert ist. Man will dem BILD-Leser, der seit Jahren darauf eingestimmt ist, dass Hartz IV-Bezieher nur etwas mehr als menschenähnliche Primaten sind, nicht zu ungestüm die schlechte Botschaft von der Teuerung vermitteln. Da braucht es dann eine frohe Botschaft, die die Mehrkosten aufwiegt - und die nennen sich "schärfere Sanktionen". Auch dann, wenn (zum Glück) überhaupt keine neue Sanktionspraxis anberaumt ist.

Ob indes diese frohe Botschaft aus dem Hause Springer stammt oder selbst vom Arbeitsministerium entworfen wurde, um eine Art quid pro quo zu suggerieren, wird noch zu prüfen sein. Auszuschließen ist es nicht, denn wie soll eine verschärfte Sanktionspraxis in einem Rechtsstaat - selbst wenn dieser peu a peu bröckelt! - aussehen? Naiv gesagt: schärfer als heute schon bestraft wird, kann es in einem rechtsstaatlichen Gesellschaftssystem (noch) nicht zugehen...



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Wirklich nur mit Dreck geworfen?

Montag, 20. September 2010

Die Gazetten waren schnell bei ihrem Urteil angelangt: Sarkozy sei entweder infam und intrigant - oder aber er habe Merkel lediglich falsch verstanden! Die Kanzlerin habe nie zugesagt, in Deutschland lebenden Roma ein Taschengeld zu versprechen, falls sie schnell das Weite suchten. Eine Räumung etwaiger Roma-Lager werde es unter Merkel nicht geben – da hat Monsieur le Président etwas durcheinander gebracht, war wohl etwas schwerhörig - falls er nicht doch hinterfotzig ist.

Die Dementis aus Berlin könnten ja sogar stimmen. Niemand will Merkel unterstellen, sie wäre eine potenzielle Romajägerin. Und obwohl man weiß, dass die Romafreundlichkeit hierzulande wenig ausgeprägt ist, wäre ein solcher Vorwurf ohne Beweise unlauter. Selbst liberalere Gestalten als Merkel, ja selbst grüne Politiker, haben sich zu diesem Thema schon mehr als unselig geäußert – man denke nur an Cohn-Bendits literarische Verirrung, in der er Roma und Sinti als "troublemakers", "asozial" und "unsozial" definierte. Zigeuner ist immer noch ein Ausruf, den man mal spaßig, mal verächtlich solchen Personen zuruft, die man für durchtriebene Filous oder raffinierte Faulpelze hält. Es wäre also nicht so, dass die Romafeindlichkeit vom Himmel fiele. Sollte diese Regierung sich dazu entschließen, dem französischen Präsidenten zu folgen, wäre das nur sparsam überraschend.

Und genau dieser nie abgeebbte, immer präsente Argwohn gegenüber Roma, sollte eine lapidare Aussage wie "da hat der Mann wohl etwas falsch verstanden", in Zweifel ziehen dürfen. Niemand will Merkel und ihrer Gefolgschaft etwas unterstellen: aber Zweifel ist des Journalisten Lebensgeist – zweifelt er nicht mehr, wechselt er hinüber, wird Regierungssprecher. Wäre es demnach nicht journalistisch konsequent, Sarkozy zunächst keine Schwerhörigkeit oder Begriffsstutzigkeit zu unterstellen, um für weiterführende Nachforschungen nicht allzu betäubt zu sein? Mögliche Fragen wären: Was hat Merkel dann wirklich gesagt? Worauf wollte sie hinaus? Oder, wenn man es drastischer mag: War da vielleicht was geplant, das nach der EU-Schelte nicht mehr ausführbar ist? Musste man vage ins Auge genommene (oder schon fortgeschrittene?) Pläne revidieren?

Es auf verstopfte Ohrkanäle zu schieben: das ist nicht journalistische Berichterstattung, das riecht nach Beschwichtigung. Gleichwohl es unisono als krumme Tour Sarkozys zu erklären, bei der er nur Dreck auf Merkel werfen wollte, wird dem journalistischen Auftrag nicht gerecht. Ob mehr dahintersteckt, ob es wirklich nur Dreck war, ob im Fahrwasser allgemeiner Feindlichkeit gegen andere Volksgruppen, nicht vielleicht doch etwas verborgen liegt: da müsste der Journalismus ansetzen! Monsieur le Présidents Ohren sind seine Privatangelegenheit – solcherlei denkbare Pläne seitens der Regierung, gehen uns alle an. Niemand will Merkel unterstellen, sie hätte dem Räumen eines Roma-Lagers ihren amtlichen Segen gegeben – aber Sarkozy sollte man auch nicht unterstellen, er würde nur schlecht hören, falsch verstehen oder Schuld abwälzen. Für die Berichterstattung sind beides Optionen, sind es Richtungen, in die man vorstoßen, hineinrecherchieren muß.

Die Schwerhörigkeit ist die eine Seite, die andere wäre, nun zu hinterfragen, was Merkel wirklich meinte, was sie ihm gesagt hat, was vielleicht sogar schon in Planung war oder als Tagesordnungspunkt anberaumt. Wenn journalistische Neutralität - ein unerreichbares Ideal? – überhaupt etwas bedeutet, dann in etwa soviel, immer auch die andere Seite zu prüfen, um die Geschichte dahinter zu ertasten...



