In eigener Sache

Donnerstag, 29. April 2010

oder: versucht euch einige Tage ohne mich an der Nicht-Veränderbarkeit dieser Gesellschaft!

Aus familiären Gründen bin ich gezwungen, einige Tage stillzuhalten. Ich bitte meine Leserschaft um Verständnis.

Mir ist klar, dass diese Tage Themen böten, die durchaus mehrerer Zeilen wert wären. Jedoch bin ich nicht imstande, auch nicht willens, meine derzeit zum löchrigen Quäntchen geschrumpfte Kraft, für ad sinistram aufzuwenden. Erst die meinigen, dann die Nöte der Welt - ein manchmal notwendiger Egoismus!

In einigen Tagen werde ich zurückkehren und mein Scherflein Machtlosigkeit zur Nicht-Veränderung an den Zuständen beitragen. Es soll nachher ja keiner sagen können, ich hätte es nicht vergebens probiert.

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Mit der Bitte um Säue...

Mittwoch, 28. April 2010

Es ist doch nur eine geringfügige Bitte. Ihr könntet sie erfüllen! Menschlicher geworden seid ihr sicherlich nicht, sodass man davon ausgehen könnte, ihr würdet uns keinen Stoff mehr anbieten. Mit der Bitte um Säue trete ich vor euch und spreche für meinen Stand, meine Kollegen. Ruhe ist eingezogen in das, was man Blogosphäre nennt. Wenig liest man, weniger bleibt haften. Einer ist sogar schon so müde, dass es ihm zum Kotzen ist. Und ihr tut nichts! Daher stehe ich hier, ich kann nicht anders, und schnorre um eine übersichtliche Herde Säue, die er für uns durch die Dörfer jagen sollt, damit unsere Müdigkeit, unsere Langeweile vergeht, dadurch unsere Finger nicht rosten, unser Geist nicht verfault.

Ihr Medien, ihr Diekmänner, ist denn ein Rudel Säue für uns nicht realistisch? Wie sieht es mit Ferkeln aus? Da hockt ihr zusammen und schweigt; und wenn ihr doch redet, dann nur immer denselben Quatsch, verliert euch im täglichen Kriegsgebrüll und schafft uns ansonsten nur wenig Stoff herbei - für uns habt ihr kein Verständnis. Wir können uns doch nicht täglich Trauerzeremonien widmen und des Dünnschiss' der Guttenbergs und Merkels erbarmen. Was waren das für Zeiten, wo ihr uns Widerlinge und Scheusale an die Gurgel gehetzt habt. Damals, als Sarrazin täglicher Gast war, Clement seinen Darmkatarrh in eure Gazetten schiss und allerlei zynische Ökonomen ihren Minderwertigkeitskomplex durch gehässige Kolumnen und Artikel kurierten. Das waren Säue! Clement meldete sich ja kürzlich zu Wort: oh, was hat der abgebaut, seine eigene Karrikatur ist er geworden, nicht wert, überhaupt noch beachtet zu werden. Ja, das waren noch Säue damals! Nicht sie selbst: in ihrer Funktion, in ihrer Rolle als Thema des Tages, der Woche, des Monats! Säue, die durchs Dorf gehetzt werden konnten. Damit konnte man arbeiten, seine Wut und Verachtung in Worte pferchen, Gift und Galle brechen und sich ein wenig wie ein Schweinehirte fühlen, der die tollgewordene Sau an der Hinterhaxe gepackt und gezügelt hatte.

Was ist mit euch los? Sind euch die Säue ausgegangen? Ihr seid doch nicht menschlicher geworden - so eilig wird aus Säuischem nicht Menschliches. Säue gehen doch nie aus, es gibt sie, solange es Menschen gibt. Von was soll die Presse denn ihre Stromrechnung bezahlen, wenn es keine repräsentablen Säue mehr gibt? Ich kann nicht glauben, dass ihr in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zur Vernunft gekrochen seid - ich kann es einfach nicht fassen, dass ihr keine Sozialrassisten mehr in petto habt. Neinnein, ihr macht uns da was vor! Ihr habt noch ausreichend davon; viel zu viele, herdenweise, wie weiland Büffelherden die Prärie zudeckten. Aber jetzt vor den Wahlen, jetzt da man Einheitsfronten für Zentralasien schmiedet, da laßt ihr sie grunzend und quiekend im verrammelten Stall. Dabei wäre es doch eure Aufgabe, euch um dieses Gezücht zu bemühen, es so weit zu domestizieren, dass es auf euren Seiten erscheinen kann - und dann kämen wir ins Spiel, wir Schreiber ohne Tintenfass und Druckerpresse, wir Pixelfärber und Tastaturpoeten. Aber wo keine Sau, da keine Schweinehirten. Müde und ohne Anreize sind wir - arbeitslos sind wir - die Lebensgeister entfleuchen uns. Es ist überhaupt nicht saugeil, wenn es keine Säue mehr gibt, die wir durch unser Dorf wildern können. Nur eine Sau, nur eine einzige für den Anfang! Das kann so schwer doch nicht sein. Mehr wollen wir augenblicklich gar nicht!

Wir geben es ja zu: wir wären gar nichts ohne euch! Wir sind nichts - ihr alles! Ist es das, was euch verärgert hat? Waren wir undankbar für all die Säue, die ihr uns geschickt habt? Wenn ja, glaubt uns doch, wir sind euch dankbar. Ohne euch gäbe es doch nichts, worüber wir uns erbosen, uns erhitzen könnten. Ihr habt das Monopol der Säue, ihr nennt es nur agenda setting - laßt uns Teilhaber an eurem Alleinanspruch sein: gebt uns eine Sau! Keine Ablenkungsmanöver mehr, kein Kruzifixstreit, keine Schulden-Griechen mehr, genug von der Kriegsberichterstattung - bringt Säue, denn sie sind das ungelogene Antlitz unserer Zukunft, sind die personengewordenen Werte der bürgerlich-liberalen Utopie, die immer wirklicher, vom ou-tópos zum Topos wird. Ein Satz von einem Sozialrassisten, dazu die abgeernteten Ovationen seines Publikums: das ist das Tuch, aus dem die Leistungsträgergesellschaft gewebt ist - das sagt mehr über diese Gesellschaft aus, als jeder einschläfernde Berichte, jeder analytische und wissenschaftliche Flankenschutz für die Leistungsträgerschaft und ihr vorschwebendes Gemeinwesen. Säue brauchen wir; Säue zeigen uns, wohin wir schwimmen; Säue animieren uns, gegen den Strom zu rudern - alles andere ist Narretei, Blendwerk!

Es wird Zeit für neue Widerborste. Ihr Diekmänner, schleicht euch an den Rand unseres Dorfes und laßt eine Sau los. Dann heizt euer Publikum zur Treibjagd an - bis wir Schweinehirten aus unseren Verschlägen stürmen, um die ärmliche Sau an den Hinterläufen zu grabschen - die Hiebe der Treiber nehmen wir hin: das gehört zum Geschäft. Mit der Bitte um Säue trete ich vor euch - einsichtig, dass nur ihr uns solche verkaufen könnt. Wenn schon nicht Säue, so doch eine Sau: eine kleine Sau wenigstens. Wir brauchen Säue, die ihr durchs Dorf jagt, damit wir einen Grund haben zu schreiben - damit wir schreibend Perlen vor die Säue schmeißen können. So kann es jedenfalls nicht weitergehen! Ihr schläfert uns ja ein. Füttert uns! Oder halt: Füttert erst eine Sau heran, die ihr uns dann als Futter zuwerft! Aber macht schnell, damit aus dem müden Kollegen keine kollegial-kollektive Müdigkeit wird.

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De dicto

Dienstag, 27. April 2010

"Eines hat die erste türkischstämmige Ministerin offenbar nicht verstanden: Dass es bei uns so tolerant zugeht, das ist das Erbe unserer christlich-abendländischen Tradition.
[...]

Darüber sollte Frau Özkan noch vor ihrer Vereidigung nachdenken."
- Hugo Müller-Vogg, BILD-Zeitung vom 25. April 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Was von Aygül Özkans Forderung zu halten ist, soll nicht expliziter Gegenstand folgender Buchstabenreihen sein. Streitbar ist es allemal, einerseits Kruzifixe, andererseits Kopftücher unterbinden zu wollen - damit löst man religiöse Intoleranz nicht, fördert man nicht einmal einen abgeklärten Atheismus: man läuft lediglich vor der Problematik weg anstelle damit zu konfrontieren, anstatt anerziehbare Toleranz zu protegieren. Zwar muß die Schule keinen Bezug zur Religion herstellen - hängt im Klassenzimmer aber ein Stück gekreuztes Material, dieser stille Brocken Gehölz, so kann man als aufgeklärter Muslim oder Jude, als Atheist gar, durchaus darüberstehen und muß sich nicht gleich in seinem Ehrgefühl beleidigt fühlen. Dasselbe gilt gleichwohl umgedreht! Auch am Kopftuch muß sich ein christliches Gemüt nicht gekränkt und in seiner abendländischen Haltung entwürdigt fühlen. Religionsfreiheit ist, auch wenn es viele heute lieber anders hörten oder läsen, nicht die Freiheit, Religionen und den dazugehörigen Tand einzuschränken und zu unterbinden - obwohl man das vielleicht persönlich bevorzugen würde und insgeheim davon träumt: einer aufgeklärten und liberalen Gesellschaft ist derlei Denkweise allerdings schädlich. Im freiheitlichen Denken ist auch die Freiheit inbegriffen, sich einen Gott ersinnen und ihn anbeten zu dürfen.

So weit hat Müller-Vogg leider nicht gedacht. Für ihn ist Özkans Forderung nicht streitbar - sie ist unumstritten. Unumstritten dreist und verwerflich! Nicht in Gesamtheit natürlich, nur in jenen Passagen, wo es ans Eingemachte, will sagen: wo es ans Kruzifix geht. Er begreift sich in seinen abendländischen Hohheitsrechten beschnitten, was soviel heißt wie: ein abmontiertes Kruzifix ist derselbe Affront wie Mädchen, die Kopftücher über ihr Haar gebunden haben. Özkans Vorschlag ist zweifellos des Teufels, aber hin und wieder muß man auch die Vorzüge des Teufelswerks für sich sprechen lassen und sie sich aneignen. So eifrig er sich selbst zum Kreuzritter für das Kreuz schlägt, so dürftig nimmt sich seine Verteidigung muslimischer Frauen aus, die sich für das Kopftuch entschieden haben. Er beschwört eine abendländische Toleranz, ein angebliches Erbe Europas - woher er das hat, weiß nur er! - und erklärt, dass davon auch Muslime profitierten, letztlich auch kopfbetuchte Frauen. Doch man ahnt es förmlich: irgendwie ist ihm diese vielgelobte Toleranz doch zuwider, weil sie zu allen Seiten hin tolerant sein soll.

Und Müller-Voggs herablassende Sichtweise wird noch in anderer Form illustrativ. Die angestammten Eliten befürworten Aufsteigerinnen wie Özkan, spiegeln sie doch eine aufgeklärte und integrative Gesellschaft wider, unterstreichen sie doch, dass es jeder schaffen kann, wenn er nur mitmacht, sich anpasst und anleiten läßt. Seht her, rufen sie, auch so kann es für Migranten enden! Man empfängt sie vielleicht nicht mit offenen Armen, aber man braucht sie als Feigenblatt, als lebenden Beweis dafür, dass das herrschende Bildungssystem für Arbeiter- und Ausländerkinder porös ist. Natürlich sollen Özkans Ausnahmen bleiben, bloß nicht zur Regel werden, denn dann verlören sie ihre Stellung als Feigenblatt. Doch wehe dem fremdstämmigen Emporkömmling, der sich nicht mehr als Gast versteht und plötzlich auftritt wie ein Gastgeber! Dann gibt es kein Willkommen mehr, dann ärgern sich die Eliten und ihre Sprachorgane, die Müller-Voggs dieses Landes. Dann heißt es, der Fremdling habe die christlich-abendländische Kultur nicht verstanden, soll über seine Rolle in der Politik nochmals nachdenken. Dann bekommt der gesellschaftliche Aufsteiger zu spüren, dass er nicht angekommen ist: denn entweder ist man ein Hundertzehnprozentiger oder man hat sich immer noch nicht vom Erbe der Ahnen gelöst, ist in all den Jahren doch fremd geblieben.

Gegen solche Frevler am deutschen, europäischen, abendländischen Traditionalismus muß dann mit der nötigen Intoleranz vorgegangen werden. Hier hört die Toleranz, nach Müller-Vogg Erbe der christlich-abendländischen Tradition, endgültig auf. Von einer Fremden läßt er sich sein Kruzifix nicht verbieten! Soll sie Kopftücher einsammeln gehen bei ihrer Klientel, dagegen hat er nichts, dafür ist sie als Fremde gerade recht genug. Aber sein Kreuz läßt er sich, wenn überhaupt, nur von einem Einheimischen stehlen. Denn hätte jemand mit deutschen Wurzeln eine Aversion gegen gekreuzte Hölzer, er hätte ihn gescholten, sich ein wenig gekünstelt gewunden, aber niemals an dessen Herkunft gezweifelt und gegen dessen Elternhaus geschossen.

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Wer den Schaden hat...

Montag, 26. April 2010

Sie rechnen sich noch mehr Tote aus, sagten Sie bei jener beschämenden Kriegerbeisetzung in Ingolstadt, bei der auch Sie Ihren Sermon dazugeben wollten und selbstverständlich auch durften. Davon wird tatsächlich auszugehen sein, denn während die Vereinigten Staaten einen Rückzug aus Afghanistan für Mitte 2011 festsetzen, herrscht hierzulande diesbezüglich erdrückende Stille. Über die Zukunft deutscher Besatzungspolitik wird kein Wort verloren. Fast dünkt es, als wollten Sie, werter Guttenberg, mit Ihrem kriegsbefürwortenden Parlament, dieser selbstüberschätzten Feldherrnhalle, zu einem gewagten historischen Schritt ansetzen. Einen jener Schritte, ja Ritte vielmehr, Parforceritte genauer, für das Geschichtsbuch, die im ersten Augenblick aus dem geschichtssüchtigen Hauptprotagonisten einen Heroen machen, um ihn nachträglich, aus geschichtlicher Ferne und mit der Reserviertheit historischer Betrachtung begutachtet, zum Trottel des damaligen Zeitpunkts zu klassifizieren. Man könnte vermuten, Sie träumen von einem Deutschland, das wieder alleine seinen Mann in der Welt steht; man könnte annehmen, Sie wollen von den USA die gesamte Verantwortung erben, um Ihren Feldherrenallüren die nötige Gefälligkeit zu erweisen. Gut möglich, dass Sie nicht nur die Wahrheit sprachen, sondern eine leise Botschaft eröffneten: es werden noch mehr sterben, weil noch mehr Krieger nach Zentralasien verfrachtet werden müssen, um den rückziehenden Bundesgenossen, der den Brand seinerzeit entfacht hat, adäquat zu ersetzen.

Doch warum Ihnen böse Absichten unterstellen, warum Ihnen Geschichtsträumereien und zwergenhaften Größenwahn attestieren? Immerhin haben Sie sich entschuldigt, war allerorten zu lesen - entschuldigt bei den Hinterbliebenen. Aber das haben Sie ja gerade nicht getan! Die Heuchelei solcher Abbitten außer Acht lassend, ist es terminologisch nicht dasselbe, ob sich jemand entschuldigt oder nur, wie Sie, um Verzeihung bittet. Dem Verb das Präfix ent- vorangestellt, wird es negiert, befreit, ins Gegenteil gekehrt - das was dann eben noch wurzelte, kann mit der kurzen Vorsilbe schon wieder entwurzelt sein. Wer sich entschuldigt, möchte sich von einer Schuld befreien, möchte die Schuld zur Antithese machen, sie ins Gegenteil gehievt bekommen, möchte Vergebung seiner Schuld erlangen, von ihr enthoben werden. Sich entschuldigen bedeutet somit auch, ein Schuldeingeständnis abzuliefern - ein Eingeständnis, von dem man sich Vergebung erhofft. Doch Sie, werter Guttenberg, baten um Verzeihung; zeihen, dieses heute nurmehr gelegentlich angewandte Wörtchen, steht für verdächtigen oder bezichtigen. Anders formuliert, Sie baten darum, dass die Hinterbliebenen ihren Verdacht, ihre Bezichtigung aufgeben, verwerfen - von Schuld ist hierbei jedoch keine Rede. Um Verzeihung zu bitten verlangt die Einsicht des Geschädigten ohne konkrete Schuldzuweisung - eine Entschuldigung ist der Kniefall des Schadensstifters, bei dem er seinen Fehler, sein Versagen, seinen Verstoß eingesteht. Das ist ein Unterschied, den jene, die täglich mit Worten hantieren, eigentlich kennen müssten - und Sie, wortreicher Guttenberg, Sie haben sich eben nicht entschuldigt, Sie haben die Schuld von sich und Ihrer Klientel gewiesen.

Ob eine Entschuldigung überhaupt angebracht gewesen wäre, ist allerdings wieder eine andere Frage. Die Soldaten im Auslandseinsatz sind dort nicht unter Zwang, sie wissen, dass das kalkulierte und hingenommene Risiko des Berufs, aber auch des frei gewählten Einsatzortes, ein tödliches ist - das wissen sie und das wussten auch die Getöteten. Und Sie alleine müssten sich auch gar nicht entschuldigen, Guttenberg. Da wäre die gesamte Regierung, da wäre fast der gesamte Bundestag, da wäre eine Flankenschutz gebende Presse - wenn schon, dann müssten auch jene sich entschuldigen. Denn Verantwortung tragen nicht nur Sie, so wie Sie im Ingolstädter Münster larmoyant kundtaten - und Sie wissen das auch selbst, weil Sie die Verantwortlichkeiten, die man vor Untersuchungsausschüssen aus Ihnen herausquetschen möchte, strikt ablehnen und abschieben. Wenn sich Verantwortliche zu entschuldigen hätten, dann alle. Und Verantwortung tragen allerlei Sparten, die den Krieg mit Mandat ausstatteten, befürworteten und zu legitimieren versuchten und weiterhin versuchen. Wobei Sie auch nicht behaupteten, dass Verantwortungsträger sich entschuldigen sollten - sie müssen um Verzeihung bitten, haben Sie erklärt. Sie müssen darum bitten, dass die Opfer ihres politisch-militärischen Irrtums, ohne Vorurteil, ohne Bezichtigung, ohne ungerechten Verdacht gegen die Verantwortlichen zurückbleiben - kurzum: sie sollen ohne Gram und Groll gegen die Verantwortlichen auftreten, milde hinnehmen und sich damit abfinden. Ob Ihnen indes der Unterschied bewusst ist, kann aber nicht geklärt werden.

Wie ernst es Ihnen mit dieser fein einstudierten, positive Effekte schnappenden Abbitte war, ließ sich, wie erwähnt, schon an der Wortwahl ermessen. Wie beschämend allerdings eine Zeremonie für erschossene junge Männer sein kann, konnte erneut beobachtet werden. Dass in einer Kirche dekorative Militärs, Stahlhelme, Orden und Marschtritt anwesend oder praktiziert sein dürfen, ohne überhaupt ein Wort von Kritik oder wenigstens Skepsis zu vernehmen, macht schon mehr als stutzig und läßt für die Zukunft Schlimmes erahnen. Soldateska im Ingolstädter Münster - und keiner stößt sich daran! Sage da noch einer, dass es heute keine Wunder mehr gäbe! Es scheint also kein Problem mehr zu sein, aus einem Ort des Friedens eine militärisch-politische Trutzburg zu machen. Und dann ließen Sie auch wieder diese Litanei an Phrasen der Peinlichkeit walten. Die Freiheit aller Deutschen hätten diese Männer verteidigt, ihr Tod wäre nicht vergebens und dergleichen Durchhalteparolen mehr. Aus einer Trauerfeier, ein politisches Bekenntnis gemacht! Ein politischer Glaubensakt für die Massen, ein Dogma des Jetzt erst recht! Das ist blamabel, das ist demütigend - eine Demütigung für diejenigen, die eben noch um Verzeihung gebeten wurden.

Man wollte nur hoffen, dass die Hinterbliebenen nicht durch den Schmerz der Stunde, durch die Vernebelung der Berichterstattung, durch die emsig umherschwirrenden Militärs, zu paralysiert wären, um sich über diese würdelose Inszenierung entrüsten zu können. Nichts geschah! Es schien ausreichend geschmeichelt zu haben. Irgendwann wird es auch denen dämmern, was da veranstaltet, wie sie militärisch missbraucht und politisch vergewaltigt wurden. Weinende Eltern, heulende Freundinnen und Frauen sollten im Augenblick des Schmerzes nicht ein schwammiges Motiv zur Schürung des Stolzes gereicht bekommen, sie sollten nicht stolz sein müssen, sondern trauern dürfen - hadern, grollen, schimpfen, schreien: alles was Verlustschmerz ausmacht. Und dann, wenn wieder ein wenig Lebenssaft in diese trauernden Existenzen geflossen ist, sollten sie fragen dürfen, wer dafür verantwortlich ist, wer belangt werden kann. Immerhin sind ihre Söhne, ihre Geliebten und Gatten, nicht im greisen Sterbebett verschieden - das hat man ihnen verwehrt. Haben sie sich freilich selbst auch verwehrt, als sie damals freiwillig Hier! schrien; doch man hätte sie auch gar nicht verführen, sie dazu aufmuntern dürfen. Der Stolz, den man ihnen, den Hinterbliebenen, einimpft, soll vor ungemütlichen Fragen bewahren, er soll als Narkotikum dienen, soll einen sinnlosen Tod - und der Tod ist immer sinnlos, weil er nicht nach Sinn oder Unsinn fragt - aufwerten und die Hinterbliebenen nicht nur trösten, sondern mundtot machen. Hoffentlich begreifen sie nach der Schwere des Augenblicks irgendwann einmal, dass nur ihr Kind, nur ihr Mann gestorben ist, nicht aber ihre Fähigkeit, die Umstände dieser Tode anzuklagen und die Täter und Befürworter zur Rechenschaft zu ziehen; hoffentlich kapieren sie, dass nur ihr Angehöriger tot, nicht aber ihr Mund tot ist.

Was für eine Peinlichkeit diese Zeremonie doch war! Man trauerte nicht um tote junge Männer, denn um die ging es nur am Rande. Es ging um tote Soldaten. Wäre es um den Mann in Uniform gegangen, nicht um die Uniform selbst, dann hätte es eine zivile Trauerfeier sein können. Keine Stahlhelme, kein auszeichnender Firlefanz am Sarg, kein Stechschritt für Arme, keine militärisch gleichförmige Choreographie, keine politischen Bekenntnisse von Ministern, die solche Auftritte bloß nutzen, um sich selbst als barmherzige Lämmer und ihre Politik als alternativloses Übel darzustellen. Den toten Männern zu gedenken, wenn schon nicht trauern, denn die Trauer ist ein Akt von nahen Verwandten und einer Handvoll nahestehender Bekannter - den toten Männern also zu gedenken, das fiele auch den kritischen Individuen einer Gesellschaft leichter. Aber den Soldaten im Manne herauszuputzen, um nicht mehr ihm, sondern seiner Funktion zu gedenken, das heißt, der Funktion, die ihn zu Tode brachte, das ist für viele kritische Menschen unmöglich.

Uniformlos, in Zivil, eine öffentliche Zeremonie zu veranstalten: das wäre auch respektvoller gegenüber den Hinterbliebenen gewesen. Dann hätten sie gewusst, dass es hier um ihre Familienmitglieder geht, dass man der Männer gedenkt - nicht der staatlichen Funktionsträger. So aber bleibt ein bitterer Geschmack zurück. Denn ins militärische Kollektiv gepackt, heißt die einzige Wahrheit: der Mann, der in der Uniform steckt, er ist austauschbar. Und wenn man des toten Soldaten gedenkt, dann gedenkt man keines bestimmten Mannes, man gedenkt irgendeines toten Kriegerhelden, eines Stereotyps und Klischees, das vollkommen entrückt der wahren Person ist, das Thomas, Jörn, Marius oder Josef heißen kann, wie jene Toten im Ingolstädter Münster oder Klaus, Ulf, Ralf oder sonstwie. Ein jederzeit auswechselbares Klischee! Das war alles in etwa so persönlich, wie der gemeine Soldat üblicherweise als Persönlichkeit wahrgenommen wird: als Nummer, als Humankapital, aus Kanonenfutter.

Meine Güte, Guttenberg! Meine Güte, ihr dünkelhaften Vertreter der politischen Zunft, die ihr die Sitzbänke des Ingolstädter Münsters belagert habt! Welcher Teufel reitet euch? Schämt ihr euch überhaupt nicht? Nicht mal ein bisschen? Ihr nutzt den tiefsten Schmerz von Eltern, Geschwistern, Lebenspartnern, Verwandten und Freunden aus, um eure politische Irrfahrt zu rechtfertigen! Ihr seid so schauderhaft billig, so unverfroren schamlos, dass ihr euch auf Kosten von Seufzern und Tränen rehabilitiert. Ihr wollt die Spitze dieser Gesellschaft sein, die Elite - aber spitzenmäßig seid ihr nur in eurer Frechheit, in eurem schlechten Benehmen, in eurer unnachahmlichen Selbstdarstellung! Es gab schon Menschen, die wurden aufgrund wesentlich besseren Benehmens eingesperrt, solche beispielsweise, die auf der Straße ihr Gemächt baumeln ließen - sowas mache man nicht, heißt es dann pikiert! Aber die wirkliche Erregung öffentlichen Ärgernisses seid ihr! Ein nackter Mann kann kaum Schaden anrichten. Aber ihr, ihr schadet uns und der Welt, ihr beschwört den Schaden, ihr fordert Schaden heraus - ihr habt einen Schaden!

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Hysterisches Klima

Samstag, 24. April 2010

Als Mann alleine am Rande eines Spielplatzes zu sitzen, mag heute zuweilen schon ein gefährliches Unterfangen sein. Blitzartig beginnen die anwesenden Mütter oder Paare, die mit ihren Kindern zugegen sind, mit einer optischen Abtastung der sexuellen Befindlichkeit, schwenken von der Unschuldsvermutung ab und verdächtigen vorab. Lächelt man dann einem drolligen Kind zu, scherzt mit ihm, scheint der Verdacht halbwegs beglaubigt. Niemand würde nun die Polizei rufen, wahrscheinlich nicht mal ein Wort verlieren - aber der Spielplatz würde freigegeben, würde geräumt, um den Perversling in spe mit seinen Absichten alleine zurückzulassen. Einer vereinzelten Frau würde so etwas nie widerfahren: das ist eine ganz besondere Note von Gleichberechtigung.

Natürlich ist dem sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken. Aber nicht erst diese gebündelte Flut an bekanntgewordenen Fällen der letzten Monate, schürt eine Überspanntheit, die beinahe krankhafte Formen annimmt. Schon vormals bahnten sich voreilige Schlüsse und Misstrauen ihren Weg. Nun wird am Runden Tisch gegen Missbrauch so manches diskutiert, Sinnvolles auch, Notwendiges natürlich - doch bestimmte Punkte spiegeln die verstiegene Überreiztheit wider, mit der diese Gesellschaft reagiert. Überschüttet von endlosen Missbrauchsmeldungen und Horrorberichten, scheint eine weniger emotionalisierte Debatte gar nicht mehr möglich. Und langsam schleicht sich eine Prüderie in das Alltagsleben, die eigentlich seit den Fünfzigerjahren ausgetrieben schien.

So moniert man beispielsweise das gemeinschaftliche Duschen von Jugendtrainern mit ihrer Mannschaft. Was hier als dreister Voyeurismus seitens der Übungsleiter dargestellt wird, dürfte in jeder jugendlichen Fußballmannschaft vorkommen - man duscht zusammen, reinigt sich von Schweiß und Dreck, so wie man vorher zusammen im Sport vereint war. Man frönt jedoch keinerlei sexuellen Absichten. Was hier praktiziert wird, ist ein zwangloser Umgang mit Nacktheit, wie er unter Fußballern generell üblich ist. In einer Mannschaft sind alle gleich, sollten alle gleich sein - daher haben auch alle dasselbe unter der Gürtellinie und niemand muß sich irgendeiner Andersartigkeit schämen. Es können natürlich auch hier in der Vergangenheit Fälle von Missbrauch und Belästigung aufgetreten sein: aber generell die bloße Nacktheit anzufeinden, zeugt von blanker, rigoroser Hysterie, die keinen Anspruch auf Unterscheidung von Sachverhalten mehr kennt. Setzt man sich mit einer solch schamhaften Verklemmtheit an den Tisch, kriminalisiert man Praktiken, Normalitäten des Alltags, die überdies einem gesunden Selbstbewusstsein förderlich wären. Alternativ kriminalisiert man womöglich auch noch Eltern, die auch vor ihren Kindern keine Scham kennen und ihre Nacktheit ganz unkompliziert ausleben; und Eltern, die mit ihren Kindern den FKK-Strand besuchen, müssen sich davor fürchten, als sexuell perverse Erziehungsberechtigte eingestuft zu werden, denen man womöglich das Sorgerecht entziehen sollte.

Wer künftig mit Kindern zu tun hat, soll besser geprüft werden, heißt es im Vorfeld des Tribunals am Runden Tisch. Jeder Kindergärtner, jeder Pfleger, jeder Lehrer steht a priori unter Verdacht - Männer eher noch als Frauen, darf man annehmen. Die politische Trias der Bekämpfung besteht auch nur aus Frauen, Männer finden leider nicht dazu. Sie sind in der Mehrzahl Täter - möglich, dass man daher keinen Mann als einen der Wortführer an seiner Seite haben will. Die Unschuldsvermutung wackelt. Selbstverpflichtungserklärungen, spezielle Führungszeugnisse und ausgetüftelte Bewerbungsfragen sollen potenzielle Pädophile abschrecken oder gar überführen. Aber pädophil ist vorab nicht nur der Pädophile - pädophil sind zunächst alle, bis das Gegenteil vermutet werden darf. Und vermutet wird nur, wenn der Verdächtigte seine Bringschuld erfüllt und Beweise seiner Unschuld vorlegt. Beweislastumkehr als neues Prinzip eines hysterischen Rechtsverständnisses! Man muß befürchten, dass in Zukunft ganze Berufsgruppen kriminalisiert und vorverdächtigt werden. Wehe dem, der seine Gläubigkeit an den Kanon erlaubter sexueller Neigungen nicht beweisen kann. Und wehe den Schwulen! Denn in Zeiten, in denen plötzlich wieder fast mccarthyistisch sexuelle Gepflogenheiten geprüft werden, sind sie stets beliebtes Opfer.

Was sich seit Jahren schon zeigt, schlägt jetzt in der Stunde der unzähligen Missbrauchsfälle, jetzt am Runden Tisch, gnadenlos durch. Es ist Hysterie, die latent immer schon herrschte, die nun aber auch in der öffentlichen Debatte walten darf. Wenn aus gemeinsamen Duschen eine Form sexuellen Missbrauchs, jedenfalls eine Vorstufe dorthin wird, hat die Debatte ihr eigentliches Ziel verfehlt und rennt gegen Windmühlen an. Stellte sich heute ein Vater vor diesen Runden Tisch und erklärte, er dusche oft mit seinen Kindern gemeinsam, weil in seiner Familie ein offener Umgang mit Nacktheit gepflogen wird: man wüsste nicht, wieviele Entrüstet aufschreien würden, um ihn einen Perversling zu nennen.

Und noch etwas zeigt die aufgestachelte, diese hysterische Debatte: die Gleichheit der Geschlechter ist antastbar. Der sexuelle Straftäter ist meist männlich - und alle Männer, die sich Kindern nähern, sind deshalb suspekt. Hier greift sie noch, die Rollenverteilung von der kinderliebenden Mutter und dem gewaltfreudigen Vater. Eine Rollenverteilung, die kaum angefeindet wird - sie kennt keine Streiterinnen für Gleichheit. Diese Ungleichheit ist akzeptabel und die Maßnahmen gegen den Missbrauch, die nun ergriffen werden sollen, werden vorallem Maßnahmen gegen Männer sein. Misandrie vorprogrammiert! Und wehe solchen Männern, die sich emanzipieren wollen, die sich in einem möglichen zukünftigen Szenario wie verdächtigte Sexualverbrecher vorkommen und dagegen aufbegehren: ihr Aufschrei wird als Unterstützung von Perversen abgekanzelt, als unverantwortlicher Gerechtigkeitsfimmel zulasten der Kinder.

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Jeden Tag ein bisschen mehr zu den Waffen

Freitag, 23. April 2010

Jeder Soldatenleichnam: ein Stückchen Rückzug mehr, ein bisschen mehr geordneten Ausweichmanövers; jede Leiche pflastert die schmale Rückzugsstraße, macht eine Heimkehr aus diesem völkerrechtswidrigen, betrügerischen Krieg greifbar; jeder dieser Soldatentode hatte damit zuletzt doch noch einen Sinn - würde man meinen: doch genau so ist es nicht! Nichts ist fahrlässiger als die Hoffnung; nichts ist leichtfertiger als dem Glauben nachzuhängen, Kriegsherren würden menschliche Verluste imponieren.

Was droht, läßt sich schon heute ermessen und erahnen, läßt sich jetzt schon oftmals im Alltag beobachten. Eine durchweg nationalisierte Medienlandschaft transportiert kriegsromantische Botschaften. Sie sind für uns gefallen!, hallt es aus dem Äther. Wir verneigen uns vor ihrem Heldenmut!, animieren sie ihre Leser und Zuhörer und Zuschauer. Der Held hat Konjunktur - der Held, der hinterhältig gemeuchelt, während ein Schuss aus seiner Büchse zum lobenswerten Einsatz für Heimat und Vaterland geadelt wird. Militärs rücken ins Blickfeld, Uniformierte belagern die öffentlichen Debatten - PR-Uniformierte, die gelernt haben, politisch korrekt und vernünftig vor Kameras zu treten, während sie dieselbe Branche beackern, wie allerlei Vorgänger aus anderen Zeiten.

Soldatenbegräbnisse werden übertragen, damit dem deutschen Medienkonsumenten klar wird, dass da Männer für ihn getötet worden sind. Dankbarkeit soll entstehen, während kollektiv getrauert wird. Er starb für das Vaterland! Und das Vaterland? - Bist du! Du bist Deutschland, einig Vaterland! Und die anderen, gegen die geschossen, gebombt, terrorisiert wird: eine Bande unkultivierter Zottelbärte. Kämpfen gegen die Besatzungsmacht, dabei haben ausgerechnet die Deutschen einst aller Welt gezeigt, wie man mit Besatzern umgeht: arschkriechend! Warum nur wollen die Afghanen es uns nicht nachmachen? Aus den Gazetten tropft Blut und rostet Eisen, Volksempfängers Fistelstimmen übertragen Betroffenheit - jetzt nicht aufgeben!, sagen sie; jetzt erst recht!, geben sie vor. Wie bei einem Fußballspiel, bei dem man nach Toren zurückgerät, parolieren sie Kampfgeist, Durchhaltevermögen, appellieren sie an die konditionelle Stärke, die den längeren Atem garantiert. Und jeder darf Trainer sein, jeder darf ungestüm an der Seitenlinie herumfuchteln, jeder darf aus der Ferne ins Feld hineinschreien - in jenes Feld, in dem Soldaten zuweilen im beschönigendem Duktus zurückbleiben.

Und dann in naher Zukunft wird die Welt wechselweise nach Afghanistan und nach Südafrika blicken. Überall sind deutsche Jungs im Einsatz, allerorten Deutsche im Kampf, im Gefecht, im Krieg. Jungs, kämpft die Socceroos nieder! Schießt die Serben vom Platz! Jetzt gibts Fußballkrieg! Dann ein Schwenk nach Kabul, Kandahar oder Kunduz. Jungs, kämpft die Zottelbärte in den Sand! Schießt den Turbanen die Flöhe aus dem Bart! Deutsche der Erde, steht euren Mann für das Vaterland! Nichts betört die Kriegsfreude mehr, als der Kampfeinsatz am Ball; nichts wickelt glückstrunkene Massen mehr um den Finger, als der regelmäßig wiederkehrende Nationalismus im Trikot, den sie gesunden und unbefleckten Nationalismus nennen, einen positiven Nationalismus der Freude heißen. Der taumelnden Menge werden sie frohe Kunde aus Afghanistan zwischen die Jubelausbrüche streuen - kaum einer wird es merken und wenn doch, spielt es auch keine Rolle. Denn in Afghanistan vertreten sie nur Deutschland, so wie in Südafrika auch.

Devotionalien für gefallene Kriegshelden, Trauerreden, Begräbnisse - Devotionalien für auffallende Fußballhelden, Autokorso, ehrfürchtig niedergelegte Schals und Wir liebe Dich!-Pappschildchen. Was gäbe der WM-Titel für eine PR ab! Ein Weltmeister mit freiheitlicher Verantwortung in Afghanistan. Ein Traum würde wahr! Während sie heute Festlichkeiten absagen, weil sie ganze Regionen in kollektive Trauer um die Helden des Vaterlands werfen wollen, wo sie Amüsement verbieten wollen, um der Ernsthaftigkeit des Moments Ausdruck zu verleihen, da werden sie im Sommer rauschende Feste feiern - auch wenn zehn, auch wenn zwanzig oder dreißig oder mehr Soldaten sterben. Traurig sei das, wird man verkünden - aber so sei das Leben: der eine lacht, der andere weint. Diese Feste sind erwünscht, werden gefördert, denn sie fördern den Zusammenhalt, den dringend gebrauchten Nationalismus, sind Balsam für die Heimatfront. Man setzt alle Hoffnungen auf viele solcher Feste. Hoffentlich kommt die Auswahl weit, damit die Betäubung lange herhält! Kicker als politische Kommissare! Sie und das politische und wirtschaftliche Establishment als Botschafter im Hinterland, hinter der Front, die den Heldentod eifrig fordern! Für pazifistische Kleinlichkeit wird zukünftig keine Zeit mehr sein.


Kein Leichnam fördert Waffenmüdigkeit, läßt einen Rückzug realistisch werden - ganz konträr, je mehr Tote, desto mehr wird beschworen, gelobt, beeidet, angefacht, desto mehr wird die Richtigkeit des Einsatzes unterstrichen, desto mehr Uniformen durchziehen den Alltag, werden Medaillen verliehen, Heldenepen geschmiedet. Tote fördern Absagen von Festlichkeiten, ringen der Gesellschaft gemeinsame Trauer ab, nötigen Leichenbittermienen auch jenen ab, die mit diesem Krieg nichts am Hut haben - wenn sie schon nicht um die Leiche weinen, so doch um seinen Einsatz für unser aller Freiheit, wird man vorwurfsvoll abverlangen. Wann werden sie uns erklären, dass ein frugaleres Leben notwendig wird? Wann werden sie uns anleiten, weniger Freude zu empfinden, uns bei Essen und Trinken zurückzuhalten, lackierte Fingernägel zu unterlassen, weil unsere Soldaten das als Affront auffassen müssen, während sie für uns alle im Dreck kriechen? Kein totaler Krieg - aber totale Kriegsgesellschaft schon, denn die japst schon heute immer wieder nach Atemluft und irgendwann japst sie nicht mehr nur, irgendwann atmet sie regelmäßig. Jeden Tag ein wenig mehr zu den Waffen, jeden Tag ein Quäntchen mehr Kriegsromantik und Heldentod, jeden Tag ein Hauch mehr Lyrik vom gefallenen Patrioten.

Und jeden Tag mehr Dolchstößler, Nestbeschmutzer, Vaterlandsfeinde, die die Hingabe deutschen Blutes für die Freiheit der Deutschen, mit heimtückischer und schuftiger Akribie verurteilen, die perfide und verräterisch den Einsatz deutscher Jungs untergraben und die den bedingungslosen Friedenseifer, der in Gewehrläufen auf seinen Gebrauch harrt, nicht aufzubringen tauglich sind. Je mehr Metallsärge mit Heldengesang überführt werden, desto imposanter der Wille zum Krieg, desto lauter das Kriegsgerassel. Soldatentode gebären Soldatentode - was Medien und Macht und Medienmacht anfachen, das ist das dümmste aller deutschen Geschreie, kann nicht im Rückzug enden: es führt in Offensiven.

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Nomen non est omen

Mittwoch, 21. April 2010

Heute: "Notlüge"
"Wenn die Wahrheit nur verletzen und entmutigen würde, ist man zum Lügen verpflichtet."
- Sozialwissenschaftler Peter Stiegnitz -
Das Free Dictionary bezeichnet die Notlüge, als eine Lüge, die eine peinliche Situation bzw. etwas Unangenehmes abwenden oder Nachteile vermeiden möchte. Eine Lüge, die durch eine vermeintliche Not entsteht bzw. die eine Not vermeiden möchte, gilt insofern als weniger schwer, als eine "normale" Lüge. Der Begriff wird häufig verwendet, um eine Lüge zu rechtfertigen, sie weniger lügend aussehen zu lassen. Dabei bleibt die Unwahrheit immer die Unwahrheit.

Ab wann eine Lüge zur Notlüge wird bzw. ab wann jemand entscheidet, dass eine Lüge jetzt zur Notlüge gemacht wird, ist immer eine individuelle Entscheidung des eigenen Gewissens. Denn das beginnt ja schon bei der subjektiven Definition von "Not". Der eine ist in Not, wenn er körperliche oder seelische Schmerzen zu erwarten hat, der andere, wenn er um seine soziale Anpassung fürchtet.

Wir erlauben uns Notlügen, machen Lügen zu Notlügen, rechtfertigen Lügen z.B. folgendermaßen:
  • Aus Angst vor Konflikten und um keine Verantwortung tragen zu müssen: "Ich habe nichts davon gewusst."
  • Um besser dazustehen, werden Sachverhalte übertrieben oder untertrieben dargestellt.
  • Um die eigenen Gefühle und Meinungen zu verbergen: "Ich weiß es nicht."
  • Um die eigenen Interessen nicht zu gefährden.
  • Um jemanden nicht zu verletzen: "Das Essen hat gut geschmeckt", auch wenn das Gegenteil der Fall war.
Eine Lüge bleibt immer eine Lüge. Insofern ist der Begriff Notlüge ein klassischer Euphemismus und ein Instrument, um Lügen zu rechtfertigen. Der Terminus hat jedoch eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Notlügen werden als immanenter Bestandteil sozialer Beziehungen gesehen. Schließlich empfinden viele die Wahrheit oft als zu hart und schonungslos.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Ganz ausgezeichnet!

Oh, so ein ausgezeichneter Sozialrassist! Ganz ausgezeichnet! Gustav-Heinemann-Bürgerpreis! Ein denkwürdiger Moment! Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, ist nun ein ausgezeichneter Scharfmacher und Provokateur. Eine klare Sprache sprechen, nennt man das heute - nennt Parteikollege Gabriel das. Dieser sei stolz darauf, einen Anpacker und Unbeugsamen in seiner Mannschaft zu haben - auch eine Art, dessen scharfmachende Qualitäten, die natürlich ausschließlich gegen Ausländer und Arbeitslose zum Einsatz kommen, ein wenig aufzupolieren. Und wer könnte es leugnen: schließlich packt er jene Klientel ruppig an und ist unbeugsam gegen jene, die dem artigen Bürger die letzten Groschen aus den Hosentasche schmarotzen. Sein Engagement zur Integration von Einwanderern, sei besonders lobenswert, heißt es weiter - gar kein Zweifel, er meint das mit der Integration durchaus ernst, denn wer sich nicht einreiht, den würde er gerne drastisch bestraft sehen. Er tut wirklich alles für Integration - alles und noch mehr!

Einfach ausgezeichnet! Mit einem Bürgerpreis. Denn er hat alles, was das deutsche Bürgertum braucht, was es gerne sieht: angefangen bei einer hochroten Birne, die beim Gekeife gegen unbeliebte Gesellschaftsgruppen erst so richtig knallige Farben annimmt, bis hin zur rhetorischen Versiertheit für den Stammtischgebrauch. Bürgergesellschaft eben - Gesellschaft der freien Individuen, der freien Egomanen. Frei! Die Freiheit über andere, wehrlose, ausgemusterte Menschen herzuziehen. Das macht den Bürger heute aus! Er ist kein Citoyen, kein Freund von Menschenrechten und humanistischer Haltung - nein, er spießt ihm verhasste Gruppierungen genüsslich auf, ist seinem Charakter nach demnach Spießbürger. Einem wie Buschkowsky diesen Bürgerpreis zu verleihen, das ist nicht makaber: es ist nur konsequent. Wer, wenn nicht er, ist denn sonst Bürger? Bürger im neuesten und damit antiquierten Sinne des Wortes?

Nun ist er ein ausgezeichneter Bürger. Bürger, so wie man ihn heute versteht. Leistungsträgerisch und elitär beseelt. Immer mit augenzwinkerischem und gutgemeintem Ratschlag für das Gesocks. Einfach ausgezeichnet solche Aufwiegler. So ausgezeichnet, dass man sie auszeichnen sollte. Und nun ist einer der ganz Großen der Branche ausgezeichnet worden - als Stolz seiner Partei. Er sollte uns einen Preis wert sein, entschlossen sie sich. Einen Preis sei er allemal wert, beschlossen sie. Das sei nur recht und billig, einem solch preiswerten Gemüt ein wenig Dank auszusprechen. Immerhin ward er im schröderschen Geist und durch Münte geschweißt herangezogen worden und hat den jetzt neuen Sozialdemokraten, die offiziell ihrer Vergangenheit abschwören, ein bisschen gute alte Agenda-Zeit bewahrt. Und er atmet ja den Geist der Agenda, die Hunderttausende Menschen ins Abseits drängte - er ist einer von denen, die dieses Abseits immer noch abseitiger machen mit ihren Äußerungen.

Jetzt ist er nicht mehr nur Sozialrassist; jetzt ist er ein ganz ausgezeichneter Sozialrassist!

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Die Regierung tut was!

Dienstag, 20. April 2010

Jungen Arbeitslosen, die weniger als ein Vierteljahrhundert auf den Buckel haben, soll nun geholfen werden - was in Duktus despektierlicher Nachrichtensprache soviel heißt wie: es soll ihnen an den Kragen gehen. Denn das "verpflichtende Job-Angebot" von dem nun allerorten gequasselt wird, es klingt ein wenig nach Rute, nach Peitsche, die man schwingen muß, um den trägen Jungspunden flinke Beine zu machen. Das liest sich nicht nur zwischen den Zeilen, es liest sich unmittelbar und unverfroren in den Zeilen, in Worte und Buchstaben gestanzt, und das in gut allen Gazetten.

Verpflichtendes Job-Angebot: das kann sich doch hören lassen. Endlich tut die Regierung was! Endlich wird dem Lotterleben ein Ende gesetzt! Zeit ist es geworden! Wieviel Gehalt eine solche Maßnahme allerdings hat, ist dabei unerheblich. Und die von den Medien abgetretenen Informationen, die diese neue Maßnahme des Bundesarbeitsministeriums, erklärbar machen sollen: sie bieten ja auch kaum neue Ansatzpunkte, eben das übliche Blabla von Aktivierung und Integration, von geprüftem Arbeitswillen und dem Einrichten ins untätige Lotterleben. Betrüblicher ist da nur, dass alles, was man da im erstaunlichen Maßnahmeneifer feilbietet, nicht einmal ansatzweise neu ist.

Denn ein verpflichtendes Job-Angebot, das innerhalb von sechs Wochen jedem jungen Erwerbslosen in Arbeitslosengeld II-Bezug zugehen soll, gibt es in noch eiligerer Variante bereits im SGB III Paragraph 15a unter der Überschrift Sofortangebot. Dort ist geregelt, dass bereits "bei der Beantragung von Leistungen [...] eine Leistung zur Eingliederung in Arbeit angeboten werden" soll. Überhaupt sind diese sechs Wochen höchst dubios, denn es wird nicht oder kaum erklärt, ob jugendliche Arbeitslose innerhalb der nächsten sechs Wochen oder mit einer Frist von sechs Wochen nach Antragstellung, ein Angebot erhalten sollen. Dass man indes immer wieder vom verpflichtenden Angebot spricht, also die Verpflichtung penibel hervorhebt, macht perplex. Gab es denn jemals freiwillige Angebote für ALG II-Bezieher? Die Rechtsfolgebelehrung, die ein Angebot erst zum verpflichtenden Angebot macht, wird nur bei sehr wenigen Vermittlungsvorschlägen nicht beigelegt. Bei Arbeitsplätzen, die nicht geprüft wurden, die eventuell im zwielichtigem Milieu angesiedelt sind oder Sozialstandards nicht einhalten - solche Angebote landen nicht im Mülleimer der Bundesagentur, sie versendet sie verantwortungslos ohne Rechtsfolgebelehrung, in der Regel, ohne auf die Freiwilligkeit explizit hinzuweisen. Und ob man mit dem Verschicken von Job-Angebot alleine durchschlagenden Erfolg haben wird, ist bei der Anzahl von halbseidenen (Leih- und Zeit-)Arbeitgebern, die die Datenbanken der Arbeitsagenturen füllen, ohnehin fraglich.

Dreierlei ist also das verpflichtende Job-Angebot, diese neue Initiative für junge Arbeitslose, dem Wesen nach: Erstens ist es nichts Neues, weil ähnliche, sogar schneller greifende Maßnahmen im Sozialgesetzbuch bereits heute zu finden sind; zweitens wird eine Verpflichtung suggeriert, die genausowenig neu ist, sondern das gängige Richtmaß der ALG II-Praxis ist; und drittens macht man sich weis, dass mit Job-Angeboten alleine, der gesamten Problematik Herr zu werden ist, dass also das Problem passive Erwerbslose nicht fehlende Arbeitsplätze sind. Selten ist ein Schlagwort so eindeutig verblödend und verwirrend, wie dieses verpflichtende Job-Angebot. Es stellt eine vage Initiative dar, die nicht hinreichend erklärt wird und zudem bereits existiert.

Endlich tut die Regierung was!, ist der Spruch, den sich die Regierung sichern will. Was sie tut ist unerheblich - dass sie tut, das muß vorgespiegelt werden. Egal was! Und das verpflichtende Job-Angebot, diese aufgewärmte und laue Initiative, die durch den Blätterwald geistert: es rechtfertigt Ministergehälter und wägt den Bürger in seiner oftmals sozialdarwinistischen Gesinnung in der sicheren Annahme, dass endlich etwas getan wird. Mehr soll die neue Parole nicht bezwecken. Mehr als neues Futter für alte Ressentiments war nie beabsichtigt.

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Facie prima

Montag, 19. April 2010

Heute: Die Gnadenvolle, Ursula von der Leyen


Die Ministerin, so wie sie für uns abgelichtet wird, ist eine Person strotzend vor Gestik. Ihre Hände sind ihr eigentliches rhetorisches Mittel, ersetzen ihr die ihr abwesende Redegewandtheit. Sie ist also Handwerkerin und wird als solche auf Bilder gebannt. Wo der Kopf der von der Leyen zu sehen ist, da rücken beinahe automatisch, auch ihre Hände ins Blickfeld. Beschwörende Handflächen, die das Gesagte unterstreichen und von dem, was zwischen den Zeilen wuchert, ablenken sollen. Fast wirkt es, als wolle sie mit den Händen bedecken, was sie zeitgleich ausspricht. Sie reckt die Hände empor, wenn sie im biederen, adrett-liebenswerten Klang, über die Sanktionierung fauler Arbeitsloser salbadert; wenn sie Kinderpornographie bequem unter eine Käseglocke stecken will, anstatt sie ungemütlich mit allen Mitteln des Rechtsstaates auszumerzen; wenn sie Leistungen für Eltern so stutzt, dass am Ende mehr für Bessergestellte und weniger für Bedürftige herausschauen. Dann tritt sie auf, erklärt mit überlegener, leicht herabschauender Noblesse ihre Standpunkte, dabei händeringend, händefuchtelnd von dem ablenkend, was hinter ihrer politischen Route lagert.

Die gestikulierende Ministerin legt mit großer Gebärde falsche Fährten. Sie möchte dabei wie eine gütige, gnadenvolle Mutter wirken - eine Rolle, die sie privat mehrfach ausfüllt. Üppigerer Busen, dunkleres Haar - und sie gäbe ein erstaunliches Abziehbild von einer mamma italiana ab, jenes klischeebehafteten Muttertiers, das stets mit hochtrabender Gestik und Mimik der Kinder Köpfe wäscht, manchmal zwar grob, nicht immer mit froher Botschaft im Kochtopf, aber doch stets nur das Beste für ihre Familie wollend. Von der Leyen figuriert eine solche Mutter, erweitert die Rolle jedoch auf die ganze Gesellschaft. Wenn sie die Bühnen betritt, von denen sie hinabvernünftelt, stets mit jener schmierigen Freundlichkeit ausgestattet, mit der Krämer allezeit ihren Kunden entgegentreten, mit jener Scheißfreundlichkeit, die sofort als aufgesetzte, verlogene Höflichkeit entlarvt wird - wenn sie also von der Bühne herab verkündigt, dabei Arme schwenkend und Gesten fabrizierend, dann will sie das Abbild einer gütigen, gnadenvollen Frau abgeben, die vor mütterlicher Liebe nur so platzt - ave Ursula, gratia plena! Das Schauspiel soll ihr Standesdenken, ihre Arroganz gegen Unterschichten in ein annehmbares, in ein gütiges, mit mütterlicher Güte beklebtes Kostüm packen - soll ein Gütesiegel als Gütesiegel tragen; soll sie als Aktrice, die ihre Gage von den Eliten und Leistungsträgern erhält, aus der Schusslinie nehmen.

Denn sie verkündet nur Konsens, der letztlich unantastbar ist. Arbeitslose anzutreiben - das ist doch legitim! Kinderpornographie ein Stoppschild zu verpassen - was soll man denn sonst auch machen? Mehr Erziehungsgeld für Leistungsträger - wer zweifelt denn daran, dass deren Kinder mehr Wert besitzen? Von der Leyen wird uns als Frau der gnadenvollen Handbewegung in die Stuben gebracht. Die photografisch vervielfältigte Ministerin soll seriös und staatsmännisch wirken, beständig lavierend zwischen Güte und notwendiger Härte, zwischen fürsorglicher Mama und scheltender Frau Mutter, zwischen mütterlicher Versöhnlichkeit und mütterlicher Eiseskälte. Die Mutter der Nation, die liebende und rügende Mutter: das ist ihr Image, welches sie mit der Schar der leiblichen Kinder veredelt. Mit ausschweifendem Muttergestus schützt sie sich und ihre Klientel vor den unliebsamen Inhalten ihres reaktionären, oft stümperhaften Treibens, das reichlich Ansatz zur Kritik brächte. So weist sie Verantwortung von sich und unterstreicht mit gedankenschwangerer Pantomime den angeblichen gesellschaftlichen Konsens ihrer Politik. Fuchtelnde Hände zur laschen Rhetorik - das wirkt vernünftig. Und wer will einer vernüftigen Frau, die zudem ein gnädiges Mutterherz in ihrer Brust pochen hat, widersprechen?

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Mehrheit ist kein Maßstab

Samstag, 17. April 2010

Nur weil die Mehrheit es wünscht? Mehrheiten sind das Blut der Demokratie - fürwahr. Aber zur Grundlage eines militärischen Rückzugs taugt sie nicht. Darf sie nicht taugen! Die Mehrheit darf nicht allseligmachende Essenz der Demokratie sein, selbst dann nicht, wenn sich die romantische und schwärmerische Verzückung beim Lobpreisen des Majoritätsprinzips, landauf landab als unantastbare oppositionelle Haltung herauskristallisiert hat. Opposition zu sein bedeutet nicht, wie es heute viel zu oft der Fall ist, der Regierung mit dem Willen der Mehrheit in die Parade zu fahren - das ist unzulänglich, reicht nicht aus. Die vox popoli heranzuziehen ist populistisch im buchstäblichen Sinne.

