Der gebräuchliche Kniff eines Unnahbaren

Montag, 31. Mai 2010

Es ist schon ein dreistes Stück, dass er als Tragödie letzter Akt veranstaltet. [Die Kritik] läßt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen! Ein Paukenschlag zum Abgang - einer, der an Frechheit eigentlich kaum zu überbieten ist. Denn wie verkündete er neulich erst: ...dass ein Land unserer Größe [...] auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.

Und nun mangelte es ihm also an Respekt. Unnahbar gab sich dieser selbsterklärte Bundespräsident von Volkes Gunst ja gerne; unnahbar ist selbst sein Rücktritt. Denn er tritt nicht ab, weil er in seinen Aussagen unglaubliche Großmannssucht verwob: er tritt von der Schaubühne, weil man ihn abschätzig beurteilte. Während aus der Rolle purzelnde Granden aus Politik und Wirtschaft zurücktreten, weil sie dies oder jenes kundgaben, tritt Köhler zurück, weil die zögerlichen Kritiker ihm nicht beipflichteten. Anders formuliert: Sein offensichtlicher Ausrutscher ist eigentlich der Ausrutscher derer, die ihn und seine kruden Thesen kritisch hinterfragten. Er hat sich gar nichts zu Schulden kommen lassen - Schuld sind eine kleine Handvoll Journalisten, die des höchsten Staatsmannes Verkündigung nicht absegneten und als frohe Kunde in die Lande trugen.

Eine unverschämte Lesart unhaltbarer Aussagen. Köhler geht nicht, weil er auch nur im Ansatz etwas Anrüchiges in seiner Bemerkung wittert - er geht, weil ihm der Respekt, der notwendige Respekt gar, fehlt. Solche Kritiker haben einen Bundespräsidenten wie mich gar nicht verdient, läßt er damit anklingen. Solche Untertanen muß ich mir nicht gefallen lassen, vermutet man hinter seiner Erklärung. Das ist keine "persönliche Integrität": es ist der selbstgerechte und großspurige Abtritt der figurierten Unnahbarkeit, die gebräuchliche und bewährte Tour eines Unschuldslamms, dass stets über die Sorgen dieses Landes räsonierte, an der Sorgenbildung oder -verschärfung aber rege mitfuhrwerkte - man beachte beispielsweise nur seine Beteiligung an der Finanzierung der Wiedervereinigung und dem Raubzug durch die Kassen der staatlichen Rente.

Dies war seine herkömmliche Masche, der übliche Kniff. Die Würde des Köhler galt stets als unantastbar. Der Unberührbare bot sich porentief rein dar, als Saubermann in allen Lagen. Und selbst jetzt, da er tiefer ins Fettnäpfchen stiefelte als je zuvor, da er seine wirklichen Denkmuster preisgab, räumt er nicht demütig seinen Stuhl: nein, er schiebt das Motiv denen zu, die seine Worte zurecht analysierten. Und die sollen die Wut der Bürger ernten, die ihren geliebten Bundespräsidenten, ihren Volkstribun durch unlautere Methoden aus dem Amt gejagt glauben - unlautere Methoden, die ein wenig nach Frevel riechen: nach kritischem Journalismus - das was davon übrig ist! - nämlich. Köhler hat zwar Angriffskriege verniedlicht und für legitim ernannt, aber er ist frei von Sünde. Versündigt haben sich lediglich die Respektlosen, die ohne Weitsicht des Volkes Bürgerpräsidenten deinstallierten. Schlimm, was diese Rotte mit ehrbaren Politikern und Denkern so anstellt!

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Semester der Qualen

oder: einige persönliche Zeilen.

Ein sich windender Körper, schmerzdurchdrungen, randvoll mit Wucherungen. Verkrampfte Glieder, ein schier zerberstender Brustkorb, um Luft bettelnd, sich schwer plagende Lungenflügel. Aufgeblähte Arme, aufgeschwemmte Beine, ein Torso geschwollen von Einlagerungen und Metastasen. Und Schmerz, immer wieder, ständiger, beharrlicher, nicht endender Schmerz. Es gibt keine Worte, die solcherlei Schmerz gerecht umschreiben würden. Opiatunterdrückte Qualen, die den Körper in Verschleiß, die den Geist in Verwirrung verfallen ließen. Körper bloß mehr, Mensch nur noch wenig - ein Paket aus gemarterten Fleisch, aus pulsierenden, schmerzübermittelnden Nervenimpulsen: Konkursmasse eines Menschen, Restbestände eines sich ausgelebten Lebens.

Hölle, wie sie sich niemand, nicht mal ein Hieronymus Bosch hat ersinnen können. Wucherungen, die Knochen knacken ließen, die Frakturen verursachten, die auf Organe drückten, die nächtliche Schreie den täglichen Schreien zugesellten. Schreie und Tränen, Bittstellung um Hilfe, wo Hilfe lediglich durch Gabe von Betäubungsmittel eine kurze Weile der Linderung, der Schmerzlosigkeit einbrachten. Ein Semester, ein Halbjahr im Zeichen des Morphiums, im Angesicht von Höllenqualen - ein Semester des menschlichen Verfalls, in dem aus einem strotzenden Mann langsam zwar, doch immer noch zu schnell, eine hilflose Gestalt wurde. Das ist die Zielsicherheit, die Durchsetzungskraft des Krebses; die Auflösung, in Raten gestückelte Verwesung menschlichen Lebens am lebendigen Leibe.

Leid, wie es die Hochglanzfassade dieser Gesellschaft kaum kennt; Leid, wie es bevorzugt hinter Glasfronten von Kliniken und Krankenhäusern, Hospizen und Palliativeinrichtungen verborgen wird. Zuckungen, Verkrampfungen, Todeskampf. Momente, wie sie eine ärztegläubige und medikamentenfromme Gesellschaft nicht wahrhaben möchte. Augenblicke, die wie ein Alptraum aus der Unterwelt aussehen. Angespannte Nerven bei denen, die sich um das Bett versammelten: Tränen, Machtlosigkeit, sich niemals mit dem Gewimmer, Stöhnen, Geschrei versöhnend. Angespannt lauschen sie dem immer behäbiger sich hebenden Brustkorb, diesem letzten Aufbäumen getaucht im Betäubungsmittelrausch. Die Schmerzschreie: nun Geschichte, sind einem tiefen, auf Narkotika bauendem Schlaf gewichen. Was bleibt ist Rascheln und Gurgeln in der Lunge; was bleibt sind sich endlos hinschleppende letzte Atemzüge, sind die letzten Augenblicke dieses Halbjahres trunken von Pein.

Ein Semester der Qualen, das am heutigen Morgen sein erlösendes Ende fand. Ein Martyrium, ein Passionsweg, ein langer, unendlich langer Kreuzweg, der einen wacker sich sträubenden Menschen zerrieb, der die Zurückgebliebenen, als sie noch nicht zurückgeblieben waren, malträtierte, sie zermürbte, schindete. Metastasen, die nicht nur einen Körper okkupierten: die sich auch im Nervenkostüm aller Beteiligten einnisteten. Heute fand dieses Leid ein trauriges, jedoch tröstendes Ende - es bleiben unauslöschlich die Schmerzensschreie, die mühsamen Augenblicke der Pflege, die Hilfe!-Rufe in die Erinnerung hineingestempelt. Jetzt, da befreit von Schläuchen und Spritzen, medizinischem Arbeitsmaterial und Schmerzapparaturen, friedlich und mit entspannter Miene auf jenem zur Hölle gewordenen Bett liegend, ruht er in sich - befreit von jenen Utensilien, die ihn schmerzfrei machen sollten, erhielt er einmal, ein allerletztesmal, sein menschliches Antlitz zurück. Kein Bündel Fleisch mehr, das mit Schmerzmittel erträglich zu halten ist: jene letzte Würde strahlt er nun aus, die einem menschlichen Wesen zuteil wird. Etwas Menschliches kehrte zurück in das einst schmerzverzerrte Gesicht...

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Wollt ihr den totalen Fußball?

Sonntag, 30. Mai 2010

Alle hopsen sie auf den Zug auf, was eigentlich heißt: alle springen sie auf das Leder, tänzeln darauf, einem dressierten Hündchen gleich, balancesuchend herum. Kein Unternehmen, kein Geschäft, keine Sparte, die momentan nicht gen Südafrika deutet, die Fußball-Weltmeisterschaft zum Verkaufs- und Konsumschlager modelliert. Alle wollen sie ihr Scherflein an jener Episode hinzuverdienen, bauschen daher dieses weltgeschichtliche Beiwerk zum kolossalen Bacchusfest auf, erklären ein sportliches Turnier zum Event, dem man dringlichst beiwohnen muß, sofern man auch nur halbwegs bei Verstand ist.

Neben dem üblichen Tand wie Trikots, Fahnen, Käppis, finden sich allerlei andere, etwas eigenartig anmutende Reliquien auf den Wühltischen: Fan-Kerzen, sündhaft teurer Käse im zweidimensionalem Lederballformat oder Schokoküsse schwarz und weiß, fußballmäßig glasiert. Ein ehemaliger Fußballer aus Hamburg starrt als Pappmaché-Bildwerk Kunden einer bundesweiten Supermarktkette an, dabei Tröten, Schals und Duschgel mit aufgedrucktem Leder feilbietend. Besonders kurios jene Tiernahrungskette, die Hundefußbälle und Hundetrikots ans besonders dämliche Herrchen bringen will. Oder jenes Klopapier, von dessen Verpackungsfolie ein rennender Comic-Fußballer herabblickt, neben ihm der Schriftzug "Halbzeit-Edition" - denn wisse, lieber Kunde, der Fußballer von Format, wischt sich in der Spielpause nur damit seinen schwitzig-nassen Arsch!

Fußball, Fußball über alles! Fehlt nur noch derjenige Bestatter, der den aus mitfiebernder Katatonie nicht mehr erwachten Fan zum WM-Sondertarif eingräbt - La Ola inklusive und "Es gab nur ein..."-Sprechgesang gratis angestimmt. Oder Freudenhäuser, die auf das Halbzeitgeschäft umstellen: Abspritzen wie die Weltmeister, im 90 Sekunden zum Erfolg - Verlängerung ausgeschlossen! Und dass die inzwischen am Wettbewerbsdenken ausgerichteten Krankenhäuser noch kein WM-Angebot in ihrem Programm haben, mag noch etwas mit einem Rest an Pietät zu tun haben, der sich erst dann erübrigt hat, wenn es keine Patienten mehr gibt, die die Zeit vor den wettbewerbenden Hospitälern noch kannten - ein bisschen Rücksicht auf die Klientel: eine Maxime des Wettbewerbs. Später könnte es dann mal heißen: Machen Sie mit bei unserem WM-Tippspiel - Hauptgewinn: Entfernung eines malignen Tumors Ihrer Wahl. Darunter kleingedruckt: Keine invasiven Karzinome. Mitarbeiter sind vom Wettbewerb ausgeschlossen. Der Preis kann nicht bar ausbezahlt werden.

Alle hüpfen sie auf das runde Leder; alle wollen Teilhaber dieses hochgespielten Geschehnisses sein; alle wollen an der Begebenheit verdienen, die sie selbst aufgeplustert, aufgebauscht, ins Unermessliche gesteigert haben. Der Konsument soll glauben, außer für den Fußball drehe sich die Welt gar nicht mehr - er soll für diesen Glauben blechen, darin investieren: selbst das Klopapier muß daher in den sakralen Stand des Fußballs erhoben werden. Heilig bist du uns, oh Ball!, beten sie in den Vorstandsetagen und Werbeagenturen; heilig bist du uns, oh Ball!, meditiert auch die politische Wirtschaft - oder wirtschaftliche Politik: je nach dem. Der blinde Glaube, so weiß man dort, versetzt zwar keine Berge, völlt aber Konten und befreit Discounter-Regale vom wertlosen Fußball-Schund, der sonst nur Lagerkosten verursachen würde - wenn der kickende Glaube auf den Konsumierungsglauben trifft, wuchert es religiös. Und er - der Glaube - läßt, weil zur wichtigsten Wichtigkeit gekürt, das wirklich Wichtige kommentarlos abseits stehen.