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Deutschland im Herbst

Samstag, 18. September 2010

Der "Herbst der Entscheidung" lauert. Ein Herbst, in dem sich entschieden Blätter färben und hinabfallend die Baumkronen entkleiden - ein Herbst, in dem erneut gegen die entschieden wird, die am unteren Ende der Gesellschaft festhängen. Ein deutscher Herbst eben, mit all seiner Ignoranz gegen Unterschichten, mit seinem eisernen Sparwillen, den man dort auslebt, wo es eigentlich kaum noch etwas zu sparen gibt. Deutschland im Herbst: eine Jahreszeit der Entscheidungen; eine Jahreszeit, in der man sich einmal mehr gegen Mittellose entscheidet, ihnen eine entschieden schlechtere Gesundheitsversorgung zuteilt, ihnen entschieden an die Regelsätze geht, sie weiterhin entschieden gängelt und drückt.

Deutschland im Herbst: einst eine filmische Schau nationaler Befindlichkeiten nach dem Terror - beschrieben werden die Folgen des Radikalenerlasses, die Hysterie in der Gesellschaft, die den Konsens zuließ, weitere Kontroll- und Überwachungsmechanismen zu akzeptieren, das konformistische gesamtgesellschaftliche Abnicken ungereimter Entscheidungen - das war 1977/78. Im damaligen Herbst interessierten sich die teils namhaften Filmmacher für die Folgen des Terrorismus' - in diesem Herbst sind es höchstens kleine terroristische Nickligkeiten, die von der Regierung, auf Basis genereller Ablehnung gegen die Habenichtse seitens der sogenannte Mittelschicht, ausgeteilt werden. Doch (klassistische und rassistische) Hysterie, Radikalenhatz in Form verfassungschützender Überwachung einer linkeren Partei, Konformismus: all das existiert auch in diesem Herbst - in diesem Herbst der anstehenden Entscheidungen.

Volker Schlöndorff, der dazumal für sein herbstliches Engagement sehr kritisiert wurde, erklärte, dass er sich nach dieser Arbeit und den Erfahrungen nicht mehr frage, "warum gibt es sogenannte Terroristen, sondern wie kommt es, dass es nicht viel mehr gibt. Wie kommt es, dass nicht alle um sich schlagen." Ja, wie kommt es eigentlich dazu, dass Menschen beim Einreißen von Gebäuden, richtigen Baulichkeiten aus Stein und Stahl, in Scharen auf die Straßen pilgern - beim Zertrümmern anderer Gebäude aber, ideeller oder Wertegebäude, wie das Sozialstaatsgebäude eines ist, aber die Straße meiden? Wie kommt es dazu, dass nicht alle um sich schlagen? Es muß ja nicht gleich Terrorismus sein - der Terror des kleinen Mannes, als der sich die RAF manchmal verstanden wissen wollte, ist ja grandios in die Hose gegangen. Und nicht jedes Mittel heiligte den Zweck. Aber so ein bisschen Ungehorsam und Zivilcourage, nicht nur wenn Steingebäude, sondern auch wenn Gedankengebäude abgetragen werden, der Sozialstaatsgedanke aufweicht - wo findet man die? Wie kommt es, dass nicht alle um sich schlagen? Warum bereiten abgerissene Bahnhöfe schlaflose Nächte, während der mit der Abrissbirne traktierte Sozialstaat, der anhand halbseidener Gesetzgebung auch den Rechtsstaat in Mitleidenschaft zieht, nur wenigen Bauchkrämpfe bereitet?

Im deutschen Herbst des laufenden Jahres zählen andere Werte als "um sich schlagen" - selbst sich als links und solidarisch einstufende Jugendliche verachten den Sozialstaat, der nur Verlierer durchfüttere. Und die Elterngeneration empfindet es ganz ähnlich. Es schlagen die einen nicht um sich, weil sie durch jahrelangen Bezug von Transferleistungen und die einhergehende Häme, die man ihnen medial bereitete, mürbe und ausgetrocknet sind - und die anderen schlagen nicht um sich, weil es sie nichts angeht, weil sie ihre Energie für Bahnhofsabrisse verpulvern. Selbst tendenziell links positionierte Menschen gelangen durch jahrelange Medienberieselung, durch Sarrazinaden und Sloterdijkinen, durch Clementina und Westerwellen, durch wirtschaftliche Aufrechnung und ökonomische Programmatik, zu dem Eindruck, dass es ausreichend linksgedreht sei, für saubere Umwelt und gegen Atomstrom zu sein oder gegen die Halsstarrigkeit einer bahnhofszerdeppernden Obrigkeit zu stiefeln. Aber der Mensch, der hilfebedürftige, verarmte Mensch - für den wird auch im Herbst nicht marschiert! Nach aller Menschenverachtung, die seit Jahren das agenda setting bestimmt, nach aller Herabschau auf die Hungerleider: woher soll so viel Solidarität da auch herkommen wollen?

Im deutschen Herbst der Entscheidungen ist nur entschieden, dass der Sozialabbau, Hand in Hand mit einem salonfähig gewordenen Klassismus, weitergeht - und ganz entschieden entschieden ist, dass eine Hysterie den Diskurs bestimmt: eine Hysterie aufgrund Überfremdung, Sozialschmarotzerei, zu vieler Alter... und entschieden ist, dass demonstriert wird: nur nicht für die Aussortierten, nur nicht für die Leistungsbezieher, für chronisch Kranke oder Rentner - aber für Bauwerke! Der kommende deutsche Herbst: er legitimiert weiteren Terror; er terrorisiert diejenigen, die sich einen schwachen Staat nicht leisten können - es ist Staatsterror im Namen der Mittelschicht zulasten der Armen.

