Wir sind, was wir essen

Dienstag, 30. Juni 2009

„Der Mensch ist, was er ißt“, meinte Ludwig Feuerbach, sich dabei auf die Arbeit des Physiologen Jacob Moleschott stützend, der den Stoffwechsel im menschlichen Körper einer breiten Öffentlichkeit vermittelte. Moleschott indes war befruchtet von Feuerbachs atheistischen Materialismus, welcher nur die Natur als wirkendes Prinzip zuließ. Feuerbach fühlte sich durch Moleschotts Forschungen bestätigt, und ließ damit die Frage nach der Qualität von Lebensmitteln erwachen. Für Feuerbach war das Bonmot, wonach der Mensch sei, was er ißt, ein materieller Ausspruch. Wir, Zeitgenossen qualitätsarmer Massenlebensmittel, dürfen ihn aber durchaus moralisch auffassen.

Der Mensch ist, was er ißt – das gilt auch für den Verfasser dieser Zeilen, ausgesprochener Fleischliebhaber, Freund guter Küche, Interessierter in Sache Küchenhistorie und der „Evolution von Gerichten“. Für ihn spiegelt sich auch auf dem Speisentisch, sofern er traditionell gedeckt ist, die soziologischen Strukturen einer Region wider. Essen ist, so gibt er frei heraus zu, mehr als Lebenserhaltung, weitaus mehr als bloßer Nährstoffträger. Man sieht es ihm an, aber davon sollen diese Zeilen nicht handeln. Was ihn ausmacht, ist sein heiliger Zorn, seine Energie gegen jegliche Form fehlender Humanität, jeglicher zwischenmenschlicher Unmoral. Und gleichzeitig hat er, aus Mangel an Geld, immer wieder beispielsweise Fleisch aus Regalen diverser Supermärkte eingekauft. Die Liebe zum Fleisch trieb ihn dazu.

Damit steht er nicht alleine da, daraus eine Staatsaffäre machen zu wollen, wäre nur ein übertriebenes Getue, zudem ein Fall von Millionen, ein aufgebauschter Fall von pars pro toto. Aus dem Trieb nach billiger Ware, aus der Gier täglichen Fleischkonsums, könnte man aber wirklich eine Staatsaffäre machen, eine globale Affäre eher gar – denn was auf dieser Erde täglich geschieht, wie respektlos die Kreatur Mensch seine Mitkreaturen zurichtet, müßte einen Aufschrei der Entrüstung zur Folge haben. Hühner werden powergemästet, können sich nach kurzen Wochen ihrer Existenz kaum mehr auf ihren Füßchen halten, Schweine verlassen niemals ihre enge Lebensbox, werden ebenso im Schnellverfahren zur schlachtreifen Fettleibigkeit gefüttert. Allerlei Schlachtvieh wird mit qualitativ mangelhaftem Futter gemästet, Tiermehl und ähnliches Pulver als Grundlage unserer Ernährung, Kannibalismus als anerzogenes Fehlverhalten von Pflanzenfressern. Die Rechnung wurde dezent bereits serviert, wird täglich immer noch bezahlt, auch wenn niemand mehr davon berichtet – BSE ist kein Thema mehr, ist aber immer noch Thema in den industrialisierten Ställen dieser Welt.

Vegetarier zu werden, war dem Schreibenden nur ein kurzer Gedanke. Er fühlte sich dann sicherlich moralisch befreiter, aber Fleisch ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Ernährung. Und überhaupt ist er davon überzeugt, dass im vegetarischen Lebensstil die gleichen moralischen Fallen lauern, wie man im Falle von Tofu unschwer erkennen kann. Das servierte Tofu-Stückchen, dieses geschmacklose Irgendwas, wäre mit den Auswüchsen gierigen Abrodens von Regenwäldern schmierfilmhaft überzogen. Hunger für diejenigen, die neben Sojabohnenfeldern leben, sich dort aber nicht sättigen dürfen, weil die geschmacksneutrale Bohne für europäisches Vieh gedacht und angebaut ist. Außerdem ist das Verspeisen von Fleisch menschlich; wir wären nicht, was wir sind, hätten unsere Vorfahren nicht reichlich Fleisch gefressen. Der Mensch ist eine besondere Art von Raubtier, moralische Fragen hin oder her.

Das Töten von Leben ist aber auch dann natürlich eine ethische Kategorie, wenn es zum Stillen von Hunger geschieht. Doch auf Fließbändern Kreaturen industriell zu erlegen, sie innerhalb einer Zehntelsekunde zu zerteilen, dabei zu kleine oder mangelhafte Fleischstücke einfach aus ökonomischen Gründen auszusortieren und wegzuwerfen, das ist eine andere Kategorie als die Schlachtung eines Tieres, so wie es Menschen seit Jahrtausenden tun. Aus der Schlachtung KZ-Zustände zu machen, die Kreatur, die uns als Lebensmittel dienen soll, ohne Ehrfurcht und Dankbarkeit zu betrachten, das ist unentschuldbar. In einigen Kulturen, beispielsweise bei den Buschmännern, ist es Brauch, sich beim erlegten Tier zu bedanken, welches nun dafür starb, um einer menschlichen Familie das Leben zu ermöglichen. Was für europäische Augen seltsam wirkt, zeugt aber von Respekt vor dem, was die Natur dem Menschen bereitstellt. Unserer Gesellschaft geht jegliche Art von Respekt am Lebensmittel ab. Wir nehmen es in Kauf, dass unter himmelschreienden Mißständen Leben getötet, Leben zum reinen ökonomischen Wert degradiert wird, so sehr, dass man Tiere quält, zwangsmästet, sie mit Medikamenten aufbereitet, „mangelhafte“ Exemplare selektiert, tötet und respektlos verfeuert.

Man kann durchaus Fleischesser sein, sich aber einen moralischen Impuls bewahren, auch wenn dann der Mord als Begleiter am Essenstisch sitzt. Dieser Mord an der Mitkreatur ist uns als Menschen immanent, wenn wir als Spezies überleben wollen. Er fand immer statt, wird wohl auch nie vollkommen auszuschließen sein. In diesem Falle verhalten wir uns unmoralisch, auch wenn die gelehrte Moral großer Philosophen eine rein menschliche, eine zwischen Mensch und Mensch ist, und damit das Verhältnis Tier und Mensch amoralisch beläßt. Töten wird ein notwendiges Übel bleiben, durchaus ein Frevel am Leben – und genau dieses fast masochistische Eingestehen menschlicher Schuld an der Mitkreatur ist hervorzuheben und zu kultivieren, denn darin schlummert der Respekt vor den Tieren, die uns zu Lebensmittel werden. Wer sich immer vor Augen führt, dass es keine Selbstverständlichkeit sein darf, wenn uns ein Schwein oder ein Rind Fleisch liefert, wenn wir eine Art stiller Dankbarkeit empfinden lernen, dann entsteht auch Nähe zum ernährenden Produkt, dann wird nicht wahllos im Akkord getötet und das Tier wie ein Stück Eisenerz oder Holz behandelt, sondern mit verdienter Ehrfurcht. Dann wird aus dem Lebensmittel wieder ein Mittel des Lebens, ein Mittel zum Zweck, keine Frage, aber dadurch, dass uns dies bewusst ist, dadurch, dass wir wissen, dass das Schlachten notwendiges Zweckmittel ist, wird es in quasi-ritueller Form zum Akt der Dankbarkeit. Dann vergisst man nicht, wie das Stück Fleisch zustandekam, dann ist man sich immer der Umstände gewahr, wird kein sich völlender Ignorant, sondern ißt mit Bedacht.

Nochmal zurück zu Feuerbach. Für uns hat sein berühmter Ausspruch zwar auch materielle Aspekte, aber er dient uns auch als moralische Grundlage. Wir sind, was wir essen. Essen wir ehrfurchtslos dahingemetzeltes Fleisch, das Filet überfetteter Tiere vielleicht, mit Kraftfutter getrimmte Riesenbrüste vom Huhn, dann ernähren wir uns unkritisch und zur schnellen Sättigung. Schmecken soll es zwar, aber das Produkt kann ruhig aus der Hölle kommen.
Wir sind, was wir essen – essen wir respektlos, sind wir respektlos. Gegenüber wen? Gegenüber dem Leben von Tieren. In erster Instanz. Aber letztlich unterscheidet sich Leben dann kaum mehr. Wo man Nutztiere ohne Ehrfurcht zerstückelt, wo das Lebensmittel reine Ware geworden ist, da wird auch das menschliche Leben früher oder später auf den Prüfstand ökonomischer Verwertbarkeit gelegt. Sich respektlos zu sättigen, undankbar und selbstverständlich, auch im Hinblick auf jene, die nichts zu essen haben, bedeutet der Respektlosigkeit dazu zu verhelfen, Herr über die gedachten Gedanken zu werden.
Wir sind, was wir essen – wir essen undankbar, daher sind wir Undankbare. Selbstverständlich wird gevöllt, selbstverständlich, als wäre es eine Ehre für das Tier, geschlachtet werden zu dürfen. Wir danken uns selbst dafür, ausreichend zu verdienen, um uns am Supermarktregal bedienen zu können. Die Säkularisierung des Lebens, die Abkehr von einem Alltag, der sich an Gott orientierte, hat viel Befreiung gebracht, auch viel Leid und Resignation von uns genommen, aber das Tischgebet als Ausdruck von Dankbarkeit, wenn auch nur an ein Abstraktum im Himmelreich gerichtet, fehlt unserer heutigen Essenskultur vollständig.
Wir sind, was wir essen – wir essen unkritisch. Diese fehlende Kritik durchzieht unseren gesamten Lebensablauf. Es wird nicht hinterfragt, nicht in der Politik, nicht beim Gebaren von Unternehmen, schon gar nicht, woher das Stück Steak herkommt, auch nicht, wer unter meiner Sojabohne gelitten hat.

Wir sind eben nicht nur, was wir essen – vorallem sind wir, was wir wie essen.

Dem Verfasser ist bewusst, dass es zukünftig weniger Fleisch verzehren wird, weil das Produkt des Metzgers, bei dem er nun ausschließlich kauft, teuerer ist. Aber der Verzicht ist es ihm wert. Nebenbei darf er sich besserer Fleischqualität erfreuen. Darin, im Verzicht, dessen ist er sich bewusst, ist der neue, bessere Weg zu suchen. Warum jeden Tag Fleisch? Und spinnen wir den Gedanken weiter: Warum Erdbeeren im Winter, Spargel im Herbst, Kirschen im Januar? Wir sind, was wir essen – jeder von uns. Essen wir den Jahreszeiten entfremdet, sind wir entfremdet – und diese Entfremdung ergreift nicht nur auf dem Teller von uns Besitz; wir entfremden uns in allen Variationen, gegenüber jedermann. Kurzum, die gezielte Askese am Produkt, nämlich, dass ein bestimmtes Produkt nicht immer verfügbar sein kann, ist die notwendige Einsicht in bessere, ethischere, ökologischere, auch sozialere Zustände – auch wenn der das hier Schreibende wahrlich nicht den Eindruck eines Asketen macht.

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Das Martyrium der unverstandenen Genossen

Sonntag, 28. Juni 2009

Jemanden, der sich in sektiererisches Verhalten verpuppt hat, innerhalb seines eigenen kleinen Kosmos lebt, dort auch noch hofiert und gefeiert wird, auf diverse Dummheiten seiner Aussagen hinzuweisen, ist wahrscheinlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Auch jemand, der gerade dem inneren Druck der rechten Szene oder dem Umfeld von Scientology entflohen ist, wird trotz aller Fluchtgedanken nicht sofort dazu bereit sein, alle Lehren dieser sektengleichen Gruppen abzulehnen – womöglich bedarf es tiefgründiger Gespräche mit psychologisch geschulten Menschen; womöglich bleibt aber, um beim Beispiel zu verharren, ein NPD-Flüchtling dennoch immer Antisemit.

Wie also Müntefering auf den Stuß hinweisen, den er, gefangen in seiner kleinen Welt, in die Lande hinausposaunt? Eine Welt, die nicht SPD heißt, denn an der sozialdemokratischen Basis grassieren zuweilen ganz andere Sichtweisen, als dort oben, in großtuerischen Führungsgremien und blankpolierten Parteibüros. Es ist die Welt der ruinierten Führungsfiguren, die antraten, ihren Verein zu höheren Weihen zu geleiten, dabei aber bitterlich am eigenen Irrsinn und fehlender Standhaftigkeit scheiterten, letztlich zu Karikaturen ihrer selbst wurden, zu Witzfiguren der geheiligten Parteigeschichte. Es ist die Welt abgehalfterter Granden, die sich die politische Landschaft so zurechtbiegen und –drehen, wie es der verletzten Seele gerade genehm ist. Irgendwo erinnern Müntefering, Steinmeier und Steinbrück - andere Namen, die hier nicht genannt werden, sind noch unwichtiger als eben jene – an den ollen Honecker, wie er Staatsjubiläum feiert, an sich vorbeiparadieren läßt, während ihm der Staat unter den Füßen weggezogen wird. Konservative Westdeutsche haben der gesamten DDR ja immer wieder vorgehalten, sie wirke wie eine überdimensionale Marxisten-Sekte: aber das eigentliche Sektenverhalten war im obersten Parteibüro zuhause, innerhalb der Gespräche dieser Riege; zwischen den Zeilen der Verlautbarungen ans Volk konnte man das Sektiererische herauslesen.