Der in Konsum und endloser Berichterstattungsschleife gefangene Anhänger, er wird zum mundtoten Gegenstand, der nach dem Ereignis mit einem Kater erwacht, erst dann feststellend, dass man ihn erneut geschröpft hat, dass er nochmals für die Folgen einer Krise zu bezahlen hat, für die er nur marginal verantwortlich ist. Obwohl: der ungezügelte, bedenkenlose Konsumismus, dieser über Generationen hinweg eingeflößte Odem, er ist nicht unwesentlich an Finanzkrisen schuld. Er ist Auswuchs der Gier und Antrieb selbiger - der ewige Kreislauf des Habenmüssens. Weltmeisterschaften sind weniger sportliches Festival, als sie antiaufklärerische Einschnitte sind, kurze Episoden des Denkenabstellens, Narkotikum für eine kaufende, raffende, grölende Gesellschaft. Das wissen auch diejenigen, die sich daran bereichern wollen, die während der Spiele die Gesellschaft weiter entsozialisieren möchten - und wenn es zur Umsetzung notwendig ist, den Konsumenten mit der "Halbzeit-Edition" den Hintern abschruppen zu lassen, dann sei das eben so! Der Totalitarismus der Fußball-Weltmeisterschaft soll jenen verdecken, der in den Köpfen jener Damen und Herren schon gediehen ist.

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Sit venia verbo

Samstag, 29. Mai 2010

"Alles Unglück des Menschen ist auf einen einzigen Umstand zurückzuführen: dass er unfähig ist, still in seinem Zimmer zu bleiben."
- Blaise Pascal, "Les Pensées" -

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Kritische Berichte?

Freitag, 28. Mai 2010

Deutschlands am meisten zitierte Tageszeitung schildert in ungewohnter Ausführlichkeit - in einem Zehnzeiler - Vorwürfe, die der SPD-Vorsitzende Gabriel gegen Merkel, damit indirekt auch gegen die BILD-Zeitung erhob. Merkel hätte BILD-Zeitung stoppen müssen!, verkündete dieser in der ZEIT. Die Diekmännische Verallgemeine berichtet hingegen folgendermaßen darüber: "Nach Meinung von SPD-Chef Gabriel hätte Kanzlerin Merkel die kritischen Berichte der BILD-Zeitung über die Finanzkrise Griechenlands stoppen müssen."

Die kritischen Berichte! Gabriel als Feind kritischen Journalismus'? Dabei hat weder die ZEIT noch Gabriel etwas von "kritischen Berichten" geschrieben, sie begrifflich gar nicht in den Mund genommen - das Wort "kritisch" kommt im ZEIT-Artikel überhaupt nicht vor. Da muß also eine Verwechslung vorliegen, da muß sich die BILD tatsächlich getäuscht haben. Niemand hat etwas gegen kritische Berichterstattung der BILD. Das heißt, niemand hätte etwas dagegen - man muß schon standhaft im Konjunktiv zurückbleiben. Mit "Gegenteil von aufklärerisch", so läßt Gabriel sich zitieren; und mit "antiemanzipatorisch" wartet er auf - das sind aber laut Thesaurus keine Synonyme für "kritische Berichte".

Gar kein Zweifel, da hat sich die BILD-Zeitung getäuscht, irgendwas durcheinander gebracht - kritische Berichte standen ja nie zur Disposition. Hätte sie nur welche gebracht, man hätte sie gutgeheißen. Aber so! Man muß Gabriel gar nicht besonders mögen, um ihn hier reinzuwaschen: aber es gehört sich einfach, ihm fälschlicherweise in den Mund gelegte Phrasen zu entkräften. Was er eher meinte, das war diese Mesalliance aus nationalem Dünkel und chauvinistischer Herablassung, aus unaufgeklärter Verbalwucht und willkürlicher Strafpredigt, aus unterhaltsamen Boulevard und vergnüglichen Griechenkloppen - kritische Berichte standen ja gar nicht zur Auswahl. Es gab sie einfach nicht! Warum sollte Gabriel sich über etwas erzürnen, das es so, in dieser Form gar nicht gab?

Man darf sich im Axel-Springer-Hochhaus zu Berlin sicher sein: Gabriel ist ein großer Bewunderer kritischer Berichte, jedenfalls so lange, wie sie nicht gegen seine Partei gerichtet werden. Auch wenn zur griechischen Tragödie keine kritischen Berichte inszeniert wurden - die kritischen Berichte der BILD-Zeitung bezüglich Hartz IV-Empfängern, den LINKEN oder zu Ypsilanti, die hat er womöglich würdigend zur Kenntnis genommen. Er ist halt vielleicht doch kein Widersacher des kritischen Journalismus.

Ein blendender Irrtum aus dem Hause Springer ist das: man war aufgrund des Qualitätsprädikats "kritischer Bericht" so in Ehrfurcht erstarrt, dass man nicht mal mehr mit Schaum vorm Mund auf Gabriel losging - wer in seiner Rüge auch noch derart belobigt und Qualitätsplaketten austeilt, dachte man sich hinter der Glasfassade zu Kreuzberg, der hat auch keine Prügel unter die Gürtellinie verdient. Böse Zungen könnten nun ja behaupten, die BILD hat deshalb nicht gebissen und gekratzt, weil man damit das Image kritisch Berichtender unterstreichen würde. Doch dann wäre der Irrtum, der ganz offensichtlich nachlesbar ist, eben weil er in der ZEIT nicht nachlesbar ist, gar kein Irrtum mehr - dann wäre es ein bisschen so wie mit Epimenides und seinem Paradoxon, nach dem alle Kreter lügen...

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Schuld und Schulden

Donnerstag, 27. Mai 2010

Die einzig wahrhafte Sparleistung sei es, so liest man dieser Tage hie und da, wenn man dafür Sorge trüge, dass sich Arbeit wieder stärker lohne. Wie genau das aussehen soll, bleiben die Freunde leistungsträgerischer Sparfreuden allerdings gewöhnlich schuldig; sie bieten nur selten konkrete, greifbare Lösungswege an. Und wenn es doch mal über das Rezitieren von Schlagworten hinausgeht, dann sind es die üblichen Ansätze, die sie anbieten - und diese offerieren sie zu allem Überdruss auch wieder als Slogans: mehr Netto vom Brutto! oder Lohnabstandgebot wahren!

Arbeit lohne sich dann wieder, wenn man weniger ans Finanzamt überweist, oder aber, wenn man die Sozialleistungen kürzt - im letzteren Falle mag der Niedriglohn von prekär Beschäftigten dann auch nicht ausreichen, aber dann lohnt es sich dennoch zu arbeiten, denn dann hungert man nachhaltiger, kann seinen Hunger über längere Zeit verteilen, während der Transferbezieher schneller an seine asketischen Grenzen stößt. Das ist die Logik von Perverslingen, von liederlichen Menschen, die ein geringschätziges Menschenbild haben - Peitsche als Anreiz, Peitsche als Sparempfehlung. Mit vehementer Nötigung, mit kurzer Leine, so glauben sie, könne man Menschen zur Arbeit treiben - ob nun durch steuergesenktes Ausbluten von Sozialleistungen oder durch die direkte Kürzung der Transferleistungen: Arbeit schafft sich für solche Wächter des sparenden, spärlichen Staates nur mit finanziellem Halseisen.

Anders formuliert: für die Schranzen der herrschenden Meinungsmache fehlt es nicht an Arbeitsplätzen, nicht an Stellen, die auch so bezahlt werden, dass man von ihnen leben kann - es mangelt am Anreiz, auch Arbeit zu ergreifen. Weil sich Arbeit nicht mehr lohne, verharren Millionen Menschen in der sozialen Hängematte - kein Arbeitsplatzmangel, schiere Bequemlichkeit frisst den Sozialstaat auf. Und wo sonst, wenn nicht an der selbstzufriedenen Behaglichkeit sparen? Arbeitsscheue Heimeligkeit kann sich dieser Staat nicht mehr leisten!

Aber auf die Idee, um sparen zu können, zunächst zu investieren, kommen diese Herolde des Leistungsprinzips nicht. Konjunkturprogramme soll es nach Rettungspaketen in Milliardenhöhe nicht geben. Keynes als verblasste historische Figur aus dem Ökonomenkosmos; Keynes als ausgebleichtes Glaubensbekenntnis längst verstrichener Tage. Das würde nämlich unter Umständen Arbeitsplätze entstehen lassen - ein Graus für die Arbeitgeberschaft, das blanke Grauen auch für die Schmierfinken dieser Herrn. Die Reservearmee darf nicht schrumpfen, aus ihr soll nicht desertiert werden können. Laßt uns bloß unsere Armee!, rufen sie der Politik zu. Zulasten der Binnennachfrage zwar, aber zur exportlastigen Gestaltung unserer Expansions- und Geltungsgelüste! Nicht investieren: sparen, sich totsparen. Und das bei denen, die sowieso spärlich leben, die so wenig haben, dass es ohnehin keinen Unterschied mehr macht, wenn sie noch weniger erhalten. Die Schuld geben wir diesen Habenichtsen dann auch gleich mit. Daher die Parole: es gibt genug Arbeit, man muß nur arbeiten wollen!

Klug sparen, so ist mehrfach zu lesen, bedeute, auf der Habenseite, bei den Einnahmen, Einbußen in Kauf zu nehmen - mindestens jedoch, die Einnahmenseite nicht anschwellen zu lassen. Am allerklügsten aber wäre es, wenn man die Einnahmen, die Steuern also, senkt und gleichzeitig auch gleich die Transferleistungen beschneidet - das ist zwar ein Geben und Nehmen, ein fruchtloses Nullsummenspiel, aber es klingt schrecklich sparsam und sparkommissarisch. Schickt die Kostgänger in Arbeit, auch wenn es keine Arbeitsstellen für sie gibt: das ist die oberste Maxime, die unantastbare Heilige, die himmlische Sancta Simplicitas, die diesem ganzen Gedankengebäude jener Sparberauschten vorsitzt. Auf der einen Seite Schulden abbauen um jeden Preis - auf der anderen Seite Schuld an jene verteilen, die sich nicht wehren können. Eine Schuld, die dieser Tage nicht in jedem Artikel unmittelbar lesbar wird, die allerdings immer zwischen den Zeilen mitschwingt. Schuld und Schulden: die heilige Zweifaltigkeit neoliberaler Gemeindemitglieder!

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Nomen non est omen

Mittwoch, 26. Mai 2010

Heute: "Sozialstatus"

Klassifikationssystem, das Menschen in wertvolle und weniger wertvolle Personen einteilt, ähnlich dem Kastensystem in Indien. Genauer: subtiles Herrschaftsinstrument zur Unterstützung und Stabilisierung der vorhandenen gesellschaftlichen Ungleichheiten. Der Sozialstatus bestimmt den Umgang der Menschen unter- und miteinander. Wer einen angesehenen Beruf nachgeht, viel Geld und gesellschaftlichen oder sozialen Einfluss hat, große Besitztümer sein Eigen nennt, darf sich als Herrenmensch fühlen und gebaren. Alle anderen haben ihm - direkt oder indirekt - zu dienen oder zumindest ehrfürchtig zu ihm aufzublicken.

Sozial im Sinne von "an andere denken" bzw. "das Gemeinwohl im Auge zu behalten" ist hier nicht gemeint. Eigentlich müsste man meinen, dass Menschen mit hohen sozialen Kompetenzen, also Menschen mit Empathie, Einfühlungsvermögen, Ehrlichkeit usw. einen hohen Sozialstatus hätten. Der Gebrauch des Begriffes beschränkt sich jedoch nur darauf, aufzuzeigen, wie hoch der finanzielle oder soziale Einfluss eines Menschen ist und eben nicht, wie hoch seine tatsächlichen sozialen Fähigkeiten sind. Ähnlich wie bei dem Schlagwort vom "sozial schwachen" Menschen, wird eine Kausalität zwischen sozialer Kompetenz und privatem Vermögen hergestellt. Dabei ist die Kausalität meist wohl eher andersherum: derjenige, der über viel Vermögen verfügt, hat ihn meist über unsoziale, egoistische und wenig altruistische Handlungsweisen erworben.