Bildquellen:
1.) Follow me now
2. Fotomontage ad sinistram


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Sit venia verbo

Freitag, 17. September 2010

"Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten", sagte Aristoteles. Der griechische Philosoph Epiktet, der zur Zeit von Jesus lebte, drückte dies in negativer Form so aus: "Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Ansichten über die Dinge".
Das fahrlässige Reden auch von offiziellen Stellen über Asylmissbrauch und Ausländerkriminalität hat vielen in der rechtsradikalen Szene als Vorwand und als Begründung gedient, um andere Leute totzuschlagen und Häuser anzuzünden, weil darin Menschen wohnten, die eine andere Hautfarbe, Muttersprache oder Herkunft hatten. Die Verrohung der Sprache in der deutschen Publizistik und Politik und im Alltag ist ausschlaggebend für die Entwicklung des Rechtsradikalismus. In der Glosse einer überregionalen Zeitung wurde vor einiger Zeit für Ausländer der Begriff "fremdartig" verwendet. Auch hier ist es wie mit dem Asylmissbrauch: Von "fremdartig" ist der Weg nicht mehr weit zu "andersartig", und dann ist man schnell bei "abartig". Was man mit solchen Leuten tut, ist aus der jüngsten deutschen Geschichte bestens bekannt."
- Heiner Geißler, Was würde Jesus heute sagen? -

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Über deutsche Zustände

Donnerstag, 16. September 2010

Ein Gastbeitrag von Nadia Shehadeh.
"Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens."
- Antonio Gramsci in "Gefängnishefte", H. 28, § 11, 2232 -
Stellte man sich in letzter Zeit die Frage, ob in Deutschland gegenwärtig nun eher die leistungspolitischen oder aber die psychopolitischen Diskurse das gesunde deutsche Volksempfinden mobilisierten, so komponierten in mancher Menschen Hirn die Synapsen-Troubadoure vielleicht folgende Melodie: "Aaaah, darüber lieber nicht so viel nachdenken! Das geht vorbei, und an meinem Hintern sowieso! Und überhaupt, das sind vielleicht alles Probleme, aber meine sowieso schon mal gar nicht!" Manch anderer fragte sich vielleicht gar, wo sein Hirn sich gerade befände, so dass andere ihm zurufen wollten: "Verdammt, diese Schwabbelmasse, die meinen wir! Dieses Glibberzeug, das sich in deinem Kopf befindet, und dein Kopf, das ist diese Kugel da, die etwa einen Meter über deinem Arsch hängt!" Und die nüchternen, geduldigen Kreaturen unter uns nahmen sich vielleicht einen Moment Zeit, um trotz des Gestanks dieser hysterischen Flatulenz leicht bräunlichen Gedankengutes (und ja, an alle anderen, schreit doch: "Vielleicht hat ER da aber Recht bei der ein oder anderen These, und hat es nur etwas ungeschickt rübergebracht und sich mit den Genen einfach verheddert! Das kann doch mal passieren! ER ist doch auch nur ein Mensch!") sich mal hier und da auch noch mit anderen Dingen zu beschäftigen.

Zum Beispiel mit der aktuellen Shell-Studie. Der junge, frische Nachwuchs unseres schwarz-rot-güldenen Landes, so stellte diese fest, sei frohgemut und ordentlich durchgebürstet, interessiere sich für Politik und sei überhaupt so eine süß-aufgeweckte Ausgeburt an Optimismus, dass es einem schon fast kariös werde im Mund. "Doch, Obacht!", wird dann weiter erklärt, "diese euphorischen Charakteristika gelten nur für die Schnöselkinder! Für die Blagen solcher Menschen, deren Hosentaschen bis zum Fußboden runterhängen da sie voll gestopft sind mit Geld!" Die Kinder der Armen, die sich stattdessen am gammeligen Bodensatz unserer Gesellschaftspfanne laben müssen, hach, um die hingegen sei es arg schlecht bestellt. Resigniert seien sie, und da ahnt man, dass das bei jungem Blut, das noch nicht über ein Mindestmaß an Altersmilde verfügt, ganz arge Verwüstungen hinterlässt. Und weiter wird angeführt, dass in Deutschland die Schichtundurchlässigkeit weiterhin so stabil sei wie die gute industriell hergestellte Vliesbinde in extra starken Babywindeln: Bildungserfolg hänge in Deutschland so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in sonst kaum einem Land.

Dieses Forschungsergebnis, das seit Jahren dasselbe ist, jedoch gegenwärtig von mancher Journaille heute als le plus nouveau résultat gefeiert wird, verheißt weiterhin komfortables Zurücklehnen bei den Speckmaden unserer Gesellschaft: Sofern bei deren Kindern nämlich etwa ein Symptom wie Grenzdebilität vorhanden wäre, sei es trotzdem wahrscheinlich, dass sie gemütlich in ihrer Schicht verharren, vielleicht sogar groß Karriere machen! Dass dies möglich ist, zeigen uns manche Würdenträger in Politik und Wirtschaft. Ganz nach dem Motto "Wer lesen kann, der kann auch schreiben!" verfassen einige dieser Grenzbegabten sogar Bestseller. Man frage sich, ob es sich beim Verhältnis "Atmen und Blähen" vielleicht genauso verhalte! Doch egal, sei es drum, das Schöne ist: Die fröhlichen, politikbegeisterten Kinder des Establishments, sie trauen sich was! Sie gehen auf die Straße! Sie protestieren! Gegen Atom, gegen den Umbau des Bahnhofs in Stuttgart, gegen Umweltzerstörung, gegen Tierquälerei! Sie haben Arsch in der Hose! Das ist alles ehrenhaft und liebenswert, aber die Schnösel-Kinder wären ja dümmlich, würden sie zusätzlich zu diesem noblen Engagement auch noch für Bildungsreformen das Maul aufreißen! Als ob der Politikpennäler Marius es für wünschenswert halten könne, wenn noch mehr Murat-Molukken ihm seinen Platz als töfter Musterstudent streitig machen würden. Wo kämen wir denn da hin, gerade in Zeiten wie diesen?

