Sit venia verbo

Montag, 8. September 2008

"Mit dem Auftauchen der ersten Maschine war allen denkenden Menschen klar, daß dadurch die Notwendigkeit menschlicher Mühsal und die aus ihr resultierende Ungleichheit aufgehoben war. Wenn die Maschine bewußt zu diesem Ziel eingesetzt wurde, dann konnten Hunger, Mehrarbeit, Schmutz, Analphabetentum und Krankheit binnen weniger Generationen ausgerottet werden. Und tatsächlich hob die Maschine, ohne zu einem solchen Zweck eingesetzt zu werden, allein durch eine Art automatischen Prozeß – indem sie eine Fülle produzierte, die manchmal unausweichlich verteilt werden mußte – den Lebensstandard des Durchschnittsmenschen ganz beträchtlich, und zwar für die Dauer von rund fünfzig Jahren am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.
Aber es war ebenfalls klar, daß ein allgemein wachsender Wohlstand die Fortdauer einer hierarchischen Gesellschaft bedrohte, ja, in gewissem Sinn ihren Untergang bedeutete. In einer Welt, wo jedermann Kurzarbeit leistete, genug zu essen, ein Haus mit Bad und Kühltruhe hatte und ein Auto oder sogar ein Flugzeug besaß, in einer solchen Welt wäre die offenkundigste und vielleicht wichtigste Form der Ungleichheit bereits verschwunden. Wurde Wohlstand erst einmal Allgemeingut, würde er keinen Rang mehr verleihen. Man konnte sich durchaus eine Gesellschaft vorstellen, in der der Wohlstand, im Sinne von persönlichem Besitz und Luxus, gleichmäßig verteilt war, während die Macht in den Händen einer kleinen privilegierten Kaste blieb. Doch in der Praxis konnte eine solche Gesellschaft nicht lange stabil bleiben. Denn wenn alle in der gleichen Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut verdummt sind, sich weiterbilden und selbständig zu denken lernen; und waren sie erst einmal soweit, würden sie früher oder später dahinterkommen, daß die privilegierte Minderheit keine Funktion besaß, und sie hinwegfegen. Auf lange Sicht war eine hierarchische Gesellschaft nur auf der Basis von Armut und Unwissenheit möglich. Zur Agrarstruktur der Vergangenheit zurückzukehren, wovon einige Denker zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts träumten, bot keine praktikable Lösung. Sie widersprach der Mechanisierungstendenz, die beinahe auf der ganzen Welt fast instinktiv eingesetzt hatte, und außerdem war jedes industriell rückständige Land in militärischer Hinsicht hilflos und dazu verurteilt, direkt oder indirekt von seinen technisch fortschrittlicheren Rivalen beherrscht zu werden.
Auch die Lösung, die Massen durch eine Drosselung der Warenproduktion in Armut zu halten, war nicht befriedigend. Dies war in großem Umfang während der Endphase des Kapitalismus, etwa zwischen 1920 und 1940, geschehen. In vielen Ländern ließ man die Wirtschaft stagnieren, Ackerland lag brach, Kapitalverschreibungen wurden nicht aufgestockt, große Bevölkerungsteile durften nicht arbeiten und wurden durch die Staatliche Wohlfahrt gerade noch am Leben erhalten. Aber auch das zog militärische Schwächen nach sich, und da die auferlegten Entbehrungen ganz offensichtlich unnötig waren, konnte die Opposition nicht ausbleiben. Das Problem war, wie man die Räder der Industrie in Schwung hielt, ohne den realen Wohlstand in der Welt zu heben. Waren mußten produziert werden, durften aber nicht zur Verteilung gelangen. Und praktisch ließ sich dies nur durch eine dauernde Kriegsführung erreichen."
- George Orwell, "1984" -

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP