Fragmente einer apokalyptischen Epoche

Donnerstag, 23. September 2010

Wir wissen nicht viel über die Zeit vor dem großen Weltenbrand, der das Ende der alten Zeitrechnung und unseren Beginn, den Anfang der Neuzeit darstellt. Noch weniger wissen wir über die Kreativität, die Kunst oder Literatur jener begrabenen Tage. Die archäologische Arbeit gestaltet sich schwierig - was wir jedoch als historische Wahrheit betrachten können ist, dass vor dem Weltenbrand ein exorbitanter, global verabschiedeter Bücherbrand wütete. Damit wird uns erklärbar, weshalb nurmehr wenige Bücher aus der damaligen Zeit in Erdschichten verschüttet liegen.

Einige Fragmente eines Buches wurden vor geraumer Zeit freigelegt. Es handelt sich um ein Buch, das den Namen Unzugehörig trägt. Der Autor war ein gewisser Roberto J. De Lapuente. Viel wissen wir von ihm nicht - war er arm oder reich, jung oder alt, berühmter Schreiber oder doch eher randständig und unbekannt, war dies sein richtiger oder sein Künstlername? Die Fragmente, die erstaunlich gut erhalten sind, helfen uns aber, diese alte Welt, die die Welt des Autors war, besser zu verstehen. Als Zeitzeuge jener letzten Jahrzehnte vor dem damaligen Weltende, erlaubt er der historischen Wissenschaft Einblicke in die Befindlichkeit eines Menschengeschlechts, das uns in vielen Punkten, in vielen Denk- und Verhaltensweisen, unverständlich und fremd erscheint.

Aus Unzugehörig entschlüsseln wir, dass sich da eine Gesellschaft herausentwickelte, die den Weltenbrand nicht zufällig erleiden mußte - sie hat ihn jahrzehntelang, vielleicht sogar jahrhundertelang, heraufbeschworen. De Lapuente schreibt von einer Gesellschaft, in der Menschen wie Ware, wie Gegenstände behandelt wurden. Menschen mußten Nutzen haben, durften nicht unnütz essen, durften nur etwas kosten, wenn sie diese Kosten selbst tragen konnten. Für uns heutige Menschen ist das schwer vorstellbar, wenn er in einer Erzählung skizzenhaft einen Sachbearbeiter einer Behörde, auf wesentliche Funktionen reduziert, die ausreichten, um Dienst tun zu können:
"Man sitzt dem Verschwender [Anm.: damit meint er den Sachbearbeiter] gegenüber [...], malt sich aus, wie eine zweckdienlichere Variante Dienst im Kämmerchen tun könnte. Würden es nicht auch weniger körperliche Extremitäten tun? Man malt sich aus, wie ein bloßer Rumpf auf dem pompösen Thron sitzt, aus dessen rechter Seite ein dürres Ärmchen erwächst, worauf wiederum ein mageres Händchen sprießt, aus dessen Ende zwei dreigliedrige und zwei zweigliedrige Fingerstummel hervorkriechen."
- Unzugehörig, Erhobenen Hauptes, Seite 66 f -
Die Forschung ist sich darüber einig, dass De Lapuente diesen Ausruf polemisch meinte. Er war, nach derzeitigem Stand, kein Jünger der Rationalisierung, die wir anhand einiger anderer Texte jener Zeit, schon als Grundmaxime dieser gestrigen Gegenwart entlarvt haben. Dennoch greift der Autor einer Entwicklung voraus, die sich Jahrzehnte später manifestieren sollte. Wir fanden solcherlei Humanapparaturen, die genetisch programmiert und erzeugt wurden, um billige und effektive Arbeitskraft zu bewerkstelligen - einige solcher grausigen Funde liegen der Archäologie vor. Wir nehmen an, dass die Menschen zunächst das Tier (welches ihm laut eines ziemlich erfolgreichen Bestsellers jener Vorzeiten, der sich Bibel nannte, Untertan sein sollte) zum effektiven Gebrauchsgegenstand umfunktionierte. Es wird von Geflügel berichtet, dass aufgrund genmanipulierter fleischiger Brüste nicht mehr gehen oder auch nur stehen konnte, von Schweinen die im Akkord gemästet und am Fließband getötet wurden - dieses Prinzip des effizienten Biomechanismus fand später für einzelne Menschengruppen Anwendung.
War nun De Lapuente Visionär oder eher Vordenker des Effizienzbiologismus? Hat er Phantasien gespeist, Genetiker zum Träumen gebracht? Das können wir nicht beantworten, wir wissen einfach zu wenig über des Autors Einfluss. Sollte er gesellschaftlich Gehör gefunden haben, könnte er tatsächlich unabsichtlich und ungewollt seiner polemischen Laune erlegen, zum Urvater dieses grausamen Gedankens geworden sein.