So auch heute, so auch bei denen, die sich heute via Medien ans Volk richten und in ihrem Wortschwall der Sekte alle Ehre machen. Da tritt der Parteivorsitzende jener Partei an den Notizblock eines Journalisten heran, geißelt die fehlende Wahlmotivation der Menschen, verbindet geschickt, aber nicht ohne Tendenz zum vernebelten Weltbild, dass seine Partei auch daher so schlecht abgeschnitten habe bei der letzten Europawahl, und bringt es irgendwie sogar noch fertig, den Nichtwählern alle Schuld für seine moribunde Partei in die Schuhe zu schieben. Man weiß nicht genau, ob Gerhard Schröder, Wegbereiter des Niedergangs – er sieht sich freilich ganz anders, sein Lehrbub Müntefering übrigens auch -, an jenem europaweitem Sonntag gewählt hat oder nicht. Denn insofern wäre die Kritik am Nichtwähler teilweise korrekt, wenn Schröder nicht gewählt hätte – denn am Niedergang hat er, hat seine pervertierte Form von Sozialstaatsverständnis, seine Reformfrechheiten, sein Mundtotmachen interner Opposition, schuld. Aber das wäre natürlich zu einfach, denn diejenigen, die danach kamen, um den brüchigen Laden weiterzuführen, griffen munter das auf, was der Freund lupenreiner Demokratie zurückließ.

Der Sophisterei aber nicht genug. Allen Ernstes lümmelt Müntefering da in seinem Sessel, gibt dem Journalisten zu Protokoll, dass der Nichtwähler sich irre, wenn er meine, dass „derjenige, der nicht handelt, mit dem, was passiert, nichts zu tun“ habe. Als ob die Menschen, die resigniert fernbleiben von den Urnen die die Diät bedeuten, wirklich die chaotische Ansicht verträten, dass sie damit aus dem Schneider wären. Sie leiden ja trotz Abstinenz dennoch unter den Machenschaften dieser Typen, unter den Machenschaften seiner Parteikollegen, die sich schamlos auf ein Wettrennen, mit dem Titel „Wer ist konservativer und rückwärtsgewandter?“, mit den Christdemokraten und Marktliberalen einlassen, dabei auch noch so schnell rennen, um auf die oberste Stufe des Siegertreppchens zu gelangen. Wettbewerb, so lehrt uns unter anderem ja auch die SPD schon seit Jahren, ist eben alles – und dieser Wettlauf muß gewonnen werden, wenn man ganz oben stehen will. Dass ganz oben, in der Mitte des Treppchens, flankiert von christlich, liberalen und grünen Marktpredigern, eben das Lüftchen von mauen Prozentzahlen weht, das hat der Sozialdemokratie wahrscheinlich vorher niemand erzählt. Wer da ganz oben steht, der muß nun mal mit 19 bis 25 Prozentpunkte leben - manchmal sogar weniger -, der muß erdulden, dass Stammwähler auf der heimischen Couch bleiben.

Selbst wenn die SPD bei Reaktivierung der Nichtwähler keine absolute Mehrheit hätte, auch wenn das Münteferings Plausch irgendwie so darzustellen versucht. Die anderen leiden ja auch unter Schwund, jede Partei schwindet, weil sie in solche Rennen zieht, sich den Veranstaltern des Wettlaufs an den Hals hängen, den Milliardären und Konzernen dieser Welt. Aber im Gegensatz zur Union und zur FDP leidet die SPD an einem Glaubwürdigkeitsproblem. Denn von ersteren weiß man doch, dass sie für eine ganz bestimmte Klasse Mensch steht, während die SPD immer noch so tut, als sei sie die Partei der Verdammten dieser Erde, wobei sie natürlich die Verdammten eher verdammt als unterstützt. Deswegen bleiben Wähler aus, sozialdemokratische Wähler verstärkt. Auch die Nichtwahl ist eine Wahl, die in einer Demokratie respektiert werden muß – sie mag irrational aus politischer Sicht sein, sie mag auch wenig Wirkung haben, aber sie ist trotzdem legitim. Und seien wir doch ehrlich: Die alle vier Jahre stattfindende Wahl von Volksvertretern, die ihrem Gewissen verhaftet sind, macht Demokratie nicht aus. Wenn man wählen kann, sollte man auch abwählen können dürfen. Solange die Abwahl „meines Abgeordneten“ nicht machbar ist, findet auch keine Demokratie statt. Der Vertreter kann seine Vertreterschaft verlieren, sollte er zumindest verlieren können. Und das nicht erst nach vier Jahren egozentrischen Machtstrebens.

Die SPD-Spitze hat, so läßt sich als einzige Quintessenz von Münteferings Palaver ziehen, immer noch nicht verstanden, warum ihr die Wähler davonlaufen. "Immer noch nicht verstanden" ist indes eine optimistische Formulierung, denn daraus läßt sich lesen, dass es vielleicht eines Tages doch noch zum Aha-Erlebnis kommen könnte. Jedoch nicht mit diesen Gurus an der Spitze, die ihren sektiererischen Wahnsinn in den Wahlkampf werfen, Siegermentalitäten beschwören, die es gar nicht mehr gibt, ein wenig Einigkeit mimen, um danach die Dogmen des Großen Vorsitzenden Gerhard herunterzupsalmodieren. Innerhalb diverser Sekten ist es Usus, die Schuld für das Unverständnis, welches Außenstehende dem suspekten Verein entgegenbringen, eben solchen Außenstehenden zuzuschieben. Die Weisheit, die Tiefe der Botschaft, das karitative Moment der Lehre wurde nur noch nicht erkannt, weil der Außenstehende an irgendeinem geistigen Mangel leidet, weil er schlicht zu dumm und zu borniert ist, sich den Lehren des Meisters anzuschließen. So handhabt es auch die Sektiererische Partei Deutschlands, dieser Verbund von Postenjägern, der sich vor einiger Zeit von der SPD abgespalten hat, um enthoben in geistigen Sphären ihrem Schöngeist zu frönen. Schuld hat der Nichtwähler, der Drückeberger, der Verantwortungslose – warum, um Gerhards Willen, verstehen uns die Leute nicht? Wir jedenfalls sind schuldlos, wir werden schuldlos bei jedem Wahlgang abgestraft, wir, oh Herr, sind Märtyrer der Wahrheit, dafür sterben wir den politischen Tod!

Mit solchen esoterischen Weihen ist keine Wahl zu gewinnen, nicht, wenn man sich SPD nennt. Der FDP ist das esoterische Anzünden von Ohrkerzen und Abfackeln von Geruchsstäbchen als Hommage an den entfesselten Markt und die Unterordnung des Menschen unter selbigen, immanent. Man weiß, was man wählt, wenn man Marktapostel wählt. Vermeintliche SPD-Wähler leiden aber immer noch unter der Fehlkonditionierung, unter dem Namen SPD eine biedere und manchmal zu brave Form von Umverteilung und Teilhabe wählen zu wollen. Mit einer solchen Wählerschaft gewinnt man keine Wahl. Dass die Wählerschaft und die Nicht-Wählerschaft das Handicap einer stärkeren Sozialdemokratie ist, hat Müntefering ja verstanden - aber wenn eine Fußballmannschaft nicht mehr erfolgreich ist, wechselt man nicht die Vielen, die Spieler. Man wechselt den Einen, den Trainer - vielleicht sollte sich Müntefering daran ein Beispiel nehmen und die Wenigen, er eingeschlossen, abtreten. Sarrazin steht sicher schon parat, vielleicht wagt ja er den Anschluss an die Union. Vielleicht gibt es ja dann wieder Sekt für die Sekte...

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Wo bin ich erwacht?

Freitag, 26. Juni 2009

Ich erwache in einen neuen Tag hinein, Radionachrichten umgarnen mich in morgendlicher Roheit. Lassen mich blinzeln, rätseln, fürchten.

Eine sonore Stimme gesteht, dass ein Zensurgesetz mit beschönigendem Namen verabschiedet wurde, schützt die Kinder, schützt jenen Teil der Bevölkerung, der sich durch freie Meinung einer Gegenöffentlichkeit womöglich verhunzen ließe – doch im zensierenden Kuba scheine ich nicht erwacht.
Sie meldet des Kriegsministers Standfestigkeit, jetzt erst recht weiterkämpfen, verschärfte Einsätze, es lebe die Uniform, hoch die toten Helden des Vaterlandes – aber ich werde nicht von der frühen Sonne des militaristischen Nordkorea gekitzelt.
Jetzt berichtet sie vom ewigen Plan, dem Militär polizeiliche Aufgaben antragen zu wollen, für Sicherheit und Freiheit, zum Schutze des Volkes, das Militär als Friedenskorps im Inneren – ist es iranische Luft, die meine Lungen völlt?
Schwer verständlich wirft die klangvolle Stimme mit wirren Wortfetzen um sich, zu überwachten Rechnern, Ortung von Mobiltelefonen, Kameraüberwachung, überwachte Arbeitnehmer prominenter Unternehmen, machtloses Datenschutzgesetz, sei dessen gewahr Bürger, du bist sicher – hat es mich am Ende in die Zeit des NKWD zurückgeschleudert, ins stalinistische Rußland?
Durchs Kopfkissen gedämpft wehen Sätze herüber, das Asylrecht als Sujet, Wohlstand schützen, Terroristen aussperren, die Kultur porentief rein halten, wir sind ja human in Auffang- und Sammellager, in denen die Flüchtlinge konzentriert werden, und natürlich darf geschossen werden – wieso zum Teufel bin ich im rassistischen Südafrika der Apartheid erwacht?
Irgendwelche Gecken bekommen ein Forum, in Einblendungen dürfen sie von Prioritätenlisten für Krankheiten und Geburtenkontrolle für untere Gesellschaftsschichten schwelgen, für eine Ausgewogenheit im Gesundheitswesen, für die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstaates, laßt doch die ökonomische Vernunft walten – ob nun SS-Uniformen an mir vorbeidefilieren, wenn ich nachher die Wohnung verlasse?
Das harmonische Organ macht den Vertrag von Lissabon zur morgendlichen Bettansprache, für die Zukunft Europas, für den Wohlstand im globalen Wettbewerb, ein weiterer Schritt Richtung zentralisierter Demokratie, ohne Volksbefragung, entschieden haben des Volkes Vertreter – eine Verfassung ohne Ja des Volkes? Vielleicht bin ich in der Willkürherrschaft des sudanesischen Staates erwacht.
Eine warnende Botschaft zum Ende, beim kommenden Gipfel wichtiger Nationen wird rigider gegen irrgewordene Demonstranten vorgegangen, Bilder aus Heiligendamm, Göteborg, Genua kommen spontan in den Sinn, es sei nötig, man dürfe sich von Verrückten nicht drangsalieren lassen, dazu dürfen Knüppel sprechen – Syrien? Ist es Syrien? Oder Libyen? Das berlusconische Italien?

Eines steht für mich an jenem Morgen fest, ich bin in einem Schurkenstaat erwacht. Nur wo, wo bin ich? Ich beschließe mich noch einmal umzudrehen, nochmal dahinzudämmern, von der US-Armee zu träumen, die diesem unbekannten Land die Demokratie und die Freiheit nachdrücklich ins Gewissen sprengen wird.

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Ridendo dicere verum

Donnerstag, 25. Juni 2009

"Ich bin zufrieden! Ja, ich bin zufrieden. Meine Stelle gefällt mir nicht, die Wohnung ist zu klein, die Miete ist ne Wuchermiete, Preise steigen ständig, die Löhne hinken ewig nach, Arbeitsplatz ist nicht gesichert. Man muß eben zufrieden sein. Ich bin zufrieden - ehrlich!
Deshalb bin ich auch gegen Sozialismus und so was. Zwar würde mir da vielleicht meine Stelle gefallen, die Wohnung wäre vielleicht nicht so klein, Miete niedrig, Preise konstant, Löhne steigen, langsam, aber steigen, Arbeitsplatz ist gesichert. Man muß eben zufrieden sein. Ich bin zufrieden hier - ehrlich.
Mit fünfzig bin ich kaputt, mit fünfundfünfzig geh’ ich stempeln, mit sechzig krieg’ ich eine niedrige Rente, mit fünfundsechzig sterb’ ich zu früh. Was will ich mehr?"
- Floh de Cologne, Bekenntnis der unpolitischen Väter -

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Die letzte Zentrale

Einer der wesentlichsten Punkte der die undogmatische Neue Linke – K-Gruppen ausgeschlossen – ausmachte (und heute, als nicht mehr ganz so neue Linke immer noch ausmacht) war von jeher die Auflösung jeder Form von Zentralisierung. Auf anarchistische Klassiker zurückgreifend, dabei aber natürlich auch auf deutsche Geschichte schielend und über den Eisernen Vorhang hinwegspähend, sprach man sich dafür aus, in einem neuen Gesellschaftsentwurf so wenig Zentralismus als möglich zu fabrizieren. Kleine Selbstversorger-Projekte aus der Zeit der Studentenrevolte, mit einigen Abstrichen auch die Bewegung der Wohnkommunen, die allerdings in der bürgerlichen Presse als lasterhafte Heim-Bordelle der freien Liebe umschrieben wurden, resultieren aus dieser Zentralismusfeindlichkeit. Der Neuen Linken war, mit Rückgriff auf die jüngere europäische Geschichte, klargeworden, dass ein staatliches Ungetüm, eine Maschinerie, die Millionen von Menschen in ihre Listen notiert um sie zu verwalten, früher oder später immer ausarten muß. Der Mensch im Zentralismus steht eben nicht im Zentrum, denn dort steht der zentralisierte Apparat; der Mensch im Zentralismus wird zur Nummer, zur abstrakten Einheit ohne menschliche Attribute; menschliche Züge belasten die zentralisierte Gemeinschaft, hemmt sie in ihrem mittigen Verwalten, in dem Umwege nicht eingeplant sind, nur Kosten, aber wenig gemeinschaftlichen Nutzen hervorbringen. In einem solchen zentralistischen Gebilde gleichen sich Individuen an, Pluralismus und Vielfalt werden von der Zentrale nicht berücksichtigt, in einzelnen Fällen sogar bekämpft und unterdrückt. Die heutige Gesetzgebung in Fragen der Arbeitslosenverwaltung beruht auf diesem zentralistischen Weltbild, der Einzelne innerhalb des SGB II zählt wenig, er erhält nicht nach seinen Bedürfnissen, sondern nach einem vorkalkulierten, d.h. zentralisiertem Einkaufskorb Versorgung.