Freilich sind basisdemokratische Strukturen erwünscht und auch auf Mehrheiten zu bauen ist per se nicht zu verurteilen. Doch in Tagen, da Mehrheiten vorallem deswegen Mehrheiten heißen, weil sie sich mehrheitlich manipulieren lassen, kann das Majoritätsprinzip nur mit Skepsis beäugt werden. Die Intelligenz der Masse, die von Francis Galton experimentell bewiesen schien, ist natürlich nicht ausgestorben - sie schlägt hin und wieder durch. Aber in großen Fragen der Wirtschaft oder Politik, wo objektive Berichterstattung heute nicht mehr eingeplant wird, ist die Mehrheit nurmehr eine manipulierte Grundlage demokratischen Handelns. Die Intelligenz der Masse heißt eben auch, dass Trommler, wie jener trostlose Ex-Senator aus Berlin, Applaus einsammeln, wenn sie muslimischen Mitbürgern verbal ins Gesicht spucken. Zwar waren es lediglich die Mehrheiten von BILD, Spiegel, Stern und Konsorten, die dem schnieken Herrn gratulierten und beipflichteten - aber die Tendenz einer politischen Mehrheit war zu riechen, stank himmelweit. Und die deutsche Mehrheit, die sich als Intelligenz der vernünftigen Sozialstaatswahrer wähnte, als sie manierlich die Agenda 2010 als gelungenen Einfall zur Rettung eines sozialen Gemeinwesens abnickte, ist noch immer im Gedächtnis - diese gesellschaftliche Mehrheit, die widerstandslos den Sozialabbau duldete und befürwortete, darf als fahrlässiges Bekenntnis zur manipulierten Majoritätshörigkeit empfunden werden.

Rückzug aus Afghanistan, weil die Mehrheit es fordert? Nochmals: das darf nicht ausreichen! Dass die Politik wankelmütig ist im Verhältnis zur Mehrheitslegitimation, liegt auf der Hand, gehört zum Flickzeug jener Gilde. Einmal beruft sie sich auf Mehrheiten, streicht das eigene Vorhaben populistisch aus, um zum nächstbesten Zeitpunkt zu erklären, dass man auch gegen die Mehrheit so und nicht anders entscheiden müsse - unpopuläre Entscheidung, nennt sich das dann. Wären nur alle unpopulären Entscheidungen populär!, wünscht sich die Politik klammheimlich - aber wenn Interessen durchgesetzt werden müssen, dann ist auch das Unpopuläre populär. Und auch wenn es unpopulär ist, so muß es hier doch eindeutig geschrieben werden: dieses Verhalten, nicht auf Mehrheiten Rücksicht zu nehmen, es ist grundsätzlich richtig! Mit einem Unterschied zur Politik: diese taumelt zwischen Populismus und Unpopularität hin und her, wie es gerade genehm ist. Sich der Mehrheit nicht zu beugen, muß aber eine Konstante des eigenen Denkens und Bewertens sein. Man kann sich nach Prüfung eines Sachverhalts zwar der Mehrheit anschließen, nur als Kriterium der Entscheidungsfindung ist sie reichlich ungeeignet, gar gefährlich.

Selbstverständlich ist ein Rückzug aus Afghanistan dringlich. Das heißt, es hätte erst gar keinen Einmarsch geben dürfen. Doch kann als Grundlage nicht der Mehrheitswille stehen. Wäre dies so, so wäre der Krieg legitimiert, wenn eine Mehrheit ihn wollte. Wäre dies so, wäre ein Einfall in Polen demokratisch, wenn eine Mehrheit ihn forderte. Wäre dies so, könnte eine brutale Vergewaltigung mit einer lebenslangen Rente belohnt werden, wenn sich nur eine Mehrheit dazu fände. Nein, es sind andere Kategorien anzuwenden, nüchterne ethische Kategorien nämlich, die sich im internationalen Recht verbergen. Das Völkerrecht spricht sich für Pluralität aus, ist wesentlich nicht eurozentristisch. Der Einsatz in Afghanistan aber ist von Anfang an ein Missverständnis der Kulturen, besser gesagt, ein manipuliertes, ein willentlich herbeigeführtes Missverständnis, veranlasst von einem Kulturkreis, der mit seinen Maßstäben selbstgerechte und großspurige Weltpolitik betreibt.

Schon zu Beginn des afghanischen Abenteuers: nichts als kulturelle Engsicht - die Taliban, in der Mehrzahl Paschtunen, verweigerten die Auslieferung Bin Ladens. Dass Paschtunen selbst gegenüber Mördern Gastfreundschaft zeigen müssen, dass es ein alter Brauch ist, einen Gast nie seinen Häschern auszuliefern, selbst wenn dieser Gast ein bekannter Verbrecher ist, wollte der westlichen Welt nicht in den Sinn kommen. Mit dem westlichen Normenkatalog unter dem Arm, sich über solche regionalen Gepflogenheiten hinweggesetzt, wurde aus dem einstigen Handelspartner der USA, quasi über Nacht, eine Horde tollgewordener Bestien. Man muß der Taliban Treiben freilich nicht befürworten oder loben, sollte es aber akzeptieren. Gleichwohl die Zielsetzung, die da lautete, man wolle die Demokratie ins Land bringen, gerade so, als wäre Demokratie europäischen Zuschnitts ein Exportartikel wie eine Jeans. Schon Jeans lehnen traditionelle Afghanen ab - wieso sollten sie also die Demokratie, die man ihnen diktatorisch aufbürdet, mit Freude empfangen? Demokratie, Herrschaftssysteme überhaupt, haben sich zu entwickeln, müssen aus dem Volk heraus erkämpft und kultiviert werden. Eine islamische Demokratie kann deshalb für die abendländische Variante immer wie Diktatur aussehen - andersherum gilt das gleichfalls. Genauso im Falle der unterdrückten Frauen Afghanistans: man kann Gleichberechtigung, nicht einmal erste Schritte dorthin, nicht einfach planen - die Frauen dieser Weltregion müssen sich ihre Recht erstreiten, wenn sie es denn wollen. Burka tragen afghanische Frauen immer noch - es gab sie vor den Taliban und wird sie danach geben. Am Tragen oder Ablegen eines Kleiderstücks kann muslimisches Frauenbewusstsein ohnehin nicht gemessen werden. Selbst in den edelsten Kriegsmotiven lungert der Eurozentrismus - ob nun Demokratiefreunde oder Frauenrechtlerinnen: sie alle projizieren europäische Werte in eine Weltregion, die wesentliche Aspekte der abendländischen Geistesgeschichte nicht erlebt hat, dafür andere historische Erfahrungen machte. Und sie verbergen, dass frühere Eingriffe europäischer Großmächte, die historische Entwicklung dieser Region gehemmt, untergraben oder gar ganz abgebrochen haben.

Das Völkerrecht ist sich des Umstandes bewusst, dass es nur wenige gemeinsame Werte gibt, die universell anwendbar sind. Friede und Autonomie, so verkündet es optimistisch, sei das Begehr aller Völker. Der Rest ist Schweigen - oder: der Rest ist Toleranz, gewürzt mit Ignoranz, die uns immer dann zuteil werden sollte, wenn fremde Völker uns gegenüber gänzlich fremde Verhaltensmuster an den Tag legen. Das Völkerrecht baut dabei auf Kants "Zum ewigen Frieden" und auf dessen Ethnologie, die er vollkommen wertfrei und ohne abendländischen Dünkel seinen Studenten vermittelte. Was kann ich tun?, war eine der vier kantischen Fragen, war jene Frage die Ethik betreffend - Kants Schriften sind ohne jene Fragen nicht denkbar, auch im "ewigen Frieden" fanden sie Anwendung. Kein Volk, keine Kultur kann sich anmaßen, einem anderen Volk, einer anderen Kultur die Leviten zu lesen. Man mag staunen über fremde Lebens- und Gesellschaftsentwürfe - das ja, das ist menschlich! Aber sie ändern, sich einmischen, mit Gewalt die eigene Lebensphilosophie durchsetzen - das ist unmöglich und unsittlich! Denn sich besser als andere glauben, überheblich zu sein, das ist ein ethischer Mangel. Demnach ist der Einsatz in Afghanistan ein unmoralischer Vorgang durch und durch, in vielen, in unzähligen Facetten. Der Abzug ist dringend zu fordern: jedoch nicht, weil es die Mehrheit will!

Denn besieht man es dialektisch, so könnten umschlagende Mehrheitsverhältnisse die moralische Ödnis des Afghanistaneinsatzes einfach fortfegen, den Krieg für gerechtfertigt erklären. Mehrheiten können sich aber nicht zum Richter moralisch zu bewertender Konstellationen machen und willkürlich darüber entscheiden, ob sie einen Zustand mit dem Prädikatsstempel "ethisch" oder "unethisch" versehen wollen. Ethik ist philosophische Kategorie und sofern Mehrheiten nicht philosophieren, durchdenken, selbst Erkenntnisse züchten, sondern sich von einer relativ gleichgeschalteten Presse am Nasenring herumziehen lassen, sind sie als Entscheidungsträger ohnehin hinfällig. Immer wieder in der Afghanistan-Frage auf den Mehrheitswillen zu pochen, es läßt die dortigen ethischen Mißstände ins Hintertreffen geraten. Ein populistischer Rückzug, wäre immerhin ein Rückzug - sicher. Aber es wäre ein Rückzug unter falschen Vorzeichen. Der Rückzug hat zu erfolgen, weil man unter falschen Prämissen zur Besatzungsarmee wurde, weil man eurozentrische Maßstäbe anlegt und dabei in Kauf nimmt, zur Befriedigung der europäischen und westlichen Eitelkeit, Menschen zu töten. Es gibt eindeutige und universelle Gründe für einen Abzug - was die Mehrheit will, ist allerdings vollkommen unerheblich. Denn wollte sie den Krieg: er wäre deshalb nicht richtiger.

Die Demokratie war für antike Philosophen das Eingangstor zur Diktatur. Genau aus oben genannten Gründen! Oder aus sehr ähnlichen Gründen! Damals waren die Massen vom Wissen abgeschnitten. Mühsal und karge Lebensverhältnisse erlaubten es dem Einzelnen kaum, sich hinreichend zu informieren, ihm Zeit zur Wissensbildung zu gewähren. Eine Mehrheit, die ohne Grundlagen zum maßgeblichen Entscheidungsgremium würde: es war zurecht der Graus der damaligen Intellektuellen. Natürlich blickten sie mit der Arroganz der Gelehrten herab - aber das ändert nichts an der Erkenntnis, dass die Mehrheit eine Tyrannei entstehen lassen kann, gerade dann, wenn es eine verführte Mehrheit ist. Heute stehen die Wege des Wissens offen, sind frei zugänglich, werden aber mit allen Mitteln der Interessenspolitik - Hauspolitik nannte man das im Mittelalter - belagert und verhindert. Wissen wird nicht objektiv vermittelt, sondern ideologisch angereichert, wird manipulativ beigebracht. Zudem werden ethische Normen verspottet und für unzeitgemäß erklärt, weshalb die Schau durchs Objektiv der Mutter aller Wissenschaften, nicht mehr betrieben wird. Obwohl Wissen heute frei verfügbar ist, bleibt die Mehrheit daher eine gefährliche Masse. Eine Masse, die zwar edel, hilfreich und gut mehrheitlich gegen den Krieg sein kann, die aber ebenso mehrheitlich den Türken als gleichberechtigten Mitbürger schmäht.

Basisdemokratische Strukturen sind nur sinnvoll, wenn das Meinungsmonopol der wirtschaftlichen Herrschaft schwindet. Aber selbst dann wäre ein Truppenabzug nicht aufgrund von Mehrheitsverhältnissen zu rechtfertigen - auch dann entscheiden andere, hehre, immer gültige Faktoren, die Kant schon kannte und nach uns, so darf man hoffen - fast auch eine kantische Frage! -, auch noch gekannt werden. Denn auch dann gilt noch: nur weil die Mehrheit unüberhörbar plärrt, muß sie noch lange nicht recht haben.

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Wir würden nicht weinen!

Donnerstag, 15. April 2010

Es rühmt dich ja, werte Bundesregierung, dass du betrunken vor Sorge bist, weshalb du in Zukunft getrennte Flüge planen willst, damit das Land nicht führungslos wäre, sollte doch einmal ein Unglück geschehen. Diese leicht hysterische Haltung muß man verstehen, denn die deutsche Medienlandschaft hat lang und breit von einem trauernden Volk berichtet, das wie benommen durch diese schmerzvollen Tage taumele, nicht wissend, wie es weitergehen soll. Sowas muß dich natürlich ehren, liebe Bundesregierung; soetwas ehrt jede Regierung. Ein paralysiertes Volk, das sich den Scharfblick aus den Augenhöhlen heult, ob der Abberufung des Kabinetts: sowas schmeichelt jeden, mit so einer Reaktion seiner Hinterbliebenen liebäugeln letztlich alle Menschen und alle Regierungen, die aus Menschenfleisch gemacht sind; sie wollen vermisst, wollen bejammert werden, möchten Zähren in den ausgehobenen Schacht niedergehen sehen.

Und obzwar es dir schmeichelt, verehrte Bundesregierung, obgleich dieses fiktive Ereignis dir ein Gefühl von Geliebtwerden einflüstert, möchtest du kein trauerndes Volk hinterlassen im schlimmsten Fall. Es schmerzt dir in der Seele, wenn du an deine Kinder denkst, wie sie sich gleich polnischer Leichenzüge, den Verstand aus dem Kopf weinen. Eine fürsorgliche Regierung plant vor; wahre Fürsorge kennt keine Eitelkeiten, verzichtet auf ehrende Tränen und Trauergemeinden, die schier verrückt werden vor Gram. Selbstlos, wie du bist, soll dies dem deutschen Volk nie widerfahren; barmherzig wie du bist, läßt du es dir knappes Geld kosten, um Hinterbliebenenschmerz vorab zu lindern, zu vermeiden.

