Der gute Wille
Sonntag, 23. August 2009
"Gratuliere, mein lieber Herr B., Ihr medizinisches Gutachten ist abgeschlossen. Und ich gratuliere, weil ich Ihnen einen positiven Befund mitteilen darf", säuselte der Sachbearbeiter mit hervortuender Scheißfreundlichkeitsfassade.
"Befund? Mich hat kein Arzt nicht gesehen. Wie kann es einen Befund meines Krankheitszustandes geben, wenn ich nie untersucht wurde", erwiderte B. ohne sich einer überflüssigen Fassade hingeben zu wollen.
"Nach Aktenlage steht auf dem Kopf des Gutachtens. Und weiter steht hier, Sie sind vollschichtig einsatzfähig, Einschränkungen gibt es keine, sind demnach für jede Arbeit zuteilbar", ratterte es wie einstudiert hervor. "Damit wäre Ihr Gesundheitszustand geklärt, nun wissen wir, dass wir Sie jeder Arbeit zuteilen können."
B. lächelte dämlich, schüttelte den Kopf, setzte zu einer Antwort an: "Ich habe nur ein Bein. Wie soll ich da vollschichtig arbeiten können? Wie soll ich jede erdenkliche Arbeit tun können? Steht in dem Gutachten überhaupt etwas von einer amputierten Extremität?"
"Hier steht, dass nach vorgelegten Unterlagen des Hausarztes begutachtet wurde. Nach medizinischer Begutachtung haben Sie beide Beine."
"Schauen Sie doch mal über Ihren Schreibtisch hinweg, machen Sie sich doch mal diese Mühe."
Scheu lugte der Sachbearbeiter über den Tisch, blinzelte dreimal ungläubig, steckte dann seine Nase wieder in Papier, griff sich einen Stift und notierte einige undefinierbare Worte auf ein seitlich liegendes Notizzettelchen.
"Ein Bein, oder?"
"Hier steht nicht, dass Sie einbeinig sind, Herr B., für den Amtsarzt und damit für die Behörde sind Sie gesund und munter."
"Aber Sie haben doch eben gesehen, dass ich nur ein Bein habe. Sie haben es doch selbst mit Ihren eigenen Augen gesehen", schrie B. erregt durch die Räumlichkeiten des Staatsdieners.
"Beruhigen Sie sich. Sie haben es ja eben selbst beantwortet: ich hätte es mit meinen eigenen Augen gesehen. Richtig, das ist vollumfänglich zutreffend. Jedoch bin ich nicht die Behörde. Meine Augen können sich nämlich täuschen, aber eine Behörde, ausgestattet mit der Allmacht des Staates, betrieben von den besten Fachleuten der Gesellschaft, irrt sich normalerweise nie", antwortete der Sachbearbeiter und nahm dabei eine stramme Körperhaltung ein, legte zudem ein devotes Lächeln auf sein Gesicht und unterstrich dabei die Erhabenheit seiner Worte.
"Das heißt, Sie haben einen Sehfehler und sehen nur ein Bein, wo es eigentlich zwei gibt? Darf ich das so verstehen?"
"Hören Sie, Sie nehmen das zu persönlich. Ich sehe nur ein Bein, das stimmt schon. Aber ich habe hier einen offiziellen Befund, der mir mitteilt, Sie seien vollschichtig einsetzbar. Für Sie sieht es jetzt so aus, als müßte ich zwischen Empirie und Glauben entscheiden. Doch das ist falsch. Hier wird geglaubt, hier müssen wir uns auf offizielle Schreiben berufen, nicht auf Sinneseindrücke, die letztlich ja immer nur schwammig sind. Was ist schon das Wahrnehmbare? Ich bin da ganz kantianisch. Sie sollten da pragmatischer werden, umsomehr, weil Sie keine Möglichkeit des Widerspruchs haben. Wir haben die Untersuchung nicht per Verwaltungsakt erlassen und damit können Sie keinen weiteren Rechtsweg beanspruchen. Empirie hin oder her, es ist also jetzt so, wie es ist."