Es gehört zu den unerklärbaren Tatsachen unserer Forschung, dass wir etwas über ein römisches Reich wissen, auch etwas über ein sogenanntes Mittelalter - auch wenn wir nicht wissen, von was es die Mitte war!; Epochen, die lange vor dem Weltenbrand existiert haben müssen. Die unmittelbare Zeit davor aber, die erschließt sich uns nur mühsam. Das liegt einerseits am Verbrennen möglicher gedruckter Hinterlassenschaften, aber auch an der mit Euphemismen verbrämten Ausdrucksweise jener Zeit. Uns wird ziemlich deutlich, dass dieses römische Reich ebenso wie das Mittelalter, sehr blutige Zeitalter waren. Es gab Todeskämpfe in großen Stadien oder Menschenverbrennungen und Folter - De Lapuente berichtet in seinen Fragmenten von seiner Epoche, die sich human, friedfertig und vernünftig gibt, die aber hinter der Fassade dieselben Merkmale aufweist, wie die ihr vorangegangenen Vorzeiten. Es scheint ihm ein zentrales Anliegen gewesen zu sein, dieses zweite Gesicht seiner Zeit abzubilden - dabei bedient er sich selten einer nüchternen Sprache, die er wahrscheinlich abgelehnt hat, weil sie als Sprache seiner Zeit auch dem Effizienzgedanken unterworfen schien. In seinem Text Hättest Du nur Teitelbaum ermordet... beschreibt er den Mord an einen offensichtlich berühmten Mann namens Buback. Vielleicht ein heiliger Mann: wenn man liest, welche Verehrung ihm anscheinend seitens der Gesellschaft zuteil wurde - aber das ist nur eine Vermutung. Wir wissen auch nicht, wer Teitelbaum war - aber dem zeitgenössischen Leser wird klar, dass sich De Lapuente darüber ereifert hat, dass Mord nicht gleich Mord war. Dieses zweite Gesicht, diese Doppelmoral trieb ihn wahrscheinlich an.

Leider wissen wir nicht viel von jener Zeit, die langsam aber sicher dem Abgrund immer näher kam. Wir wissen, dass eines Tages Bücher dem Feuer übergeben wurden, weil sie die Nutzbarkeit und Wirtschaftlichkeit der Humanressource (vermutlich ein damals zeitgemäßes Wort für Mensch) behinderten. Erst brannten Bücher, dann Menschen, dann die ganze Welt - so in etwa muß es sich abgespielt haben. Zufall scheint es nicht gewesen zu sein: das können wir aus unserem spärlichen Wissen dennoch ableiten. Wir wissen zwar nicht, warum die Welt brannte - aber wir können behaupten, dass sie folgerichtig und konsequent brannte: lange genug scheint auf eine Welt hingearbeitet worden zu sein, die dem Menschen nicht gerecht war, die zum Ausbruch aus dieser fremden Umwelt ermunterte, die den Brand willentlich in Kauf nahm.

Um die Befindlichkeiten des homo apocalypticus besser zu verstehen, sollten De Lapuentes Fragmente, die nun zu einem Buch zusammengefasst wurden, gelesen werden. Sollte der Autor in seiner Welt eine unbekannte Größe gewesen sein: hier und heute erlangt er posthumen Ruhm. Seine Aufzeichnungen werden die historische und soziologische Wissenschaft noch beschäftigen - aber sie werden auch einem breiten Publikum Einblick in eine traurige, dem Tode überschriebene Welt gewähren. Unzugehörig ist ab sofort erhältlich.



13 Kommentare:

Margareth Gorges 23. September 2010 um 07:57  

"Wenn dereinst Archäologen nach Spuren der heutigen Kultur suchen, so wollen wir hoffen, daß von unserer Literatur nicht nur ein Autoaufkleber geblieben ist"

Eines ist sicher, wenn dereinst die Archäologen das Buch von Roberto in den Überresten finden werden, dann werden Sie sagen : WARUM WARUM habt ihr seine Mahnungen sein Appelieren an das SelberDenken nicht gehört!

Robertos Buch Unzugehörig ist kein Buch das man einmal liest,Nein- Robertos Skizzen, Polemiken und Grotesken sind Lebensbegleiter!

"Viel wissen wir von ihm nicht - war er arm oder reich, jung oder alt, berühmter Schreiber oder doch eher randständig und unbekannt, war dies richtiger oder sein Künstlername? "

Nein Roberto, viel wissen wir nicht von Dir, aber durch Dein wundervolles Buch wissen wir viel mehr über uns selbst, und werden zum Handeln aufgefordert. DANKE DAFÜR !