Was der Neuen Linken mal konkret, mal allzu theoretisch vorschwebte, war ein System des Föderalismus, in anarchistischeren Kreisen würde man von einem System der Kooperationen sprechen, wenngleich Anarchisten ja kein System kennen wollen. Um es abzukürzen: Innerhalb kleinerer Verwaltungseinheiten sah und sieht man das Individuum besser versorgt, kleine Gruppen würden auch nicht willkürlich über die Not vereinzelter Gruppenmitglieder hinweggehen. Kleinere Einheiten, die die Abstraktion des Zentralismus nicht kennen, könnten leichter einen Konsens finden, der jedem einigermaßen gerecht würde. Wenn es dem direkten Nachbarn schlecht erginge, wäre die Hilfe sicherlich fröhlicher und freimütiger verteilt, als wenn ein niedersächsischer Bauer für seinen Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern bezahlt, oder ein deutscher Landwirt für einen Berufskollegen aus Portugal. Hier setzt auch einer der fundamentalen Kritikpunkte an der EU an: ein zentralisiertes Europa kann sich nicht um die Belange jeder Region kümmern, kann nicht jedem gerecht werden. Erlasse für Landwirte haben nicht die gleichen Folgen für jeden europäischen Vertreter dieser Zunft. Zwischen Polen und Portugal herrschen viele verschiedene Voraussetzungen, Traditionen, Auffassungen, denen ein zentralisiertes Staats- und Verwaltungssystem nie gleichermaßen gerecht würde.

Diese zwei Absätze als längere Einleitung, als Grundlage des Folgenden.

Nun zum wesentlichen Teil dieser Zeilen: Wenn die undogmatische Neue Linke, die ja heute nicht mehr so neu ist, auch vom Zentralismus angewidert ist, lieber kleine Einheiten wahrgeworden sehen will, so muß sie dieser Tage dennoch dazu aufrufen, noch einmal einen Zentralismus verwirklicht wissen zu wollen. Eine letzte Zentrale, um endlich bessere Zustände zu erstreiten. Dabei handelt es sich nicht um eine Zentrale der Verwaltung, sondern um eine der Interessen; nicht um eine der Technokraten, sondern um eine unideologischer Massen, die einfach nur ihre Interessen verwirklicht haben wollen. Es handelt sich um eine Zentralisierung des gemeinsamen Nenners, einer Zentralisierung des Generalstreiks. Denn das gravierende Problem krisengeschüttelter Tage, unser gravierendes Problem als Oppositionelle, ist: Anstatt einen großen Topf aufzusetzen, um darin die Basis für viele verschiedene Suppen kochen zu können, stellen verschiedene Gruppen vereinzelte Töpfe auf, um darin die Grundessenz köcheln zu lassen, und dabei kochen sie noch nicht mal wohltemperiert, sondern mit lauwarmer bis kalter Flamme; anstatt zusammen die Basis zu kochen, hernach erst kleinere Töpfe aufzustellen, um dann je nach Bedarf mit Suppeneinlagen und Gewürzen anzureichern, kocht jeder für sich alleine.

So streiken Erzieherinnen für bessere Arbeitsbedingungen, Ärzte für eine angemessene Kostenerstattung, Krisenopfer wie Opel-Mitarbeiter für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, Studenten und Schüler für einen neuen Bildungskodex, Anhänger moderner Medien streiten gegen Zensur. Jeder für sich, jedem das Seine! Was verkannt wird ist die Essenz jeglicher Unzufriedenheit - dies wird nicht verkannt, sondern verkannt gemacht, verschleiert und versteckt. Denn es geht nicht um Partikularinteressen, diese sind lediglich Randerscheinung. Was als Grundlage dient, ist ein generelles Umdenken, eine Zurückführung der Politik und eine Hinführung der Wirtschaft in ethischere, humanere Kategorien. Weg von der absoluten Verwurstung von Arbeitskraft! Weg von der rigorosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen! Weg von der gelegentlich latenten, gelegentlich ungenierten Menschenverachtung moderner Wirtschaftspolitik! Weg von der Knechtung anderer Völker! Weg von Kosten-Nutzen-Kalkül in sozialen Bereichen der Gesellschaft! Der Mensch hat nicht mehr in erster Linie Angestellter und Arbeitskraft zu sein, sondern autonomes Wesen, Mensch mit allen Facetten, mit Schwächen und Vorlieben. Es ist im Kern, auch wenn es vielen Demonstrierenden vielleicht gar nicht bewusst ist, eine radikale Basis, die künstlich geteilt wird, um beherrschbar zu bleiben.

Den einzelnen Demonstranten- und Kampfgruppen muß verdeutlicht werden, dass sie zwar durchaus verschiedene Ziele haben mögen, dass es ihnen aber schlussendlich darum geht, eine Gesellschaft zu verwirklichen, in der es sich besser leben läßt. Die Wachstumsideologie des herrschenden Kapitalismus ist, qua begrenzter Ressourcen, eine Fehlannahme - was aber wachsen darf, immer weiter, soweit es sich moralisch vertreten läßt, soweit dabei nicht der Planet zugrunde gerichtet wird, das ist die Lebensqualität jedes einzelnen Menschen. Das ist der wahre Fortschritt der Menschheit. Nur daran hat die herrschende Lehre kein Interesse. Die zynische Scheinlehre neoliberaler Prägung, wonach jedem geholfen wäre, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht, hat sich hier tief ins Bewußtsein der Massen gegraben. In der Bewußtmachung gleicher Ziele, die später natürlich ganz individuell abgeschmeckt werden können, läge der Schlüssel zur Krisennutzbarmachung. Jede Systemkrise der herrschenden Klasse, ist mit der Hoffnung der Unterdrückten dieses herrschenden Systems verbunden, es möge sich nun alles ändern, es möge alles zusammenbrechen, damit etwas Neues, etwas Besseres daraus erwachsen könne. Derzeit ist nicht zu erwarten, dass die Krise in dieser emanzipatorischen und fortschrittlichen Art nutzbar gemacht werden könnte. Das gelänge nur mit einem Zusammenstehen der Unzufriedenen, mit einer Zentralisierung der einzelnen Interessen.

Eine letzte Zentrale wäre notwendig. Dabei ist nicht ganz abzuklären, ob es sich um eine letzte Zentrale handelt, weil danach womöglich keine Chance mehr auf eine Zentralisierung der Unterdrückten gewährleistet wird, weil man sie unterdrückt und juristisch ruchbar macht; oder ob sie eine letzte Zentrale getauft sein soll, weil nach einem zentralisierten Erfolg alles Zentrale schwinden kann, um menschlicheren Verwaltungseinheiten endlich eine historische Chance einzuräumen. Wie auch immer dieses Letzte zu verstehen ist, liegt an den Menschen selbst. Zentralisieren sie sich, streiken und demonstrieren miteinander, rücksichtslos, tagelang, wochenlang, ohne Hemmungen, ohne falschen Untertanengeist, so wird danach möglicherweise die kleine Verwaltungseinheit zum Kapitel im Geschichtsbuch; wenn nicht, kann es sein, dass man uns keine Möglichkeiten zur Zentralisierung allgemeiner Unzufriedenheit mehr einräumt.

Die letzte Zentrale – so oder so...

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Die bürgerliche Dialektik des Streiks

Dienstag, 23. Juni 2009

Nein, egoistisch ist es nicht, das verpartnerte, Vollzeit arbeitende, gut verdienende Bürgertum. Es wendet sich ja ausdrücklich nicht gegen Erzieherinnen und Erzieher. Nur diese antiquierte Form des Arbeitskampfes duldet man eben nicht. Um es mal ganz deutlich zu sagen: Man ist gegen eine veraltete Streikvariante, die Schaden anrichtet, die den nichtstreikenden Mitmenschen spürbar macht, dass die streikende Berufsgruppe wertvolle Arbeit tut; man ist gegen eine Art des Streiks, bei der überdeutlich wird, wie wichtig die bestreikte Aufgabe dieser arbeitsteiligen Gesellschaft doch ist. Nein, man ist doch demokratisch gesittet, man ist doch nicht egoistisch, man hat doch nichts gegen Streik - nur schaden darf er keinem, nicht zu Lasten derer gehen, die die Arbeitskraft der Streikenden notwendig brauchen.

Daheim, in der Freizeit, in den Pausen, ja, da darf man doch streiken, das wäre mal eine Abkehr von der antiquierten Form des Arbeitskampfes, bei der man so rücksichtslos seine gottgegebene Pflicht vernachlässigt. Man ist doch liberal, man ist doch in der Tiefe bürgerlichen Herzens auf der Seite der Erzieherinnen und Erzieher, man würde sich ja freuen, wenn man diesen Menschen auch ein wenig mehr aufs Konto überwiese, zumindest solange des Bürgers Konto dafür nicht mehrbelastet würde. Man ist doch nicht unmenschlich, will doch Wohlstand für alle, aber bitte nicht, indem man zwei werktätige Elternteile so drangsaliert, ihre berufliche Karriere geradewegs aufs Spiel setzt. Der Bürger hat doch Verständnis für die Sorgen der Erzieherinnen und Erzieher, warum hat das erziehende Völkchen aber so wenig Verständnis für die Nöte der Eltern? Hat es doch! Und genau deshalb setzt man hier den Streik an – so funktioniert effektiver Arbeitskampf. Was Eltern im bürgerlichem Geiste fordern: Man soll beißen, aber bitte vorher das Gebiss herausfummeln, sich bloß mit blankem Zahnfleisch verkeilen. Wie man so durchs Fleisch kauen will, bleibt deren Bürgertumsgeheimnis.

Streikt doch, aber nicht auf Kosten unserer Kinder! Da holen doppelverdienende Elternteile in Vollzeitstellen, diese karrieristisch ausgerichteten Familienentwürfe die Moralkeule hervor, finden es schlimm, dass man ihre Kinderchen instrumentalisiert und schieben selbst ihre Sprösslinge als Instrument ihrer Entrüstung an die Luft der Öffentlichkeit. Oh, geht es den lieben Kleinen schlecht, diesen ausgesperrten Kreaturen, die ob des Streiks total verängstigt ihres traurigen Lebens harren. Da weckt man das elterliche Schutzbedürfnis, das darf sich Vater und Mutter nicht gefallen lassen, schließlich trägt man ja die Verantwortung. Nur die Verantwortung, während der Streiktage auf den lieben Nachwuchs selbst aufzupassen, die will man nicht haben - diese ekelhafte Verantwortung gegenüber dem plärrenden Nachwuchs, diese widerliche Verantwortung gegenüber denen in der Gesellschaft, die sich bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen erstreiken wollen. Die Kinder müssen einem förmlich leidtun, wenn man so liest, wie es ihnen ergeht. Was sind schon Kinder in Hartz IV-Armut? Was sind schon afrikanische Zustände? Nein, in heutige Kindertagesstätten muß man schauen, das heißt, an den Eingangsbereich jener Stätten, wo zitternde und völlig apathische Kinder auf ihre Erzieherinnen warten und die Welt nicht mehr verstehen ob ihres Ausbleibens.

Alles auf Kosten der Kinder! Wirklich, was bilden sich diese Streikenden eigentlich ein? Jetzt weiß der quengelnde Linus, die vorlaute Hannah, der egozentrische Justin und die dominante Laura, dass sie nicht der Lebensmittelpunkt für jeden Erwachsenen dieser Welt sind; jetzt bricht eine Welt für bestimmte Sorten von Rotznasen zusammen, die zwar von Mama und Papa abgeschoben werden, aber in den wenigen Momenten familiärer Glückseligkeit die volle und einzige Aufmerksamkeit und den dazugehörigen materiellen Plunder von beiden Sklaven erhalten. Ja, das geht auf Kosten der Kinder! Die Streikenden nehmen willentlich in Kauf, dass die ausgesperrten und psychisch angeschlagenen Streikopfer aus ihren egozentrischen Sphären geschüttelt werden. Und das schon im Kindesalter - welch Barbarei, welche Streikbarbarei! Sie nehmen in Kauf, dass man im Bürgertum annehmen müsste, es sei keine Ehre mehr, die Kinder gesellschaftlicher Leistungsträger betreuen und glücklich machen zu dürfen.

Daher muß in angemessener Form weitergekämpft werden, daher ist die antiquierte Streikvariante sofort einzustellen. Man kann doch die Leistungsträger nicht derart belästigen. Wer bezahlt den streikenden Pöbel denn? Sicher, Verständnis ist da, liberal ist man auch, man wünscht das Beste – aber wenn keine Zeit zum Streik ist, wenn es eben nicht geht, dann geht es nicht. Solidarisch ist man auch, aber bitte, irgendwann muß es doch gut sein, irgendwann muß man halt einmal hinnehmen, dass man einen schlechtbezahlten Arbeitsplatz hat. Hauptsache Arbeit, oder nicht? Natürlich tragisch, aber alle Tragik hat hinter dem Kindeswohl zurückzustehen.

