Semester der Qualen

Montag, 31. Mai 2010

oder: einige persönliche Zeilen.

Ein sich windender Körper, schmerzdurchdrungen, randvoll mit Wucherungen. Verkrampfte Glieder, ein schier zerberstender Brustkorb, um Luft bettelnd, sich schwer plagende Lungenflügel. Aufgeblähte Arme, aufgeschwemmte Beine, ein Torso geschwollen von Einlagerungen und Metastasen. Und Schmerz, immer wieder, ständiger, beharrlicher, nicht endender Schmerz. Es gibt keine Worte, die solcherlei Schmerz gerecht umschreiben würden. Opiatunterdrückte Qualen, die den Körper in Verschleiß, die den Geist in Verwirrung verfallen ließen. Körper bloß mehr, Mensch nur noch wenig - ein Paket aus gemarterten Fleisch, aus pulsierenden, schmerzübermittelnden Nervenimpulsen: Konkursmasse eines Menschen, Restbestände eines sich ausgelebten Lebens.

Hölle, wie sie sich niemand, nicht mal ein Hieronymus Bosch hat ersinnen können. Wucherungen, die Knochen knacken ließen, die Frakturen verursachten, die auf Organe drückten, die nächtliche Schreie den täglichen Schreien zugesellten. Schreie und Tränen, Bittstellung um Hilfe, wo Hilfe lediglich durch Gabe von Betäubungsmittel eine kurze Weile der Linderung, der Schmerzlosigkeit einbrachten. Ein Semester, ein Halbjahr im Zeichen des Morphiums, im Angesicht von Höllenqualen - ein Semester des menschlichen Verfalls, in dem aus einem strotzenden Mann langsam zwar, doch immer noch zu schnell, eine hilflose Gestalt wurde. Das ist die Zielsicherheit, die Durchsetzungskraft des Krebses; die Auflösung, in Raten gestückelte Verwesung menschlichen Lebens am lebendigen Leibe.

Leid, wie es die Hochglanzfassade dieser Gesellschaft kaum kennt; Leid, wie es bevorzugt hinter Glasfronten von Kliniken und Krankenhäusern, Hospizen und Palliativeinrichtungen verborgen wird. Zuckungen, Verkrampfungen, Todeskampf. Momente, wie sie eine ärztegläubige und medikamentenfromme Gesellschaft nicht wahrhaben möchte. Augenblicke, die wie ein Alptraum aus der Unterwelt aussehen. Angespannte Nerven bei denen, die sich um das Bett versammelten: Tränen, Machtlosigkeit, sich niemals mit dem Gewimmer, Stöhnen, Geschrei versöhnend. Angespannt lauschen sie dem immer behäbiger sich hebenden Brustkorb, diesem letzten Aufbäumen getaucht im Betäubungsmittelrausch. Die Schmerzschreie: nun Geschichte, sind einem tiefen, auf Narkotika bauendem Schlaf gewichen. Was bleibt ist Rascheln und Gurgeln in der Lunge; was bleibt sind sich endlos hinschleppende letzte Atemzüge, sind die letzten Augenblicke dieses Halbjahres trunken von Pein.

Ein Semester der Qualen, das am heutigen Morgen sein erlösendes Ende fand. Ein Martyrium, ein Passionsweg, ein langer, unendlich langer Kreuzweg, der einen wacker sich sträubenden Menschen zerrieb, der die Zurückgebliebenen, als sie noch nicht zurückgeblieben waren, malträtierte, sie zermürbte, schindete. Metastasen, die nicht nur einen Körper okkupierten: die sich auch im Nervenkostüm aller Beteiligten einnisteten. Heute fand dieses Leid ein trauriges, jedoch tröstendes Ende - es bleiben unauslöschlich die Schmerzensschreie, die mühsamen Augenblicke der Pflege, die Hilfe!-Rufe in die Erinnerung hineingestempelt. Jetzt, da befreit von Schläuchen und Spritzen, medizinischem Arbeitsmaterial und Schmerzapparaturen, friedlich und mit entspannter Miene auf jenem zur Hölle gewordenen Bett liegend, ruht er in sich - befreit von jenen Utensilien, die ihn schmerzfrei machen sollten, erhielt er einmal, ein allerletztesmal, sein menschliches Antlitz zurück. Kein Bündel Fleisch mehr, das mit Schmerzmittel erträglich zu halten ist: jene letzte Würde strahlt er nun aus, die einem menschlichen Wesen zuteil wird. Etwas Menschliches kehrte zurück in das einst schmerzverzerrte Gesicht...

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