Marktwirtschaftliche Propaganda benutzen den Begriff "sozial" nicht selten als Deckmantel und Maske, um die Fratze des eiskalten und berechnenden Profitdenkens dahinter zu verbergen. Sei es die angeblich "soziale Marktwirtschaft", "sozial ist, was Arbeit schafft" oder ein vermeintlich "sozial verträglicher" Stellenabbau – ein Ausnutzen der positiven Assoziation des Wortes findet hier statt, um unsoziale Handlungen zu verschleiern und zu beschönigen.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Wortreich geschwiegen

Dienstag, 25. Mai 2010

Ich weigere mich unerbitterlich den Rücktritt dieser demokratischen Charaktermaske, dieser Charakterfratze zu kommentieren. Bockig und störrisch mag man mich nennen - mir einerlei! Was kümmert mich seine in Aussicht gestellte Amtsaufgabe? Was kümmert es uns allesamt eigentlich? Wenn sich die Korruption und die Menschenverachtung aus der Politik verabschieden würde... ja dann, dann wäre das erregend, dann könnte ich mich begeistern. Aber so? Was gibt es mir? Was soll ich dazu schreiben?

Es ist ja unverfroren, mit welchen Vokabeln man diesen Zurücktretenden bezeichnet: Eisprinz und Angreifer! Und fehlen werde er uns! Nur noch Ja-Sager blieben zurück! Man möchte sich jene Haare raufen, die man sich zuvor aus Frust schon ausgerissen hat. Da wird ein Märtyrer beschrieben, ein Verkannter, ein Genie, ein Opfer des politischen Unkulturbetriebes - etwelche Typen werden dargestellt, nur der Zurückgetretene nicht. Ein komischer Heiliger, der sich quer durch Parteispendenaffären lispelte und Demokrat wie er war, sein abgewähltes Amt als Geschäftsführer beibehielt, um seine damalige politische Konkurrentin aus einer Position der Stärke und Macht heraus zum Abschuss freizugeben.

Man muß sich weigern, diesem provokativen Faxenmacher einen Abgesang zu bereiten. Er hat nicht einmal Häme und Spott verdient - denn das wäre Beachtung. Nein, man muß ihn meiden, seinen Rücktritt missachten; nachdem er dann seinen Worten auch abtretende Taten folgen ließ, sollte man blöde in die Runde blicken und fragen: Ach was, der ist zurückgetreten? Habe ich nicht bemerkt! Man übergehe diesen Pfau, überhöre seine Kunde. Und wenn sie dann erwidern: Aber klar, der ist doch schon lange aus dem Amt, ist jetzt Aufsichtsrat dieses und jenes Wirtschaftsunternehmens!, dann entgegne man naiv wie Schwejk: So? War er das nicht schon vorher? Wirtschaftsdelegierter, meine ich? Dann ist es doch , wie es immer war!

Oh ja, ich lehne es ab, wie all diese hysterisch berichtenden Medienkonzerne, über diesen Rassisten und Ausländerfreund zu schreiben. Es gibt einfach Menschen, über die man kein Wörtchen mehr verlieren sollte. Ich lehne es weiters ab, fürderhin mit einer Betroffenheitsberichterstattung zum verkannten politischen Genie aus Hessen belästigt zu werden. Wenn die Korruption ihren Abschied, die Ausländerfeindlichkeit ihren Hut nimmt, wenn der Hass auf Arbeitslose abtritt - ja dann... dann will ich mehr davon lesen, hören, sehen. Aber solange nur diese entfremdete Charaktermaske eines charakterlosen Gesellschaftssystems ausgewechselt wird, störe man nicht meine Kreise!

Dies stellt daher keinen Kommentar zum Ereignis des Tages dar. Ja, ich verbitte mir regelrecht, dies als Kommentar anzusehen! Es ist in Worte gegossene Sprachlosigkeit, in Sätze geschmiedete Kommentarlosigkeit - es gibt einfach Ereignisse, die man nicht kommentieren möchte. Das ist kein Kommentar! Ich habe nur wortreich geschwiegen...

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Rupft die Reichen!

Montag, 24. Mai 2010

Alle müssen solidarisch zur Sanierung der Staatsfinanzen beitragen! Und gerade die Begüterten, die das meiste Geld in dieser Gesellschaft haben, sollen auch bluten müssen. Das ist doch Ehrensache! Wo sonst, wenn nicht an den Wohlhabenden, soll man sich gesundsparen? Dort, bei den Kapitalkräftigen, muß man den Riemen festzurren - dort, im Ressort Arbeit und Soziales, döst Sparpotenzial, dort tummeln sich die wirklichen Reichen, die versteckten und unterschätzten, die verheimlichten Finanzstarken.

Arbeit und Soziales - mit 143,2 Milliarden Euro ist es das größte, kostenintensivste Ressort; fast mit absoluter Mehrheit dominiert man den Staatshaushalt. Die Reichtümer einer ganzen Gesellschaft stecken da drin. Und bei den Reichen muß man sparen, bei denen gibt es etwas zu holen. Man muß nur beherzt genug sein, den wirklichen Reichen die Maske vermeintlicher Armut vom Gesicht zu reißen. 143 Milliarden! Hat etwa ein Karl Albrecht (23,5 Milliarden) so viel Geld auf seinem Konto? Nicht mal mit seinem Bruder Theo (16,7 Milliarden) zusammen erreicht er diese Summe! Susanne Klatten (11,1 Milliarden) und Stefan Quandt (5,7 Milliarden) sind geradezu Hungerleider im Vergleich zu denen, die sich mit 143 Milliarden an dieser Gesellschaft schadlos halten.

Das hat einfach aufzuhören, diese soziale Ungerechtigkeit kann sich kein Gemeinweisen auf Dauer leisten! Jetzt stehen wir vor der heiklen Aufgabe, von Arbeitslosen und Rentnern, vor diesen milliardenschweren Krösussen, eine Solidarität einzufordern, von der sie jahrelang nichts wissen wollten. Man hätte es nie so weit kommen lassen dürfen! Man hätte die soziale Schere nicht so bedenklich auseinanderklaffen lassen dürfen! Nehmen wir doch Quandt: der tut und macht, unternimmt und handelt - und am Ende hat er weniger in seiner Schatulle als jene, die sich einen faulen Lenz machen. Wenn es doch nur weniger wäre! Aber fünfundzwanzig Mal weniger! Da läuft doch was falsch, da wird eine ungesunde Ungleichheit betrieben, die nun aus Spargründen aufgegeben werden muß.

Eine Reichensteuer muß her! Eine, die den Reichtum von 143,2 Milliarden abschöpft, die denen an die Geldbörse geht, die von diesem Geldgebirge leben. Und entlastet die Hungerleider! Es muß sich für Klatten und Quandt wieder lohnen. Das wäre gelebte Solidarität - man holt es sich von den Reichen und verteilt es an die Armen. Rein ins Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ran an die Betuchten und Potenten, ran an deren Speck! Für eine Verteilungsgerechtigkeit, die diesen Namen verdient! Wen sonst rupfen, wenn nicht die reichste Klientel Deutschlands, wenn nicht Arbeitslose und Rentner?

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Millionengehälter sind nicht unmoralisch

Sonntag, 23. Mai 2010

Eine Ende der Sittenlosigkeit wird in heiterer Beständigkeit gefordert. Bietet die Welt nicht genug Nachrichten, stürzen sich Gazetten in ihrer Langeweile prompt auf Grundsatzfragen wie jener, dass Millionen für Manager endgültig der Geschichte angehören sollen und wünschen sich Vorstandsgehälter, die die Republik verkraftet. Unterdes liegt es gar nicht an den Gehältern, die die Republik röcheln lassen - es ist der fehlende Schneid, solche Millionensummen auch ordentlich zu besteuern.

Was da so verhalten als Vernunftspostulat und moralische Besonnenheit in Druckerschwärze prangert, ist die laue Bemühung, ein wenig Gerechtigkeitsmakulatur walten zu lassen. Nicht der Zugriff der Allgemeinheit auf Millionengehälter findet Anklang - die Millionengehälter selbst sollen verschwinden, damit ein solcher Zugriff gar nicht erst dringlich wird. Ein lasches, halbherziges Unterfangen, welches an der habsüchtigen Realität scheitert - ein Unterfangen, beruhend auf eben jener Habgier: denn lieber weniger im Säckel des Managers als höhere Besteuerung eines solchen prallen (Pfeffer-)Säckchens.

Gehälter, die die Republik verkraftet! Verkraftet sie denn Löhne, die bei Jobcentern gemeldet werden müssen, damit es von dort ein aufstockendes Zubrot gibt? Wer die Millionen der Götter in Schurwolle und Viscose abwickelt, sollte dringender noch die andere Seite der Medaille thematisieren, sollte die Hungerlöhne dieser Republik zum Gespräch machen. Nur greift man diese Millionensummen ja nicht an, um Verteilungsgerechtigkeit zu erlangen - ganz antithetisch, man will ja gerade nicht, dass diese Summen horrend besteuert werden. Man sähe es daher lieber, dass dieses Geld im Besitz des Unternehmens bleibt, gar nicht erst an die Führungskräfte ausgezahlt wird. Denn dann wäre das ganze schöne Geld dahin, zerronnen in den Fugen und Ritzen des Finanzamtes - und was dann womöglich blühte, wären die dreisten Forderungen mancher sozialstaatlicher Rückstände auf zwei Beinen, dieses Geld denen zukommen zu lassen, die nur kraft ihres Aufstockungssümmchens überleben können.

Dieweil man eine Anpassung von Millionengehältern anrät, spricht man sich simultan auch für Lohnzurückhaltung bei denen aus, die ein relativ geringes Einkommen haben. Gerechtigkeit nennt sich das dann. Weniger Geld für alle! Auch für die, die aber dringend mehr benötigen würden. Den Managern täte Bescheidenheit nicht weh, dem Arbeiter schon - und dem Arbeitslosen und dem Rentner schneidet sie tief ins Fleisch. Eine schöne Gerechtigkeit ist das, in deren Namen man dem Reichen wie dem Armen vorschreibt, auf seine Gehaltsvorstellungen zu verzichten. Eine verblendete Gerechtigkeit ist das, in deren Namen Lohnzurückhaltung im Orkus von Milliardenunternehmen liegenbleiben dürfen, damit deren Vermögen wächst und gedeiht und es dem Geldkreislauf entzogen wird.

Zahlt allen mehr!, möchte man ihnen zurufen. Und denen die reichlich haben, zahlt ihnen auch mehr! Und dann überarbeitet das Steuersystem. Mehr Geld für Arbeiter und Angestellte, aber auch mehr Geld für Manager! Predigt nicht Sparen, predigt nicht weniger für alle, sondern mehr für alle - für lohnschwache Lohnabhängige, für lohnstarke Führungskräfte, für den Fiskus. Zahlt allen Gehälter, die die Republik normalerweise nicht verkraften würde, wenn sie die Praxis ihrer Steuererhebung nicht dieser Forderung anpasst. Setzt die Managergehälter hoch und besteuert sie schauervoll - man kann auch von einem Zehntel, Zwölftel, Fünfzehntel solcher Summen blendend leben. Beseitigt Hungerlöhne, führt einen Mindestlohn ein, der diesen Namen verdient! Unmoralisch sind nicht zu hohe Gehälter - unmoralisch ist ein Staat, der diese Gehälter nicht gnadenlos abmelken will. Zahlt den Göttern im Zwirn mehr, viel mehr, wenn es nur geht. Und besteuert sie mehr, viel mehr, noch mehr! Denn genau das würde diese Republik zum Verkraften brauchen...

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De dicto

Samstag, 22. Mai 2010

"Mütter brauchen Sicherheit
[...]
Politik kann Frauen nicht zum Schwangerwerden „überreden“. Das hat etwas mit Liebe, mit dem richtigen Mann und der wirtschaftlichen Situation zu tun."
- Marion Horn, BILD-Zeitung vom 18. Mai 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Wiederholt eine dieser springerschen Gleichstellungsbeauftragten am Werk; eine, die von Gleichstellung ebensoviel hält wie vom ästhetischen Schönheitssinn der Burka. Frauen, die ja potenzielle Mütter sein könnten, bräuchten Sicherheit. Stimmt! Und Männer, mögliche Väter? Das ist eindeutig herauszulesen: die gehören zu den Utensilien, die eine Frau braucht, damit die Schwangerschaft auch gelingt. Liebe, Mann, wirtschaftliche Situation - der Mann als befruchtender Gebrauchsgegenstand! Wäre er das für jene Gleichstellungsbeseelte nicht, würde sie als Titel ihres Elaborats festhalten: Familien brauchen Sicherheit! oder Eltern brauchen Sicherheit!

Einst war es Gewissheit, dass der Mann der spendende, daher ausschlaggebende Part bei der Fertilisation ist; die Frau war nur aufnehmendes Behältnis, allezeit empfängnisbereit. Ein Zusammenspiel zwischen männlichem und weiblichem Schoß wurde nicht bemerkt, wollte auch gar nicht wahrgenommen werden. Davon nahm man erst sehr viel später Notiz, mit Aufkommen der modernen Medizin. Mit dem Versuch, im Namen einer Gleichstellung oder Emanzipation, krampfhaft (oftmals aber zurecht) eine Besserstellung der Frau in vielen Lebenslagen zu erwirken, wandelte sich die medizinische Einsicht zurück in den Aberglauben der Vorväter; endlich hatte sich der Irrglaube aber verkehrt: heute scheint es so, als wäre die Frau die gebende, lebensspendende, daher ausschlaggebende Seite; der Mann wirkt nurmehr stillschweigend mit, ist nur Beiwerk, allezeit spritzfreudig aber nicht wesentlich an der Zeugung beteiligt. War in der damaligen Männerwelt das Weibchen nur Utensil, so scheint für viele Frauen heute das Männchen einzig als Nutzgegenstand. Der Mythos wurde zunächst von der Wissenschaft besiegt, nur damit aus ihm ein neues, ein altes Phantasma sprießt. Zwar weiß man von der biologischen Abhängigkeit, unterschlägt es aber im ideologischen Wahn des gender mainstreams.

Mütter brauchen Sicherheit! Väter auch. Wieso, wenn man von der Geburtenzurückhaltung spricht, erläutert man nur die strukturellen Miseren, die in die Ödnis der Kinderbettchen führen? Mal abgesehen davon, ob eine wachsende Geburtenlust überhaupt sinnvoll oder notwendig wäre: wieso gelangen einzig materielle, unterbringungsrelevante Sujets aufs Tapet? Warum nur Elterngeld und der Ausbau von Kitas und Krippen? Der materielle Bezug der Debatte scheint offenbar der Mutter geschuldet - denn sie wird stets in einem Atemzug mit den handfesten Forderungen genannt. Idealistische Diskrepanzen, die Eltern vor Kindern zurückschrecken lassen könnten, so wie einst beispielsweise der drohende Atomtod junge Menschen davor zurückscheuen ließ, finden im öffentlichen Diskurs keine Stimme. Kinderlosigkeit und wirtschaftliche Situation werden verquickt - damit das Kind zum wirtschaftlichen Faktor erklärt. Ob aber die Aussicht, Kinder in Kitas und Krippen zu stecken, vielleicht vielen Frauen und Männern zuwider ist, wird öffentlich nicht thematisiert. Ob die Kinderfeindlichkeit, die sich nicht fiskalisch messen läßt, weil es Kindergeld und dergleichen gibt, die aber in Treppenhäusern, auf frisch gemähten Rasen, repressiven Schulsystemen und Betreten verboten!-Schildern messbar werden - ob diese Kinderfeindlichkeit ausschlaggebend ist, interessiert materiell orientierte Gleichstellungsbeauftragte überhaupt nicht. Und ebensowenig interessiert es, ob das herrschende Scheidungsgesetz mitsamt seinen väterfeindlichen Vorgängen zur Unterbringung der gemeinsamen Kinder nach der Trennung, eventuell eine Mitschuld tragen könnte. Denn möglich wäre es doch, dass Väter - die zur Befruchtung ja notwendig sind - aus Angst vor dem späteren Raub ihrer Kinder, lieber erst gar keine Kinder haben wollen. Ein Raub, der von der Justiz unterstützt wird, der Väter vereinsamen und ihren Kindern entfremden läßt, sie zum Dukatenscheißer mit wenig Rechten an den eigenen Kindern macht.

Für Gleichstellungsbeauftragte vom Schlage Horns sind das freilich Fragen aus dem Patriarchat, gestellt von Gestrigen und Unbelehrbaren. Rotzfrech an der Gleichstellung der Frau vorbeigefragt - denn ohne Frau keine Kinder. Und ohne Mann? Für manche dieser Geschlechterspalterinnen dürfte vor dem geistigen Auge eine bessere Welt voller künstlich Befruchteter entstehen...

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Deutschland ist ein toleranter Ort, steht in der Zeitung

Freitag, 21. Mai 2010

Es ist schon arg bedenklich, wenn ein Sachverständigenrat auf Initiative einiger deutscher Stiftungen tätig wird. Stiftungen: diese Feigenblatteinrichtungen, die so barmherzig, so karitativ, so unerhört sinnstiftend klingen, die aber letztlich nichts weiter als eine Kapitalunterbringungsapparatur für gutsituierte Dynastien sind. Wer sein Vermögen schützen, der Erbschaftssteuer entziehen will, der steckt es in seine Stiftung, der teilt dem Fiskus mit, dass sein Geld nun stiften gegangen ist. Dass Stiftungen daher nicht strikt die Absicht hegen, kritisch zu beobachten und zu analysieren, wenn sie Sachverständige bestellen und bezahlen, liegt damit auf der Hand - dass sie hingegen Impulse geben wollen, wie sie es auch in ihrer Selbstauskunft offen darlegen, ist schon eher wahr. Im Gewand der Gemeinnützigkeit, in dem die Stiftung ja letztlich aufläuft, tut man sich gleich noch viel leichter, der Gesellschaft dahingehend Impulse zu verpassen, wo man sie zum eigenen Vorteil verwandelt wissen möchte. Stiftungen sind, um es mit Albrecht Müller zu sagen, "Kräfte, die außerhalb öffentlicher Verantwortung stehen" ("Meinungsmache", Seite 63) - verantwortungslos jonglieren sie mit ihrer selbstauferlegten Verantwortung.

Wie gesagt, ein solcher Sachverständigenrat, der zwangsläufig das Lied seiner Herrn trällert, ist eine kritisch zu beäugende Sache. Zumal dann, wenn er Studien vorlegt, die wesentliche Probleme des bundesrepublikanischen Alltags ausklammern und für nichtig erklären. So wie jene, erst kürzlich erschienene Studie, in der erläutert wird, dass es um die Integration in Deutschland viel besser bestellt ist, als man das gemeinhin annimmt. Dass nicht der pure, der blutige Hass regiert, wie man deutlich herauslesen kann, das darf man getrost unterschreiben - ob man aber von einem pragmatischen Umgang mit Multikulturalität sprechen kann, darf arg bezweifelt werden. Sicher, wenn man damit meint, nach dem Beipflichten der rassistischen Ausländerschelte eines Sarrazin, schnell zum Döner-Verkäufer um die Ecke zu gehen: ja, dann darf man das Pragmatismus nennen. Denn an diesem Umstand geht die Studie offensichtlich vorbei: Während sie von Sonnenschein kündet, applaudiert man den neuen Volkstribunen, die sich nicht zu schade sind, neben sozial Schwachen auch rassisch Schwache verbal zu ohrfeigen. Gleichwohl damals fast die gesamte BILD-Leserschaft den Sarrazinaden zustimmte, waren es bei den seriöseren Revolverblättern nur sechzig, siebzig Prozent.

Von diesem Ungeist, der durch die Köpfe spukt, will der Sachverständigenrat nichts gemerkt haben - so, als würde der niederste aller Instinkte nur beim Durchblättern der Tageszeitung zum Ausbruch kommen, nachher im wirklichen Leben aber vergessen sein. Oder ist es eben jener oben erläuterte Pragmatismus, der ein solches Verhalten mit einem Wort umschreiben will? Wie auch immer, der Sachverständigenrat umgeht mit seinem Jahresgutachten den virulenten Bazillus unserer Tage, der nicht mehr nur subkutan wütet, sondern teilweise schon eine widerliche Fratze im öffentlichen Raum formte. Jene Dynastien, die hinter der sozialen Fassade des Stiftungsgedankens die Fäden ziehen, sie haben reges Interesse daran, wesentliche Probleme unserer Tage zu kaschieren. Denn was sie von Sachverständigen analysiert wissen wollen, dass ist unsere Gesellschaft, die sie als ihr Produkt ansehen, weil sie sie als führende Familien der Nation mitgeprägt haben. Schönwetter ist Agenda! Schönwetter kostet auch weniger, kann Steuerschenkungen und -vergünstigungen bewirken!

All das ist bedenklich, geht an der Wirklichkeit vorbei - aber es war zu erwarten. Wo Stiftungen ihr Spiel veranstalten, da ist die abgebildete Wirklichkeit genauso stiften gegangen, wie das stiftungsüberführte Kapital für den Fiskus. Dass aber ausgerechnet die taz in die subventionierte Erblindung des Sachverständigenrates einstimmt, den Türken und Arabern, die gerade noch vom tollgewordenen Thilo gebissen wurden, der dafür auch noch von verführten Massen Beifall erhielt, dass man diesen Türken und Arabern also auch noch ans Herz legt, sie könnten sich nun "von ihrem Opferdiskurs verabschieden", weil die Studie ein gutes Klima attestiert: das ist mehr als nur bedenklich. Dass beispielsweise Thomas Straubhaar, Mitglied der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), auch dem Sachverständigenrat beiwohnt, hätte die taz schon stutzig machen können - ausgerechnet Straubhaar, der bei der INSM Augenwischerei von der Pike auf erlernt hat. Taz-Sache ist, dass der Rechtsruck der taz stetig augenscheinlicher wird, dass man nun schon ganz ungeniert Leidtragenden mangelnder Weltoffenheit empfiehlt, erst gar nicht über ihre Opferrolle zu sprechen. Deutschland ist ein toleranter Ort: das muß zutreffen, denn wir haben es in der taz gelesen!

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Die schlimmste aller möglichen Krisen

Mittwoch, 19. Mai 2010

Es ging uns ja schon seit Wochen, seit Monaten, eigentlich irgendwie immer schon dreckig. Krisen allerorten, Mord und Totschlag, Gewalt und Unterdrückung an allen abgerundeten Ecken der Weltkugel. Derzeitig hier Griechenland, dort das obligatorisch gewordene Weiter so! der politischen Kaste - und irgendwo am nebligen Horizont befehdet sich Thailand untereinander. Und nun das Krönchen, das i-Tüpfelchen, das saure Sahnehäubchen des gesamten Elendes! Wenn auch alles Vorherige schon schlimm, schon garstig war - das was uns nun ereilt hat, sprengt das letzte Fünkchen Zuversicht: denn Michael Ballack wird im Juni nur Zuschauer sein!

Ballack! Ausgerechnet Ballack! Dieser einäugige Messias zwischen erblindeten Jüngern; dieser Virtuose des gepflegten Fehlpass- und Versteckspiels! Ausgerechnet jener Ballkünstler, der stets gerade dann zwischen den Halmen des gesegneten Rasens auf Tauchgang geht, wenn es um etwas geht; der allweil dann ein Gigant seiner Zunft ist, wenn seine Mannschaft zum spielerischen Gigantismus aufläuft; der ebenda Führungspieler wäre, wenn seine Kollegen keinen Anführer brauchen, weil sie sich selbst führen. Ausgerechnet Ballack, der schnörkellose Techniker ohne Technik, mit seinem ebenso schnörkellosen uncharismatischen Charisma. Dieser funktionalisierte Werbe-Einfaltspinsel und Interview-Simpel, ausgestattet mit dem Unterhaltungswert und dem Charme eines vor sich hinschimmelnden Weißkohls. Ballackballackballack, dieser personifizierte Hoffnungsschimmer großdeutsch-pandemischer Fußball-Teutonitis!

Exklusive Sondersendungen und sonderliche Exklusivsendungen folgten umgehend. Trauerminuten und in Reportermimik gegrabenes Trauerflor waren selbstverständlich! Ballack übertünchte das sonstige Geschehen - nach seiner Absage dampfte die Kacke erst so richtig. Unbekümmerte, mit Barem unbeschwert umherwerfende Griechen verärgerten zwar, der thailändische Semi-Bürgerkriegsschauplatz ließ zwar stutzen: aber Ballacks unfreiwilliger Verzicht, er polarisierte erst so richtig, stachelte die Fernsehsender zur Unterbrechung ihres eisern ausgereiften Sendeplanes an. Da brachen alle Dämme! Lädierte Sportlerknochen sind die größte aller Sorgen, frei nach Leibniz: ramponierte Athletengebeine sind die schlimmste aller möglichen Krisen. Das ist der Stoff, den die Zuseher in stilechter Dramaturgie aufbereitet haben wollen!

Und so eine Materie hat Zukunft, bietet weitere Nachrichten, ermöglicht Ablenkung von den wirklichen Schauplätzen dieser Erde. Entweder keilt und rauft sich die Nationalelf ballacklos bis ins Halbfinale vor und man kann von einem Wunder ohne Ballack, einem nicht für möglich gehaltenen Sommer- oder Afrikamärchen schwafeln - oder aber, man verendet relativ frühzeitig, dabei ebenso keilend und trampelnd (virtuos gleich einer Herde Rindviecher), um dem ungerechten Fußballgott zu beschimpfen, der das Scheitern schon vorab, vor dem Turnier in den Knöchel des Ballack meiselte. Das ist der Stoff aus dem Helden werden können, wenn diese sich nicht zufällig zu Deppen machen.

Das erhitzt oder besorgt die Gemüter! Wen kümmert Griechenland? Wen Thailand? Einmal auf die Verschwendungssucht der Hellenen gepoltert, mal kurz das Ungestüm dieser asiatischen Halbwilden belächelt - aber mehr Berichterstattung bitte nicht. Das ist zu anstrengend, zu ernst, zu grässlich aus dem wirklichen Leben gegriffen. Nein, dann schon lieber Röntgenbilder von Ballack: als sorgenvollste Sorge einer Gesellschaft, die sich mehr als Anhängerschaft denn als Gemeinwesen verstehen möchte. Der ganze Erdenzinnober war ja vormals schon unerträglich, unsagbar traurig - aber Ballacks Läsion hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Das hält der beste Deutsche im Kopf nicht aus! Da wird Ausländerfeindlichkeit salonfähig, werden Kriegseinsätze Usus, sinkende Wahlbeteiligungen und ewig gleiche Wahlsieger Standard - aber der Deutschen Kümmernis ist die Abwesenheit eines Fußballers, wird ihnen jedenfalls als Kümmernis zugeworfen. Erst dann brechen alle Dämme, erst dann steht ein einig Volk zusammen, weil es sich sorgt, in Afrika gegen die Welt nicht bestehen zu können...

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Von der Vernunft überrumpelt

Dienstag, 18. Mai 2010

Mit Bitte haben Sie Verständnis! endet der Aushang. Verständnis, dass wir in unserer Arztpraxis keinen Handschlag mehr anwenden. Schließlich würden Infektionskrankheiten auch von Hand zu Hand übertragen. Patient!, so steht da pathetisch zu lesen, auch wenn es dort nicht lesbar ist: Patient! Sei doch vernünftig! Es ist zu deinem Wohl, zu unser aller Wohl! Für die Gesundheit muß das Begrüßungsritual über Bord gehen.

Dafür kann man doch auch auf diesen Happen Verbundenheit verzichten, den man mit dem Händeschütteln eingeht. Für das Wohlbefinden wird auch anstandslos mal auf gutes Benehmen gespieen - muß das Band zwischen Arzt und Patienten, das im gegenseitigen Reichen der Hände seine Bildlichkeit erhält, auch mal kommentarlos zurückstehen. Patient, zeig' Vernunft! Mensch, sei doch gescheit! Und natürlich ist er das, natürlich gräbt er seine Hände ins Hosentaschenfutter, nickt stattdessen zögerlich, betritt unkörperlich, unbetastet das Sprechzimmer - wer drängt schon gerne seine Hand auf, wer zwängt seine Hand schon gerne mittels brachialer Etikettensucht in die Händfläche eines anderen?

Täte er dies aber, man tippte mit vernünftigem Blick und ernstlich-aufrichtigem Mienenspiel auf den etwas stümperhaft gefertigten Aushang. Sieh' Patient! Hier weilt in Schriftzeichen gedruckt die Vernunft, hier ist zu lesen, dass unser Wohlergehen vor Anstand kommt! Wer will schon weichen, wenn es um das Überleben der Gattung geht? Wer getraut sich, die Vernunft per Sitzstreik aufzuhalten? Schweigen also. Händeringend, mit ungeschüttelten Händen betritt man den Raum, dabei schrecklich einsichtig, abscheulich reif und gelehrig aussehend, lückenlos vernünftig wirkend. Für die Gesundheit kein Handschlag!, murmelt man sich selbst zu, das ist doch nur vernünftig, weitsichtig, aufgeklärt.

Von der Vernunft überrumpelt nimmt man zur Kenntnis, nimmt man hin. Dabei vergisst man, dass es nicht das Händeschütteln als solches ist, das hier entschlummert, nicht nur dieses Ritual also, das Menschen, die miteinander zu tun haben, sinnbildlich verbindet und kurzzeitig körperlich kurzschließt: es entschläft im Namen einer offenbaren Vernunft jedwede Form von Kultur, Benehmen, Anstand und Würde. Die Vernunft effektiviert den menschlichen Alltag, zertrümmert in ihrem geheiligten Namen menschliche Traditionen und Bräuche, macht im Auftrag der Hygiene selbst die Hand des Nächsten zum unberührbaren Körperteil. Alles ganz vernünftig, alles erklärlich, alles mit hehren Motiv behaftet. Willst du an der Vernunft zweifeln, Patient? Sei doch nicht fahrlässig!

Als stürbe die Welt daran, ergriffe man weiterhin die Hand! Hysterie bemäntelt in Vernunftreden; Neurose therapiert, indem man sie neu tauft, sie mit Vernunft ruft; Überspanntheit als angemessene und vernünftige Reaktion aufgeklärter Geister. Vielleicht mag es Infektionen mindern, reicht man sich die Hände nimmer. Das kann schon stimmen - muß es aber nicht. Die Frage ist im Zeitalter der massentauglichen Vernünftelei nur: was sind wir bereit an zwischenmenschlichen Traditionen und Bräuchen aufzugeben? Muß die Nähe zum Nächsten verschwinden, damit eine sterile Gesellschaft zu ihrer sterilen Blüte, zu dieser welken Distel gedeiht?

Eine durchrationalisierte Gemeinschaft kann körperlich gesünder sein, jedenfalls hypothetisch und unter Umständen - seelisch gesünder, vereinsamend, isolierend, Komplexe speisend ist sie allerdings auch. Als die Vernunft Einzug hielt in die europäische Geistesgeschichte, hat sie den Aberglauben, repressive Vorgaben und Bigotterie demoliert. Das wurde zum Nährboden der Wissenschaft, der relativen Religionsfreiheit, der sexuellen Freizügigkeit - aber es war auch der Nährboden einer neuen, irdischen, laizistischen Religiosität, die sich die Vernunft zur transzendenten Herrin ersonnen hat. Das Allerbarmende jedoch, das Zwischenmenschliche vorvernünftiger Tage: es blieb auf der Strecke und ist innerhalb des Vernunftkultes nicht mehr zu beatmen. Menschlichkeit ist keine vernünftige Kategorie, sie ist ethisches Spezialfach und nur schwerlich der Vernunft unterzuordnen.

Bleiben die Hände in der Hosentasche kleben, gilt man als unanständig. Spricht man dabei aber von Infektionsgefahr, so wird man ob seiner Vernunft gelobt. Auf dem Credo der wissenschaftlichen Vernunft fußte die Massenvernichtung des letzten Jahrhunderts - man kann jede Sauerei begehen, man kann jedes Verbrechen rechtfertigen, wenn es nur an keinem Vernunftsgrund mangelt. Mord ohne Motiv ist niederster Instinkt - Mord mit vernünftiger Erklärung, er kann akzeptabel werden. Heute Händeschütteln und morgen Auschwitz: das ist blanker Unsinn! Aber dass es heute der verwehrte Handschlag ist, der uns als Menschen trennt, damit morgen neue Trennungs- und Entfremdungsgedanken entstehen: das ist die Bestie, mit der diese kälter werdende Gesellschaft zu ringen hat. Heute, lieber Patient, steht auf dem Aushang, reichen wir uns nicht die Hände! Aus Vernunftgründen wohlgemerkt. Und morgen ziehen wir eine Glasscheibe zwischen uns! Hadere nicht, Patient, es liegt nicht an uns, die Vernunft machts!

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Sit venia verbo

Montag, 17. Mai 2010

"In der Überflußgesellschaft herrscht Diskussion im Überfluß, und im etablierten Rahmen ist sie weitgehend tolerant. Alle Standpunkte lassen sich vernehmen: der Kommunist und der Faschist, der Linke und der Rechte, der Weiße und der Neger, die Kreuzzügler für Aufrüstung und die für Abrüstung. Ferner wird bei Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit. Diese reine Toleranz von Sinn und Unsinn wird durch das demokratische Argument gerechtfertigt, daß niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit und imstande wäre zu bestimmen, was Recht und Unrecht ist, Gut und Schlecht. Deshalb müssen alle miteinander wetteifernden Meinungen „dem Volk“ zur Erwägung und Auswahl vorgelegt werden.
[...]
In der gegenwärtigen Periode wird das demokratische Argument zunehmend dadurch hinfällig, daß der demokratische Prozeß selbst hinfällig wird. Die befreiende Kraft der Demokratie lag in der Chance, die sie abweichenden Ansichten auf der individuellen wie gesellschaftlichen Ebene gewährte, in ihrer Offenheit gegenüber qualitativ anderen Formen der Regierung, Kultur und Arbeit – des menschlichen Daseins im allgemeinen. Die Duldung der freien Diskussion und das gleiche Recht gegensätzlicher Positionen sollte die verschiedenen Formen abweichender Ansichten bestimmen und klären: ihre Richtung, ihren Inhalt, ihre Aussichten. Aber mit der Konzentration ökonomischer und politischer Macht und der Integration gegensätzlicher Standpunkte einer Gesellschaft, welche die Technik als Herrschaftsinstrument benutzt, wird effektive Abweichung dort gehemmt, wo sie unbehindert aufkommen konnte: in der Meinungsbildung, im Bereich von Information und Kommunikation, in der Rede und der Versammlung. Unter der Herrschaft der monopolistischen Medien – selber bloße Instrumente ökonomischer und politischer Macht – wird eine Mentalität erzeugt, für die Recht und Unrecht, Wahr und Falsch vorherbestimmt sind, wo immer sie die Lebensinteressen der Gesellschaft berühren."
- Herbert Marcuse, "Repressive Toleranz" -

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Im Konsumismus

Samstag, 15. Mai 2010

Überbleibsel ist nicht der Kapitalismus. Nein, er ist nicht als Sieger aus dem Kalten Krieg herausspaziert, hat nicht den Sozialismus darniedergerungen, um sich zum einzigen Sonnenkönig der Welt zu krönen - Kapitalismus ist nur eine Wirtschaftsform: und für Wirtschaftsformen reißen geknechtete Völkerschaften keine Mauern und Eisernen Vorhänge nieder. Zum Sieger wurde, wenn man das überhaupt so nennen kann, eine Synthese aus beiden Gegenspielern. Nicht strikt eine, die die Vorzüge beider Seiten verbandelte; eher eine, die den innersten Trieb der arbeitsteiligen Massengesellschaft, der ja auch in den Agenden der Ideologien als Recht auf Glück, auf Arbeit oder auf Teilhabe seinen Niederschlag fand, Entfaltungsraum bot: dem Bestreben nach Konsum.

Es war nicht die Liebe zu Adam Smith oder Mill und Malthus, die die Menschen der sozialistischen Welt zum Einreißen von Umfriedungen und Umzäunungen trieb. Natürlich vernimmt man das oftmals gegenteilig bei den Parteimännern der reinen Lehre, die glauben, der Menschen Lebensrealität lasse sich kapitalistisch vermessen; sie beteuern mit der Hoffart der geschichtlichen Sieger, Rudiment des Kalten Krieges zu sein, jene Seite des Konflikts also, der sich als überlebensfähig erwies, während der Kontrahent jämmerlich erlosch - und die Menschen, die drinnen im moribunden Rumpf litten, sie kletterten auf Mauern, weil sie einsahen, dass der Kapitalismus gesünder, zäher und loyaler sei. Als wären Völker ideologische Massen, die mit Lehrbuch unter dem Arm geklemmt, ihre Lebensbedingungen verändern wollten!

Nein, die sprichwörtliche Banane, diese begehrte und nur selten vorrätige Frucht, sie war Auslöser. Lange Warteschlangen und Ebbe im Regal - auch die haben es ausgelöst. Kapitalismus und Sozialismus: eine Lesart. Besser funktionierender und schlecht ausgeführter Konsumismus: das ist die andere Variante. Man war ohnehin nie weit auseinander, völlig richtig wurde die östliche Hemisphäre mehrmals als System des Staatskapitalismus betitelt. Die Schaffung von Konsumgütern trieb beide Systeme an: jedes auf andere Weise, jedes mit verschiedenen Mitteln, aber beide vereint im Produkt, dem Warum dieses emsigen Treibens. Der Konsum sollte Glück und Teilhabe erzielen; der Konsum sollte zum Stillhalten der Massen beitragen; der Konsum sollte Surrogat sein, ablenken, befriedigen und befrieden. Nicht die Bejahung des Profitdenkens oder die herrliche Würdelosigkeit, sich auf dem freien Arbeitsmarkt anbiedern und an den Hals werfen zu müssen, waren es, die die Menschen gen Westen trieben; mit der Absicht, nun endlichendlich kapitalistisch zu werden, traten sie nicht in die Geschichte: sie wollten effektiver, ausreichender, erfüllender verkonsumieren, am Genuss der Welt teilhaben, nicht mehr nur ohne Folgen nachfragen, sondern auch Angebote auf Nachfragen erhalten.

Der Konsumismus treibt den Globus seit Ende des letzten Weltkrieges verstärkt an. Werte und Moralkodizes wurden aufgeweicht, an ihre Stelle traten Theoreme zu Angebot und Nachfrage, handfeste Lehrsätze zum Konsum - Theoreme und Lehrsätze, die nicht mehr nur hinter Schreibtischen erörtert, sondern im Leben der Menschen installiert wurden. Der Erwerb von Waren wurde zum alltäglichen Tagesordnungspunkt - und zur Ware wurde beinahe alles. Butter und Mehl, Röcke und Hemden sowieso: danach auch Dienst am Nächsten, Hilfeleistungen, Menschen selbst, Angestellte und Arbeiter. Selbst ein zuhörendes Ohr kann zum käuflichen Objekt werden - und selbst die Gesundheitsvorsorge, die Medizin als Errungenschaft der Menschheit, als Kulturgut menschlichen Daseins quasi, wird etappenweise zur Ware empor- oder besser: herabgewürdigt. Fast alle Sachen, fast alle Gedanken nahmen die Form von Ware an. Und so wurde hinter und vor dem Eisernen Vorhang verfahren - hier verstärkt, dort mit Abstrichen.

Denn dort gab es noch Ideale. Theoretische Ideale meistens - aber nicht nur. Die Staatssicherheit war freilich kein Ideal - die Einbeziehung verrentnerter Arbeiter, die aus dem Lebensumfeld der Produktiven nicht einfach entfernt wurden, die weiterhin in Firmenkantinen speisen durften: das hat doch aber etwas vom gelebten Ideal. Auf der anderen Seite des erkalteten Weltenbrandes belächelte man solche moralingesäuerten Maßnahmen durchaus - wer Geschäfte machen will, so hieß es, heißt es heute noch viel zu oft, dürfe nicht sentimental, nicht rührselig sein. Je schlechter aber die Konsumversorgung klappte, je weniger Konsumismus verwirklicht, diesem pursuit of happiness Antrieb gegeben werden konnte, desto ausgeblichener das Bekenntnis zum Ideal, desto bereiter war man dazu, vom Idealismus zu weichen. Der Konsum als Bezwinger der Rührseligkeit, der Gefühlsduselei, als Überwinder des Idealismus, Atomisierer rudimentärer Moraleinsichten!

Überrest ist damit nicht der Kapitalismus, es ist jener Trieb, der uns heute als Teil der conditio humana verkündigt wird: der Trieb des Raffens, des Besitzenwollens, des Aneignens und Hortens. Kapitalisten sind jedoch die wenigsten Menschen, ihnen mangelte es ohnehin an Kapital. Sie sind Konsumisten, haben die tatsächlich menschliche Eigenart, notwendigen Besitz zu mehren, Zeug zu mehren, um es mit Heidegger zu sagen, überspannt. Der Mensch, er ist abhängig von Werkzeug, Schreibzeug, Flickzeug, Kochzeug und allerlei anderem Zeug: er ist ein Zeugversessener, weil er nur mit Zeug sein, mit Zeug existieren - und zwar in menschlicher Würde existieren - kann; die Natürlichkeit des Menschen, so beschrieb Helmuth Plessner einmal, sei die natürliche Künstlichkeit. Diese sei anthropologisches Gesetz; der Mensch müsse Künstlichkeit erzeugen, um natürlich leben zu können - ohne künstlich erzeugte Kralle oder Reißzahn in Form etwaiger Waffen beispielsweise, keine Möglichkeit des Fleischessens. Der Mensch erzeugt, weil er Zeug zum Leben benötigt - das ist ein wesentlicher Aspekt der Spezies Mensch. Der Konsumtrieb heutiger Prägung aber, er ist der Erzeugung entfleucht, er sammelt und hamstert, macht auch aus Mitmenschen Zeug, aus Gefühlen und Sorgen außerdem, erklärt die komplexe Erscheinung der Welt zum Konsumtempel, in dem alles was sichtbar ist, ganz einerlei ob beseelt oder dinglich, eine Ware sein kann, wenn sich nur ein Käufer oder Interessent findet. Es ist letztlich keine natürliche Künstlichkeit mehr, die hinter dem heutigen Konsumwahn steht: es ist die Überspanntheit, andauernd neu beschäftigt, befriedigt, erfunden sein zu müssen. Ware als Lebenselexier! Ware als temporärer Sinnstifter, solange bis neue Ware neue Sinne stiftet. Ware als irdischer Grundstoff, als fünftes Element, als Atom, das die ganze Welt zusammenhält und erklärbar macht. Wir sind keine Welt bestehend aus kleinsten Teilchen, aus Atomen - es gibt noch kleinere! -, wir kleben und halten durch den Warenwert zusammen. Am Anfang waren nicht Feuer, Luft, Wasser und Erde: am Anfang war die Ware und der Kunde und das wohlige Empfinden beim Erhaschen eines Schnäppchens!

Es ist kein Leben in einer ideologischen Fassade, das uns heute bestimmt und befehligt. Es gibt "die Kapitalisten" - keine Frage. Aber die Menschen der Lebenswirklichkeit, die mit Theorien und kapitalistischen Dogmen wenig anfangen und noch weniger ihr alltägliches Dilemma bestreiten können, sind nicht in der Mehrzahl bekennende Kapitalisten - dazu fehlt ihnen schon die finanzielle und materielle Grundlage. Aber sie werfen sich kopfüber in den Konsum, erwerben und kaufen, jagen und erstehen, betäuben sich mit Artikeln und Fabrikaten, vergleichen Angebote und frönen des Selbstgenusses, streben nach Erzeugnissen zum Selbstkostenpreis, wenn es diese schon nicht geschenkt gibt. Die Gesellschaften des Westens, zu denen auch die Gesellschaften des Ostens langsam hinzustoßen, tragen nicht den Kapitalismus in die Dritte Welt - sie tragen die Konsumgeilheit und die Abhängigkeit dorthin. Sie wollen den Afrikanern und Südamerikanern, den Arabern und Paschtunen nicht den Kapitalismus schmackhaft machen: sie wollen sie in den Konsumismus stürzen, in jene Tiefen also, in denen sie schon feststecken. Man befriedet die Welt nicht mit Ideologien, man macht sie mürbe, indem man ihr Flausen in den Kopf setzt. Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, der Sozialismus nicht verloren - es hat sich einfach nur der abgeschmackte krämerische Trieb des homo supermercatus durchgeboxt und den geschichtlichen Zwiespalt als lachender Dritter beendet.

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Köhler lehrt demokratisches Einmaleins

Freitag, 14. Mai 2010

Oh, dieses Volk von Klägern! Aus hohem Munde, aus höchstem deutschen Munde sogar, sprüht es Schelte. Dass das Bundesverfassungsgericht zur politischen Instanz geworden sei, so schmachtet Köhler, sei als Symptom demokratischen Verfalls zu werten. Richtig so!, möchte man ausrufen. Gut erkannt!, will man schreien. Und fast hätte er sogar den wahren Umstand, den wahren Missstand auf dem Kopf getroffen. Fast! Denn für Köhler ist es kein Skandal, dass Karlsruhe überhaupt erst angerufen werden muß, um verfassungswidrige politische Entscheidungen zu revidieren - für ihn döst der Eklat bei denen, die ihr Recht einklagen, die nicht stillhalten wollen, wenn die Politik wieder und immer wieder im Namen ihrer wirtschaftlichen Geldgeber, knallharte Partikularinteressen wahren und vergesetzlichen.

Das Bundesverfassungsgericht, so schwadroniert der Bundespräsident majestätisch-überheblich, sei nicht dafür konzeptioniert, überstimmten Minderheiten ein Recht auf Gehör zu verleihen. Weniger vornehm ausgedrückt: parlamentarische Minderheiten, die einen Gesetzesentwurf für verfassungswidrig erachten, sollten trotzdem schweigen, mit ihrer Niederlage würdevoll umgehen - oder, etwas plumper gesagt: mögliche Verfassungswidrigkeit ist dann aus der Welt geschafft, wenn eine parlamentarische Mehrheit ihr zugestimmt hat. Demokratie bedeutet demnach in seinen Augen nicht, sich an Verfassung und deren moralische Werte zu binden, sondern loyal gegenüber Mehrheitsentscheidungen zu sein, selbst dann, wenn diese Mehrheiten auf zweifelhaften Fundamenten, nicht mehr auf grundgesetzliche Füßen stehen.

Für Köhler geht dieses Benehmen, frech und frei in Karlsruhe zu intervenieren, so weit, dass er es als demokratische Unlust entlarvt meint. Nicht klagen!, unkt er, sondern koalieren und demonstrieren - das wäre nämlich der aufrichtige demokratische Esprit. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, sie riecht ein wenig schimmelig nach demokratischer Fäulnis, könnte man aus seinen Worten schlussfolgern. Karlsruhe als antidemokratische Brutstätte! Und Köhler beweist nebenbei eine sensationelle Abgehobenheit, kehrt heraus, dass Bellevue schon nicht mehr in Berlin selbst liegt, sondern weit darüber hinweg schwebt. Denn wie können politische Ansichten, wie sie Wagenknecht oder Gysi vertreten, mittels Koalitionsbildung durchgeboxt werden, wenn mit diesen Schmuddelkindern keiner paktieren will? Und was nützen Demonstrationen, wenn man solche, die wie einst gegen die Hartz-Gesetzgebung ins Leben gerufen wurden, als wohlfahrtsstaatliche Sattsamkeit verunglimpft und über sie nicht öffentlich berichtet?