Aufgewühlt , Betroffen , Erschrocken, und ja bei dem Kapitel "Unzugehörig" habe ich geweint- und versucht meinen 1. Eindruck hier zu schildern:

"Die großen philosophischen Aufklärer wären heute Blogger! Roberto J. de Lapuente mit seinem Blog ad sinistram ist der Aufklärer des neuen Jahrtausend" hier weiter:
http://www.freitag.de/community/blogs/margareth-gorges/buchempfehlung-roberto-jde-lapuente-unzugehoerig/

Inglorious Basterd 23. September 2010 um 09:17  

Vielleicht finden Archäologen auch noch Rudimente eines Skripts mit dem Titel "Zwischen Macht und Ohnmacht", einem autobiografisch inspiriertem Erlebnisbericht über den Spagath zwischen der bürgerlichen Existenz als Kommunalbeamter in der täglichen Tretmühle hierarchischer Arbeitsstrukturen und , autonomen, linksradikalem Feierabendaktivismus ("Es kommt der Tag, da will die Säge sägen!")in den 90er Jahren, verfasst unter dem Pseudonym Inglorious Basterd (heute Papiertiger).

Ein vielleicht auch nicht uninteressanter Text auf 200 Seiten, der noch keinen Verleger gefunden hat und eines vorherigen juristischen Lektorates bedarf. ;-)

Kommt Zeit kommt Rat.

Die Katze aus dem Sack 23. September 2010 um 11:41  

Das Buch habe ich gelesen und behaupte insgesamt, verstanden zu haben. Was wird noch von mir erwartet?

Aus meiner Sichtweise heraus, gibt es nur zwei Wege aus dieser drohenden Dunkelheit: Entweder wir machen Licht, dort wo wir sind, oder wir lassen uns weiterhin in die Dunkelheit führen.

Anonym 23. September 2010 um 11:52  

Ausgezeichnet.

angie67 23. September 2010 um 12:44  

Ein wirklich interessante Diskussion der ARs (Archeologic Robots).
Ich hätte aber noch einen oder mehrere MRs (Moral Robots) hinzugezogen, um die außerordentliche Dekadenz und Sozialverachtung dieser Periode besser herauszuarbeiten.
Dann würde sich auch für einen normalen Robot, die großen Schwächen dieser untergegangenen archaischen Rasse besser darstellen.

Grüße
angie robot

antiferengi 23. September 2010 um 13:36  

Hmmm.
Ganz unsyntethische Archäo-SF mit einem Hauch von Jack McDevitt?.

Stanislaw Lem in Phantastik und Futurologie II, stellvertr. f. R.d.Lapuente. Rekursiv aus der Vergangenheit an die Zukunft, und aus der Zukunft an die Vergangenheit zurück gegeben.

Ich halte mich nicht für einen Science-Fiction-Autor in dem Sinne, in dem Asimov oder Clarke solche Autoren sind. Genauer gesagt, halte ich mich für einen Science-Fiction-Autor in dem Sinne, in dem der Surrealismus eine wissenschaftliche Kunst ist.

Der Haken bei der SF von Asimov und Heinlein steckt darin, daß sie synthetisch sind. Freud hat gesagt, synthetische Tätigkeit sei ein Zeichen von Unreife, und ich glaube, eben deshalb versagt die klassische SF.

Muss man doch mal sagen dürfen ;-)
Ist vielleicht nicht so ganz nachzuvollziehen, aber als heimliches Kompliment gedacht.

ad sinistram 23. September 2010 um 13:47  

Wenn Ferengis loben, sage ich dankend Danke :)

Die Katze aus dem Sack 23. September 2010 um 15:25  

@ antiferengi

Reflektionen sind es wohl, die aus dem anscheinenden 'Heute' heraus, das vermeintliche 'Gestern' ins mögliche 'Morgen' projizieren. Verschwommene Orakelklänge zwischen den Sphären erkennbar. Damals hatte ich selbst mal die Idee, an einer 'Was-passiert-wenn-Maschine' herzubasteln. Mit der Zeit formten sich immer mehr dieser 'Maschinen im Geiste'. So habe ich dann aufgegeben und gar nicht erst angefangen. Die Neugier nach derartigen Maschinen jedoch, blieb unbändig.

Anonym 23. September 2010 um 17:15  

@ Die Katze aus dem Sack

"Damals hatte ich selbst mal die Idee, an einer 'Was-passiert-wenn-Maschine' herzubasteln. Mit der Zeit formten sich immer mehr dieser 'Maschinen im Geiste'. So habe ich dann aufgegeben und gar nicht erst angefangen. Die Neugier nach derartigen Maschinen jedoch, blieb unbändig."

