Sit venia verbo
Dienstag, 17. März 2009
„Positive Kritik ist erlaubt, willkommen sogar. Sie ist systemimmanent. Um als Demokratie zu funktionieren, braucht das Regime Opposition, Kritik, Widerspruch. Aber eben: Widerspruch innerhalb des normierten Realitätsfeldes. Wer das System selbst in Frage stellt, wird pathologisiert.
Eine subtile Dialektik beherrscht das Feld. Das „normierte“ Verhalten steht nicht einfach dem „abweichenden“ gegenüber. Die „positive“ und die „negative“ Kritik stehen in einer komplexen, gegensätzlichen und stets umkehrbaren Beziehung zueinander. Der Systemgegner ist zunächst ein Störenfried, einer, der die Zelebrierung des Kultes stört; der Ungläubige zerreißt plötzlich den Vorhang und bringt eine Wirklichkeit an den Tag, die verborgen bleiben sollte. Der Gegner ist der Wiedertäufer, gleicht dem Mann im 16. Jahrhundert, der auf dem Platz von Münster den Mächtigen ins Gesicht schreit, sie seien Sünder und die Welt gehe unter.
Er wird so lange geduldet, als er zu bestimmten Stunden an dem für ihn vorgesehenen Platz erscheint, und unter der Bedingung, dass auch er rituelle Ausdrücke verwendet, die von denen, die ihm zuhören, vorgesehen sind. Doch sobald er sich anschickt, gegen die Institutionen vorzugehen, sobald er versucht, sich selbst Zugang zu den Entscheidungsinstanzen zu verschaffen, indem er ein unvorhergesehenes und der gesellschaftlichen Kontrolle sich entziehendes Projekt vorlegt, wird er ganz einfach gefährlich und wird verbrannt. Wie Thomas Müntzer.“
- Jean Ziegler, "Die Schweiz, das Gold und die Toten" -