Köhlers demokratischer Geist, der im Koalitionieren und Demonstrieren manifest wird, er ist die wirkungslose Fassade des bundesrepublikanischen Alltags; das zahnlose Herumtigern einer Gesellschaft, die sich im Übermaß demokratisch fühlt, weil man doch immerhin alle vier Jahre Stimmzettel ausfüllen kann, wenn man denn möchte. Und genau diese Zahnlosigkeit ist für Damen und Herren wie Köhler Demokratie: denn Demokratie soll sichere, abgesicherte Lebensverhältnisse schaffen, ein ruhiges Ruhekissen für diejenigen sein, die wirtschaften und profitieren wollen - sie soll eben gerade nicht Mehrheitsentscheidungen torpedieren und Unruhe, unsichere Rechtsgrundlagen entstehen lassen. Das Anrufen des Bundesverfassungsgericht, auch wenn sich dieses viel zu oft auf die Seite der Machthaber, nicht auf die Seite des Grundgesetzes stellte, ist schon ein anderes Kaliber als das Hochhalten von bepinselten Pappmaché oder dem fiktiven Knüpfen von Koalitionsbündnissen.

Dass es ein Gewinn für die Demokratie ist, wenn die Entscheidungen eines halbwegs gleichgeschalteten Abgeordnetenhauses durch Minderheiten gerichtlich geprüft werden können, ist im üblichen köhlerschen Wortschwall ersoffen. Wenn Karlsruhe den finalen Rettungsschuss als verfassungswidrig ablehnt, wenn dort zumindest über das Prozedere im Dschungel des Arbeitslosengeldes II beraten wird, dann ist das keine demokratische Zerrüttung - es ist Teil der demokratischen Kultur der Bundesrepublik. Das mag nicht ausreichend demokratisch sein, aber undemokratisch per se ist es nicht unbedingt. Demokratische Defizite gibt es natürlich, keine Frage, aber die liegen nicht in Karlsruhe begraben. Dass sich Demokratie nicht einfach am wilden Mehrheitsfetisch festmachen läßt, dass sich auch Minderheiten eine Chance, wenigstens auf ein Mindestmaß an Einhaltung von Vernunft und Moral, erhalten können: das ist nicht der schlechteste demokratische Ansatz. Dass Mehrheit nicht Recht bedeuten muß: das ist lobenswert, macht die Verfassung nicht zum ausgebleichten Stück Papier, sondern verleiht ihr universellen Charakter und beschützt sie, jedenfalls theoretisch, vor gegenwärtigen Modeerscheinungen.

Köhler als Jünger des reinen Mehrheitsgedankens: wenn die Mehrheit nur die Todesstrafe wollte, so könnte man von seinem Standpunkt aus erklären, dann wäre sie hinzunehmen und auch gar nicht mehr generell verfassungswidrig. Wenn ein Bundespräsident so denkt, so spricht, so unreflektiert vor sich hinbrabbelt, so muß man ihm doch recht geben: dann ist die Demokratie wirklich jämmerlich vor sich hin krepierend. Der Bundespräsident, so wie einst der Reichspräsident, ersetzt das monarchische Staatsoberhaupt - in der Geschichte wurden solche Regenten als Verweser bezeichnet. Köhler als Verweser: weil er den letzten Rest demokratischen Pflänzchens der Verwesung überstellt...

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Hilf Dir selbst...

Donnerstag, 13. Mai 2010

Frau Daunheimer, ich will es Ihnen spornstreichs und in aller gebotenen Barschheit mitteilen: Sie sind eine Jammernudel, eines jener ichsuchtstobenden Klageweiber, die diese Gesellschaft zuhauf aus ihrem Enddarm zwängt. Und wer hilft mir?, fragen Sie in den trauten Leserkreis Ihrer Hauspostille hinein. Wer? Sie haben es doch beantwortet. Sie helfen sich selbst. Und warum? Weil Sie und Ihr Mann von Fortuna geküsst sind, immer noch Arbeitsplätze besitzen, die Ihnen ein Auskommen sichern. Keine Millionärsvilla - aber doch ausreichend, um nach Abzug aller Kosten, wie Sie anklingen lassen, noch über 1.000 Euro im Monat zu verfügen. 1.000 Euro zum Leben, wie Sie das nennen. Mancher schwelgt bei 1.000 Euro schon im Luxus - Sie leben nur davon, wo andere schon in Labsal verfallen würden, weil sie eigentlich drei Monate von dieser Summe zehren müßten.

Auf die küssende Fortuna wurde angespielt, auf das Glück hingewiesen. Sicherlich hat Sie das geärgert. Glück!, werden Sie ausrufen, wie kann er nur meinen, wir hätten Glück gehabt? Fleißig waren wir!, werden Sie einwenden. Wir reißen uns den Arsch auf und der fabuliert vom Glück! Andere, Frau Daunheimer, haben sich selbigen aufgerissen, so sehr, dass sie nicht mehr auf ihm hocken können, weil er so brennt und sticht und juckt - aber sie stehen armselig da, verarmt und ausgegliedert von der Gesellschaft. Glück muß man haben; Glück und die fehlende Courage, sich im Arbeitsleben für seine Interessen einzusetzen. Nur das hören Sie, das hören die braven und biederen Leute aus der Mitte der Gesellschaft, zu denen Sie gehören, nicht besonders gerne - denn Glück ist Zufall, aber Ihr Fleiß, auf den Sie Ihr Dasein gebaut wissen wollen, ist Ihr Verdienst, Ihr Einsatz, Ihre Anstrengung.

Und dieses Verdienst, diesen Einsatz, diese Anstrengung zu versteuern, davon nach Abzug aller Unkosten nurmehr 1.000 Euro monatlich zum Leben zu haben: das empfinden Sie als Verbrechen. Würde man diesen Massel besteuern, dieses Dusel, einen Arbeitsplatz behalten zu haben, sodass am Ende die niedrigste aller vierstelligen Summen zum Leben liegenbleibt, dann könnte man nicht klagen - denn Hasardeure und Glücksritter zu belangen: das geschieht denen gerade recht. Aber fleißige und angestrengte Bürgersleut' auszuplündern: das widerstrebt der reinen Lehre des kapitalistischen Puritanismus.

Dumm sein und Arbeit haben, das ist Glück! So formulierte es dereinst Gottfried Benn. Er kannte Sie noch nicht, Frau Daunheimer, denn sonst hätte er möglicherweise gesagt: Dumm sein und Arbeit haben, das sichert einem einen Gast-Kommentar. Entschuldigen Sie, man dürfte eigentlich nicht so schroff sein. Aber je mehr man über Sie und Ihr haarsträubend windiges Traktätchen sinniert, desto berechtigter wird diese Grobheit. Wissen Sie, heute mokieren Sie sich über die Griechen, für die Sie glauben zahlen zu müssen - gestern waren es Hartz IV-Empfänger - und morgen werden sie es wieder sein. Sie wüten ja nicht - oder nicht nur - darüber, dass man Sie, emsiges Arbeitsbienchen welches Sie sind, im Namen Griechenlands ausplündert. Nein, es schwingt ein Unterton mit, der präzisiert, obwohl er gar nicht präzise ist: Sie fühlen sich im Namen der Schnorrer dieser Erde, jenen in der Ferne ebenso wie solchen in der Nachbarschaft, ausgeraubt und enteignet. Und dafür haben Sie diese Regierung nicht gewählt, erklären Sie verärgert. Für was dann? Und warum um Himmels Willen haben Sie diese Regierung eigentlich gewählt? Alleine für dieses Bekenntnis möchte man die Ausdrucksweise vergröbern.

Wie ist man auf Sie zugegangen? Wie kamen Sie dazu, Ihr bürgerliches, arg gebeuteltes, arg verletztes Ehrgefühl in die Öffentlichkeit schmieren zu dürfen? Andererseits dürfte es im tiefen und weiten Ozean jener Leserschaft genügend solcher Exemplare geben. Solche, die sich immer zu kurz gekommen wähnen, die ihren Fleiß zur Rechtsgrundlage von Besserbehandlung erklären, die aufgeblasen und eingebildet auf Nassauer speien, weil die ihnen die wenigen Krümelchen Geld aus dem Portemonnaie fischen. Sie sind nur ein besonders lautgewordenes Exponat dieser Sorte, Frau Daunheimer. Keine Rarität, sondern das gezüchtete Bürgerbild; so wie man in den unheiligen Hallen elitärer Meuten den Bürgersmann gerne sieht und hört, als Egomanen, als Leistungsträger, das heißt: als jemanden, der sich ach so leistungsträgerisch wähnt, unterdessen er nur Wasserträger der wirklich hohen Herrschaften ist - als rasenden Demagogen gegen jene, die anders sind wie er, die nichts haben, nichts sind, nichts erreichen können. Sie sind, Frau Daunheimer, und da Sie aus der Privatheit herausgetreten sind, müssen Sie es sich auch gefallen lassen, zum Sturmgeschütz dieser Denke geworden - nicht sehr zielsicher fürwahr, keine Präzisionswaffe freilich, aber doch gefährlich genug, um gegen Müßiggänger und Flaneure, Habenichtse und Verarmte zu ballern.

Jene entsetzliche Tageszeitung, sie hätte blindlings ins Reservoire entrüsteter Leser und empörter Klein- und Kleinstleistungsträger greifen können: es wäre immer jemand vom Schlage Daunheimers am Schopfe hochgezogen worden. Irgendein Irgendwer mit Schaum vorm Mund, stets bereit, den eigenen Fleiß und die Stromerei der anderen zu betonen, beharrlich die eigene Not im Wert von 1.000 Euro im Monat beweinend, permanent akzentuierend, dass man als Fleißiger, als Arbeitender, nur immer der Blöde sei. Wer deutsche Tageszeitung liest, wer sie aufsaugt und einatmet, der erhält diesen Brocken Debilität, diesen unterentwickelten Stumpfsinn wie Muttermilch eingeflößt; der kann gar nicht mehr anders, der ist zur ichbezogenen Unzufriedenheit abgeurteilt. Und wer diesen Unsinn lesend ertragen soll, der ist auch abgeurteilt: nämlich dazu, solche Kleingeister und Hirnbummelanten prompt und stracks mit Unhöflichkeit und Rauheit zu überziehen. Das ist der Preis der Öffentlichkeit - wer mit unreifen Phrasen dorthin stolpert, sollte damit leben können.

Nur darf man daran zweifeln, denn für die Daunheimers, die nichts weiter als privatisierte Müller-Voggs sind, sind Häme nur Ausdruck einer kranken Gesellschaft, die Leistungsträgerschaft bestraft, während sie den Betrügern und Drückebergern, den Griechen und Asozialen, die Gelder zügellos in den Rachen wirft. Wie Sie es so untreffend ausgedrückt haben: Sie verstehen die Welt nicht mehr! Und: Wer hilft eigentlich mir?, haben Sie gefragt, nur um dann zu antworten: Menschen wie ich brauchen Entlastung! Menschen wie Sie! Keine Griechen und Asozialen, keine Betrüger und Drückeberger eben. Nein, solche wie Sie! Und wer dagegen anspricht, der ist Ausgeburt des geistig-moralischen Verfalls, nicht ganz dicht, wahrscheinlich griechischer Asozialer oder betrügerischer Drückeberger.