Man wünschte sich schon oft, das Bürgertum hätte ein solches Engagement gezeigt, als immer deutlicher wurde, dass innerhalb deutscher Grenzen immer mehr Kinder in Armut geworfen werden. Aber da handelte es sich nur um den Nachwuchs von Gesindel, um Kinder falscher Leute, wie es einer der lautersten Marktschreier deutschen Bürgertums unlängst formulierte; da ging es nur um die Kinder der Schmarotzer. Aber Schmarotzer sind wir alle mehr oder weniger. Das Kita-abhängige Bürgertum schmarotzt sich ja auch an den Mißständen der Erzieherinnen und Erzieher gesund, an der Ausbeutung dieser Berufsgruppe. Auf Kosten Ausgebeuteter wird ruhigen Gewissens zur Arbeit gefahren, hat ihr Nachwuchs zu gedeihen, auf Kosten Ausgebeuteter, die miserable Arbeitsbedingungen ertragen sollen und dann auch noch schlecht daran verdienen, werden Karrieren vorangetrieben und Ellenbogen ausgefahren. Und als Krone der Frechheit ruft man dazu auf, den Arbeitskampf in andere Bahnen zu lenken, in genehmere Wege münden zu lassen, damit im Namen ökonomischer Vernunft, keine Störungen den Betrieb behindern. Dass jeder Arbeitskampf, ob nun antiquiert oder modern, diese Störung benötigt, um überhaupt eine kleine Aussicht auf Erfolg haben zu können, wird absichtlich verschluckt. Denn wie soll denn sonst Gehör verschafft werden, wenn nicht störend und damit Nachteile erzeugend? Welch kruder Witz soll denn eine Streikform sein, die keine Unannehmlichkeiten für die Bestreikten mit sich bringt? So gesehen ist die derzeitige Form des Arbeitskampfes, wie sie hier, wie sie allerorten hierzulande praktiziert wird, noch viel zu brav, viel zu untertänig. Es dürfte schon ein Mehr an Unannehmlichkeiten entstehen, damit begriffen wird, mit wem man es zu tun hat.

Nein, man ist ja liberal und demokratisch, man will doch keinem das Recht auf Demonstration verbieten, aber doch nicht auf Kosten der Leistungsträger. Vielleicht meint die werktätige elterliche Gegeninitiative ja auch: Sucht einen anderen Weg, bestreikt doch die Kindertagesstätten und Kindergärten solcher Leute, die nichts leisten, dafür aber uns Leistungsträgern ordentlich auf der Tasche liegen. Arbeitslose können auf ihre Plagen ja auch selbst aufpassen, bestreikt doch das Gesindel, dann auch auf Kosten ihrer Kinder unserethalben, gerne tagelang, auch wochenlang, für immer, wenn es so sein soll. Sucht euch die richtigen Opfer eures Streiks, aber uns laßt in Ruh'...

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In nuce

Wahrscheinlich grassiert in jeder politischen Partei ein Fünkchen Sektentum, irgendwie fühlt man sich immer als eingeschworene Gemeinschaft, die trotz aller Flügelkämpfe eine gemeinsamen Nenner besitzt: das Parteibuch. Warum man nun ausgerechnet der LINKEN vorwirft, sie sei eine "Partei der Sektierer und Spinner", bleibt ein offenes, in den Medien nicht tiefgründig erläutertes Rätsel. Wer, wenn auch noch so gemildert und im Rahmen der herrschenden Regeln wie im Wahlprogramm der LINKEN, an den Geldbeutel der Besserverdienenden herantastet, der wird pathologisiert. Das war nie anders, wurde von den Jakobinern ebenso praktiziert wie später von Stalin. Die Macht macht sich diese Methode oft zunutze, das ist also alter Käse.
Dabei hat man vor einigen Tagen erst eine wirkliche Sekte beobachten dürfen, wie sie einem grauhaarigen, bebrillten Messias ohne Charisma, dafür aber mit einer Rhetorik aus dem Schlafinstitut behaftet, zujubelte und hochleben ließ. Habemus papam! Vorab hat man ihn schon mal zum Kanzler vereidigt, obwohl sich in der wirklichen Welt abzeichnet, dass er seine Partei in ein noch tieferes Tief stürzen wird. Ein Tief, welches die Anhängerschaft des Gurus gar nicht befürchtet, weil der Gesalbte Wunder wirken kann, weil er im September seine Kräfte einsetzt, um das Unmögliche möglich zu machen. Ein bereits herrschendes Tief, welches fehlinterpretiert wird, denn man würde nur falsch verstanden, die Menschenmassen dieses Landes würden die tiefe Spiritualität messianischer Reformen nicht begreifen. Täten sie dies, sie würden frohlocken. Fanatisiertes Geschau, schweißtreibendes Geklatsche, hemmungsloses Hosianna-Geschrei, danach noch ein vereinend' Liedchen, eine geträllerte Selbstbeweihräucherung: wenn das nicht mal ein sektiererisches Treiben war, wenn da mal nicht Sektenluft verbreitet wurde!
Doch sowas nennt man dieser Tage nicht mehr Sektentum, sowas nennt man Optimismus. Sekte sind immer die anderen, die wirklich anderen, diejenigen, die anders denken und fordern - Sekte sind solche, die man nicht versteht, nicht verstehen will, nicht verstehen soll; die versponnene Sekte ist ein Kampfbegriff der herrschenden Sekte.

Vor Christoph Metzelder, Geisteskind der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), wurde bereits gewarnt. Man sollte darüber aber nicht vergessen, vor anderen Zeitgenossen zu warnen, die scheinbar als unpolitische Zeitgenossen durch die Lande schwirren, die aus der Showbranche entschlüpfen, um sich der vermeintlich edlen Sache der INSM anzuschließen. Allen voran ist da Ralf Möller, deutscher Hollywood-Exportschlager in Sachen Neben-Nebendarsteller, zu erwähnen. Eigeninitiative, Ehrgeiz und natürlich der obligatorische Schuss Optimismus, so teilt er uns mit, seien Grundvoraussetzungen, um im Berufsleben Fuß zu fassen. Wenn er dann bei Anne Will sitzt, nennt man ihn verschleiernd einen Schauspieler (dies an sich ist schon gewagt, entspricht aber wohl den heutigen Maßstäben schauspielerischer Kunst), von seinem Engagement bei der INSM, der er den Auftritt in einer solchen Sendung ja wohl verdankt, wird aber geschwiegen. So bescheiden ist die INSM. Sie will als Schenkender nicht genannt werden, hält sich wie ein Gentleman zurück, wenn sie einem muskelbepackten Schauspiel-Hinterbänkler, der öffentlich vorallem durch geistige Nullität auffiel, ein Plätzchen im Abendprogramm politischer Desinformation zum Geschenk macht.
Stefan Hagen nennt sich eine andere Werbekarikatur der Initiative. Unternehmensberater schimpft er sich und hat seit ungefähr einem Jahr eine eigene TV-Show im Privatfernsehen. Bezeichnender Titel: "Hagen hilft!" Dort gibt er sich als potenter Helfer und Mädchen für alles, rettet und saniert Kleinunternehmen, redet den Leidgeplagten gut zu, schafft Anreize zur Selbstinitiative, motiviert, staucht zusammen, schafft Hoffnung. All das klingt wie aus dem Märchenbuch des Gebruder Tietmeyer - und wieviel des Ausgestrahlten wirklich Realität ist, bleibt fraglich. Ob dieser Vater Teresa notleidender Mittelschicht wirklich nachhaltig Unternehmen saniert, danach fragt das Sendekonzept nicht. Was kümmert kabel eins das Gesendete vom gestrigen Tag? Dass Hagen geholfen hat, dass dahinter der Elan und der praktisch umgesetzte Erfolg der INSM-Dogmen vermutet wird, das ist von Bedeutung.
Und so reihen sich mehrere ein in die Riege scheinbar unideologischer Mitdiskutanten: der mit Regulierungsphobie behaftete Wetterfrosch Kachelmann, die vom Boden abgehobene Olympiasiegerin Nasse-Meyfarth oder Schlagerfetischist und Zett-De-Ef-Schwulstikus Heck. Weitere Zugänge sind in Zukunft sicherlich nicht ausgeschlossen...

Zu guter Letzt, das Allerletzte: Gerhard Schröder, ehemaliger Vorstand der Deutschland-AG und Visionist eines neuen Sozialstaates, bestreitet nun Wahlkampf für den neuen Messias der SPD. Er bringe frischen Wind in die Sozialdemokratie, wahrscheinlich, weil sich viele des alten Miefs innerhalb des neuen Miefs nicht mehr entsinnen können. Kurzum: Er bestreitet Wahlkampf für Steinmeier. Die erste Maßnahme des Wahlkämpfers Schröder: Ein Lob für Angela Merkel. Salopp sagt man ja oft, die etablierten Parteien würden sich nicht mehr unterscheiden, seien alle aus einem Guß. Und so einfach diese Einsicht klingt, sie dürfte dennoch zutreffen. Denn wie Schröder Wahlkampf betreibt, mit einem Lob für eine Unionistin, zeigt doch eindringlich auf, dass diese Leute selbst nicht mehr genau wissen, wer in welcher Partei Wirtschaftsmarionette ist.

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Statement-Journalismus

Montag, 22. Juni 2009

Kaum bereichert eine Meldung wieder die Nachrichtenwelt dieser Republik, kaum dass „etwas passiert“ ist, melden sich auch schon Experten und Betroffene zu Wort, bekommen dabei auch noch ein Mikrofon unter die Nase gehalten, damit die flugs ersonnene Presseverlautbarung auch gesendet werden kann. Jeder darf einmal, jeder der einen Posten besitzt, sich ein wenig wichtig nehmen darf. Dazu bedarf es keines rhetorisches Talentes, nur Meinung ist gefragt, nur die Position zum abgehandelten Thema, und all das kann in ein, zwei Sätzen zum Ausdruck kommen.

„Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat gesagt...“, „Guido Westerwelle, Bundesvorsitzender der FDP, äußerte sich...“, „Karl-Heinz Däke, Präsident des Bundes der Steuerzahler, meinte dazu...“, „Der Augsburger Bischof Walter Mixa schaltete sich in die Diskussion ein und erklärte...“! Name - Posten - Äußerung! Im Stakkato gebiert die Medienwelt verbalisierte Nichtigkeiten mehr oder minder bedeutender Personen. Derjenige, der in Zeitung, Radio oder Fernsehen nach Informationen forscht, der Konsument der Nachrichtenbranche, darf sich zu Gemüte führen, was solche Herrschaften sagen, meinen, glauben, finden, befürchten, loben, bedauern, erkennen, vermuten, einschätzen, behaupten und entkräften. All das geschieht nicht ausführlich, nicht nachvollziehbar detailiert für den Konsumenten, denn er erhält nur einen Satz vorgeworfen, in dem Herr Soundso, derzeit im Amt der Weißnichtwas, die Vorwürfe entkräftet, die seinem Herrn vorgeworfen werden. Warum, wie er die Entkräftung untermauert, das ist nicht Sache der Stakkato-Redner, die sich Kurzerklärungen zum Lebensinhalt gemacht haben.

Wenn wieder einmal antisemitische Auswürfe ins Alltagsleben dieser Republik hineinspielen, dann überrascht es doch nicht, dass die Präsidentin des Zentralrats der Juden sich sorgt; aber dennoch geht quer durch die Medien, dass „...auch Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, sich besorgt zeige“. Ebenso im Falle Westerwelles, wenn irgendein windiger Ökonom Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende fordert (auch im Stakkato-Stil selbstverständlich), damit natürlich sofort in den Medien präsent wird, und der Bundesvorsitzende der FDP sein Statement dazu abgibt – "Guido Westerwelle, Bundes... - jaja, wir wissen welche Position er bekleidet -, zeigt sich erfreut und pflichtete Herrn Professor Sowieso bei". Das liegt doch in der Natur der FDP-Oberen, sich hierbei erfreut und solidarisch zu zeigen. Und wenn Walter Mixa gegen das Sündenbabel des Zeitgeistes wettern darf, weil wieder einmal eine ausrangierte Talkshownudel meint, sie müsse ein Eva-Prinzip-Buch schreiben, um die Welt an ihrem Intellekt erkranken zu lassen, wenn also der Bischof einer solchen Person Unterstützung zukommen läßt, dann ist das doch im Grunde nur natürlich und erklärlich. Dennoch wird lang und breit aufgeführt, was die Postenjäger und –inhaber dieses Landes zu allerlei Themen im schnellem Satze anzumerken haben.

Diese Ich-muß-zu-jedem-Thema-meinen-Senf-dazugeben-Mentalität dominiert das Medienspektakel. Nachrichten sind ein Sammelsurium aneinandergereihter Ein-Satz-Statements und hohler Schnellphrasen. Wichtig ist nicht die Darlegung einer Problematik, die genaue Berichterstattung einer derzeit aktuellen Nachricht, wichtig ist, was dieser gesagt, jener gesagt, sonstwer gesagt hat. Was Präsidentin X oder Vorsitzender Y meint, Meinungen, die sowieso jedem klar sein sollten, weil qua Position dieser Herrschaften eine bestimmte Reaktion geradezu konditioniert ist. Die banale und nichtige Meinung wird zum Gegenstand moderner Schnellschuss-Berichterstattung. Der Konsument des Nachrichtenangebotes sucht nicht nur Information, er sucht – und das ist entscheidend – die schnelle Info (er sucht die Info, keine Information, denn es mangelt an Zeit, um die beiden letzten Silben auszusprechen). Nebenbei will er unterhalten werden, er will sich nicht mit der Schwere schwülstiger Theorie befassen. Er will beispielsweise nicht haargenau erklärt bekommen, was im Iran wirklich geschieht, wie der Iran in der arabischen Welt steht, welche Form des Islam dort vorrangig ist und wie sich diese Form verdeutlicht, kurz: er bekommt kaum Fakten geliefert, die die Vorgänge innerhalb eines Landes begreiflicher machen könnten. Nein, man serviert ihm stattdessen eine staatsmännisch dreinblickende Kanzlerin - „Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte sich solidarisch...“! Was X, Y oder Z denken und äußern, das macht die Krise im Iran oder sonstwo aus; wie die Ereignisse von diesen personifizierten Bilduntertiteln gedeutet werden, macht die schnelle Info aus. Der Konsument muß sich keine eigenen Gedanken machen, kann sich zurücklehnen, läßt der Kanzlerin Meinung als Quintessenz der Ereignisse gelten. Das Stakkato der Ein-Satz-Jünger als Dienstleistung am Kunden.