Gehen wir aber doch noch tiefer, um die Frage nach der Möglichkeit der Menschen, sich an jeder Dummheit hysterisch begeistern zu können, nicht einfach nach postmoderner Manier verschwinden zu lassen. Da hilft ein Blick in eine weitere Studie: "Deutsche Zustände" heißt diese und präsentiert seit einigen Monden alljährlich empirisch belegt die Auswüchse der Barbarei unserer modernen deutschen Zivilgesellschaft westlicher Prägung. Der zuletzt erschienene achte Band beschäftigte sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Krise (und ich wette mit Euch: ER hat niemals auch nur einen Band dieser Studie gelesen!), und kam unter anderem zu dem Schluss, dass vor allem die mittleren Schichten, die sich dadurch auszeichnen, dass sich ihr Status auf Einkommen und nicht auf Besitz gründet, abgefahren sensibel sind für Entwicklungen, die ihnen diesen Status abziehen könnten. Heißt, dass diese Schicht versessen darauf ist, andere Bevölkerungsgruppen verantwortlich zu machen für die eigene Status-Angst. Und so trägt sie, die Mittelschicht, maßgeblich dazu bei, dass diskriminierende Einstellungen sich so schnell ausbreiten. Tadaaa! So einfach können Kernnormen wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness zum Wackeln gebracht werden. Dazu hätte es vielleicht noch nicht einmal SEIN Buch gebraucht. Doch sei`s drum: Versuchen wir auf den Pessimismus des Verstandes und den Optimismus des Willens zu setzen. Und hoffen wir darauf, dass sich das undurchlässige Schichtsystem Deutschlands bald selbst abschafft.



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Hitler bis auf weiteres unschuldig!

Mittwoch, 15. September 2010

Man kann Thilo Sarrazin nicht kritisieren, bevor man sein Buch gelesen hat, raunte es mehrfach aus dem Blätterwald. Alle Kritiker sollen sich zurücknehmen, stillhalten, wenigstens so lange, bis sie "Deutschland schafft sich ab" gelesen haben. Ohne Einblick kein Überblick - und somit keine Kritik. Zwar weiß man grob, worauf Sarrazins Abhandlung hinaus will, kennt einige Passagen und Aussagen: aber das alleine reiche einfach nicht aus. Es bleibe unlauter, ungelesene Bücher oder deren Quintessenz zu bemängeln.

Tatsächlich ist dieses Anbringen eines Totschlagarguments eine historische Begebenheit. Ab heute soll nichts mehr kommentiert, bewertet oder kritisiert werden, was nicht auch vorher gelesen wurde. Über Hitler kein Wort mehr - jedenfalls kein bewertendes, kein kritisierendes Wort mehr. Denn wer hat schon "seinen Kampf" gelesen? Kommentierte Ausgaben vielleicht: aber die zählen nicht, die könnten Verfälschungen bergen, könnten ideologisch kommentiert worden sein - so wie einschlägige Passagen des wackeren Sarrazins in der linken Journaille verrissen und entstellt wurden. Hitler hat ab heute nicht mehr als liederlicher Bluthund die Kommentarbereiche zu zieren - das kann erst dann geschehen, wenn sein Elaborat gründlich, ganz penibel gelesen wurde. Ohne "Mein Kampf" gelesen zu haben, hat die Presse über geschichtliche Ereignisse jener Tage moralinbereinigt zu berichten. Kritik an Hitler kann sich nur der Leser Hitlers erlauben!

Sicherlich, man weiß ja, wohin Hitlers Machenschaften führten. Das konnte man bereits 1933 sehen, als die ersten Maßnahmen gegen unliebsame Subjekte lauthals bejubelt wurden - aber das darf nicht zählen. Das zählt heute ja auch nicht! Jetzt, da man sehen kann, wie sich die Stammtische aus ihrer Bierseligkeit erheben, um ein ganzes Land an ihren Suff zu infizieren. Es wird gut sichtbar, wie niederste Instinkte selbst heute noch hochkochen, wenn einer Bücher schreibt, die sich gegen Unterschichten und Ausländer richten - da kommt die ganze Potenz eines Volkes zum Vorschein, das sich gar fürchterlich ausgebeutet wähnt, gegen die wahren Ausbeuter aber nicht zum Schlage kommt. Da muß ein Surrogat her, Sündenböcke zur allgemeinen Entspannung - und es braucht giftige Werbetexter, die dicke Bücher schreiben, um die Frustration zu schüren.

Nicht an den Taten lassen sich demnach Gesinnungen erahnen: an den Worten sollen wir sie messen! An geschriebenen Worten, denn gesagte Worte verhallen in der Luft. Papier ist Wahrheit. Und wer die papierne Wahrheit nicht heranzieht, der darf auch nicht kritisieren. Der darf heute Sarrazin nicht tadeln und er darf konsequenterweise auch Hitler nicht zerpflücken., sofern er ihn, wie die Mehrzahl der Menschen heute - und damals schon, wie Historiker berichten -, nicht gelesen hat. Ohne gelesenes Buch, kein Recht auf Kritik! Dass viele Experten Hitlers Staubfänger gelesen haben, das gilt nicht. Es gilt ja auch nicht für den Kritiker heutigen Schlages, dass er sich auf etwaige Aussagen von Personen stützt, die Sarrazins Buch gelesen haben. Sich selbst ein Bild machen!, raten ihm dann die Befürworter des Stammlers. Und einige Zitate aus "Mein Kampf" sagen auch noch nichts über Hitler aus - Sarrazins sagen ja auch nichts über ihn aus; nicht über ihn, nicht über sein Weltbild. Nur der pingelige und gewissenhafte Leser erwirkt sich Kritikbefugnis.