B. schwindelte es. Ist das alles wahr? Hat ihm dieser Mann eben einen wirren Vortrag über die Nichtigkeit von Sinneseindrücke gehalten? "Aber die Sinneseindrücke des Arztes, der den Befund ausstellte, die waren nicht getrübt", bemerkte er spitz und mit hasserfülltem Blick.
"Dies steht mir nicht zu zu bewerten. Wenn ich es aus Sicht des Menschen durchdenke, dann haben Sie schon recht. Er kann sich genauso getäuscht haben. Aber hier gelten keine Menschen, hier gelten Hierarchien. Ich kann mich nicht hinstellen und Befunde bezweifeln. Diese Kompetenz habe ich nicht. Mensch, ich bin doch kein Arzt!"
"Muß man denn Arzt sein, um zu erkennen, dass einem Menschen ein Bein fehlt? Was zählt denn mehr, ich oder das Papier? Das real fehlende Bein, das ja eher nicht real ist, weil es eben fehlt oder der Befund nach Aktenlage?"
Der Sachbearbeiter lehnte sich zurück, schloss die Augen, dachte gut sichtbar für seinen Gegenüber nach. "Wollen Sie das wirklich wissen, was hier zählt? Ja? Na schön. Zunächst zählt das Papier, das was geschrieben steht, ist für uns maßgeblich. Wir sind hier Leute der Schrift. Papier ist geduldig, Gesagtes oder Gesehenes kann verzerrt werden, verhallt in zeitlichen Strudeln. Was jemand gesagt oder gesehen hat, wird irgendwann vergessen; was aber jemand niederschrieb, das hat Bestand. Zuerst kommt das Papier, dann hat sich der Mensch mit dem Papier abzugleichen, hat das zu erfüllen, was aufgeschrieben steht, damit auch der Mensch zählen kann."
"Das heißt also, ich muß mir ein zweites Bein nachwachsen lassen, damit ich auch für die Behörde als Mensch wahrgenommen werden kann?"
"Unsinn! Wenn Ihnen wirklich ein Bein fehlt (ich sage nicht, dass Ihnen eines fehlt, ich spreche von der Möglichkeit, dass Ihnen eines fehlen könnte), wenn Ihnen also wirklich ein Bein abhanden gekommen ist, dann wächst da nichts mehr nach. Und als Mensch wahrgenommen zu werden ist nicht der Anspruch der Behörde. Sie sind ein Fall von vielen. Als Fall wahrgenommen, aber nicht als Mensch, lieber Fall B. Die Frage wird nun aber sein, warum passen Befund und die Wahrnehmung des Patienten oder Kunden nicht zueinander."
"Na also, dann kommen wir ja doch noch zusammen. Warum passen sie nicht zusammen? Und damit muß eine neue Untersuchung eingeleitet werden", sagte der Fall B. höhnisch und rieb sich ebenso die Hände.
"Sie machen es sich einfach. Ein Befund kann doch nicht einfach aufgehoben werden! Die Behörde ist kein Arzt, sie kann ärztliche Befunde nicht einfach aufheben und neu verlangen. Wir können nicht den Arzt, aber den Patienten beeinflussen. Deshalb fragen wir uns also, warum paßt es nicht zusammen und geben uns möglicherweise als Antwort: weil der Kunde nicht guten Willens ist. Wird so entschieden, liegt es an mir, eine Sanktion in Betracht zu ziehen."
"Sie haben doch gesehen, dass ich einbeinig bin, ich bin ein verdammter Krüppel und Sie wollen mir dafür auch noch mein Geld rauben? Schämen Sie sich nicht?"
Der Sachbearbeiter sprang aus seiner Denkerpose auf: "Rauben? Sind Sie ganz bei Trost? Ihr Geld? Es ist nicht Ihr Geld, weil wir den Betrag, der abgeschlagen wird, gleich einbehalten. Es hat Ihnen demnach nie gehört. Ich will diese Frechheit von Raub gar nicht gehört haben! Wenn es Ihnen am guten Willen fehlt, dann legt man mir nahe, meinen Kunden zu sanktionieren. Die gesetzlichen Vorgaben lassen mir quasi keinen Raum mehr, mich wohlwollend gegenüber den Kunden zu verhalten. Ich muß förmlich sanktionieren. Deswegen meinte ich vorhin ja, Sie sollten kein Theater machen und sich damit abfinden."
"Aber wie Sie es auch drehen und wenden, ich habe doch nur ein Bein!", schluchzte B. tränenunterdrückend.
"Anstatt sich darüber zu freuen, dass Sie gesund sind, dass Ihnen ein Arzt attestiert, es gehe Ihnen gut, jammern Sie hier durch die Gegend. Wer bekommt denn heute noch Gesundheit nachgewiesen. Mein Hausarzt schreibt mich ständig aus vielerlei Gründen krank, dabei wäre ich so gerne mal wieder stark und gesund. Und Sie bekommen es schriftlich, schwarz auf weiß, sind aber unzufrieden damit. Sagen Sie mir, Herr B., wie soll ich da Ihren guten Willen erkennen können?"
B. schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab, stierte an die Wand, befühlte seinen Beinstumpf, holte sich in Gedanken den verlustreichen Unfall zurück, sah sich nochmals schreiend und blutverspritzend, erlebte den Schmerz nochmals und vergaß im selben Moment, dass es eine Erinnerung aus seinem Leben war, vergaß den Unfall, vergaß die Folgen, hochgesteckte Hosenbeine, das schmerzende Ziehen im Stumpf. Er vergaß, um ein neues Leben anfangen zu können, ein gesundes Leben, ein Leben im gutem Willen, vollschichtig einsatzfähig, ohne Einschränkungen am Arbeitsmarkt. Optimistisch zu sein bedeutet, das Schlechte auszublenden, den Lebenspessimismus zu verlernen, verlorene Beine zu übersehen.
"Gut, Herr B.", sagte der Sachbearbeiter nach längerem Schweigen entschlossen, "wie ich sehe, haben Sie zur Vernunft zurückgefunden. Das freut mich. Wissen Sie warum? Weil ich da eine Arbeitsstelle für Sie hätte. Am Bau werden Helfer gesucht. Trauen Sie sich zu Leitern hochzusteigen und Säcke zu hieven? Ja? Na sehen Sie, so gefallen Sie mir, so gefallen Sie uns, schon viel viel besser. Nicht verbittern - ranklotzen! Sie waren gefangen in Ihrem Pessimismus, nun werden Sie frei, Sie werden gute, schwere Arbeit tun und dabei frei werden. Sie werden sich Ihr Leben wieder verdienen und erkennen, wie schön es ist, wenn man ein verdientes Leben besitzt. Ich schreibe Ihnen mal auf, wo Sie sich da vorstellen sollen. Und lassen Sie bloß die Krücken daheim, hören Sie, das schreckt doch nur ab. Wenn ich erfahre, dass Sie mit Krücken zum Vorstellungstermin gegangen sind, werde ich an Ihrem guten Willen zweifeln müssen."
B. erhob sich, stützte sich dazu auf seine Krücken, starrte mit leerem Blick den Sachbearbeiter an, nahm das Papier mit der Anschrift entgegen, grüßte nicht und ging zur Tür.
"B., hören Sie. Jeder kann mal einen schlechten Tag haben. Sie dürfen sich sowas aber nicht zu oft leisten. Bin aber frohen Mutes, dass sich bei Ihnen alles zum Besten wendet. Sie sind ja ein robuster Kerl, hat Ihnen ja sogar ein Arzt aus der Ferne nachgewiesen. Wenn Sie aus der Weite schon so gesund wirken, dann muß doch was Wahres dran sein. So sollten Sie das mal sehen, optimistisch müssen Sie sein. Dann lebt es sich leichter..."
"Befund? Mich hat kein Arzt nicht gesehen. Wie kann es einen Befund meines Krankheitszustandes geben, wenn ich nie untersucht wurde", erwiderte B. ohne sich einer überflüssigen Fassade hingeben zu wollen.
"Nach Aktenlage steht auf dem Kopf des Gutachtens. Und weiter steht hier, Sie sind vollschichtig einsatzfähig, Einschränkungen gibt es keine, sind demnach für jede Arbeit zuteilbar", ratterte es wie einstudiert hervor. "Damit wäre Ihr Gesundheitszustand geklärt, nun wissen wir, dass wir Sie jeder Arbeit zuteilen können."
B. lächelte dämlich, schüttelte den Kopf, setzte zu einer Antwort an: "Ich habe nur ein Bein. Wie soll ich da vollschichtig arbeiten können? Wie soll ich jede erdenkliche Arbeit tun können? Steht in dem Gutachten überhaupt etwas von einer amputierten Extremität?"
"Hier steht, dass nach vorgelegten Unterlagen des Hausarztes begutachtet wurde. Nach medizinischer Begutachtung haben Sie beide Beine."
"Schauen Sie doch mal über Ihren Schreibtisch hinweg, machen Sie sich doch mal diese Mühe."
Scheu lugte der Sachbearbeiter über den Tisch, blinzelte dreimal ungläubig, steckte dann seine Nase wieder in Papier, griff sich einen Stift und notierte einige undefinierbare Worte auf ein seitlich liegendes Notizzettelchen.
"Ein Bein, oder?"
"Hier steht nicht, dass Sie einbeinig sind, Herr B., für den Amtsarzt und damit für die Behörde sind Sie gesund und munter."
"Aber Sie haben doch eben gesehen, dass ich nur ein Bein habe. Sie haben es doch selbst mit Ihren eigenen Augen gesehen", schrie B. erregt durch die Räumlichkeiten des Staatsdieners.
"Beruhigen Sie sich. Sie haben es ja eben selbst beantwortet: ich hätte es mit meinen eigenen Augen gesehen. Richtig, das ist vollumfänglich zutreffend. Jedoch bin ich nicht die Behörde. Meine Augen können sich nämlich täuschen, aber eine Behörde, ausgestattet mit der Allmacht des Staates, betrieben von den besten Fachleuten der Gesellschaft, irrt sich normalerweise nie", antwortete der Sachbearbeiter und nahm dabei eine stramme Körperhaltung ein, legte zudem ein devotes Lächeln auf sein Gesicht und unterstrich dabei die Erhabenheit seiner Worte.
"Das heißt, Sie haben einen Sehfehler und sehen nur ein Bein, wo es eigentlich zwei gibt? Darf ich das so verstehen?"
"Hören Sie, Sie nehmen das zu persönlich. Ich sehe nur ein Bein, das stimmt schon. Aber ich habe hier einen offiziellen Befund, der mir mitteilt, Sie seien vollschichtig einsetzbar. Für Sie sieht es jetzt so aus, als müßte ich zwischen Empirie und Glauben entscheiden. Doch das ist falsch. Hier wird geglaubt, hier müssen wir uns auf offizielle Schreiben berufen, nicht auf Sinneseindrücke, die letztlich ja immer nur schwammig sind. Was ist schon das Wahrnehmbare? Ich bin da ganz kantianisch. Sie sollten da pragmatischer werden, umsomehr, weil Sie keine Möglichkeit des Widerspruchs haben. Wir haben die Untersuchung nicht per Verwaltungsakt erlassen und damit können Sie keinen weiteren Rechtsweg beanspruchen. Empirie hin oder her, es ist also jetzt so, wie es ist."