Was zu großen Teilen die Nachrichtenkultur dieses Landes auszeichnet, ist eine reine Kurzsatz-Statement-Show prominenter Personen. Dominiert irgendwann wieder ein Gewalttäter oder Vergewaltiger die öffentliche Diskussion, dann erfährt man auch in der Tagesschau, was stockkonservative Misanthropen als ihre Meinung postulieren. Dann heißt es wieder, der hat gesagt, jener hat gemeint, werweißnichtwer glaubt. Konkret berichtet wird nur am Rande, was wirklich zählt ist das Stakkato möglichst vieler Einzelmeinungen auserlesener Meinungsverkünder. Diese unerträgliche Leichtigkeit der Berichterstattung vermeidet jeden Denkanstoss, sie läßt vordenken, erklärt den Menschen, in welche Richtung in etwa gedacht werden soll, reicht jede einzelne Nachricht in gestückelter Ein-Satz-Kultur, damit keiner am Gewicht denkanreizender Zusammenhänge erstickt. All das in unterhaltender Form, wenn mal wieder sensationslüstern verkündet wird, dass irgendein FDP-Bonze es fein fände, wenn Steuersätze für Besserverdienende fallen würden – dass das Normalität und die Banalität dieser Partei ist, ist einerlei: es hat nach Sensation zu riechen, damit die Exklusivität der Nichtigkeitsmeinung zur Geltung kommt.

Dies spiegelt die gesamte Stimmung in diesem Lande wider, es kommt nicht von ungefähr, dass in diesem Lande viel gemeint, aber wenig gewusst wird...

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Facie prima

Sonntag, 21. Juni 2009

Heute: Der Unverfrorene, der gemeine Sozialschmarotzer

Während der brave Bürgersmann auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz ist, kuschelt er sich noch in warmen Federn. Sein Alltag ist von Ruhe und Gelassenheit gezeichnet, aber auch von Unverantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft, von der er sein Geld bezieht, nur um ihr dann ins Gesicht zu rufen, gar nicht arbeiten zu wollen - ihr könnt mich alle mal! Und damit es dem Lesenden ersichtlich wird, mit welcher Sorte Abschaum man es hier angeblich zu tun haben soll, schleudert der Hauptprotagonist moderner Entrüstungsliteratur, dem Leser einen gepflegten Stinkefinger entgegen. Dazu bleckt er die Zunge heraus, zeigt uns das ironische Lachen des ungerechten Siegers, der trotz seiner moralischen Unterlegenheit nicht unterlegen ist, sondern ganz im Gegenteil, einen großen Erfolg verbucht hat. Der Betrachter soll, noch bevor er den dazugehörenden Text gelesen hat, Hass in sich nähren, er soll den sogenannten Sozialschmarotzer gar nicht begreifen und verstehen, dafür jedoch hassen lernen. Der Abgebildete beleidigt den Betrachter, er begegnet ihm mit jeglichem Gebaren gedeuteter Beleidigung, damit sofort klar wird, mit welchem moralischem Abschaum man es hier zu tun habe.

Und nochmals begegnet uns ein Stinkefinger, gleichwohl in humoristischer Form, denn die hier abgebildete Schmarotzerin hat dabei sichtlich Spaß, sich der Kamera anzubiedern. Vielleicht fand sie die saloppe Aufforderung des jungen Fotografen, sie möge doch mal frech sein, auch einfach nur witzig, womöglich wollte sie diesem aufstrebendem Kameratalent einen Gefallen tun und reckt nun dem Betrachter den Mittelfinger entgegen. Unterlegt wird der Text zur Betrügerin mit den üblichen Floskeln. Sie will nicht arbeiten, beziehe lieber die satten Regelsätze des Arbeitslosengeld II, lebe ein Leben in Faulheit und stetem Ausruhen, fresse sich auf Kosten der Steuerzahler satt. Nicht immer beleidigt der Geschmähte nebenher mit Fingerzeichen, aber zynisches Lachen gehört immer zum Repertoire. Er grinst dem Betrachter höhnisch ins Gesicht, gleich daneben ein Text, in dem nochmals erläutert wird, dass man es hier mit einem ganz miesem Subjekt zu tun habe. Staatsgelder beziehe diese Kreatur, Arbeiten wolle es aber nicht. Damit bekommt jegliches Lächeln, sei es auch zunächst gar nicht höhnisch gemeint, einen hassaufkeimenden Antrieb, denn nun fühlt sich der Betrachter nicht mehr angelächelt, er fühlt sich ausgelacht und verschaukelt. Nicht aus Zufall, nicht aus Versehen, sondern mit voller Absicht zielgerichteter Berichterstattung! Der Leser will nicht nur darüber lesen, sich nicht darüber informieren, er will auch den Hass gelehrt bekommen, er will sein Feindbild bildlich vor sich sehen, er will den Armen, der ja - so sagt es das Dogma - aus eigener Schuld arm sei, verachten können. Käme da aber ein altes Mütterchen daher, um Hatztexte zu flankieren; käme ein Behinderter oder eine von chronischer Krankheit Gezeichnete neben den Text: wie sollte man da hassen lernen?

Der visualisierte Schmarotzer, dieses Kunstprodukt der medialen Berichterstattung, der sinnbildlich für alle steht, die in die Segnungen des SGB II hinabfielen, bereitet die theoretische Diskussion bezüglich Sozialmissbrauch auf, gibt dem Fabulieren in phantastischen Prozentzahlen ein Gesicht. Stellvertretend für eine ganze Bevölkerungsgruppe, die in Not geriet, manifestiert der bildgewordene (vorallem der BILDgewordene) Schmarotzer den Hass. Gäbe es ihn nicht, würde es schwer, die Mär vom selbstverschuldeten Armen aufrechtzuerhalten; man könnte dann als neutraler Betrachter, der niemals mit dem ALG II in Kontakt kam, wirklich auf den Gedanken kommen, dass der Verarmte Opfer, und nicht Täter ist. Deshalb zeigt er sich mal mit Stinkefinger, manchmal nur mit höhnischem Lachen, immer aber verächtlich gegenüber denen, die ihn angeblich alimentieren. Er hat der inkarnierte Undank zu sein, dem die undankbare Fratze, die Bösartigkeit seiner alimentierten Faulheit, buchstäblich ins Gesicht fotografiert ist. In sonderbarer Weise erinnert der Schmarotzer an Karikaturen aus anderer Zeit, als bestimmte Bevölkerungsgruppen mit Hakennase und verschlagenem Blick gezeichnet wurden, dazu schwarze, speckige Haare und - in Filmen - mit ködernder, einflüsternder Säuselstimme. Die im Stürmer gezeigten Gestalten gleichen den Gestalten aus der heutigen Presse. Wo einst gestürmt wurde, wird heute gesprungen, aus dem Stürmer wurde ein Springer.

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Ärztliche Diagnose

Freitag, 19. Juni 2009

Neulich beim Facharzt, harrend im Wartezimmer werfe ich Blicke auf die mit Plakaten tapezierte Wand. Visagen aus der Politik sind zu ertragen, dümmliche Fratzen, die jedes Wartezimmer zum Vorhof der Hölle machen, darunter prangert in großen Lettern, man möge der Gesundheitsministerin schreiben, jedenfalls mindestens seinen Abgeordneten auf die Mißstände der neuen Abrechnungspraxis für Fachärzte aufmerksam machen. Und natürlich, obligatorisches Muß, tun „wir das für den Patienten“, Seit' an Seit' gegen die Planwirtschaft im Gesundheitswesen!

Diesem Höllenvorhof bin ich entkommen, man entzog mich schnell dem dümmlichen Blick der Merkel und der verkrampften Schnute der Schmidt, holte mich, beinahe termingerecht, ins Sprechzimmer. Notwendiges Geplänkel, einige Notizen in die Krankenakte, wichtig sei, so meine geschätzte Ärztin, bei der ich als chronisch Kranker schon seit Jahren in Behandlung bin, dass man in der Akte auch notiert, ob mein Behandlungsmittel, welches ja nicht ganz billig ist, Erfolge zeitigt. Denn wenn es das tut, dann könne man jederzeit bei der Krankenkasse darlegen, dass hier kein Einsparpotenzial läge. Und Erfolge zeitigt es auch, bescheidene Erfolge, aber immerhin Erfolge. Ich nickte verständig, meinte, man wisse nicht, was da noch auf uns zurolle, daher ist es sicher sinnvoll die Wirkung des Medikamentes in der Akte zu verzeichnen. Noch ein Blick auf die Blutwerte, nichts was eines Gespräches wert wäre.

Ich staune ob der Ärzteschaft Parlamentarismusgläubigkeit, warf ich ins Sprechzimmer. Ich staune darüber, dass man wirklich glaubt, irgendjemand mit Macht- oder Postenkompetenz würde ernsthaft in Erwägung ziehen, eine bessere gesundheitliche Versorgung für Meinesgleichen zu verwirklichen. Naja, ich war weniger vornehm, ich meinte keck, mein Abgeordneter scheiße mir bestenfalls auf den Kopf, soviel Aufmerksamkeit schenkt er mir dann doch noch. Mein Abgeordneter, wenn ich denn einen hätte, kümmere sich nämlich um viele Dinge, aber was er zu entscheiden hat, entscheide nicht ich, nicht mal er selbst. Das tut sein Gewissen für ihn, welches sich Parteidisziplin und Postenerhalt getauft hat. Wenn man etwas erreichen wolle, wenn man wirklich Veränderung will, dann ist die Straße das beste Parlament, aber dazu muß man länger, vehementer und kontinuierlicher die Straßen belagern, nicht nur einmal im Monat, quasi als rituelles Kundgeben, um der lieben Demokratie ein Zugeständnis gemacht zu haben, um am Ende bedeutungsschwanger verkünden zu können, man lebe in einer Demokratie, in der Gegenwehr legitim von Angebot und Nachfrage bestimmt würde.

Aber man erreiche wiederum nichts, wenn sich Vertreter dieser Zunft hinstellen und von Prioritätenlisten fabulieren, genauer gesagt von Selektion. Aber dieser Herr, der das seinerzeit so deutlich formuliert habe, wandte sie ein, habe wenigstens einmal ausgesprochen, was notwendig sei. Denn heute gäbe ja die Politik vor, der Arzt habe diese Art von Priorität zu erstellen, habe also im Sprechzimmer darüber zu entscheiden, wessen Behandlung sinnvoll sei und wessen weniger. Aber dies sei doch Aufgabe der Politik. Ich wandte ein, dass die Ärzteschaft nicht pragmatisch sein dürfe in dieser Frage, sie jegliche Art von Auslese zu verdammen hat; der besagte Herr mag pragmatisch eventuell den Kern getroffen haben, aber hier geht es um ein Ideal, um das ärztliche Ideal schlechthin, es geht darum, dass jedem Menschen geholfen werden muß, ohne Rücksicht auf Kostenfaktoren und Nutzenkalkulationen. Ja, so argumentiere ja auch die Politik, erklärt uns, wir hätten unsere Praxen doch nicht nur um Geld zu verdienen, wir könnten Patienten für 7,80 Euro im Quartal aus Gewissensgründen doch behandeln, gab sie zurück. Sie habe zweifelsohne recht, antwortete ich, es ist verwerflich mit dem Gewissen Geschäfte machen zu wollen, wie es die abwiegelnde Politik derzeit tut - aber dennoch: das Gewissen muß, nicht nur in sozialen Berufen, eine Konstante bleiben oder wieder werden.

Den Parlamentarismus als Helfershelfer fallen zu lassen, so glaubte sie, bedeute ja eigentlich die Systemfrage zu stellen. Ja, natürlich, keine Frage, pflichtete ich bei, wenn wir um bessere Zustände streiten, stellen wir immer die Systemfrage, gerade dann, wenn innerhalb des Systems bemerkbar wird, dass keine Veränderung umsetzbar ist. Naja, aber eine Demokratie sei ihr lieber, wandte sie ein. Als ob die Systemfrage antidemokratisch wäre. Das System in Frage zu stellen hat mit Demokratie wenig zu tun, überhaupt benutze die Ärzteschaft falsche Termini, sie spricht von Planwirtschaft und hin und wieder fällt das Wort vom Kommunismus, der sich im Gesundheitswesen breitmache, aber in Wahrheit ist es eine Art von Faschismus - Wirtschaftsfaschismus. Die Medizin ist ein wesentlicher Teil dieses Totalitarismus geworden, weil sie heute dazu genötigt wird (manchmal tut sie es auch aus freien Stücken mit Handkuss) zum Erhalt oder zur Wiederherstellung der Arbeitskraft zu kurieren. Dabei ginge es um viel mehr, nämlich um den Erhalt oder der Wiederherstellung der Lebensqualität, das umfasst mehr als den reinen Nutzenfaktor eines werktätigen Menschen bzw. den Unwert eines arbeitslosen Menschen.