Sicher, Sarrazin ist nicht Hitler. Der Vergleich verbietet sich insofern. Aber wenn nur das Totschlagargument gelten soll, wonach nur derjenige Kritik üben darf, der das Buch gelesen habe, dann müssen auch all jene schweigen, die heute im täglichen Rückblick auf damals von Hitler schreiben und dessen Buch nie angefasst haben. Gälte das Argument, so hätte Hitler als netter Mann zu zählen, denn gälte es, so gälte auch für ihn die Unschuldsvermutung - so lange jedenfalls, bis man in seinem Schund geschmökert und seine publizierte Schuld beweisen kann.



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De auditu

Dienstag, 14. September 2010

Mit dem Verdachtsmoment Kindesmissbrauch ist man zuweilen schnell zur Hand. Dies hat dramatische Auswirkungen, wie schon Mitte der Neunzigerjahre Katharina Rutschky und Reinhart Wolff unter dem Label "Missbrauch mit dem Missbrauch" verschlagwortisierten - nicht ohne in den Ruch pädophiler Sympathie zu geraten. Was bei der Debatte zu kurz kam: der Kindesmissbrauch als Begriff ist so in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeschliffen, so selbstverständlich geworden, dass die darin enthaltene Unstimmigkeit selten Beachtung findet, unmerklich verwischt: denn wenn es möglich ist, ein Kind zu missbrauchen, so muß es korrelativ dazu auch einen Gebrauch von Kinder geben.

Wie aber gebraucht man Kinder? Es dürfte mehrerlei Varianten geben, bei dem der Eindruck von Kindesgebrauch gegeben scheint: Familien aus der Unterschicht wirft die Mittelschicht und die Elite oftmals vor, Kinder nur zu bekommen, um Kindergeld und einen zusätzlichen Regelsatz abzustauben - wäre dem so, würden Kinder dazu gebraucht, ein wenig mehr Geld in der Tasche zu haben. Solche Fälle gibt es zweifellos - aber es geht auch andersherum, es gibt auch eine andere Sichtweise, die man eher denen vorwerfen könnte, die nach Unten treten: deren Kinder müssen oft glänzen, als Aushängeschild ihrer Eltern fungieren, erlernen Klavier zu spielen, gute Noten schreiben und einen Hang zur freudigen Deklination lateinischer Adjektive aufweisen - solche Kinder werden als Korrektiv elterlichen Versagens, eigener jugendlicher Erfolglosigkeit gebraucht; solche Kinder sollen den Eltern Lob und Glückwünsche sichern. Zwei subjektive, ohne Anspruch auf Rechtmäßigkeit herangezogene Gebrauchsverdächtigungen, bei denen niemand auch nur im Traum auf den Gedanken käme, es handelte sich um Missbrauch.

Kindesgebrauch, ganz unabhängig von den oben genannten Vermutungen hierzu, könnte schlicht bedeuten, dem Kind eine Funktion zuzuordnen, ihm ein kindgerechtes Leben im Namen von Bildung, guter Zukunft oder Elternstolz zu verwehren. Man gebraucht das Kind, um besser zu leben oder als Vater oder Mutter angesehener zu sein - das Kind wird zum Objekt, wird verzwecklicht, zum Gebrauchsgegenstand. Kindesgebrauch, so könnte man nach dieser Definition behaupten, findet heute in vielen Alltagsentscheidungen statt, wo Kinder zu Lernbehältern degradiert werden, wo man sie zwecks Bändigung ihres lästigen Daseins, in Kurse oder Ganztagsschulen steckt, ihnen kindesgemäße Freiheit entzieht, sie zum Werbeträger eines heilen Familienidylls erwählt.

Wiewohl der alltäglich benutzte Missbrauchsbegriff unter bösartigen Vorzeichen verstanden wird, könnte man dem Gebrauch, den es alltäglich gesprochen gar nicht gibt, den es jedoch dialektisch gedacht geben müsste, zuschreiben, nicht böser Absicht zu sein - man meint es gegenteilig vielleicht auch nicht gut: eher vernünftig und zweckmäßig. Dass dabei die kindliche Gemütslage oftmals verkannt, dass kindliche Freiheit eingezäunt wird, rückte den Gebrauch in ein fadenscheiniges Licht. Hier entsteht die Schnittstelle, an der Gebrauch und Missbrauch verquirlen; hier wird der Gebrauch das, was er eigentlich nicht sein sollte: Missbrauch! Kinder, Menschen überhaupt, zu gebrauchen: das ist kein Pendant zum Missbrauch - es ist dasselbe, wenn auch manchmal aus einem anderen Impuls heraus. Derjenige, der Kinder missbraucht, gebraucht sie eben zur Befriedigung seiner Triebe - und derjenige, der Kinder gebraucht, missbraucht sie im Namen einer abstrakten Vernunft.



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Die neue Partei der Heimatlosen

Montag, 13. September 2010

Da kugelt die Maske endgültig vom Gesicht! Jetzt, ausgerechnet jetzt, da landauf landab von einer neuen konservativen Partei salbadert wird, deren geistigen Vorsitz ein Chefideologe namens Sarrazin innehaben soll, mag sich auch Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, eine solche neue Partei vorstellen. Inspiriert haben sie diejenigen dazu, die sie für ihre Äußerungen zur Mobilmachung Polens schalten, die aus der Vertriebenenpräsidentin gerne eine vertriebene Präsidentin gemacht hätten. Unverstanden wie sie sich nun fühlt, jetzt auch noch heimatlos geworden auf dem politischen Parkett, giert sie nach einer neuen politischen Heimat, in der "Töne der linken Schickeria" nicht vernehmbar sind.