B. schwindelte es. Ist das alles wahr? Hat ihm dieser Mann eben einen wirren Vortrag über die Nichtigkeit von Sinneseindrücke gehalten? "Aber die Sinneseindrücke des Arztes, der den Befund ausstellte, die waren nicht getrübt", bemerkte er spitz und mit hasserfülltem Blick.
"Dies steht mir nicht zu zu bewerten. Wenn ich es aus Sicht des Menschen durchdenke, dann haben Sie schon recht. Er kann sich genauso getäuscht haben. Aber hier gelten keine Menschen, hier gelten Hierarchien. Ich kann mich nicht hinstellen und Befunde bezweifeln. Diese Kompetenz habe ich nicht. Mensch, ich bin doch kein Arzt!"
"Muß man denn Arzt sein, um zu erkennen, dass einem Menschen ein Bein fehlt? Was zählt denn mehr, ich oder das Papier? Das real fehlende Bein, das ja eher nicht real ist, weil es eben fehlt oder der Befund nach Aktenlage?"
Der Sachbearbeiter lehnte sich zurück, schloss die Augen, dachte gut sichtbar für seinen Gegenüber nach. "Wollen Sie das wirklich wissen, was hier zählt? Ja? Na schön. Zunächst zählt das Papier, das was geschrieben steht, ist für uns maßgeblich. Wir sind hier Leute der Schrift. Papier ist geduldig, Gesagtes oder Gesehenes kann verzerrt werden, verhallt in zeitlichen Strudeln. Was jemand gesagt oder gesehen hat, wird irgendwann vergessen; was aber jemand niederschrieb, das hat Bestand. Zuerst kommt das Papier, dann hat sich der Mensch mit dem Papier abzugleichen, hat das zu erfüllen, was aufgeschrieben steht, damit auch der Mensch zählen kann."
"Das heißt also, ich muß mir ein zweites Bein nachwachsen lassen, damit ich auch für die Behörde als Mensch wahrgenommen werden kann?"
"Unsinn! Wenn Ihnen wirklich ein Bein fehlt (ich sage nicht, dass Ihnen eines fehlt, ich spreche von der Möglichkeit, dass Ihnen eines fehlen könnte), wenn Ihnen also wirklich ein Bein abhanden gekommen ist, dann wächst da nichts mehr nach. Und als Mensch wahrgenommen zu werden ist nicht der Anspruch der Behörde. Sie sind ein Fall von vielen. Als Fall wahrgenommen, aber nicht als Mensch, lieber Fall B. Die Frage wird nun aber sein, warum passen Befund und die Wahrnehmung des Patienten oder Kunden nicht zueinander."
"Na also, dann kommen wir ja doch noch zusammen. Warum passen sie nicht zusammen? Und damit muß eine neue Untersuchung eingeleitet werden", sagte der Fall B. höhnisch und rieb sich ebenso die Hände.
"Sie machen es sich einfach. Ein Befund kann doch nicht einfach aufgehoben werden! Die Behörde ist kein Arzt, sie kann ärztliche Befunde nicht einfach aufheben und neu verlangen. Wir können nicht den Arzt, aber den Patienten beeinflussen. Deshalb fragen wir uns also, warum paßt es nicht zusammen und geben uns möglicherweise als Antwort: weil der Kunde nicht guten Willens ist. Wird so entschieden, liegt es an mir, eine Sanktion in Betracht zu ziehen."
"Sie haben doch gesehen, dass ich einbeinig bin, ich bin ein verdammter Krüppel und Sie wollen mir dafür auch noch mein Geld rauben? Schämen Sie sich nicht?"
Der Sachbearbeiter sprang aus seiner Denkerpose auf: "Rauben? Sind Sie ganz bei Trost? Ihr Geld? Es ist nicht Ihr Geld, weil wir den Betrag, der abgeschlagen wird, gleich einbehalten. Es hat Ihnen demnach nie gehört. Ich will diese Frechheit von Raub gar nicht gehört haben! Wenn es Ihnen am guten Willen fehlt, dann legt man mir nahe, meinen Kunden zu sanktionieren. Die gesetzlichen Vorgaben lassen mir quasi keinen Raum mehr, mich wohlwollend gegenüber den Kunden zu verhalten. Ich muß förmlich sanktionieren. Deswegen meinte ich vorhin ja, Sie sollten kein Theater machen und sich damit abfinden."