Aber, fürsorgliche Regierung, wisse: wir werden hart sein, wir werden dir keine Schande machen. Wir werden keine Träne verschütten, werden nicht in geschlossenen Schwermut verfallen, sondern ein solches Drama, sollte es uns ereilen, mit Fassung tragen. Die dann niederschlagende Mutlosigkeit soll umgehend zu Optimismus verarbeitet werden. Regierung, wir werden an deinem Grab stehen und zuversichtlich in die Zukunft blicken, keinen Blick auf das Vergangene, keinen Blick auf die Vergangenen mehr werfen - sobald du nicht mehr wärest, wärst du uns vergessen. Wir wollen deine Furcht, die du dieser Tage in typisch hysterischer Manie auslebst, entkräften - sorge dich nicht um getrennte Flüge, damit dein Volk nie weinen muß ob seiner Führungslosigkeit. Sorge dich nicht, sondern sei dir sicher: Wir weinen nicht! Selbst wenn es für uns ganz bitter kommt: wir nicht! Wir verfallen nicht in jene Agonie, mit der derzeit der Bauer aus Opolskie oder der Tagelöhner aus Podkarpackie geschlagen ist - die beide um eine Regierung, um eine Elite flennen, die wenig mit ihnen und mit der sie wenig zu tun hatten.

Dass es dir ernst ist, werte Regierung, scheint unleugbar. Deine Krokodilstränchen, die du über Soldatengräber vergossen hast, waren gleich wieder getrocknet, als du die schmeichelnden Bilder aus Polen empfangen hast. Du warst so befangen von diesen Menschen, die ihre Eliten so inbrünstig lieben, dass sie ihnen Blumenmeere bereiten, dass du die Soldatentode schnell von der Agenda genommen hast, um den Tod einer Nachbarregierung, in dem ja auch immer der eigene Tod, die eigene Vergänglichkeit herausfunkelt, zum Gespräch der Woche zu küren. Ein zweischneidiges Schwert, denn einerseits gefiele dir ein Volk, das sich endlos in Heulereien ergeht und Blumen stiftet, aber andererseits litt darunter das, was einer Regierung wirklich wichtig ist: die Wirtschaft. Dass du keine Rücksicht auf Eitelkeiten nimmst, der Vernunft wegen so ein Szenario ausschließen willst, honorieren wir so, wie es dir gefiele, honorieren wir so, dass getrennte Flüge gar kein Thema mehr sein müssen: wir werden nicht einmal daran denken, auch nur ein Tränchen abzudrücken.

Fliegt weiterhin zusammen, habt Freude zusammen im Flugzeug. Werdet nicht gleich hysterisch, Flugzeuge stürzen nur selten ab, häufiger kommt man im Straßenverkehr zu Schaden. Verzichtet auf das getrennte Reisen, denn es kommt uns auch billiger. Und in Zeiten, in denen kein Geld da ist, um bedürftigen Familien ein Auskommen zu ermöglichen, sollte nicht doppelt und dreifach geflogen werden. Die Zeiten sind hart und wir werden es auch sein, wenn das Unfassbare dann doch geschieht: keine Träne. Versprochen! Erst wenn unsere Führungslosigkeit beendet würde, wenn man uns neue Führer an den Lenker setzte, könnte es sein, dass aus der Tränendrüse Salziges rönne. Aber erst dann! Ohne Führung kein Geheul! Wenn wir wieder geführt würden, liebe Regierung, würde Trauer unumgänglich werden. Die einen heulten vor Freude, die anderen, weil es einen Nachfolger gäbe...

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Die, die so anders sind

In den Fünfzigern strebte er die Atombombe an, um den Bolschewismus zu zähmen; in den Sechzigern geriet er mit der Meinungsfreiheit auf Kriegsfuß; in den Siebzigern wollte er in Haft befindliche RAF-Mitglieder standrechtlich erschießen lassen; und in den Achtzigern erwog er risikobehaftetes CS-Gas gegen die Anti-Atomkraft-Bewegung einzusetzen. Daher erntete er zeit seines Lebens Nazi!-Rufe, wurde er zum Faschisten erklärt. Seinen mit einem Doppel-S endenden Nachnamen mußte er häufig mit zwiefachen Runen ausstaffiert ertragen. Ihn in die braune Ecke gestellt zu haben, so würde seine Tochter Jahre nach seinem Tode offenlegen, hat ihm besonders geschmerzt. Zwar waren alle Geschichten, die er vom Widerstand vor 1945 preisgab, nichts weiter als ausgeschmückte, selbstbeweihräuchernde Märchen - doch damals war er wirklich kein Anhänger Hitlers, auch wenn er seine "gottverdammte Pflicht" in der Wehrmacht tat. So wie viele seiner politischen Kollegen oder seiner Spezln, seiner Amigos in der freien Wirtschaft auch. Er fühlte sich verkannt, verleumdet, witterte stets kommunistische Kampagnen, wenn man ihn zum Abkömmling der Nationalsozialisten machte.

Franz Josef Strauss war exemplarisch für dieses heimtückische Gebrechen, an dem der bundesrepublikanische Staat stets litt. Exemplarisch dafür, nicht sein zu wollen, wie der Rechtsvorgänger war, gleichzeitig aber in dessen Tradition zu stehen. Selbst heute, da die politische Oberschicht keine persönlichen Schutzstaffel- oder Landser-Erfahrungen mehr aufzuweisen hat, läßt sich die Seuche, anders sein zu wollen, jedoch nicht anders sein zu können, nicht einfach abschütteln. Etliche faschistoide Bekundungen der letzten Monate und Jahre legen beredt Zeugnis davon ab; es gibt bekanntlich mannigfache Aussagen, die von zeitlich begrenzter Alimentierung wirtschaftlicher Ballastexistenzen und Minderleistern, bis hin zum Arbeitszwang unter der Knute eines modifizierten Reichsarbeitsdienstes, reichen.

Anders sein wollen, jedoch nur schwerlich anders sein können - das ist das Los derer, die sich der sogenannten bürgerlichen Mitte zurechnen. Das war in der Geschichte des Bundesrepublik nie ein Widerspruch und gehörte von Anbeginn an zum Prozedere der Nachkriegszeit. Obwohl die ersten Generationen der politischen Mitte nach dem Kriege, selbst Frontgräuel und Diktatur kannten, taten sie sich schwer mit der Distanz zum Faschismus. Diesen mangelnden Abstand zu leugnen, sich zu empören, wenn man ihnen geistige Nähe zur braunen Phalanx nachsagte: es ist ebenso seit Eröffnung des neuen Staates gepflegte Usance - wenn nicht sogar der Wesenszug schlechthin. Man war stolz auf die geistige Entfernung, auch dann noch, wenn sie nur einen Katzensprung vom totalitären oder faschistischen Gedankengut ihrer Väter oder ihrer einstigen Herren entfernt war - man war ja doch so anders. In dieser bundesrepublikanischen Tradition stehen sie auch heute noch: man ist doch so verschieden. Ganz anders als die Vorväter: aufgeklärter, weitsichtiger, vernünftiger; auch haben sich die Zeiten geändert, wenden sie belehrend ein, was unbestritten wahr ist, aber noch nichts heißen muß.

Etwas vom krankenden Wurzelwerk mit ins neu sprießende bundesrepublikanische Geäst mitbekommen zu haben - das ist nur natürlich. Aus dem kleinbürgerlichen Milieu, aus dem was wir heute so präzios bürgerliche Mitte nennen, entspringt der Faschismus ja. Dort wurde er, wenn schon nicht als gründliches Programm, so doch als schemenhaftes Gefühl, als dumpfe Geneigtheit hausbackener Pedanterie geboren. Stets quoll auch nach dem Desaster noch das eine oder andere hervor, dass eigentlich in jenen Jahren in den Ruinen des Regimes hätte verschollen bleiben sollen. Die heutigen Lautsprecher sind nicht unmittelbare Ahnen, nicht Kinder und Enkel der damaligen Gesinnung, haben jedoch die Ressentiments, Voreingenommenheiten und fanatischen Gehässigkeiten, die geradewegs nach Auschwitz führten, nie ausdrücklich abgelegt.

Es mag nicht erfreuen, überraschend ist jedoch nicht, dass eine völlige Loslösung vom Rechtsvorgänger nie umgesetzt wurde. Das ist in Italien nicht anders - und auch in Spanien grassiert noch, manchmal relativ hemmungslos, der franquismo. Die Triebfedern der Nazis waren und sind viel zu oft die Triebfedern bundesrepublikanischer Demokraten gewesen. Der markante, eigentlich krankhafte Zug hiesiger Demokraten ist es nicht unbedingt, immer noch in denselben trüben Gewässern zu fischen wie Vater und Großvater. Anders sein zu wollen und so oft gar nicht anders zu sein: das ist das wesentliche Merkmal. Ähnlich zu geifern wie jene damals, vergleichbar zu hetzen, verwandte Ressentiments zu kultivieren - bei Ertapptwerden zu leugnen, abzuwiegeln, sich beleidigt zurückziehen, sich missverstanden zu fühlen, weil man doch gerade nicht dergestalt sein will, wie die Vorgänger: das ist die pathologische Befangenheit vieler deutscher Demokraten in allen Parteien.

An Westerwelle und Sarrazin läßt sich dies vortrefflich verfolgen, beziehungsweise an ihren mimosenhaften Beleidigtsein. Wenn man ihnen satirisch KZ-Mentalität vorwirft (wie im Falle Westerwelles) oder sie in die Nähe völkischer Rassenlehre schiebt (wie bei Sarrazin), läßt sich diese pathologische Befangenheit blendend ablesen. Sie stehen dem Strauss näher als ihnen lieb ist - sie sind Sträuße ohne Fronterlebnisse, ohne Widerstandsmärchen, wenngleich sie natürlich vorgeben, stets im Widerstand gegen braune Niederträchtigkeit zu sein. Sie sind weniger Nachkommen der Hitlers als Erben der Sträuße. Bierzeltnazis, die weniger dem Dritten Reich huldigen als den Vorurteilen und dem Hass, die geradewegs in dieses Reich führten. Schwätzer, die krankhaft jeden Verdacht von sich weisen, so wie es der bundesrepublikanischen Kultur schon immer entsprach. Sie sind, was Strauss zeit seines Lebens vorgab zu sein: Anti-Faschisten, die ihr geistiges Fundament in faschistisches Terrain eingelassen haben. Sie gleichen Sträußen - Sträußen brauner Pflänzchen, die vorgeben etwas grüner, etwas gelber, etwas roter zu sein.

Sie sind das, was Strauß immer war: der Problemfall der Demokratie. Mehr als es Neonazis je sein könnten, denn diese verkünden ihr Geschnatter und winden sich hernach nicht heraus - Strauß und seine Lehrlinge, sie gaben stets vor, mit den alten Lehren nichts am Hut zu haben, glaubten das wahrscheinlich sogar selbst, predigten dann allerdings ähnlich, manchmal identisch wie diejenigen, die sie ablehnten, und distanzierten sich im Namen der Vernunft von früheren Tagen. So hält der Faschismus Einzug in die demokratische Gesellschaft: man kappt den Zugang zur Wurzel, damit es so wirkt, als seien die neuen alten Ideen nicht von dort entliehen. Es ist, gemäß Adornos berühmten Ausspruch, die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten. Diese Maske gebärdet sich nicht durch demokratisches Betragen zwischen den faschistischen Wucherungen, sondern dadurch, sich beleidigt zu geben, sich unverstanden zu wähnen, wenn man den Vorwurf bekommt, alte Lehren wiederzubeleben. Anders sein zu wollen, aber nicht anders zu sein - das ist die wirkliche Bedrohung der Demokratie.

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Sit venia verbo

Mittwoch, 14. April 2010

"Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie jenen mächtigen Kosmos der modernen ... Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden ... mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht noch bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist."
- Max Weber, "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" -

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Aus dem Drama lernen

Dienstag, 13. April 2010

Was für ein Nekrolog! Er liest sich wie ein Who is Who der polnischen Gesellschaft. Da regnete es Händevoll Politiker vom Himmel, Ökonomen und Theologen, Militärs und Journalisten, Funktionäre sowieso. Selten schäumte eine Totenliste vor soviel Prominenz über. Das gefallene Gefolge des polnischen Präsidenten Kaczynski, es raubt einem ganzen Land die Führungsebene.

Verantwortungslos! Das britische Königshaus, liest man hie und da, schicke seine beiden jüngsten Sprosse in zweierlei Maschinen um den Globus, damit bei einem möglichen Absturz, zumindest einer im Leben zurückbleibt und die Thronfolge gesichert ist. Das ist der überlebensnotwendige Pessimismus des Hauses Windsor. Kaczynski war Optimist. Der Nekrolog etikettiert diese Zuversicht und dieses Zutrauen. Aus dem roten Teppich polnischer Hautevolee wurde ein schwarzer, wurde ein Schaulaufen berühmter Erscheinungen, die nicht mehr in Erscheinung treten werden. Man lerne daher von Königshäusern!

Es gibt da einen, der zwar immer eifrig ist, stets mit der Beflissenheit des Strebers auftritt, der aber noch dringlich vom Königshaus lernen sollte. Nicht nur den Windsorknoten! Er verreist auch liebend gerne mit Sack und Pack, umrundet die Erdkugel nicht gerne alleine. Und auch er reist elitär, weniger breit, weniger ressortübergreifend gefächert zwar, hat nicht Eliten aus allen Bereichen der Gesellschaft an Bord - aber dennoch. Er sollte dringlich zum fieberhaft gelehrigen Schüler britischen Pessimismusses werden! Stürzt er jemals ab, japsen die Konsumenten und Verbraucher dieses Landes schwerfällig nach Luft.

Denn fällt die Maschine des amtierenden Außenministers vom Himmel, so entnähme man der Berufsspalte jener Totenliste eine zwar begrenztere, doch ebenso tragische Auswahl. Man läse: deutscher Unternehmer, deutscher Geschäftsmann, deutscher Händler, deutscher Banker, deutscher Firmeninhaber, deutscher Manager, deutsche Führungskraft, deutscher Hotelier, deutscher Speiseeisfabrikant. Wenn Westerwelle doch nur aus dem polnischen Drama lernen würde! Wenn er seinen Flieger nicht ständig mit ehrenwerter Gesellschaft überfrachten würde! Denn geschieht eines Tages das, was den Polen nun widerfahren ist: bei wem sollen wir dann noch einkaufen? Und bei wem kauft der ramponierte Westerwelle sich dann seine Portionen Schneid, die er sich als Endverbraucher, nicht als Zwischenhändler, nicht mehr abkaufen lassen will?