Wenn die Ärzteschaft auf die Straße geht, um für eine gerechte Vergütung zu streiten, dann sei das ihr Recht, daran ist nichts auszusetzen. Aber sie darf das Ideal nicht aus den Augen verlieren, denn das ist die Grundlage ihrer Existenz, sie muß oder sollte auch dafür aufstehen, wieder der Lebensqualität dienen zu dürfen, nicht nur als reiner Geselle des Arbeitsmarktes fungieren zu müssen. Ja, es könne sicherlich gut sein, dass man mit falschen Begriffen hantiere, stimmte sie zu, um mir dann weiter zuzuhorchen. Es geht hier derzeit überhaupt Vieles schief, Opelaner kämpfen öffentlich um ihren Arbeitsplatz, Schüler und Studenten werden bald für einen neuen Bildungskodex streiken, Ärzte kämpfen für ihre Interessen. Es bedarf jedoch einer Zentralisierung des Aufbegehrens, dazu ist ein gemeinsamer Nenner nötig. Letztlich geht es allen die für ihre Partikularinteressen demonstrieren, um einen Wandel des Zeitgeistes, um eine Abkehr vom reinen Kosten-Nutzen-Denken, eine Abkehr von Verwurstung menschlicher Arbeitskraft. Leider gehe es aber immer noch nur einer Handvoll Menschen darum, die Wachstumsideologie, die vorallem unserem Planeten als Ganzem schadet, zu verwerfen. Jede Gruppe vor sich hinstreikend hat den sozialen Ansatzpunkt begriffen, der ökologische sei aber ebenso dringlich und ein Generalstreik müsse stattfinden, wenn nötig über Tage und Wochen. Die Jünger des menschen- und umweltverachtenden Profitdenkens müssen mürbegemacht werden. Und dabei spielt es auch keine Rolle, ob ein Generalstreik rechtlich verbürgt ist oder nicht; wenn das Volk streikt, kann die Staatsanwaltschaft nicht Männchen für die Mächtigen machen. Der Souverän steht auf, wenn es ihm beliebt, nicht wenn man es ihm erlaubt.

Gerade dann, als ich davon sprach, dass Ärzte zur Wahrung der Lebensqualität dazusein hätten, glaubte ich eine Art von Begreifen, jedenfalls eine Zustimmung in ihrer Mimik zu sehen. Ärztegespräche in diesen Zeiten, in denen uns Ärzte nur noch fitspritzen, uns die „schnelle Tablette“ verschreiben sollen, anstatt eine langwierige und kostenintensivere Basistherapie, die aber größeres Linderungspotenzial verspricht, anzuwenden, Ärztegespräche sollten heute mehr beinhalten als das eigene Wohlbefinden. Es geht um das Wohlbefinden einer ganzen Gesellschaft, es geht um Lebensqualität, denn das sei, so schloss ich, der wahre Fortschritt. Was habe uns ein System des freien Marktes gebracht, auf dem geforscht und entwickelt werden durfte und darf, aber durch den nicht bedingungslose Lebensqualität für jedermann gewährleistet sei? Fortschritt sei, wie es sich die Menschheit schon immer erträumt habe, das Aufheben von Nöten und Pein, die ein Leben oft heimsuchen – die Lebensqualität wieder ins Zentrum zu stellen, immer weiter auszubauen, das ist Fortschritt. Man sollte fortschrittlich denken, für Fortschritt demonstrieren, nicht den Rückschritt nur abfedern wollen, das ist zu wenig, man müsse beim Ideal bleiben, selbst dann, wenn es zunächst nicht umsetzbar erscheint.

Solange, das teilte ich ihr aber nicht mehr mit, die Ärzteschaft nur für die Behebung des Rückschritts protestiert, für deren eigenen Geldbeutel, ohne zu konkretisieren, dass man einen neuen Behandlungskodex verwirklicht wissen will, solange kann ich mich nicht solidarisch erklären. Das unterscheidet Schüler und Ärzte, beide in diesen Tagen auf der Straße vorzufinden, gewaltig voneinander. Erstere wollen, zumindest auf dem Papier, die Gesamtheit des Schulsystem verändert wissen, letztere nur eine kleine Auswahl von Unannehmlichkeiten; erstere geben sich fundamental, letztere pragmatisch; erstere können sich noch eine bessere Welt vorstellen, letztere sind in der besten aller möglichen Welten verankert – erstere machen Hoffnung, auch wenn sie sich manchmal unbewusst dennoch in falsche Diskussionen mit den Rückständigen verstricken; letztere sind hoffnungslose Fälle...

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Es eskaliert!

Donnerstag, 18. Juni 2009

Abgehalfterte und bald zum alten Eisen gehörende, gestrig werdende Politiker bezeichnen diejenigen, die bald einmal die Geschicke der Gesellschaft in die Hände nehmen sollen, als Gestrige; praktizieren diese immergleiche Methode der Diffamierung - so wie es rückständige und bornierte Ewiggestrige immer in ihrem eingebildeten Fortschrittseifer handhaben -, um die protestierende Jugend als irrgeleitete Wohlstandsrotznasen abzutun. Die Medienöffentlichkeit spricht großspurig und voreilig von Eskalation des Streiks, nur weil eine Handvoll junger Menschen zwei Bankfilialen besetzten, dort friedlich demonstrierten und ihre Finger in eine der tiefklaffenden Wunden dieser Gesellschaft steckten; einer Gesellschaft, die für Bildung und Sozialstandards kein Geld zur Verfügung haben will, aber für die Rettung der Bankenbranche Milliardensummen aus dem Nichts herbeizaubert. Wer in Wunden herumbohrt hat kein Anrecht darauf, als protestierendes Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden; wer in Wunden herumbohrt ist jemand, der Eskalation betreibt, ein Störenfried und Randalierer sein muß. Die Berichterstattung ist zögerlich, immerhin stehen da Deutschlands kommende Kunden, die zukünftigen Konsumenten halbwahrer Medienberichterstattung auf der Straße, aber zwischen den Zeilen ist lesbar, was in den oberen Etagen dieser Republik über die Unzufriedenheit der Jugend gedacht wird.

Und wie recht diese bornierten Kalkulationsexperten menschlicher Verwurstungsqualität doch haben, es eskaliert wieder einmal! Es eskaliert sogar wieder einmal dramatisch! Zuletzt in einem Hörsaal der Humboldt-Universität: Auftritt für den Gelegenheitsnationalspieler Christoph Metzelder. Er spricht über die "Bedeutung der Bildung bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise". Ein Sportler zum Anfassen glaubt man, jemand der mehr auf dem Kasten hat als stupides Gekicke. Was aber kaum öffentlich erwähnt wird: Metzelder pflegt beste Kontakte zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), tritt immer wieder als deren Werbefigur auf, läßt sich als Mietmaul unausgegorenen Wirtschaftsfaschismus' verpflichten. Und dieser Auftritt, eine Vorlesung vor 200 Studenten, ist eine solche Mietangelegenheit, ist eine Veranstaltung der INSM.

Was Metzelder dort von sich gibt ist kaum der Rede wert - wer die Ansprachen im INSM-Stil kennt, der weiß auch in etwa, was Metzelder von sich gab. So bedeutet sozial für ihn ehrenamtliches Engagement, Stiftungen und Privatinitiativen - von staatlicher Absicherung keine Spur: die erhalten nur Banken und Konzerne, der Rest soll in Suppenküchen speisen. Und wenn man schon Sportler ist, dann liegt es natürlich nahe, sein Herumstolpern auf dem Fußballplatz mit dem Gestochere der Wirtschaft gleichzusetzen. Überall herrsche schließlich Wettbewerb, bei Real Madrid ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt. Die einen verdienen Millionen, verpflichten sich nun einen Fußballer im fast dreistelligen Millionenbereich, die Opfer des anderen Wettbewerbs, die Arbeitsmarktopfer, erhalten spärliches Geld, können eben - wir bleiben bei Metzelders Weltsicht - bei den Tafeln vorstellig werden. Während junge Menschen auf den Straßen für die soziale Öffnung der Hochschulen protestieren, erzählt der Auswanderer etwas vom Leistungsprinzip und Chancengerechtigkeit - Lieblingsfloskeln der INSM. Soziale Öffnung ist für ihn ein Hirngespinst, denn wer etwas leistet, bringt es automatisch weit, schließlich gibt es ja Chancengerechtigkeit - wenn schon keine Chancengleichheit -, die ein pfiffiger Geist sicherlich ausnutzen wird.

Oh ja, es eskaliert wirklich - nur nicht dort, wo die Medien ihre Kameras draufhalten. Nicht in besetzten Banken, denn das ist nur konsequent und wäre in viel größerem Maßstab notwendig. Innerhalb der Hörsäle eskaliert es, dort nistet sich der Wirtschaftseinfluss mit immer größerer Penetranz ein, kommt sogar im Deckmäntelchen eines professionellen Fußballers daher. Einst sprach sich der DFB gegen die geistige Vernebelung durch Drogen aus, keine Macht den Drogen prangerte auf den Leibchen der Nationalmannschaft. Wenn aber heute ein Nationalspieler für eine total vernebelte, ewiggestrige Lobbygruppe auftritt, deren sektiererisch anmutenden und drogengeschwängerten Dauerwiederholungen herunterrattert, dann zählt dieser Slogan scheinbar nicht mehr. Es eskaliert und die INSM provoziert jene, die auf den Straßen stehen - nicht nur Banken sind zu besetzen, auch die Hörsäle solcher Antidemokraten.

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Nomen non est omen

Mittwoch, 17. Juni 2009

Heute: "Bedarfsgemeinschaft"

"Erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen."
- SGB II vom 24. Dezember 2003, § 2 "Grundsatz des Forderns", Seite 3 -

"Hausbesuch bei der Bedarfsgemeinschaft – Mit Hartz-IV-Kontrolleuren unterwegs"
- Schlagzeile im Handelsblatt vom 7. Juni 2005 -
Mit der Neuregelung des ALG II zum 1. Januar 2005 (auch Hartz IV genannt), wurde der Begriff "Bedarfsgemeinschaft" neu geprägt. Im technisch-funktionalen Bürokratendeutsch verschwindet der Mensch aus der Formulierung. Freunde, Ehepaare, Liebende, Geschwister – sie alle werden als eine "Gemeinschaft" klassifiziert, die sich nicht durch Individualität, Charakter oder Werte auszeichnet, sondern die schlichtweg einen finanziellen "Bedarf" hat. Der Mensch und sein soziales Umfeld als Kosten-Nutzen-Rechnung.

Der Begriff ist im SGB II ganze 55 mal enthalten. Im Kapitel 2 (Anspruchsvorraussetzungen) definiert das SGB II unter § 7 berechtigte folgende Personen zugehörig zu einer "Bedarfsgemeinschaft":

1.) Erwerbsfähige Hilfebedürftige

2.) Im Haushalt lebende Eltern

3.) Ehegatte oder Lebenspartner

4.) Kinder

5.) Freunde oder Bekannte im gemeinsamen Haushalt

Ob Eltern mit Kindern, Alleinerziehende, Ledige oder Jugendliche – das Arbeitsamt ("Jobcenter" ist ein Euphemismus!) interessiert sich nicht für die jeweiligen individuellen Bedürfnisse und sozialen Bindungen. Was interessiert, ist das materielle Vermögen der Verwandtschaft, von Freunden, Eheleuten usw., das eingezogen und angerechnet wird. Der technisch-funktionale Verwurstungs – und Repressionsapparat, den alle Empfänger zu spüren bekommen sowie die Aufrechterhaltung des sog. "Ernährer-Modells" werden damit vorangetrieben.

Insofern verfolgt der Begriff eine mehrgleisige Strategie. Zum einen verschwindet der Mensch aus der Sprache, so werden die gezielt gewollten Sanktions- und Repressionsmechanismen versteckt. Zum anderen, findet eine immense Verschleierungstaktik statt. Denn was eine Gemeinschaft wirklich braucht oder bedarf, interessiert das Arbeitsamt nicht. Der ALG II-Empfänger hat sich vielmehr den Anordnungen ("Bedürfnissen") des Arbeitsamtes, also des Gesetzgebers zu unterwerfen. Diese sind Beihilfe zur Fälschung der Arbeitslosenstatistiken, indem man an sogenannte "Maßnahmen" teilnimmt, die Offenlegung sämtlicher finanzieller Verhältnisse sowie die Aneignung des Habitus, man sei selbstverschuldet und eigenverantwortlich arbeitslos.

Dies ist ein Gastbeitrag von
Markus Vollack aka Epikur.

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Berichterstattung zur Berichterstattung

Montag, 15. Juni 2009

Der BILD-Zeitung guter Draht zu Ministerpräsidenten der Union, ist nicht erst seit Roland Kochs ausländerfeindlicher Kampagne bekannt. Schon Günter Wallraff berichtete Mitte der Siebzigerjahre, wie sich die Hannoveraner BILD-Redaktion dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht an den Hals warf. Immer wieder wurde seither mit den Unions-Landesvätern geklüngelt, geworben und deren Politik als das non plus ultra weitsichtiger Landesvaterschaft verkauft; immer wieder wurden in Bedrängnis geratene Schwarze, gerade dann wenn sie der jeweiligen Landesregierung vorstehen, von BILD gedeckt, geschützt und, falls man doch einmal fiel, wieder hochgeschrieben - man betrachte nur den Fall Dieter Althaus, dann weiß man, wie Hochschreiben in Reinkultur praktiziert wird. Kaum ist ein Unionspolitiker zum Landesvater geworden, sieht sich die BILD als Haus- und Hofberichterstatter, stellt keine kritischen Fragen - naja, das hat sie vor der Ministerpräsidentschaft auch kaum -, biedert sich an, berichtet vom privaten Idyll des Landesvaters. Ministerpräsidenten werden schöngeschrieben, wenn sie in der CDU oder CSU sind, dann sowieso.

