Sit venia verbo
Montag, 17. Mai 2010
"In der Überflußgesellschaft herrscht Diskussion im Überfluß, und im etablierten Rahmen ist sie weitgehend tolerant. Alle Standpunkte lassen sich vernehmen: der Kommunist und der Faschist, der Linke und der Rechte, der Weiße und der Neger, die Kreuzzügler für Aufrüstung und die für Abrüstung. Ferner wird bei Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit. Diese reine Toleranz von Sinn und Unsinn wird durch das demokratische Argument gerechtfertigt, daß niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit und imstande wäre zu bestimmen, was Recht und Unrecht ist, Gut und Schlecht. Deshalb müssen alle miteinander wetteifernden Meinungen „dem Volk“ zur Erwägung und Auswahl vorgelegt werden.
[...]
In der gegenwärtigen Periode wird das demokratische Argument zunehmend dadurch hinfällig, daß der demokratische Prozeß selbst hinfällig wird. Die befreiende Kraft der Demokratie lag in der Chance, die sie abweichenden Ansichten auf der individuellen wie gesellschaftlichen Ebene gewährte, in ihrer Offenheit gegenüber qualitativ anderen Formen der Regierung, Kultur und Arbeit – des menschlichen Daseins im allgemeinen. Die Duldung der freien Diskussion und das gleiche Recht gegensätzlicher Positionen sollte die verschiedenen Formen abweichender Ansichten bestimmen und klären: ihre Richtung, ihren Inhalt, ihre Aussichten. Aber mit der Konzentration ökonomischer und politischer Macht und der Integration gegensätzlicher Standpunkte einer Gesellschaft, welche die Technik als Herrschaftsinstrument benutzt, wird effektive Abweichung dort gehemmt, wo sie unbehindert aufkommen konnte: in der Meinungsbildung, im Bereich von Information und Kommunikation, in der Rede und der Versammlung. Unter der Herrschaft der monopolistischen Medien – selber bloße Instrumente ökonomischer und politischer Macht – wird eine Mentalität erzeugt, für die Recht und Unrecht, Wahr und Falsch vorherbestimmt sind, wo immer sie die Lebensinteressen der Gesellschaft berühren."
- Herbert Marcuse, "Repressive Toleranz" -