"Aber wie Sie es auch drehen und wenden, ich habe doch nur ein Bein!", schluchzte B. tränenunterdrückend.
"Anstatt sich darüber zu freuen, dass Sie gesund sind, dass Ihnen ein Arzt attestiert, es gehe Ihnen gut, jammern Sie hier durch die Gegend. Wer bekommt denn heute noch Gesundheit nachgewiesen. Mein Hausarzt schreibt mich ständig aus vielerlei Gründen krank, dabei wäre ich so gerne mal wieder stark und gesund. Und Sie bekommen es schriftlich, schwarz auf weiß, sind aber unzufrieden damit. Sagen Sie mir, Herr B., wie soll ich da Ihren guten Willen erkennen können?"
B. schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab, stierte an die Wand, befühlte seinen Beinstumpf, holte sich in Gedanken den verlustreichen Unfall zurück, sah sich nochmals schreiend und blutverspritzend, erlebte den Schmerz nochmals und vergaß im selben Moment, dass es eine Erinnerung aus seinem Leben war, vergaß den Unfall, vergaß die Folgen, hochgesteckte Hosenbeine, das schmerzende Ziehen im Stumpf. Er vergaß, um ein neues Leben anfangen zu können, ein gesundes Leben, ein Leben im gutem Willen, vollschichtig einsatzfähig, ohne Einschränkungen am Arbeitsmarkt. Optimistisch zu sein bedeutet, das Schlechte auszublenden, den Lebenspessimismus zu verlernen, verlorene Beine zu übersehen.
"Gut, Herr B.", sagte der Sachbearbeiter nach längerem Schweigen entschlossen, "wie ich sehe, haben Sie zur Vernunft zurückgefunden. Das freut mich. Wissen Sie warum? Weil ich da eine Arbeitsstelle für Sie hätte. Am Bau werden Helfer gesucht. Trauen Sie sich zu Leitern hochzusteigen und Säcke zu hieven? Ja? Na sehen Sie, so gefallen Sie mir, so gefallen Sie uns, schon viel viel besser. Nicht verbittern - ranklotzen! Sie waren gefangen in Ihrem Pessimismus, nun werden Sie frei, Sie werden gute, schwere Arbeit tun und dabei frei werden. Sie werden sich Ihr Leben wieder verdienen und erkennen, wie schön es ist, wenn man ein verdientes Leben besitzt. Ich schreibe Ihnen mal auf, wo Sie sich da vorstellen sollen. Und lassen Sie bloß die Krücken daheim, hören Sie, das schreckt doch nur ab. Wenn ich erfahre, dass Sie mit Krücken zum Vorstellungstermin gegangen sind, werde ich an Ihrem guten Willen zweifeln müssen."
B. erhob sich, stützte sich dazu auf seine Krücken, starrte mit leerem Blick den Sachbearbeiter an, nahm das Papier mit der Anschrift entgegen, grüßte nicht und ging zur Tür.
"B., hören Sie. Jeder kann mal einen schlechten Tag haben. Sie dürfen sich sowas aber nicht zu oft leisten. Bin aber frohen Mutes, dass sich bei Ihnen alles zum Besten wendet. Sie sind ja ein robuster Kerl, hat Ihnen ja sogar ein Arzt aus der Ferne nachgewiesen. Wenn Sie aus der Weite schon so gesund wirken, dann muß doch was Wahres dran sein. So sollten Sie das mal sehen, optimistisch müssen Sie sein. Dann lebt es sich leichter..."
11 Kommentare:
Großartig! Erinnert mich stellenweise an Kafka.
Satire oder Realität? Die Unterscheidung vergaß man beim Lesen. Es lief mir kalt den Rücken herunter.