Dass die Politik des Axel Springer-Verlages diejenige ist, die sich im konservativen und nationalistischen Dunstkreisen der Union niederschlägt, ist kein Geheimnis, erklärt vielmehr den Hang der BILD, zu Ehren gekommene Unionspolitiker zu veredeln. Wenn aber ein Ministerpräsident eine Liebesaffäre hat, eine wiederentflammte Flamme sozusagen, dann kann auch die BILD daran nicht vorbeigehen, dann muß auch sie, von jeher auf Skandalgeschichten getrimmt, auf den Zug aufspringen. Nur hat sie dann zaghafter, nicht zu kokett, mit Rücksicht auf die Angehörigen des Schwerenöters zu berichten. Wie man das macht, zeigt uns dieser Tage der Deutschen liebstes Blatt.

Am 10. Juni läßt es die Leser wissen, dass die Bunte über ein Liebes-Comeback spekuliere, nur um am Folgetag nachzulegen, dass nun auch noch die Bunte-Chefreporterin nachlege, die Spekulation anfache. Erneut einen Tag später, wir schreiben den 12. Juni, ereifert sich die BILD über die taz, die ansonsten Boulevard-Berichterstattung verdamme, jetzt aber an den Spekulationen zu Seehofer teilnehme, dafür keinerlei Belege liefere, was einer journalistischen Todsünde gleichkäme (sic!). Am 13. Juni berichtet BILD, dass die Abendzeitung und die SZ empörte CSU-Politiker zu Wort kommen ließen, die ein klärendes Wort vom Parteivorsitzenden verlangen würden. Tagsdrauf mokiert man sich darüber, dass man den CSU-Granden im Berliner Kurier verhöhne. Kurzum: BILD selbst äußert sich nicht dazu, berichtet nur, was andere berichten, tut ein wenig verurteilend, maßregelt die Berichterstattung der anderen, rümpft vornehm die Nase und gibt sich als außenstehender Beobachter ohne selbst Stellung zu beziehen. Die einzige Stellung die man bezieht ist die des moralischen Verurteilers, indem man die schreibende Konkurrenz des Boulevard-Journalismus beschuldigt - etwas, was die BILD natürlich nie betreiben würde.

BILD praktiziert eine Berichterstattung von der Berichterstattung, kann sich nebenbei entrüstend zur Konkurrenz äußern, das eigene Boulevard-Sündenregister vergessen machen. Nachher kann niemand in der Union sagen, die BILD hätte auch mit Schmutz auf diesen ehrenwerten Leistungsträger unserer Gesellschaft geworfen, sie sei als einzige sauber geblieben, habe ihre Leser lediglich darüber informiert, was in anderen Zeitungen dazu geäußert wurde. Wenn die polygame Szene aus dem Blätterwald herausgerauscht ist, dann berichtet BILD wieder selbst, zeigt wieder Familienfotos mit strahlenden Gesichtern, das Idyll des dann Geläuterten, der womöglich zurückfand zur Familie. So ist man es vom Hofberichterstatter schließlich gewohnt.

Nicht dass man nun meint, hier würde eine weniger verlogene Berichterstattung in Sachen Liebesleben des Ministerpräsidenten gefordert. Nein, es geht Dritte auch dann nichts an, mit wem dieser Herr sein Bett oder seine Betten teilt, wenn er ein hohes Amt dieser Republik innehat. Nur: Würde ein Politiker der LINKEN, würde ein Hartz IV-Empfänger ein solches Lotterleben führen, würde man weniger zimperlich "berichten". Daran sei hier (wieder einmal) erinnert.

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Sit venia verbo

„Meine Denkweise, sagen Sie, kann man nicht gutheißen. Nun, was interessiert mich das! Derjenige ist schön verrückt, der die Denkweise der anderen übernimmt! Die meine ist die Frucht meiner Gedanken; sie hängt ab von meinem Dasein, von meiner körperlichen und geistigen Anlage. Ich habe es nicht in der Hand, sie zu ändern. Wenn ich es könnte, täte ich es nicht. Diese Denkweise, die Sie rügen, ist der einzige Trost meines Lebens. Sie allein erleichtert meine Qualen im Gefängnis, sie allein macht meine Freuden in der Welt aus, und mir liegt an ihr mehr als an meinem Leben. Nicht meine Art zu denken hat mich ins Unglück gestürzt, sondern die der anderen.“
- Donatien Alphonse Francois, Marquis de Sade in einen Brief an Madame de Sade, Anfang November 1783 -

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Auffassungen eines Gewalttäters

Sonntag, 14. Juni 2009

Ja, ich gebe Ihnen ja uneingeschränkt recht, ich hätte nicht zuschlagen, ich hätte es so weit nicht kommen lassen dürfen. Aber was heißt eigentlich, ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen? Letztlich war sie es ja, die es bunt mit mir trieb, die es eskalieren ließ, meine letzten Reserven Contenance mit Füßen trat. Ich war nie gewalttätig, nie zuvor und ich behaupte kühn, ich werde es auch nicht mehr sein, wenn man mich nur halbwegs ordentlich behandelt. Sicher, in Gedanken habe ich schon manchen Leib ausgeweidet, mich in den Gedärmen meiner Peiniger gesuhlt; aber ich bitte Sie, im echten Leben wäre ich dazu eigentlich unfähig: wenn ich Blut sehe wird mir ganz flau im Magen und dessen Inhalt würde gerne auf dem Weg des Hereinkommens wieder an die Luft.

Neinnein, es war ein Moment der Schwäche, meine Fäuste ballten sich, ich spürte noch einen kurzen Moment der Besinnung, aber da flog die erste Faust schon Richtung Feind, prallte direkt auf die Nase der Dame, gleichzeitig sah ich die zweite Faust schon Richtung Wange heranschnellen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mit den Knien auf der Dame Schreibtisch aufhockte, der normalerweise ja soetwas wie eine natürliche Barriere darstellte. Für meine ununterdrückbare Wut war dieses Utensil meiner Entwürdigung, auf dem so viele Entscheidungen gegen mich, gegen meine Würde in die Wege geleitet wurden, kein Hindernis mehr. Ich kauerte auf der Schreibfläche, die mir zum Boxring geworden war, ließ einige Male die Fäuste herabschnellen, ich weiß nicht mehr wie oft, zweimal ganz sicher - aber ich denke, es war eine Schlagfolge, ich würde beinahe behaupten, die Anzahl der Schläge war zweistellig - und wusste hernach nicht sicher, was nun eigentlich geschehen war.

Einerlei wie oft. Gebrochene Nase, einige Schwellungen und Blutergüsse und ein ausgeschlagener Molar standen auf der Rechnung. Als sie da so verschwollen lag, stöhnend und heulend, versteckt hinter ihrem Koloss von Schreibtisch, da dämmerte es mir nach und nach. Das war also keine Szene aus einem schlecht inszenierten Film, kein faustrechtlicher Traum oder dergleichen, das war die Wirklichkeit; ich, eigentlich schon immer bekennender Pazifist, habe Gewalt am Nächsten praktiziert, habe meiner Arbeitsvermittlerin soeben, wie man es in der Gosse zu sagen pflegt, „gründlich die Visage poliert“. Einige Tage haderte ich mit mir selbst, nicht weil ich wegen Körperverletzung belangt werde, weil die herbeieilenden Polizisten mich wie einen Schwerkriminellen abführten, nein, weil ich etwas getan habe, von dem ich immer schwor, dass es mir nicht passieren würde. Egal wie tief ich auch sinke, egal wie sehr man mir auch zusetzt, du wirst deine Körperkräfte nicht hautaufplatzend und wundenreißend benutzen, diktierte ich mir immer wieder vor in Stunden, in denen die edle Moral Gegenstand meiner Reflexionen war.

Und ja, es war eine Dummheit, es war eine armselige Verfehlung, daran kann ich gar keinen Zweifel hegen, daran gibt es nichts zu deuteln. Und dennoch... ich habe es nicht so weit kommen, ich hätte die Wut eines Menschen niemals so weit anschwellen lassen. Der Dame machte das muntere Spiel aber große Freude, immer wieder, schon seit Jahren, seitdem ich in dieses herabsetzende Programm zur Arbeitslosenverwaltung gestolpert bin. Seit jenem Tag lebe ich am Existenzminimum, habe mich regelmäßig zu bewerben - was ich ja immer tat und auch weiterhin tue, weil ich mir ja doch noch ab und an erhoffe, noch einmal eine Lohnarbeit zu erhalten, die mir ein Leben oberhalb des Daseinsminimums erlaubt -, muß alles dafür tun, um wieder aus eigener finanzieller Kraft leben zu können. Aber meine Krankheit, dieser treue und chronische Begleiter, machte die Arbeitsplatzsuche natürlich nicht einfacher. Nichts Weltbewegendes, aber schmerzhaft und behindernd. Und so wühle ich mich seit Jahren durch verordnete Maßnahmen, gemeinnützige Arbeitsgelegenheiten und Bewerbungsmappen. Alleine dieses ständige Nein seitens potenzieller Arbeitgeber, Absage auf Absage, die immergleichen Formeln, "es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen...", dazu hundserbärmlich schlechte Seminar-Leiter bei fadenscheinigen Fortbildungskursen, die einem von der Behörde zwangsverordnet werden und die Ausbeutung bei gemeinnütziger Arbeit, die ich natürlich kostenlos anbieten muß, sind ausreichend, um jemanden den guten Willen und den Glauben an eine bessere Zukunft zu ruinieren.

Man stumpft ab, wird zum Widerborst, schreibt mechanisch Bewerbungen, hofft darauf, wenigstens die teuer bezahlte Bewerbungsmappe nach zwei bis drei Wochen per Absage zurückzuerhalten. Manche Mappen gehen in den Weiten des Bewerbungskosmos unwiederbringlich verloren, Absagen sind heute kein Standard mehr, man wird oft einfach ignoriert, man ist nicht einmal ein Antwortschreiben wert. Doch bleibt immer ein Körnchen Hoffnung, vielleicht klappt es ja doch, nur um am Ende abermals, umso heftiger, enttäuscht zu werden. Optimismus kann man sich in einer solchen Lage nicht leisten, denn wer optimistisch immer wieder enttäuscht wird, erleidet tiefere Wunden als jener, der gleich vom Schlechten ausgeht. Und dann kommt zu dieser ganzen Erniedrigung auch noch so eine Person daher, mit ihrem fetten Hintern auf gut gepolsterten Sesseln sitzend, sicher festgeschnallt im Staatsboot, krisensicher natürlich, Pension inklusive, lädt gelegentlich zu Gesprächen laut Paragraph soundso ein, tut ein wenig vornehm dienstleistend, um mir am Ende zu erklären, ich sei an meiner Misere selbst schuld. Warum, wieso, weiß ich nicht – wahrscheinlich, weil ich lange arbeitslos bin und daher wohl ein notorischer Faulpelz sein muß. Eine Vermutung nur, die heutzutage als Schuld alleine schon ausreichend sein kann.

Immer wieder, immer wieder der gleiche Zirkus. Bekam ich eine dieser Einladungen, stand mir der Angstschweiß auf der Stirn, konnte ich nachts nicht mehr schlafen, hatte Stressdurchfall und hätte alles darum gegeben, diese Momente der Schmach und Erniedrigung bereits hinter mir zu haben. Dann saß man in jenem Büro, und wahrscheinlich werde ich weiterhin dort sitzen, dann jedoch wohl nicht mehr bei der besagten Dame, denn die wird erstmal psychiatrisch behandelt, wie mir ihr Anwalt gestern mitteilte – wahrscheinlich werde ich zukünftig bei einem verbeamteten Ex-Profiboxer beraten und erniedrigt werden -,wie gesagt, dann saß ich da, mußte Rechenschaft über meine Eigenbemühungen abgeben, mich süffisant fragen lassen, warum es ausgerechnet bei mir nie klappt mit einer Stelle und dass es nun mal an der Zeit sei, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Mal indirekt, mal auch ungeniert unterstellte sie mir, ich würde die Bewerbungen so schreiben, dass sich kein Personalchef für mich interessieren müsse, sie sehe zwar von Sanktionen ab, weil sie keinen stichhaltigen Beweis dafür habe, aber ich sei durchschaut und meine Faulheit sei fortwährend Gegenstand ihrer zukünftigen Arbeit – was immer sie damit auch gemeint haben mag, ich war für sie fortan der Arbeitsverweigerer vom Dienst.

Eines Tages erhielt ich einen Vermittlungsvorschlag, wurde bei der dort erwähnten Firma auch vorstellig, wurde da dann gefragt, ob ich schwere körperliche Arbeit verrichten könne, was ich wegen meiner Krankheit verneinen mußte, und hatte bereits zwei Tage später in der Behörde anzutanzen. Was ich mir nur einbilde, mich mit Krankheiten herauszureden, wo ich mir nur diese Frechheit herhole und wie ich nun in der von ihr erlassenen Sanktionszeit zu überleben gedenke! Dabei das zynische Lächeln kultivierend, welches sie immer dann aufsetzt, wenn sie glaubt, im Namen der Gesellschaft Recht gesprochen zu haben. Von was genau ich mich indes "herauszureden" versuchte, war mir nicht schlüssig, ist mir heute noch schleierhaft. Hinweise auf Atteste, die sie von mir schon lange erhalten hat, auf mein Krankheitsbild, welches sie per Arztbrief in meinem Verwaltungsordner nachlesen könnte, wenn sie denn wollte, ließ sie nicht gelten. Natürlich, die Sanktion war hinfällig, ein kurzer Widerspruch und die Sache war vom Tisch, aber mir bereitete es schlaflose Nächte und einige entwässernde Einheiten Durchfalls. Ich fühlte mich in meiner Würde schwer verletzt, diese unterstellte Faulheit tat mir und tut mir immer noch weh - so wie mein Magen, der nun immer öfter schmerzhaft Laut von sich gab, wenn wieder einmal die Behörde, das heißt, diese Dame mit mir in Kontakt trat.

