In nuce

Donnerstag, 4. September 2008

Es ist unerträglich: Seit Tagen wird gegen sogenannte Sozialschmarotzer gewettert, werden Geschichten ins Land gesetzt, die an den Haaren herbeigezogen wirken, um alle, ausnahmslos alle, ALG II-Empfänger zu diskreditieren. An vorderster Front, wie immer wenn es um Geschmacklosigkeiten und Sozialdarwinismus geht: die BILD-Zeitung. "Der große Hartz-IV-Report" nennt sich die neueste "Serie" aus dem Hause Springer. Und was man da so lesen muß, ist derart hirnverbrannt und unglaubwürdig, dass man unwillkürlich dem Lachen verfällt - wenn es nur nicht so einen traurigen Nachgeschmack hätte! Da präsentiert man am ersten Tag dieser "journalistischen Meisterleistung" einen Arbeitslosen, der sich sogar noch fotografieren läßt - ja, sogar filmen! - und der unverblümt erzählt, wie genau er seine Leistungen erschleicht und wieviel er monatlich mit Schwarzarbeit verdient - und die arme Behörde ist vollkommen machtlos! -; tagsdrauf sind die Faulpelze und Parasiten jenseits der Oder dran, die dem braven Teutschen einfach ausbluten lassen; danach eine hanebüchene Geschichte von einer ALG II-Bezieherin, die 15 Untermieter gemeldet hatte in ihrer Wohnung - aber die Behörde könne nichts dagegen unternehmen; und dann darf freilich auch der Sex nicht fehlen, der im folgenden Teil der "sozialwissenschaftlich-springerschen Analyse" behandelt wird, welcher schmarotzende Prostituierte dokumentiert. Dass es unter anderem zweifelhaft erscheinen muß, wenn ein Arbeitsloser sich derart schamlos zeigt, dass dieser Herr entweder ein vollkommen verblödeter Aufschneider ist, oder aber - und dieser Verdacht liegt bei BILD näher - einfach ein bezahlter Laiendarsteller, muß doch geradezu ins Auge stechen; von seltsamen Geschichten über Heere von Untermietern und dergleichen mehr, ganz zu schweigen. Und dass diese ständige Wiederholung von der angeblichen Machtlosigkeit der Behörden instrumentalisiert wird, um den Behörden bald noch mehr Handlungsspielraum zu geben, dürfte auf der Hand liegen.
Gleichermaßen baut BILD das gesamte Zeitungskonzept - wenn es dort soetwas überhaupt gibt - auf diese "neue Serie" auf. Zwischendrin finden sich immer, schön in Stürmer-Manier gehalten - man will ja Traditionen wahren -, Anfeindungen und moralische Bekenntnisse zum "ehrlichen Arbeitslosen", damit auch dem letzten Idioten begreifbar wird, wie notwendig es die korrumpierbare Masse der Arbeitslosen hat, ständig ermahnt zu werden. So findet sich darin also auch heute ein seltsamer Artikel, in dem erzählt wird, dass Michel Friedman auf einen Rapper namens Sido traf - wen das interessiert, warum das einer Nachricht wert ist, bleibt schleierhaft! -, um miteinander zu diskutieren. Und dann läßt Friedman einen Satz fallen, der wunderbar ins Geflecht der BILD-Moral paßt: "Michel Friedman anerkennend über Sido zu BILD zu: „Er hat mich in vielen Momenten überrascht. Besonders, als er sagte, dass es unerträglich ist, wie einfach Arbeitslosen der Hartz-IV-Betrug gemacht wird." - Dieser Herr Sido scheint ein sehr braver Rapper zu sein. Mir war so, als ob die ganze Rapper-Gilde vor vielen Jahren als autoritätsverweigernde und teils anarchistische Clique verpönt war - scheint ein Gerücht gewesen zu sein. Herr Sido biedert sich an, rappt vielleicht bald dahingehend durch die Lande, mit seinen "Texten" den Menschen klar zu machen, dass sie nicht schmarotzen dürfen. Schließlich braucht das alimentierte Gesindel einen solchen Guru, der ihnen immer wieder eindringlich klarmacht, dass die Gesetze auf den Steintafeln strikt zu befolgen sind - sie brauchen eben ständige Überwachung und Mahnung. Hat der Name "Sido" und das Wort "Kapo" einen gemeinsamen etymologischen Ursprung?

Sarah Palin heißt die republikanische Kandidatin für die US-Vizepräsidentschaft. Diese Mitteilung ist so banal wie belanglos, denn das US-amerikanische Politsystem hat geschafft, was der Traum sovieler Demokraten immer war: Die Entpersonalisierung der Politik. Heute ist es in den USA - mehr denn je - gleichgültig, ob ein Präsident Obama, McCain, weiterhin Bush, (durch Aufhebung des 22. Zusatzartikels), vielleicht Schwarzenegger (durch die Schaffung eines 28. amendments) oder Jay Leno, Billy Crystal oder Robert De Niro heißt. Alle sind, im Falle einer Präsidentschaft, ihrer Persönlichkeit enthoben und praktizieren Politik so, wie es in den Vorstandsbüros diverser US-amerikanischer Global Player beschlossen wird.
Aber dies soll an dieser Stelle nicht behandelt werden, wichtiger erscheint uns an der Nominierung der "Person" Palin - besser: der Funktionsträgerin Palin -, wie sie nun in den USA, aber freilich auch im 51. Bundesstaat - der Bundesrepublik - begutachtet wird. Natürlich wird sie hierzulande härter rangenommen als Obama, immerhin verspricht man sich von letzteren eine Welt der Liebe und der Freude; immerhin müsse man den schwarzen Präsidentschaftskandidaten, der das Werk Martin Luther Kings vollenden will, beistehen - auch wenn sich King nie für eine Dominanz der Schwarzen einsetzte, ihm demnach egal war, welche Hautfarbe ein US-Präsident haben sollte, solange er sich mitmenschlich gegenüber allen Menschen - und das farbenblind! - verhält. Fundierte Kritik an Palin ist aber selten, denn die Werte, die diese Dame vertritt, sind Werte nach alter Väter Sitte - Werte, die auch bestimmte deutsche Tageszeitungen vertreten oder diverse deutsche und allzudeutsche Parteien. Und, das muß man anerkennen, diese Werte tragen Früchte im Umfeld Palins - wenigstens teilweise. So spricht sie sich gegen sexuelle Aufklärung an Schulen aus, was ihre siebzehnjährige Tochter gleich in die Tat umsetzte - sie erwartet ein Baby, war wohl zu wenig aufgeklärt. Was ihr der Vater des Kindes wohl erzählt hat, was er da mit ihr macht, als sich beide nackt im Bett tummelten? Vielleicht hat er ihr erzählt, dass nur im Kuss die Saat der Schwangerschaft liege.
Und genau das ist der Kritikpunkt, dem man sie aussetzt. Nein, nicht die fehlende Aufklärung, denn die war wundervolles Produkt konservativer Pädagogik - das Resultat stößt übel auf, die Schwangerschaft! Als ob er verwerflich wäre, dass dieses junge Ding sich ein wenig Freude außerhalb ihres ach so spießigen, erzkonservativen Elternhauses gegönnt hat - man versteht das Mädchen! Aber weiter: Palin will Programme fördern, die Jugendliche zur sexuellen Askese anhalten - ein Konzept, das natürlich im Falle ihrer Tochter gescheitert ist. Desweiteren ist sie strikte Abtreibungsgegnerin, auch in Fällen von Vergewaltigungs- und Inzestschwangerschaften - welches Glück für Tochter Palin! Oder Pech? Dass sie gleichgeschlechtliche Partnerschaften ablehnt und die Todesstrafe für eine zivilisatorische Errungenschaft erachtet, versteht sich natürlich von selbst.
Sie ist freilich keine kuriose Erscheinung innerhalb der Republikaner, aber doch Sinnbild für die Heuchlerei, die über dem Großen Teich immer noch zuhause ist. Da gibt man sich einerseits weltoffen, will mit den dortigen Konzernen die Welt erobern und die Menschen dieser Erde - die Konsumenten dieser Erde - für sich gewinnen, aber gleichzeitig steckt man in spießbürgerlichen Schuhen, flüchtet sich in semi-amische Moralvorstellungen. Und eben weil die Moral innerhalb der Palins nicht groß geschrieben wird, weil die Tochter doch tatsächlich schon sexuellen Kontakt hatte - man fragt sich wie amerikanische Konservative zu Welt kommen -, steht sie in der Kritik. Aber die Republikaner sind eben besorgt. Man stelle sich vor, ein Mitglied einer sexuell entarteten Familie bekleidet ein politisches Amt - da könnte man ja gleich einen Ex-Alkoholiker zum US-Präsidenten küren!

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