Das IST Kafka ! - Und Kafka IST Realitaet.
Wie bitter, wie wahr!
Die Freundin meiner Nachbarin hat nur einen Arm und wird trotzdem vom "Amt" als voll arbeitsfähig angesehen. Das bei einer "Reserve" von 3,6 Millionen Arbeitslosen :-(
Da verweise ich ausnahmsweise auch mal auf einen Beitrag in meinem eigenen Blog, in dem ich meine eigenen Erfahrungen mit "dem Amt" beschrieben habe:
http://hanniballektor.wordpress.com/2009/08/05/das-letzte-aufgebot/
Es ist genug!
"Das bei einer "Reserve" von 3,6 Millionen Arbeitslosen :-("
aber nur in der frisierten tagesschau statistik...
Dass Franz Kafka einmal im heutigen Deutschland so real werden könnte, hätte ich vor einigen Jahren noch als Unsinn abgetan.
Da kann es einem in der Tat nur noch kalte Schauer über den Rücken jagen.
Wieder ein sehr guter Beitrag!
Hansi
@ Anonym:
Schon klar, daß es mehr sind - dazu habe ich ja in meinem Blogbeitrag auch etwas angemerkt.
IIRC gehen die inoffiziellen Schätzungen von ca. 5-6 Millionen aus.
Hallo Anonym, deine 3,6 Mio große "Reseve" an Arbeitslosen oder wie viele es auch immer sein mögen werden euch "ungläubigen Thomassen" noch alle im Halse stecken bleiben wenn dieser Herr Steinmeier mit seiner "SPD" nach den Wahlen erst mal 4 Million neuer(!) Arbeitsplätze spendieren wird!Jawohl!
Wer "SPD" wählt "wählt" 4 Million(!) neuer Arbeitsplätze.
So einfach sind doch "Wahlprogramme"!:-)))
Total gläubige Sonntagsgrüße von Hansi
Zitat: "Zuerst kommt das Papier, dann hat sich der Mensch mit dem Papier abzugleichen, hat das zu erfüllen, was aufgeschrieben steht, damit auch der Mensch zählen kann."
Es gibt offenbar immer noch Steigerungen im Hinblick auf Menschenverachtung und/oder blanken Zynismus. Dafür ein Beispiel. Im Rahmen meiner Straffälligenbetreuung ging es um einen Strafgefangenen, dessen Akte noch nicht eingetroffen bzw. nicht aufzufinden war, nach seiner Haftplatz-Verlegung. Der Strafgefangene, lieber Herr De Lapuente, war deshalb eigentlich noch schlimmer dran, als der Herr B. in Ihrem Artikel, eben, weil von ihm kein Papier vorlag. Mein Gesprächspartner von Seiten der Justizvollzugsanstalt teilte mir die Tatsache der fehlenden Akte mit dem Ausdruck des größten Bedauerns mit, als ich vor ihm saß, um über den in seine Anstalt verlegten Gefangenen zu sprechen. Dabei ging es um eine wichtige Familienangelegenheit, die natürlich auch ohne Akte besprochen werden konnte, was ich dann auch versuchte, sogar mit einer Portion Humor: "Naja, irgendwann wird die Akte ja sicherlich auftauchen, zumal bei der deutschen Justiz doch nix wegkommt. Wir können aber trotzdem über mein Anliegen hinsichtlich dieses Gefangenen sprechen." Ich wollte auch mit meinem Vortrag loslegen, als mich mein Gegenüber unterbrach: "Das tut mir leid", tröpfelte es aus den Beamten heraus, "ohne Akte hat das keinen Sinn." "Wie bitte", versuchte ich aufzubegehren, "nun bitte ich sie aber, Akte hin, Akte her, was ich mit ihnen besprechen möchte, ändert sich nicht dadaurch, ob sie (die Akte) nun da ist oder nicht." Schnell musste ich jedoch einsehen, dass es absolut sinnlos war, der Herr Beamte ließ, im wahrsten und übertragenden Sinne, nicht mit sich reden. Wütend schoss es aus mir heraus: "Sagen sie mal, ist bei ihnen ein Mensch erst dann ein Mensch, wenn die dazugehörende Akte vorliegt?" Fast schon beleidigt schaute mich der Justizvollzugsbedienstete an und antwortete: "Aber natürlich, das ist doch gar keine Frage, selbstverständlich benötige ich erst die Akte bevor ich mit ihnen über den "Fall" sprechen kann". Zu meiner Wut gesellte sich nun noch Sprachlosigkeit, denn dieser Mensch hat das wirklich ernst gemeint. Dazu noch eine Passage aus Ihrem Artikel: "Aber hier gelten keine Menschen, hier gelten Hierarchien." Auf meinen "Fall" angewendet: "Durch die Akte wird hier ein Mensch überhaupt erst ein Mensch".
