Sit venia verbo
Mittwoch, 29. September 2010
"Aber zwei Dinge lassen mich sofort wieder stutzen. Wenn Deutschland und die Deutschen so demokratisch gereift sind, wie es allenthalben und zu Recht behauptet wird, warum fürchten dann Herr Kohl und seine Koalition einen Verfassungsprozeß zur demokratischen Gestaltung der Einheit nach dem Beitritt der DDR wie der Teufel das Weihwasser? Traut man dem Volk und seiner Demokratie nicht viel Gutes zu? Wenn dem aber so ist, dann haben da offensichtlich ganz andere Leute noch ein ganz anderes und tiefer sitzendes Mißtrauen gegen die neue deutsche Demokratie. Oder vielleicht auch recht merkwürdige Interessen.
Überhaupt die Verfassung, unser allseits so lauthals gepriesenes Grundgesetz - allerdings nur so lange, wie es paßt. Unsereins kommt sich fast wie der letzte Konservative vor, wenn man sich darüber empört, daß die Einheit gleich mit zwei krachenden Manipulationen am Wahltermin und am Wahlrecht und damit an der Verfassung beginnen sollte. Da wird passend gemacht, wie es in den machtpolitischen Kram paßt. Und das schafft Vertrauen, ganz viel Vertrauen in die demokratische Substanz der Regierenden.
Und das zweite, was mein Mißtrauen trotz Strickjackendiplomatie und Bonner Großonkelkultur nicht schwinden läßt, ist die Offenbarung eines gnadenlosen Geschichtsbewußtseins, von dem man nicht weiß, ob Blödheit oder Absicht oder gar beide dahinterstecken und was im Zweifelsfalle politisch als fataler zu bewerten ist. Fast gleichzeitig mit der Unterzeichnung des Vertrages in Moskau am 12. September 1990 verkündete die Bundesregierung einen Einwanderungsstopp für sowjetische Juden, die angesichts einer Welle von Antisemitismus in der Sowjetunion diese verlassen wollen! Spätaussiedler mit "deutschem Blut" in den Adern dürfen einwandern, sowjetische Juden sind unerwünscht. Ach, Deutschland.
Jetzt kommt Ihr von drüben, tretet bei, und dabei wird kaum etwas von Euerm Beitrag übrigbleiben zu diesem Deutschland. Wozu auch, knurrt da die FAZ. Wir hier im Westen, wir leben in der denkbar besten aller Welten, so lese und höre und sehe ich es seit Wochen. Also keine Sentimentalitäten bitte, sondern abräumen!"
- Joschka Fischer, am 1. Oktober 1990 im Spiegel -