Frau Daunheimer, Sie unbekanntes und doch so bekanntes Wesen, in Ihrer Rolle als Erbauungsliteratin bürgerlicher Provinienz, sind Sie vielleicht nicht besonders beredt, dafür aber resistent - jedenfalls darf man davon ausgehen. Denn Menschen wie Sie, die bringen Leistung und die wollen Respekt und wollen gehört und gelesen und die wollen in ihrer Not erkannt werden. Aber die Nöte und Sorgen der anderen, derer, die nicht leisten und tragen dürfen oder können, die werden abgeurteilt und zur Selbstschuld erklärt. Wer hilft also Ihnen? Sie selbst! Denn was kümmern die Sorgen derer, die die Sorgen anderer nicht erkennen wollen? Wo Sie gesellschaftlich herkommen, da wütet vieles, Konsumgeilheit und Geltungsbewußtsein wahrscheinlich, aber Solidarität nicht. Daunheimers melden sich nicht zu Wort, wenn erneut gegen Hartz IV-Empfänger geschäumt wird. Sie stürmen nur, wenn ihr eigener Arsch ungemütliche Hämorrhoiden nährt. Gesellschaftsspalterisch? Kann sein! Doch mit Menschen wie denen, mit Lesern solcher Revolverblätter, ist keine Gesellschaft zu machen. Die kennen kein Miteinander, nur das große Gegeneinander - wollen nur untereinander füreinander zusammenstehen, nicht aber mit denen, die andere, existenziellere Bedrängnis erleben müssen...

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Nomen non est omen

Mittwoch, 12. Mai 2010

Heute: "Protestwähler"

Die Wahlforschung unterscheidet vier Wählertypen: den Stammwähler, den Wechselwähler, den Nichtwähler und den Protestwähler. Während die ersten drei sich von selbst erklären, wird der Begriff des "Protestwählers" häufig instrumentalisiert, um Wähler einer bestimmten Partei zu unterstellen, sie würden diese nicht wegen den Inhalten wählen, sondern nur, um andere Parteien und Politikern zu schaden. Inwiefern kann man überhaupt Protest wählen? Nur weil man für keine große Partei stimmt, ist man automatisch ein Protestwähler?

Bei der NRW-Wahl am 9. Mai 2010 fiel der Begriff wieder in vielen Kommentaren der Berichterstattung. Die Linke habe in NRW nur knapp 6% und die Piratenpartei knapp 2% erreicht, weil viele Menschen Protest wählen würden. Auf die Idee, dass es tatsächlich Menschen gibt, welche die Linke und die Piratenpartei wegen ihren Inhalten gewählt haben, kommen die bürgerlichen Medien nicht. Einen Protest kann man veranstalten oder ihn organisieren, aber sicher nicht wählen. Denn hier gilt der alte Wahlspruch:
"Würden Wahlen wirklich etwas verändern, würde man sie verbieten."
Ein Ungültigmachen seiner Stimme könnte man vielleicht als Protestwahl bezeichnen. Insofern wird der Begriff häufig nur dazu verwendet, Wählergruppen zu diffamieren und einer Partei zu unterstellen, sie hätte keine Inhalte.

Zudem unterstellt das Schlagwort, dass jemand der eine große bzw. etablierte Partei wählen würde, automatisch kein "Protestwähler" sei, die Partei also wegen ihren Inhalten oder ihren Personen wählen würde. Und das wiederum suggeriert ja, dass diese Partei genau diese dann auch habe: glaubwürdige Inhalte und glaubwürdige Personen. Das diese Kausalität besteht, darf getrost bezweifelt werden. Die Grünen, die mittlerweile für Beliebigkeit, Machtgeilheit und Verrat an ihren Positionen stehen, sowie Schwarz-Gelb im Bund beweisen uns, dass solch ein Zusammenhang (etablierte Parteien = glaubwürdige Personen/Inhalte) kaum gegeben ist.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Sichere Mehrheitsverhältnisse

Dienstag, 11. Mai 2010

Das ist eine Lüge! Von wegen es gäbe keinerlei Mehrheiten mehr. Was für ein Schwindel, welch Irreführung! Es gibt Mehrheiten - und die nicht zu knapp. Es ist schon wahr: man könnte annehmen, es gäbe keine konstruktiven Mehrheitsverhältnisse mehr, wenn man so das Wahlgebaren belauert, wie sie um entscheidungsfähige Mehrheiten rangeln und raufen. Aber das ist eine Verdrehung der Tatsachen. Mehrheitsverhältnisse existieren! Und wie!

Es ist eben nicht die Partei um Lafontaine und Gysi, die sich im bundesrepublikanischen Politikalltag festgesetzt hat. Nein, es ist eine ganz andere Bewegung, eine Massenbewegung, die wirklich angekommen ist im politischen Mitwirkungsprozess. Das heißt: eigentlich ist es keine Bewegung, denn gerade am Bewegen scheitert es. Man hält sich zurück, ist die Bewegung der Bewegungslosigkeit. Wo andere zur Urne pilgern, bleiben sie zurückhaltend, bleiben sie faul. Keine Partei ist so mächtig, so erschlagend potent, wie jene der Nichtwähler. Seit Jahren keine Landtags- oder Bundestagswahl mehr, bei der nicht mehrheitlich nichtgewählt wurde. Die wahre, die mittlerweile einzige Volkspartei, die haushohe Prozentpunkte hortet, ist jedenfalls jene der Nichtwähler.

Keine Mehrheiten mehr! So ein Quatsch! Sie bestehen, sie atmen, sie leben. Und das mit einer Übermacht! Aber gerade die Nichtwahl, so trösten sich die wählenden Minderheiten, sei überhaupt nicht zu dulden - wer nicht wählt, darf nicht mitmachen. Dabei kann es gerade auch ein Akt des Mitwirkens sein, nicht mitwirken zu wollen. Wer nicht wählt, trifft auch eine Entscheidung - eine eigene, selbstbestimmte noch dazu, weil er seine Entscheidungsfindung nicht in einen miefigen und schmalen Rahmen presst, sich nicht von einem Überangebot an deckungsgleichen Parteigruppen einlullen läßt. Er entscheidet sich dafür, sich nicht zwischen dem, was ihm offeriert wird, entscheiden zu müssen - Verzicht und Askese als demokratisches Mittel zur Willensbildung! Nichtwähler wählen auch und sind daher nicht dazu verdammt, den Mund zu halten.

Ganz anders müsste es sein! Die Mehrheitsverhältnisse, die die Armee der Nichtwähler entstehen lassen, das heißt, die unter den Tisch fallen, weil man sie nicht hört, sie ignoriert und ihre Entscheidung zur Nicht-Entscheidung zum politischen Fehlschluss stempelt: diese Mehrheitsverhältnisse müssten berücksichtigt werden. Wo vierzig oder fünfzig Prozent der Wahlberechtigten schweigen, da müssen auch vierzig oder fünfzig Prozent der parlamentarischen Sitzplätze unbelegt bleiben: als Mahnung! Als Memento, dass im hohen Hause nicht Politik für das ganze Volk, sondern für eine kleine Minderheit bestritten wird. Leere Stühle sind dabei natürlich bei Abstimmungen zu berücksichtigen - oder, als kühne Anregung, mit ausgewählten Nichtwählern - ein Oxymoron! - zu bestücken. Weshalb soll eigentlich eine schwarz-gelbe Koalition im Bund regieren, wenn die Fraktion der Nichtwähler beinahe genauso groß ist?

Wird das Volk gefragt und verweigert die Antwort, so ist auch dies eben eine Antwort. Eine, die man respektieren muß; eine, die berücksichtigt werden soll. Der Nichtwähler gehört nicht getadelt, er gehört gehört! Er gehört ins Parlament, in die Volksvertretung - und wenn nur als Platzhalter, als leerstehender Platz. Sich über fehlende Mehrheitsverhältnisse auszulassen, während die Mehrheit von der Abstimmung wegblieb, zeugt von Dünkel, von selbstgerechter Arroganz - denn es gäbe Mehrheiten, massenhafte Mehrheiten! Doch mit denen können die politischen Parteien freilich nichts anfangen - aber andersherum gilt das ebenso: mit den politischen Parteien kann die nichtwählende Mehrheit auch nichts anfangen. Sich gegenüberstehende Interessen, die Konfrontation mit Andersdenkenden, sich nicht verstehenden, sich nicht begreifenden Gruppierungen: das ist die Basis, der Ursprung des Parlamentarismus, ist die Metaphysik des parlamentarischen Kosmos. Man trifft sich ja gerade deshalb in einem hohen Hause: um zu disputieren, zu diskutieren, sich zu einigen. So jedenfalls die Theorie! Mehrheiten auszusondern, weil sie nicht mittanzen wollen: das ist die Entäußerung des parlamentarischen Grundgedankens, die Preisgabe volksvertreterischen Urgrundes.

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Immer dasselbe

Montag, 10. Mai 2010

Siech geht eine außerparlamentarische Opposition am Stecken, wenn sie in Jubelarien einstimmt, nur weil die schwarz-gelbe Allherrlichkeit an den Wahlurnen einen milden Dämpfer erhielt. Geistige Brache dort, wo aufgrund der Wahlniederlage der amtierenden Koalition mit Superlativen und Paradigmenwechseln um sich geschleudert wird. Pflegebedürftig jenes oppositionelle Denken, welches nun im Wechsel der Volksparteien, einem Abgesang des herrschenden Zeitgeistes, seiner Jünger und seiner Moden entgegenfiebert.

Vergessen ist die Ebenbürtigkeit derer, die nun als Wahlsieger und Change-Anstimmer emporgereckt werden. Die Ebenbürtigkeit der Roten und Grünen, die sich gleichrangig neben den schwarz-gelben Koalitionären positionieren. Verschollen das Wissen, dass es eben eine rot-grüne Koalition war, die mit der schamlosen Abkehr vom Sozialstaatsgedanken loslegte. Entschwunden all die der Realität entrückten Weisheiten derer, die nun als Wahlhelden und Reformer durch die Öffentlichkeit rauschen. Und dazwischen diese trostlose sozialdemokratische Marienerscheinung, die dem Namen Hannelore lauscht, die als heilige Mutter Juso, als Zukunftsmodell und Gebärerin neuen sozialdemokratischen Elans fungieren soll. Eine Hannelore, die im Wahlkampf von der Aktivierung Arbeitsloser sprach, sich dabei auf die üblichen, auf die rot-grünen Prämissen, die schon im Schröderianismus wüteten, stützend: das Problem ist der Arbeitslose, nicht seine Arbeitslosigkeit; es fehlt nicht an Arbeitsplätzen, es fehlt am Arbeitseifer. Und ohne Lohnarbeit auch glücklich sein zu können, das geht ihr gar nicht in den Sinn: dass das gar nicht sein kann, ist der Grundkonsens aller politischen Parteien. Lafargue hat von denen keiner gelesen, den wahren Motor des Fortschritts, nämlich erst gar nicht arbeiten zu müssen, kennen sie nicht, wollen sie nicht kennen. Da sind sie sich ausnahmsweise mal einig in ihrer hinter Zerstrittenheit verborgenen Einigkeit.

Kränklich, schwerkrank, sterbenskrank dieses So-tun-als-ob - so tun als ob Demokratie funktioniert, Wechsel per Kreuzchen erwirkt werden können. Die nun gewählte sogenannte Alternative, sie erschöpft sich in Detailfragen, hinterfragt aber die Mißstände nicht, kümmert sich nicht um die politisch-wirtschaftlichen Geflechte, die Politik zu dem macht, was sie heute mehr denn je ist: ein wirtschaftliches Zentralorgan. Eine linke Koalition, wenn man sie wohlwollend so heißen mag, bietet sich hier nicht als Alternative an - die Protagonisten rot-grüner Gutmenschelei verkaufen denselben Mist wie die Abgewählten: nur lächelnder, mit schönerer Visage, etwas kultivierter. Politische Wahlen halten den Schein aufrecht, dass sich doch noch etwas ändern könne, wenn man nur wolle - und wenn man dann will, ändern sich einige kleine Details, aber das Großeganze ist unantastbar. Es bleibt doch immer dasselbe...

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De omnibus dubitandum

Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wählten...
  • ... 40,7 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht.
  • ... 20,2 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU.
  • ... 20,2 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
  • ... 7,1 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen.
  • ... 3,9 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
  • ... 3,3 Prozent aller Wahlberechtigten die LINKE.
Mit großem Abstand hat die Partei der Nichtwähler die Wahl für sich entscheiden können. Selbst eine fiktive Große Koalition brächte es nicht auf mehr Prozentpunkte. Eine mögliche Koalition aus SPD, Grünen und LINKE schlüge nur mit 30,6 Prozent aller wahlberechtigten Stimmen zu Buche.

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