Zweierlei Gebrechen, an denen der deutsche Elitedünkel darniederliegt, werden an Erika Steinbachs Verhalten sichtbar: Erstens, glaubt sie an einen allgemeinen linken Zeitgeist und, zweitens, bezeichnet man radikale Positionen, rassistische und relativistische Ansichten heute wieder ganz schamlos als Konservatismus. Dass man immer wieder lesen muß, der linke Zeitgeist sei in Mode, das ist man mittlerweile ja gewohnt - wie Sozialabbau, kriegerische Auslandseinsätze oder das Publizieren von sozialeugenischen Hirngespinsten in eine solche linke Mode hineinpassen, wird in der Regel nicht erläutert. Und dass ausgerechnet solche, die von Parasiten und Schmarotzern kündeten, so wie einst Clement oder nun im "wissenschaftlichen" Gepräge Sarrazin, als Köpfe des Konservatismus gezeichnet werden, wirft schon ein trauriges Licht, eine dustere Funzel auf die politische und wirtschaftliche Blüte dieses Landes.

Überraschend ist indes nicht Steinbachs Geschichtsvergessenheit, die nicht historisch beseelt, sondern relativierend motiviert war; und auch ihr beleidigtes Gehabe ist es nicht: man kennt Steinbach ja schon lange genug, kannte ihre Eskapaden und fehlende Feinfühligkeit mit Polen - was nicht verwundert, hat sie doch damals - 1991 war es - als Bundestagsabgeordnete gegen eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, gegen den Deutsch-polnischen Nachbarschafts- und Grenzvertrag gestimmt. "Man kann nicht für einen Vertrag stimmen", sagte sie, "der einen Teil unserer Heimat abtrennt." Und genau hier, in Fragen der Heimat, das was Steinbach als Heimat definiert, lugt hervor, mit welcher Motivation diese Dame in Diensten steht. Wenn man weiß, woher sie stammt, wenn man weiß, was für sie Heimat bedeutet, dann muß man keinerlei Skandale dieser Person kennen, um zu ertasten, wess Geistes Kind sie ist.

Der obersten Heimatvertriebenen angebliche Heimat, war ursprünglich die Heimat anderer Vertriebener. Sie wurde 1943 im kurzlebigen Reichsgau Danzig-Westpreußen geboren - als Tochter eines hessischen Feldwebels der Luftwaffe, der 1939 ins besetzte Polen beordert wurde. Vier Jahre vor klein Erikas Geburt, lebten Polen und Juden dort, wo jetzt deutsche Besatzungssoldaten und deutsche Herrenmenschen hausten. Die Heimat, aus der Steinbach nach dem Krieg vertrieben wurde, war kurz zuvor noch die Heimat anderer, heimatlos gewordener, ums Leben gebrachter Menschen. Die Familie Steinbachs als Integrationswunder! Sie hatten sich in der Fremde schnell heimisch gefühlt, schnell integriert - vielleicht auch daher der Drang, im Kielwasser aktueller Integrationsdebatten, als deren erlesener Experte Sarrazin auserkoren wurde, eine neue Partei zu fordern, die dann konservativ wie sie wäre, dafür Sorge zu tragen hätte, dass sich Türken und Araber hier so schnell heimisch fühlen sollen, wie weiland die Steinbachs im besetzten Polen.

Steinbachs Heimat, die sie so grässlich aufgeben musste, war eine Heimat, die schon vormals ihre Beheimateten verloren hatte. Sie selbst hat dort keine zwei Jahre gelebt - sich aber derart heimisch gefühlt, dass sie heute noch Anspruch auf dort vorhandenes familiäres Eigentum stellt. Kurz gesagt, Steinbach ist eine Lobbyistin, denn um Heimatgefühle kann es ihr nicht gehen - wäre dem so, triebe sie immer noch die verlorene Heimat an, die sie als Säugling verlassen musste, die nicht die historische Heimat ihrer Familie war, sonder die eroberte, so müsste man sie nach ihrer Integrationswilligkeit befragen. Doch das tut keiner! Wie überhaupt wenig Fragen zu dieser Dame gestellt werden. Was ist ihr Movens, könnte man fragen. Woher kommt sie, wäre auch so eine Frage. Stattdessen geistert sie zuweilen als streitbare Dame durch die Journaille, als Eskapaden-Madame, die leider immer falsch verstanden wird - dass sie jedoch keine Vertriebene im Sinne dessen ist, was man naiverweise darunter verstehen könnte, ist allerdings von wenig Interesse.

Bei diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sie in Tagen, da viel von einer neuen Partei um Sarrazin, Clement und Merz phantasiert wird, auch eine Erika Steinbach mitmischt. Jene Herren gefallen ihr gut - sie stellen nämlich das dar, was sie gerne geworden wäre, wenn man sie nicht zur Heimatlosen vertrieben hätte: Gutsherrin! Junkerin! Indem sie sich freudig in die Aufbruchsstimmung zur Gründung einer neuen Partei hineingeworfen hat, hat sie sich das letzte Stück kaschierender Maske abgerissen. Mit Wahrheitsjüngern und Herrenmenschen im Bunde zu stehen, um Gutsherrin zu werden: das ist doch nicht das Schlechteste! Steinbach ist eben nicht die leicht schrullige Frau, die unbedarft schnell mal den Polen die Kriegsschuld zuschustert; sie ist auch nicht die integere und relativ untadelige Person, die ein trauriges Martyrium ihr Leben nennt: Steinbach, die vorsitzende Lobbyistin für Vermögensansprüche im Ausland, sie kalkuliert genau, mit wem sie ihre Interessen durchsetzen kann und mit wem nicht. Sarrazin und Konsorten, mit ihrem ganzen haarsträubenden Weltbild: das sind Burschen, mit denen zurückgeschossen werden kann!