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Ich nicht!

Sonntag, 11. April 2010

Muß ich mich der kommenden Zeilen schämen? Ich neige dazu, mir diese Frage mit Ja zu beantworten. Ja, es könnte pietätlos, es könnte schändlich wirken. Aber wie dem auch sei, manchmal muß auch sowas gesagt werden; mitunter wird es notwendig, etwas zu verkünden, auf das man nicht unbedingt stolz sein muß. Verschiedentlich muß man sich zur Wehr setzen, auch wenn es eine Wehrhaftigkeit ist, bei der es an Manieren mangelt.

Mit Ihnen trauert ein ganzes Land!, hat er vorgestern die Hinterbliebenen getröstet. Natürlich wollte er aufrichten, Seelenbalsam in finsterer Stunde auftragen - aber auch sich und seine Klientel reinwaschen, ganz nebenbei erklärt haben, dass jene Soldaten im Auftrag eines ganzen Landes, nicht nur einer Minderheit, gefallen sind. Ein ganzes Land! Wie kommt dieser selbstdarstellerische Zirkel eigentlich dazu, für ein ganzes Land sprechen zu wollen? Ich weiß nicht, wie andere das wahrnehmen, aber ich, in diesem Lande lebend, trauere nicht; ich will damit nichts zu tun haben. Man spreche nicht an meiner Statt! Das verbitte ich mir!

Man verstehe mich bitte nicht falsch: ich freue mich auch nicht, dass Blut geflossen ist. Aber dieses Blut, es hat nichts mit mir zu tun. Wollte ich etwa, dass junge Männer und Frauen in den Mittleren Osten ziehen? Sind sie mit meinem Segen dorthin? Mich hat man damals jedenfalls nicht gefragt, ob ich Interesse daran hätte, irgendeine undefinierbare Freiheit dort verteidigt zu bekommen, wo man persisch und paschtu spricht. Ich habe von Anfang an nicht dazugehört zu dieser wehrhaften Front; ich hätte sofort mein Nein dazu beigetragen, wenn man mich nur gefragt hätte. Jetzt zu trauern: es wäre einerseits Heuchelei, denn gekannt habe ich die Toten nicht und, andererseits, eine stille Übereinkunft mit dem Szenario im fernen Afghanistan. Wenn ich teilnehme an diesen unappetitlichen Zeremonien, bei denen Uniformen aufgetragen und Orden herausgekramt werden, wenn ich mittrauere, dann bejahe ich das, was sich dieser Tage unmerklich als Heimatfront herauskristallisiert.

Deutschland verneigt sich vor Ihnen!, meinte die andere im Bunde. Ich aber nicht! Ich weiß, das mag für manchen starker Tobak sein. Zurückhaltung!, wollen sie mir belehrend zurufen. Über Tote nichts Schlechtes!, lehren sie mich. Ich weiß, ich weiß! Pietät und Ehrfurcht und so. Aber bitte, ich will doch den Toten gar nichts Böses nachsagen. Ich weigere mich ja auch ausdrücklich, sie zu verurteilen, weil sie Soldaten waren, weil sie an einem Angriffskrieg teilnahmen, der verfassungswidrig ist. Und dass es denen recht geschähe, wird man hier nicht lesen, wenngleich man natürlich festhalten muß, dass derjenige, der seiner Arbeit im Kriegsgebiet nachkommt, auch wissen muß, wie traurig das alles enden kann. Aber recht geschieht ihnen der Tod nicht! Gegen solche kraftmeierische Verächtlichkeiten wehre ich mich. Doch verneigen? Ich möchte doch sehr bitten! Ich verneige mich nicht, ich verneige mich überhaupt sehr selten; ich habe es mit dem Würmischen nicht so besonders. Manchmal jedoch, verneige ich mich. Wenn ich sehe, wie ein krebszerfressener Mensch sein Los mit Würde trägt, wie er witzelt in dieser elenden Dunkelheit, wie er stoisch dieses Schicksal stemmt und seinen ausgezerrten Körper durch sein Martyrium schleppt - ja, das ist ein Grund; ja dann verneige ich mich demütig. Dann neige ich zur Verneigung, denn das imponiert mir.

Aber einen Knicks für Fremde zu machen, die ihren besoldeten Dienst im eroberten Ausland getan, die einen Quisling des Westens zur Regierung verholfen haben, die im Zweifelsfall geschossen hätten oder sogar haben? Bitte, ich will nicht weiter ausführen müssen. Man schämt sich ja so schon, ohne auf den präzisen Punkt zu kommen, meiner Aussagen genug. Ich weiß nicht, wer dieses Deutschland ist, das sich da verneigt. Ich bin es jedoch nicht! Ich will es nicht sein. Meine Freiheit haben diese Menschen nicht verteidigt. Meine Freiheit ist gewissermaßen weiterhin gefährdet, nämlich von denen, die da gestern in ihrer kollektiven Trauerrhetorik der Selbstdarstellung frönten. Meine Freiheit! So ein Unfug! Kein Afghane hat mich je schlecht behandelt. Aber diese geschleckten und geleckten Gestalten, die sich da als Seelsorger versuchten, die planen dauernd Anschläge auf meine, auf deine, auf unsere Freiheit.

Und die Kanzlerin selbst ist ja erst dazugestossen, nachdem man ihre geplante Abwesenheit öffentlich kritisierte. Möglich, dass sie dachte wie ich, dass sie sich sagte, Mensch, ich kenne diese Toten ja gar nicht. Aber das verbindet uns nicht, denn sie könnte einen Abzug erwirken; ich kann es nicht. Man meinte ja, die Anwesenheit bei der Beisetzung sei das Mindeste - ich meine aber, sie soll auch dabei sein, wenn die Leichname in Empfang genommen werden; sie soll an vorderster Stelle stehen, wenn die Leichensäcke aus dem Orient geöffnet werden und blutige und zerfetzte Leiber zum Vorschein kommen. Aber ich? Anwesend sein, wenn auch nur als Teil von Deutschland, der sich verneigt, der mittrauert? Was habe ich denn mit dieser ganzen Sache zu tun?

Ihr Tod darf nicht sinnlos sein!, kreischen sie nun. Dabei sagen sie doch schon alles! Es gibt also Tode, die man hinzunehmen gewillt ist, wenn sie nur ausreichend Sinn haben. Danke für Ihren Tod!, meinen sie damit. Diese ganze Militärrhetorik der letzten Tage, dieses Gebräu aus wilhelminischer Säbelrasseleloquenz und feldgrauem Solidaritätsgequatsche - es ist unerträglich, ganz fürchterlich zum Fürchten. Die, die sich verneigen, die, die mittrauern, die wollen diesen Toden einen Sinn verleihen, damit sie besser mit ihrer Rolle als Kriegskomplizen umgehen können. Komplizen sinnloser Ereignisse zu sein, geht gar furchtbar aufs Gemüt. Man will doch Teilhaber einer sinnvollen Sache sein. Hoffentlich sind diese Menschen nur sinnvoll gestorben!, bibbert die Trauergemeinde innerlich. Hoffentlich, sonst wird dieser ganze Zirkus hier, diese Uniformierten, diese Priester und Medienleute, diese Politiker, diese anwesenden Beleidstouristen, sonst werden die alle zur Posse! Sie sind ja so feinfühlig! Sie wollen aus dem Tod ein bisschen Sinngebung filtern - man kann Hinterbliebene auch sensibel verhöhnen.

Stirbt sonst jemand außergewöhnlich, kurios genug, damit sich die Massenmedien des Trauerfalles annehmen; legt sich jemand auf Schienen oder wird zu Tode misshandelt - eine Öffentlichkeit tritt auf, die fast rituell schon Warum? Warum nur? herunterbetet. Warum mußte das geschehen? und Warum ausgerechnet er? sind Textbausteine, die immer dann gehievt werden, wenn man seiner naiven Fassungslosigkeit Sprache geben will. Dabei ist diese Warum-Fragerei unglaublicher Stuß. Wer kann sie denn beantworten? Warum - darum! Aber das ist keine Antwort, dass ist tautologischer Unsinn, ist das Minus, welches das Plus aufhebt oder andersherum. Und nun, da Soldaten im Namen einer selbstherrlichen Elite erschossen wurden, da fragt niemand danach. Doch ich will fragen, wenn ich schon nicht trauere. Ich möchte laut Warum? schreien! Und siehe da - keiner ruft mir Darum! zurück. Deshalb fragt keiner: weil es Antworten gäbe. Man könnte den Tod, wenn schon nicht sinnvoll, so doch erklärbar machen.

Selbsttötungen und Gewaltmorde kann man nie ganz beseitigen, aber alle Welt fragt im üblichen Betroffenheitswahn nach, wie man das Problem in den Griff bekommt. Das Problem mit toten Soldaten, wir bekämen es in den Griff - daher wird nicht gefragt, wie man der Problematik Herr wird. Es wären Antworten, die diejenigen, die im Namen ganz Deutschlands sprechen, wenn sie bei Beerdigungen teilnehmen, nicht zu geben gewillt sind. Unbequeme Fragen, die unbequeme Antworten heraufbeschwören. Ich frage aber, wenn ich mich schon nicht verneigen will: wie bekommen wir es in den Griff, nicht ständig Leichensäcke um den halben Globus schicken zu müssen? Ich frage dort, wo es Antworten gäbe - nicht wie jene Beileidslyriker, die ein rhetorisches Warum? und Wieso? hinwerfen, um sich dann in ihrer herbstmelancholischen Verfassung zu räkeln.

Oh nein, ich bin wahrhaftig nicht stolz darauf, Hinterbliebene zu brüskieren - aber ich kann nicht damit leben, als Teil einer Trauergemeinde angesehen zu werden, der ich nicht angehöre. Ich kannte jene Toten nicht und ich will deren Engagement, das nun andere an ihrer Stelle weiterbetreiben, auch weiterhin nicht kennen - sie schießen dort nicht für mich, daher verneige ich mich nicht. Wäre es nach mir gegangen: heute wäre keine militärisch-romantische Verklärung notwendig. Sie wären nicht sinnvoll gestorben, sie würden weiterhin sinnvoll leben - man müßte nicht darüber lamentieren, dass ihr Tod bitte nicht sinnlos zu sein habe; man hätte wahrscheinlich deren sinnloses Leben, das sie ohne ihren Soldatenberuf gehabt hätten, vielleicht als Erwerbslose, zum Mittelpunkt der Propaganda gemacht.

Ich trauere nicht mit einer Gesellschaft, die es als hinterhältige Morde ansieht, wenn Besatzungssoldaten erschossen werden, die sich aber beruhigt durchschnaufend zurücklehnt, wenn es nur Afghanen waren, die im Kugelhagel oder Bombenregen starben; ich trauere nicht um Soldaten, die vorher wußten, dass sie sich für ein Kriegsgebiet entschieden haben, in dem man auch zu Schaden kommen kann; ich trauere nicht an der Seite von Selbstdarstellern, die die Freiheit am Hindukusch verteidigen wollen, während sie zwischen Rhein und Oder selbige schrittweise beschneiden. Darauf muß ich nicht stolz sein - aber ich muß es loswerden dürfen!

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De dicto

Samstag, 10. April 2010

"Zuversichtlicher stimmen hingegen Beispiele von Haupt- und Realschulen, denen es gelingt, ihre Schüler erfolgreich in die Ausbildung zu vermitteln. Ihr Erfolg beruht auf der Erkenntnis, dass Jugendliche viel besser lernen, wenn sie schon in der Schulzeit die Berufspraxis intensiv kennenlernen."
- Lisa Becker, Frankfurter Allgemeine vom 8. April 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Wenn dem wirklich so ist, dass Schulabgänger heute dümmer sein sollen als früher - und es ist nicht gesagt, dass es so ist, weil erstens, die Presse zur maßlosen Übertreibung neigt und, zweitens, jammervolles Gestöhne zum Flickzeug der Unternehmer gehört - wenn dem also so ist, so muß man sich fragen, woher diese Umstände rühren und wie man dem entgegenwirken kann. Man hat sich zu fragen, wie man jungen Menschen Bildung so verabreicht, dass sie Freude daran haben - dies muß aber unabhängig vom zukünftigen Berufsleben geschehen, denn Bildung ist nicht alleine Grundlage von Ausbildung: sie ist Menschenrecht, gemäß Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und sie ist Grundlage der gesamten Gesellschaft, nicht nur des Produktionsprozesses, nicht nur Basis für die Berufswelt.

Daher ist es ein immenser Eingriff in ein Menschenrecht, wenn Bildung nicht um ihrer selbst Willen betrieben, also nicht zweckfrei gelehrt wird. Ferner ist es eine Dramatisierung dieses Eingriffs, wenn private Unternehmer in ein dann nicht mehr zweckfreies Bildungssystem eingreifen, um zu ihren Konditionen Nachwuchs heranzuziehen, der sich dann später anstandslos in ihre Ausbildung einfügt. Eine Bildung, die nichts weiter sein soll als Vorgeplänkel für eine Ausbildung, angespornt durch privatwirtschaftliche Fingerzeige, untergräbt den Gedanken des Artikel 26 der Menschenrechtscharta. Die geforderte Zielführung der Bildung zu Ausbildungszwecken, ist aber nicht nur rechtlich oder moralisch bedenklich, sie scheint nicht mal besonders erfolgsversprechend zu sein.