Noch ein Beispiel, wenn auch etwas vom Thema abweichend, was ich heute bei der Übertragung der Leichtathletikweltmeisterschaft gehört habe. Da fragt doch der Sportreporter bei einem Interview: "Sagen sie mal, wann hat denn letztmailig ein weißer Mensch den 800 Meter Lauf gewonnen." Ich glaubte mich verhört zu haben, aber mein Partner bestätigte das von mir Gehörte. Sind denn eventuell die Arier auch schon wieder im Anmarsch, möchte ich mal ganz vorsichtig fragen. Etwas später purzelte aus den "weißen" Mund desselben "weißen" Reporters noch eine weitere "Besonderheit" heraus, als er bei einer Athletin von einer Neu-Türkin sprach. Ich weiß gar nicht was das sein soll. Gibt es denn auch Alt-Türkinnen? Ich hätte noch eine Reihe weiterer Beispiele mitten aus dem wahren Leben, möchte mich aber damit begnügen, "nur" noch einen schönen Restsonntag zu wünschen.
mfg
Jutta Rydzewski
Sie haben es wieder auf den Punkt gebracht.
Die Bürokraten sind schlimm. Und die Ärzte sind vom gleichen Schlag.Zu letzt sagte mein Hausarzt zu mir, das ich gesund wäre. Gewiss, ich habe bloß Multiple Sklerose, bin auf einem Auge fast blind und zu 50 % schwerbehindert. Ich habe ihm widersprochen, aber er hat es nicht kapieren wollen. Dieser Arzt ist kein Einzelfall!
Ich kenne einen menschen,
der durch unglückliche umstände gefallen an einer der schlimmsten drogen gefunden hatte …
doch hielt dieses gefallen nur kurz an, schon nach einem dreiviertel jahr verlohr eben dieser mensch seine arbeit, und obwohl dieser mensch sich noch ein paar weitere monate immer wieder mit stoff versorgen konnte, war sein leben nur noch ein hundcejammer, selbst wenn was da war …
letztenendes zog er die handbremse,
mehr gezwungenermassen als durch eigenen freien willen, da die droge so stark war, und wandte sich an die suchtberatung.
Dort wurde ihm sehr schnell klar, das er eine entziehungskur und eine therapie nötig hatte, zum einen weil es ihm schon lange bewusst war, zum anderen da es der sehr einfühlsame ansprechpartner dringend ans herz legte …
zusammen suchten sie einen geeigneten platz; eine klinik für menschen mit drogenproblemen und schweren psychosomatische erkrankungen, besorgten die nötigen antragsformulare und atteste des hausarztes sowie eines neurologen, tätigten die ersten telefonate um herauszufinden wann denn ein platz frei wäre, und die antwort der klinik war sehr positiv.
Um so ernüchtender war die antwort der krankenkasse:
„Da wir auf grund der uns vorliegenden befunde keine berufsbeeinträchtigung feststellen können, müssen wir ihren antrag auf aufnahme in einer klinik ablehnen“.
Lg,
e
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