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Brandgefährlich

Samstag, 11. September 2010

Auferstanden aus dem Reich der Toten, trat er vor jene Parteizentrale, die seit geraumer Zeit seinen Namen trug. Behutsam tastete er sich Richtung Eingang, betrat das Atrium und verharrte einen Augenblick vor einer Skulptur, die einen zerknautschten, verknitterten Greis wiedergab, welcher zur seiner Überraschung seinen Namen auf dem Sockel trug. Zur Begutachtung abgestandener Kunst ward er jedoch nicht erneuert, weswegen er schnell weiterstrebte, weiter nach oben, dorthin wo die parteiliche Macht gärte, wo Entscheidungsträger ihre Hintern in weiche Ledersessel pflanzten, wo er mit solchen sprechen konnte, die nun seinen Posten, sein ehemaliges Amt innehatten. Aber just in jenem Moment, da er die Anmeldung passierte, faßte man ihn am Arm, forderte ihn auf anzuhalten, sprach ihn sofort mit seinem bürgerlichen Namen an, jenem Decknamen, den er sich in Exiljahren aneignete und unter dem er zu Amt, Würden und Auszeichnungen kam.

Halt, verweilen Sie bitteschön, hieß ihn ein junger Mann. Ihr Kommen wurde mir angekündigt, man hat mich an jenem Tage, da ich diese Stelle antrat, vor Ihrer Wiederkunft gewarnt; man warnte mich, noch bevor ich in die Funktion der Telefonanlage eingeweiht wurde, bereits beim Einstellungsgespräch kam man schon auf Sie zu sprechen. Halten Sie ihn auf, wenn es je dazu kommt, dass dieser Herr dieses Haus betritt, belehrte man mich. Halten Sie ihn davon ab, uns hier droben aufzusuchen, damit er uns aus seinem angesäuerten, verdrossenen Gesicht heraus zürnt. Ich fragte, mich etwas dumm stellend: aber das ist doch der, na, wie hieß er noch?... und sie sagten mir: ja, das ist er! Keine Fragen dazu, schnitt man mich ab. Wir ahnen, dass er zurückkommt, wir glauben, dass er keinen ruhigen Schlaf finden wird - wenn es so kommt, junger Mann, dann sind Sie unser Bollwerk. Löschen Sie den Brand, bevor er überhaupt erst anfacht.

Ihre eigentliche Aufgabe, teilte man mir damals mit, ist dann gekommen, wenn er zurückkehrt, wenn er zu den Liften strebt, wenn er uns an den Kragen will, von uns wissen will, warum alles so anders kam, so viel weniger demokratiewagend, so viel weniger teilhabend - Telefonanlagen, sagte man mir, sind ja keine berufliche Erfüllung; auf die Rückkehr eines Messias zu warten, wenn nötig Jahre, Jahrzehnte, sich dann in den Weg zu stellen, ihn abzuschütteln, fernzuhalten: das ist wichtig, erfüllend, sinnstiftend, das ist eine tatsächliche, eine richtige Aufgabe. Bleiben Sie also unten, streben Sie nicht hinauf, riet man mir. Und ich rate es Ihnen ebenso: bleiben Sie unten, gehen Sie nicht hinauf. Ich bitte Sie inständig! Sehen Sie ein, dass Ihre Zeit vorbei ist, dass die Zeiten einer Partei, die wenigstens so tut, als würde sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen, grundlegend vorbei sind. Erkennen Sie bitte, dass Sie nicht mehr gebraucht werden!

Das heißt, Sie werden schon gebraucht. Dringlich gebraucht! Als überhöhtes Bild, als Konterfei nicht nur im Atrium, auch in der Parteihistorie, in der Ahnengalerie. Sagen zu können, wir sind die politischen, parteilichen Kinder dieses Mannes, seine politischen Erben, seine Enkel und Urenkel, "von seinem Geist, durch ihn geschweißt" - all das behaupten zu können, das ist märchenhaft für ein parteiliches Image. Auch dann, wenn die aktuelle Partei mit Ihnen, dem Heiland, wenig bis gar nichts mehr gemein hat. Das sagen nicht die hohen Herren - das sage ich. Wenn man Jahre Zeit zum Nachdenken hat, weil man auf seinen Godot wartet, der möglicherweise genauso zuverlässig ist wie Becketts Entwurf, wenn man als Lohnabhängiger in die Rolle eines Estragon gerückt wird, dann denkt man automatisch über das Warum nach - was treibt diese alten Pfennigfuchser dazu, jemanden wie mich hier entgeltlich warten und beobachten zu lassen? Die Angst, sage ich Ihnen - die Angst! Sie ist es, die mir großzügige Monatslöhne überweist!