Die Hauptschulen in Bayern haben in den letzten Jahrzehnten - ob bewusst oder unbewusst soll hier, um nicht auszuufern, nicht hinterfragt werden - die Lehrpläne zweckdienlicher gestaltet. Was einst als Sozialkunde, Geschichte, Erdkunde Einzelfächer waren, nennt sich nun GSE und schlägt mit zwei Schulstunden pro Woche zu Buche - vor Jahren wurden die Einzelfächer jeweils mit zwei wöchentlichen Stunden bedacht. Ähnlich ergeht es den ehemaligen Einzelfächern Physik/Chemie und Biologie, die nun als PCB eine Liaison eingingen und den Fächern Arbeitslehre, Werken und Technik als AWT zusammengefasst. Der Lehrstoff wurde gestrafft, was soviel heißt wie: mehr Augenmerk auf Rechnen und Schreiben/Lesen; weniger unprofitabler Schmus. Was heute in Bayerns Hauptschulen gelehrt wird, ist eine rumpfartige Schulbildung, die Notwendigkeiten abdeckt, aber Bildung nicht als zweckfreies Gut begreift. Man bildet Kinder nicht allumfassend, man bildet sie zielgerichtet. Dennoch dürfte sich die Situation der Schulabgänger nicht verbessert, schon eher verschlechtert haben.

Zweckgebundene Bildung, die Abkehr vom humanistischen Bildungsideal letztlich, verletzt die Würde des Kindes und des Jugendlichen ebenso, wie sie Integration vorenthält. Wer wenig Allgemeinbildung hat, wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, weiß sich nur schwerlich zu helfen, kann nicht auf Wissenschätze zurückgreifen, um Situationen zu bewerten. Die Spitze der Frechheit ist es, wenn sich nun die DIHK sorgt, dass Jugendliche nicht nur lückenhaftes Schulwissen aufweisen, sondern nicht belastbar und diszipliniert seien. Gerade die Belastbarkeit, die auch auf psychische Befindlichkeiten rückführbar ist, ist einer Schulpraxis geschuldet, die die allumfassende Bildung unterschlägt. Es kann in einer Welt, in der Allgemeinbildung die eigentliche Grundlage ist, um sich in den Wirren des Lebens zurechtzutasten, durchaus deprimierend und psychisch belastend sein, wenn man merkt, wie ungebildet und unterlegen man in einer Auseinandersetzung, einer Diskussion oder einer Debatte man doch ist - dann rumort die Gewalt, geht das, was man die Grunddisziplin des Zusammenlebens nennen könnte, flöten. Und wer dergestalt psychisch angeschlagen ist, der kann nicht belastbar sein. Doch statt diesen Mißstand zu tilgen, ein Bekenntnis zur Allgemeinbildung ohne wirtschaftliche Einflussnahmen abzulegen, scheinen weitere Maßnahmen zweckdienlicher Art bevorzugt zu werden; scheint die Verschärfung der Situation geplant.

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Herren zweier Epochen

Freitag, 9. April 2010

Mensch, Thilo! Carl! Ihr habt euch ja gar nicht verändert. Ihr gleicht euch immer noch! Hätte nie gedacht, dass ihr zum Jubiläum unserer schönen Schule, zum Festtag unserer alterwürdigen Lehranstalt erscheint. Dass ihr unserem geliebten Gymnasium akkurater Herrenmänner mit eurer Anwesenheit einen besonders gleißenden Glanz verleiht. Schön, dass ihr erschienen seid. Stolz war ich, euer Lehrer gewesen zu sein; fast schon hochmütig, den Lehrstoff, den ich nun seid ichweißnichtwieviel Jahrhunderten in die Köpfe meiner Schützlinge pauke, so unverfälscht in eurem späteren beruflichen Wirken wiederentdeckt zu haben. Des Lehrers Herz muß dabei einfach bersten vor Glück. Dabei hegte ich Zweifel. Ihr seid ja aus zweierlei Epochen in meinem Klassenzimmer gesessen. Carl kannte noch den Katheder, von dem ich gleich einem Despoten herabschaute auf die Scholaren; Thilo wurde der damaligen Zeit angepasst, schon etwas lockerer zum Übermenschen herangebildet. Rahmenbedingungen nur, die nichts am Lehrstoff änderten.

Damals, wie gesagt, zweifelte ich an euch. Kränklich dreinblickende Bürschlein seid ihr gewesen; seid ihr immer noch, wie ich über die Jahre feststellen durfte, als ich euch in Tageszeitungen abgelichtet und später im Fernsehen erblickt habe. Sage noch einer, das Aussehen scheide den Herren von seiner Dienerschaft! Darauf kam es noch nie an! Nah am Wasser gebaut hattet ihr auch, war jedenfalls mein Eindruck damals, als ich euch bei mir hatte. Muttersöhnchen vielleicht, aber das kann und will ich nicht behaupten. Im Grunde waren standet ihr unter schlechten Vorzeichen. Und dann las ich später von dir, Carl, dass du im fernen Afrika Karriere gemacht hast. König seist du geworden, der kleine, wenn auch inoffizielle König aller Neger im deutschen Ostafrika. Ein Despot, der den Wilden Furcht und Ordnung lehrte, der auspeitschen und Schlingen um Hälse legen ließ. Hängepeters haben sie dich damals getauft. Was war ich erfüllt von Glück: da stand einer meiner Schüler, ein Absolvent unserer herrlichen, herrischen, herrenmenschlichen Lehranstalt, im Mittelpunkt reißerischer Aufmacher, erntete hier Applaus dort Hass, war also gesund im Geschäft. Einmal sah ich eine Fotografie, wie dich einige Mohren über einen Fluß trugen - ein köstlicher Anblick, ein Anblick der unserer Schule Ehre machte. Und als ich dann noch las, dass du manche schwarze Bestie abgeknallt hast, war ich entzückt. Carl, ich wollte zu der Zeit schon in den Vorruhestand gehen, aber dieser Anblick eines weißen Herrenmenschen, der sich zwischen den wilden Kreaturen dieser Erde aufführt, wie es ihm, wie es seinem Stand als Krone der Schöpfung zukommt, er hat mich zur Besinnung gelangen lassen. Da schwante mir wieder, dass mein Wirken doch einen Sinn hat.

Carl, mein lieber Carl Peters, ich habe es dir nie gesagt, du hast mich, du hast deinen angegrauten Lehrer vor einen folgenschweren Schritt, hast ihn vor der Pension bewahrt, die ihn zur Tatenlosigkeit verurteilt hätte. Freilich wußten wir damals noch nicht, dass wir vor fetten Jahren standen. Das neue Jahrhundert versprach unserer Lehranstalt dicke Früchte in Form einer in unserem Sinne gebildeten Gesellschaft zu schenken. Es war eine herrliche Zeit damals, eine herrenmenschliche Zeit. Es ging sich erbaulich an, als der große Krieg, der später zum ersten zweier Weltkriege werden sollte, manche herrenmenschliche Attitüde heraufbeschwor. Sicherlich fochten auch Herren miteinander. Dass Engländer, Franzosen und mit Abstrichen Amerikaner mit Deutschen rangen, das war eine Wucherung, die unsere geschätzte Schule mit brennender Sorge zur Kenntnis nahmen. Gelobt sei die herrische Vernunft, schoss man auch gegen andere, gegen slawische Horden beispielsweise. Einige Zeit später kam dieser laute Krakeeler mit einem Schattenbild von einem Bärtchen unter seiner Nase über uns. Was für eine paradiesische Zeit! Scharen von Zöglingen wurden mir anvertraut und von mir in bester herrenmännlicher Manier unterwiesen. Carl, ich verdanke dir diese wunderschöne Epoche, die ich nicht im stillen Gelehrtenkämmerlein, sondern als gestaltendes Mitglied einer Volksgemeinschaft erleben durfte.

Danach Ernüchterung! Die Lehren unseres Hauses waren lediglich auf Randzonen der Welt begrenzt. Auf den Süden der Vereinigten Staaten und Afrikas, auf den Ku-Klux-Klan und die Buren konnte man noch bauen, aber es fanden sich nur wenige amerikanische und burische Schüler, die sich hierher, die sich ins Herz Europas vorwagten, um in der Kunst des Herrenmenschen geschult zu werden. Gelegentlich hatten wir freilich auch deutsche Schüler, die mit Feuereifer bei der Sache waren. Aber das waren Strohfeuer, die spätestens dann gelöscht waren, wenn es ins berufliche oder politische Leben hinaus ging. Müdigkeit stellte sich ein, ich wurde berufs-, ich wurde berufungsmüde. Wo früher das Klassenzimmer bis unter die Decke gefüllt war, saßen jetzt nur noch einige Mannsbilder herum, die nicht mal von besonderer Güte waren. Die Handvoll Chauvinisten war noch erträglich, ansonsten nur jugendliche Weicheier und Rentner, die ihre besten Tage schon hinter sich hatten. Der Nachwuchs blieb aus und der Lehrer, nun fast alleinegelassen, dachte erneut an Rückzug. Carl, ich dankte dir zu dieser Zeit erneut im Stillen, dass du mich jene schönen Jahre bis Mitte des Jahrhunderts noch erleben ließest und wollte gerade meinen Hut nehmen...

Da stand er im Klassenzimmer, Aktenmappe unter die Achsel geklemmt, mit lispelnder Stimme fragend, ob er hier richtig sei. Erinnerst du dich noch, Thilo? Ich hätte dir damals nicht erklären können, warum ich meinen Ruhestand erneut verschoben habe, denn sehr vertrauenserweckend warst du ja nicht gerade. Ein schmächtiges Kerlchen mit krumm rasiertem Schnäuzer, die Brille abschüssig auf der Nase sitzend, dazu dezentes Schielen. Später kam mir in den Sinn, weshalb ich mich entschloss, doch noch einige Jährchen am Gymnasium erlesener Herrenmänner zu bleiben: dein Aussehen, deine ganze Physiognomie, diese nichtssagende Mimik, der belämmerte Blick, diese ganze Banalität deiner körperlichen Erscheinung, deiner Bewegungsabläufe, es erinnerte mich an den guten Carl. An meinen Retter Carl, der hier in diesem Raum nie Primus war, dennoch der Primus meines Herzens, meiner Dankbarkeit wurde. Gut, du bist kein Zwilling, gleichst ihm nicht wie das sprichwörtliche Ei dem anderen, aber vielleicht wollte ich mir einbilden, dass du ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bist, um mein jetzt schon fast ewig währendes Gastspiel als Pädagoge doch noch einmal zu verlängern. Der Ungepflegtheit und der Schmuddeligkeit deiner Erscheinung, die mich an den nachlässigen und unsorgfältig gekleideten Carl erinnerten, muß ich Dank zollen. Der abgeknickte Hemdkragen, das schlechtsitzende Jäckchen, das aussah, als habe man es dir unter Zwang angelegt, dieses Zwangsjäckchen also: all diese Oberflächlichkeiten hatten sich in mein Gehirn geprägt, waren ins Unterbewußtsein gespeichert und wurden nun wiederbelebt durch dein Anwesenheit.

Was als oberflächliches Tête-à-tête anfing, wurde tiefgründiger. Ich entließ dich in die weite Welt - allerdings: Abschluss nur befriedigend. Du hattest mehr Verve, bliebst hinter den Erwartungen zurück. Doch ich verspürte in dir ein Feuer, ein Ungehaltensein, wie ich es schon seit Jahren bei keinem Absolventen mehr erspähte. Du bahntest dir deinen Weg, nahmst Ämter an, bist bei den Sozialdemokraten eingetreten, was mich mehr als verwunderte damals, machtest jedoch als Technokrat beachtliche Karriere. Und dann legtest du los! Und wie! Sowas gab es in dieser unbeirrbaren Drastik seit Jahrzehnten nicht mehr. Diese ganze Verachtung für alles, was nicht uns Herrenmenschen gleicht, sie erfüllte mich mit der Gewissheit, dass noch nicht alles für unsere Schule verloren ist. Wie du Moslems und Faulenzer angespieen hast: das war schon großartig. Wie du auf die politische Korrektheit gepfiffen, keiner diese Gefälligkeitshanswursten und Publikumsbajazzos warst: es war betörend. Da warst du der ganze Stolz deines alten, fast schon wurmstichigen Lehrers. Massen wusstest du hinter dir, vielleicht nicht die Mehrheit des Volkes, aber doch jenen Teil der Massen, der immer schon gut für kopflose Aktionen gegen das Gesocks war. Dieser Teil vergütete deine Aussagen mit Respekt, ernannte dich zum Mann des wahren Wortes. Du hast den Zeitgeist getroffen, genau in jenem Moment aufgewiegelt, in dem enttäuschte und unzufriedene Schichten für mehr reif schienen.

Natürlich, Carl war brutaler, hat die wahre Lehre viel detailgetreuer verbreiten können als du heute. Carl war, so würde man heute sagen, ein Mörder. Du bist es nicht. Aber das waren auch andere Zeiten. Für dich wäre es heute strafbar, einige Neger oder Muselmanen abzuknallen. So traurig sind eben die Zeiten! Deshalb unterscheide ich aber zwischen euch nicht, denn jeder muß mit den Wirren seiner Epoche zurechtkommen. Mag ja sein, dass Carl heute genauso via Gazetten aufstacheln würde, wie du möglicherweise damals gepeitscht und geschossen hättest - auf das Wie kommt es nicht an. Das lehrte euch unsere Schule nicht, stand nie im Lehrplan, aber ihr habt es von alleine erkannt: der Herrenmensch muß das tun, was ihn sein Umfeld tun läßt. So weit gehen, wie man es ihm erlaubt! Aufhetzen ist nicht Morden, das ist schon wahr, aber wenn man durch Hetze mein Klassenzimmer füllt, so ist das die Basis unserer Gesinnung. Und Thilo hat doch tatsächlich diesen ehrwürdigen Raum mit Leben erfüllt, hat mir wieder Herrenmänner in Hülle und Fülle in die Arme getrieben und mir den Ruhestand ordentlich vergrätzt.

Ihr euch ähnelnden Zwillinge im Geiste, ich freue mich herrisch, euch hier zu sehen. Hört nicht auf die seitenlangen Erzählungen eines alten Mannes, erfreut euch lieber der illustren Gäste, stoßt an auf eine Zukunft, die unser ehrenwertes Haus zu neuen Höhen geleitet. Eigentlich wollte ich ja auch nur erklären, dass ich mich ausgesprochen freue, meine Retter erblickt zu haben. Und nun entschuldigt, dort hinten trifft gerade Guido ein; habt ihr euch schon bekannt gemacht?

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