Angstzustände sollten mich zum regelmäßigen Besucher eines Psychologen werden lassen. Das heißt, ich besuchte nacheinander mehrere Psychologen, nachdem mir die zwei ersten Exemplare, ich hatte ihnen meine Geschichte und meine Angst vor dieser Frau bereits gründlich dargelegt, einen wärmenden Ratschlag gaben: Ich sollte mir das nicht zu sehr zu Herzen nehmen, die Frau mache ja schließlich auch nur ihren Job! Verdammt, aber ich nehme mir diese unwürdige Behandlung meiner Person so zu Herzen! Ich kann es nicht einfach abstellen, ich kann mich gegen diese Behandlung auch nicht wehren, das ist schon wahr, aber was man an sich heranläßt oder nicht, kann man nicht einfach rational abwägen. Es ist irrational darunter zu leiden, ohne wirklich etwas dagegen tun zu können – aber der Mensch, und ich bin einer, auch wenn ich schon seit Jahren nicht mehr wie einer behandelt wurde, neigt zur Irrationalität. Magenschmerzen, Angstzustände, Verschlechterung meines Gesundheitszustandes generell, schlechte Ernährung, soziale Ausgrenzung und daher Isolation: man hat ganze Arbeit an mir geleistet, ich bin ganz unten angekommen.

Mittendrin dann wieder Einladungen ins Büro der Arbeitsvermittlerin, ihr großkotziges Getue, Ausfragen meiner Person, „seien Sie ein bisschen optimistischer, mein Herr“ als weiser Ratschlag, „...und krank sehen Sie mir eigentlich gar nicht aus“ als freche Unterstellung, „...und Sie haben ja viel Zeit sich gesundzupflegen“ als zynische Abschlußnote dieser Veranstaltung. Irgendwann rutschte es ihr dann versehentlich – oder nicht? – heraus: Ich sähe gesund aus, nur weil man immer Schmerzen hat, muß man sowieso nicht krank sein, und überhaupt, viele Langzeitarbeitslose geben sich gerne als krank aus, weil ihre lange Vakanz von regelmäßiger Arbeit sie zu Hypochondern mache. Ich gebe zu, ich brach danach in Tränen aus. Was ist das hier eigentlich, dachte ich mir, ein großes KZ? Gelten meine gesundheitlichen Beschwerden denn gar nicht, bin ich wirklich zu einem Menschen dritter Klasse herabgewürdigt? Wann führt man mich ab, wann koste ich denen so viel, dass Erschießung zur Alternative wird? Gibt es denn niemanden mehr, der mich so nimmt wie ich bin? Ich fühlte mich alleingelassen, ich hatte ja niemanden mehr. Am Abend soff ich, heulte nochmals ausgiebig, schrieb einen Brief an die Arbeitsvermittlerin, in der ich ihr meinen Selbstmord in die Schuhe schob und... ja und... erwachte am nächsten Tag mit einer kleinen Wunde am rechten Handgelenk. Der Mut, oder die Feigheit, je nachdem, hatte mich verlassen, stattdessen schlief ich ein. Ich zerknüllte den Brief an die mörderische Dame natürlich, kaschierte meinen Suizidversuch mit Langarmhemden bei Hitzefrei-Wetter und machte weiter wie immer, nur dass ich innerlich gebrochen war, keine Lebenslust mehr verspürte, auch meine täglichen Spaziergänge in die Natur vernachlässigte und meinen Hass auf die Dame, die ich als Sinnbild der Menschenverachtung in meine Gedankenwelt erhoben hatte, vertiefte. Ich sah Bildfolgen vor meinem geistigen Auge: Stalin... Hitler... Pol Pot... Arbeitsvermittlerin. Sie war für mich dort eingeordnet, wo sie hingehört: in die Riege der Mörder. Hat sie mich denn nicht fast ermordet? War es nicht ihre Arroganz, ihre Herabwürdigung meiner Person, ihre Lust an der Erniedrigung, die mich nun mit langen Hemden durch die Hitze laufen ließ, sofern ich überhaupt noch die Wohnung verließ, versteht sich? Dies würde sie aber nie erfahren, das war mir bereits im Moment meines Wiedererwachens klar.

So ging es noch eine Weile weiter, ich bewarb mich erfolglos, durfte acht Wochen an einem Bewerbungstraining teilnehmen, weil ich ja, Originalton Arbeitsvermittlerin, „scheinbar zu doof sei, mich zu bewerben“. Indessen wurde mir bei meinen Besuchen in ihrem Büro unterstellt, ich sei ein Pessimist, den man nicht einstellen würde, weil er immer eine solche Trauermiene trüge. Ich versuchte zu erklären, wie es in mir aussähe, aber sie tat eine abfällige Handbewegung und meinte das sei Papperlapapp oder sowas in der Art, schließlich habe jeder seine Sorgen, auch sie selbst, aber sie sei doch auch immer freundlich, oder etwa nicht?, was bei mir nurmehr Sprachlosigkeit auslöste. Bei einem der letzten Gespräche unterstellte sie mir, ich habe scheinbar eiserne Reserven, weshalb ich es so lange aushalten würde mit diesen mickrigen Regelsätzen. Immerhin, sie gab wenigstens zu, dass man davon eigentlich nicht leben könne. Man würde höchstwahrscheinlich genauer überprüfen, wie ich meinen Alltag bezahle. Dann klingelte es einige Tage später an der Haustüre, ein Außendienstmitarbeiter der Behörde wollte eintreten, ich verwährte ihm den Eintritt und er plusterte sich auf, was mich aber nicht beeindruckte. Mittlerweile schämte ich mich für meinen Lebensstil bereits so sehr, dass ich nicht wollte, dass irgendwer meine Räume sieht, auch nicht dieser fast explodierende Behördenzwerg. Natürlich, wie sollte es anders sein, bekam ich prompt eine Einladung, wurde auch pünktlich vorstellig, nicht ohne vorher ausgiebigen Durchfall fabriziert zu haben und mußte mich schelten und mir unterstellen lassen, was ich wohl zu verbergen habe. Ich legte Rechtliches dar, sie bejahte zwar, aber guten Willen hätte ich dennoch nicht gezeigt, das würde sie sich merken. Raus jetzt!, war ihr letztes Wort an diesem Tage.

Mir setzte es immer mehr zu, zu meinen Angstzuständen gesellten sich Depressionen. Meine chronische Krankheit wurde akuter, ich hatte nun auch eine offizielle, das heißt vom Arzt ausgestellte Bestätigung, dass ich an einem Magengeschwür litt. Nochmal versuchte ich dem, was man mein Leben nennen könnte, ein Ende zu setzen; nochmal war ich nicht fähig dazu. Ich betrank mich nun häufiger, flüchtete mich in kleinere Räusche, um wenigstens etwas Optimismus erleben zu dürfen, wenn mich das Bier oder der Wein, je nachdem was im Sonderangebot war, von einer zweiten Chance auf dem Arbeitsmarkt und einen baldigen Urlaub in der Sonne des Südens träumen ließ. Ich litt unter Verfolgungsängsten, beim Einkaufen blickte ich mehrmals hinter mich, hoffentlich treffe ich niemanden, hoffentlich schwärzt mich niemand an, weil ich den teuereren Joghurt kaufe, was doch zweifelsohne meinen eisernen Reserven zugerechnet würde; Reserven die ich zwar nicht hatte, die man aber mit etwas Phantasie sicherlich am Einkaufsverhalten herbeivermuten könnte. Nein, ich war am Ende, ich bin es irgendwie immer noch, aber meine fliegenden Fäuste haben mir dennoch Zuversicht gegeben. Ich bin noch am Leben, ich habe noch Selbstwert. Als ihr Backenzahn durch den Raum flog, da wußte ich, dass ich noch eine Zukunft habe, dass mein Peiniger abgewirtschaftet hatte, freilich nur, um mir einen neuen Peiniger vor die Nase zu setzen. Gleichzeitig bereute ich es, denn ich habe meine politischen Überzeugungen verraten, meine Friedfertigkeit, die ich jahrzehntelang pflegte. Wer nimmt mir noch den Pazifisten ab? Obwohl, ist jener nicht ein dummer Pazifismus, der immer nur die andere Wange hinhält?

Jedenfalls hätte sie an diesem düsteren Tag nicht wieder anfangen sollen mich zu penetrieren. Als sie mich verächtlich fragte, wieviele Quadratmeter meine Wohnung eigentlich habe, da sah ich keinen Ausweg mehr. Die wollen mich ausquartieren, dachte ich, die wollen mich in ein noch kleinere Wohnung stecken, meinte ich. Dann geschah, was schon beschrieben wurde, dann fielen alle Hemmungen für einen kurzen Augenblick. Die Positionen hatten sich kurzzeitig verändert, nun saß ich oberhalb ihrer und erniedrigte sie, nun vergolt ich ihre Mordanschläge, nun riss ich dieser Justizvollzugsbeamten im Diensten der Arbeitsagentur die Maske der Verachtung vom Gesicht. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke, nie zuvor zeigten ihre Augen diesen Respekt, den sie mir in jenem Augenblick entgegenbrachten; nie zuvor fühlte ich mich von dieser Person so wahrgenommen, wie in diesem Moment wuchtiger Schläge; jetzt sah sie, dass ich noch da war, ein Mensch, ein Bündel von Gefühlen und Affekten, keine Nummer, kein Stück Vieh, keine Verfügungsmasse. Ich habe sie Demut gelehrt, wie sie sie mich jahrelang ebenso gelehrt hat. Quid pro quo. Ich habe begierig von ihr gelernt, wie man Menschenverachtung praktiziert, ich habe es auf mich wirken lassen, hatte bei ihr die beste Schulung, habe am Tage des Faustkampfes mein Gesellenstück in Erniedrigung gemacht.

Mir tut es leid, trotz allem, mir tut es leid für mich selbst. Für mich, der nun ein Gewalttäter wurde, obwohl er immer an das Gute im Menschen glaubte. Wer nimmt mir noch ab, immer noch so zu denken? Ich glaube immer noch daran, es scheint ein genetischer Defekt zu sein, der mich so denken und fühlen läßt. Auch wenn ich sie verdrosch, auch wenn ich mich von ihr losriss, so glaube ich auch an das Gute in ihr, weil ich an das Gute im Menschen glaube. Jetzt muß sie doch begriffen haben, dass auch in ihr etwas Gutes ist, freivibrierte durch die Rache des Erniedrigten. Aber für sie tut es mir erstmal nicht leid, ich mußte es tun, sonst hätte sie es getan, sie hätte mich getötet, zweimal setzte sie bereits an, mehrfach tat sie alles dafür, meine Pulsadern aufgeschnitten zu sehen, nur damit die öffentlichen Kassen Entlastung erfahren. Ich bin ein Schwein, keine Frage, ich habe eine Frau geschlagen, Frauenrechtlerinnen haben bereits in der Regionalzeitung angekündigt, gleichfalls gegen mich Anzeige zu erstatten. Als wäre mir das Frausein dieser Frau Grund genug gewesen. Meine Motive interessieren niemanden, nicht mal diejenigen, die sich heute Frauenrechtlerinnen nennen und früher selbst um neue Freiheiten fochten. Ich schlug mich um meine kleine Freiheit, aber das wird nicht anerkannt, ich bin ein Frauenschläger, obwohl ich nur die Charaktermaske des Systems vermöbelte. Ein Gewalttäter, obwohl er sich nur gegen die Gewalttäterin erhoben hat.

Dieses kleine Plädoyer habe ich im Suff geschrieben, ich werde es bei der Gerichtsverhandlung nicht halten. Man wird meine Motive nicht wissen wollen und wenn doch, wird man sie nicht verstehen, denn die Dame tat nur ihren Job und ich hätte mich ja juristisch wehren können. Aber zu den langwierigen Kämpfen durch die Widerspruchsstellen der Behörden fehlte mir seit geraumer Zeit die Kraft, für ein Paar Schwinger reichte sie gerade noch aus. Nein, ich schrieb diese Rechtfertigung nur für mich, ich wollte damit schließen, dass all das mein Verhalten nicht entschuldigt, aber die Tat erklärbar macht. Ich glaube aber, dass ein Richter, der diese Binsenerkenntnis hören würde, sich mein Verhalten dennoch nicht erklären könnte, deshalb schließe ich so nicht. Unsere Gerichte brüten nur über physische Gewalt, das was mit psychisch eingeimpft wurde, damit ich schlussendlich auch physisch darunter leide, hat keinen juristischen Verhandlungswert. So lese ich mir nun selbst, nachdem ich nochmals ein, zwei Gläschen geleert habe, mein Plädoyer vor – danach entschlummere ich und träume von einem Gerichtsprozess, der mich freispricht, von einem Richter der im Namen des Volkes verkündet, dass ich Opfer meines Umfeldes war und überdies in Notwehr gehandelt habe. Für eine Nacht wird mir dieser süße Traum Zufriedenheit schenken, dieses Leben wird dies nimmermehr zu tun vermögen...

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