Sie fürchten sich vor Ihnen. So sehr, dass sie Sie nicht mal vor Augen bekommen wollen. Dort wo Sie waren, dort waren Sie denen gerade richtig. Sie hatten ihren Laden im Griff, konnten Sozialabbau betreiben, gegen die eigene Parteibasis angehen, haben beschissene Wahlergebnisse überlebt - und dann kommen Sie, in dessen Tradition sie sich wähnen, sich darstellen. Dann stehen Sie plötzlich da, jemand der Freiheit postulierte - eine Freiheit, die die Klientel dieser Partei gar nicht mehr kennt, vielleicht gar nicht mehr will. Die Köpfe der Partei wollen diese Freiheit natürlich schon - für sich selbst. Ihre Rückkehr nährt Hoffnungen, verstehen Sie? Die Menschen würden wieder anfangen an Freiheit zu glauben, auch wenn Sie Entscheidungen mitgetragen haben, die Ihrem Motto, Ihrer damaligen Brandrede, nicht gerecht wurden. Dabei hat diese Partei es so weit gebracht, den Menschen diesen freiheitlichen Irrsinn aus den Kopf zu blasen. All das geschah auch in Ihrem Namen; Ihre politischen Enkel beschmutzten Ihren Namen - man erzählte den Menschen, man hüte Ihr Vermächtnis, jedenfalls so gut es gehe. Sie geben eine tolle Statuette ab, einen feinen historischen Namen, mit Ihnen schmückt man sich gerne - der Emigrant, der Sie waren, das uneheliche Kind, als das man Sie damals verunglimpft hat: das ist alles vorbei. Heute sind Sie ein Markenname, eine schwelgerische Erinnerung, die gute alte Zeit von früher. Aber nur leblos nutzen sie denen, nur schweigend, nur... sagen wir es doch offen: nur tot.

Was soll ich ihm denn sagen, wenn er wirklich je zur Türe reinmarschiert, habe ich meine Arbeitgeber gefragt. Er wäre ja ein alter Mann, auch nach so einer Rückkehr, die so weit ich es überblicken kann, bisher nur einem Messias vor ihm gelang, wird er vermutlich in einem greisen Körper daherkommen. Fragen Sie ihn, meinten Sie darauf, wie er es nur wagen konnte, einfach so ins Leben zurückzukehren - fragen Sie ihn, ob er sich nicht schämt. Fragen Sie ihn, ob ihm die Sentenz von Jefferson bekannt ist, wonach jede Generation ihre eigene Gegenwart gestalten, ihre eigene Politik betreiben müsse! Denn das sei es, weshalb Sie sie nicht mehr hier haben wollen - jetzt seien die Nachfolgegenerationen dran. Und wenn diese nicht mehr Demokratie oder mehr Freiheit wagen wollten, dann sei das rechtens. Erinnerungen seien eine Voraussetzung für die Zukunft, haben sie gesagt. Nichts für einen Chefsessel in höheren Stockwerken. Wie ich Ihnen ja erläuterte, man liebt die Erinnerung an Sie, man nimmt sie mit in die Zukunft - doch sie verblaßen, bleichen aus. Später weiß man oft nicht mehr, was wahr, was ersponnen ist. Man hat Sie gerne als Übermenschen im Kopf, nicht als Menschen aus Fleisch und Blut, der Sie ja waren. Ein Mensch mit Schwächen, Frauen liebend, an Depressionen leidend - das leugnet man heute nicht, das gehört heute zu Ihrem posthumen Markenzeichen, womit auch diese Menschlichkeit-Allzumenschlichkeit zum übermenschlichen Attribut wird. Ihre Fleischwerdung ist ja ein weltliches Ding, denn Sie sind da, wieder in der Welt - man liebt aber den himmlischen Klimbim, die vergeistigte Fleischwerdung eines Heiligen. Keine Partei kann vom Fleisch leben, jede lebt vom Image, vom Ruf, von der Tradition und den Köpfen, die die Partei formten.

Steigen Sie nicht in den Lift! Seien Sie vernünftig. Lassen Sie dieser Generation ihre Politik - wobei diese Generation gar keine Politik hat: sie hat nur Politiker, die wiederum Politik für eine Handvoll Ganoven betreibt. Sagen wir es also anders: Lassen Sie dieser Generation das Desinteresse an Politik, die Verdrossenheit, das Leck-mich-am-Arsch-Gefühl, lassen Sie uns unseren unpolitischen Anstrich, der hernach immer in politischen Katastrophen endet. Steigen Sie nicht ein, drehen Sie um - gehen Sie bitte zurück, dorthin, wo Sie dieser Partei, meinem Brotgeber am nützlichsten sind. Ein guter Parteisoldat würde nun folgen, würde sich ins kühle Grab legen und seine Rolle ausfüllen - zum Wohle der Partei! Nicht in den Lift, ich bitte Sie. Sie würden ja ohnehin nichts bewirken, man würde Sie ausschimpfen, Sie verbal an die Wand stellen, wenn man es nicht schon vorher physisch tut, dort im Lift beispielsweise. Ruinieren Sie dieser Partei doch nicht ihr schönstes Kapitel, diese schöne morsche Erinnerung an bessere Tage; nehmen Sie ihr doch nicht diese blendende Hoffnung, dass es irgendwann mal wieder so kommen könnte - tot sind Sie zu gebrauchen, lebend als Oppositioneller des heutigen Parteigeistes, entweihen Sie sich, ziehen Sie sich Argwohn zu, sind Sie zum Abschuss freigegeben. Auf wen sollen sich die heutigen Parteiführer denn berufen, wenn nicht mehr auf Sie, weil Sie dann dem parteilichen Zeitgeist entgegenstehen? Sie nehmen den Leuten ja ihre politische Identität - solchen Leuten, die wegen Ihnen ein Parteibuch ergatterten und nachher erst zu den Schweinen wurden, die sie heute sind. Bleiben Sie also, trinken Sie noch einen Kaffee, er geht aufs Haus - aber nicht in den Lift steigen!

Schweigend schlurfte der Wiedergekehrte gen Aufzugsbereich, drückte den Knopf, wartete, blickte zurück zum jungen Mann an der Telefonanlage, vernahm ein Klingeln und stand einer Fahrkabine gegenüber, die schon von zwei jungen Männern belegt war, in der er aber noch Platz fand. Die Schiebetüre schloss sich, die beiden Männer nestelten an seinem Körper, an seinem Hals, wurden grober und es ward ihm plötzlich wieder so dunkel vor Augen wie damals, als er schon einmal starb...



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