Genau aus solchen Maschinen erwächst Rassismus. Sarrazin hat gerade so eine "was wäre wenn"-Höllenmaschine in Gang gesetzt...

Anonym 23. September 2010 um 18:31  

dieser text ist kein meisterstück. aber das buch schon. es wird ein klassiker werden

Anonym 23. September 2010 um 18:38  

Man kann jetzt wohl offen von Faschismus reden! Es ist aber genug und bereits alles geschrieben worden!! Besonnenheit gebietet jetzt, sich zu bewaffnen!!

Die SPD will auf schärfere Sanktionen gegen Integrationsverweigerer drängen. In einer SPIEGEL ONLINE vorliegenden Resolution, die auf dem Parteitag am kommenden Sonntag verabschiedet werden soll, fordert die SPD-Führung eine "konsequente und schnellere Anwendung der bestehenden Gesetze".

Der unbegründete Abbruch von Integrationskursen dürfe ebenso wenig akzeptiert werden wie Schulschwänzerei, heißt es in dem vierseitigen Papier. Zudem müsse der zunehmenden Jugendgewalt "mit mehr Konsequenz" entgegengetreten werden: "Straftaten müssen durch frühere Gerichtsverfahren schneller Konsequenzen haben."

Die Katze aus dem Sack 23. September 2010 um 18:56  

@ Anonym 23. September 2010 17:15

Das mag schon sein, dass er auch solch' eine "Höllenmaschine" in Gang gesetzt hat. Er ist es aber nicht allein, der diese Maschine in Betrieb hält, ordentlich ihr Getriebe schmiert, fleissig Treibstoff zugibt, sie hegt und pflegt. Das zeigt mir auch, dass offenbar ein händeringender Bedarf nach diesen zerstörerischen Vehikeln besteht. Im Kleinen, wie im Grossen. Also nicht wundern, wenn mal so ein höllisches Fiktionsgerät in Funktion gerät.

Electric Eye 24. September 2010 um 02:46  

Ich kenne sein Buch nicht, aber die Texte, die Roberto hier schreibt, gefallen mir schon sehr.
Das Niveau der Kommentare ist auch durchgehend sehr hoch. Sorry, wenn ich da ein bisschen abfalle, aber in Deutsch war ich immer ganz schlecht.

Zum Blogeintrag:

Ähnliche Gedanken von Archäologen der Zukunft, die sich durch unsere untergegangene Kultur stöbern, habe ich auch schon ab und zu durchgespielt.
Bei mir kommen die aber immer aus dem Weltall und sind keine Humanoiden. Das lässt natürlich in moralischen Fragen alles offen.

Vielleicht ist ja auch alles anders. Vielleicht wissen nur ein paar Auserwählte, dass der Weltenbrand durch einen Komet ausgelöst wird, der uns z.B. 2012 treffen wird.

Der einzige Strohhalm, an den sich die Wissenschaft klammert, ist eine ganz spezielle Rakete. Deren geheimer Bau an einem abgelegenen Ort verschlingt Unsummen an Geldern, deswegen die weltweiten neoliberalen Reformen.
Deswegen auch die moderne Kapitalwirtschaft, in deren schwarzen Löchern Billionen an Euros und Dollar verschwinden.
Die Bevölkerung einzuweihen ist aus verständlichen Gründen unmöglich.
Entweder wir hören es eines morgens in den Nachrichten "Heute Nacht gelang der Wissenschaft die grösste Leistung seit Menschengedenken..."
Oder es beginnt ein paar Stunden davor der Weltenbrand, dem wir wahrscheinlich nur sehr kurz
beiwohnen werden.

Nur so eine gesponnene Idee.
Man sucht ja immer nach rationalen (?) Erklärungen für irrationales Verhalten.

Irgendwie ist es doch frustrierend, wenn man sich vorstellt, dass die Sonne spätestens in 4 Milliarden Jahren erlöschen soll. Das hätte die Wissenschaft vielleicht auch für sich behalten sollen. Heutzutage klingt 4 Milliarden nach gar nichts mehr. Gerade für Kapitalisten. Vielleicht haben die auch nur deswegen diese Endzeit-Dekadenz entwickelt.
Und die Klima-Skeptiker (bzw. -Ignoranten) sagen sich: "Was solls?"

Um noch mal zum möglichen Weltenbrand zurück zu kommen:
Das ist doch auch eine einmalige Chance. So was erlebt nicht jede Generation.
Ob man danach noch T-shirts mit dem Aufdruck
"i survived the Weltenbrand" tragen wird können ist allerdings mehr als fraglich.

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