Ansichten eines Büttels
Dienstag, 23. September 2008
Natürlich kann ich mich wieder im Spiegel ansehen. Und was heißt denn da „wieder“? Konnte ich immer, heute wie damals. Ihr jungen Leute müßt immer gleich mit moralischen Vorwürfen aufkreuzen. Dabei wisst ihr gar nicht, wie es damals war!
Sicher, Sie haben recht, die Geschichte hat uns als Irrtum abgestempelt und, nebenbei bemerkt, wir haben dafür auch bezahlt. Wissen Sie eigentlich, welche Auflagen einem sogenannten „Kollaborateur“ danach gemacht wurden? Ich hatte Glück... das heißt vielmehr: ich hatte mir nichts zu Schulden kommen lassen. Bin deswegen auch in zweiter Instanz von der Kommission zur Vergangenheitsüberprüfung freigesprochen worden.
Wie bitte? Achso, ja, da sprechen Sie den wunden Punkt meines Berufslebens an. Ich durfte wirklich nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten, meine Karriere als Sachbearbeiter war nach dem Umsturz beendet. Ich hatte diese Arbeit gerne gemacht; sie war mir Berufung. Später durfte ich Akten in Regale ordnen und Papiere abheften - der berufliche Umgang mit Menschen war mir ab da strikt verboten. Aber ich muß trotzdem zugeben, Glück gehabt zu haben. Andere - Kollegen von mir, wenn man das so bezeichnen will - wurden ja sogar wegen versuchten Mordes eingesperrt. Ich las damals voll Erstaunen, dass man einige Unglückliche sogar wegen Mordes, nicht nur wegen des angeblichen Versuches dazu, zu lebenslanger Haft verurteilt hat.
Zurecht? Ich bitte Sie! Wir haben damals nur das geltende Recht angewandt. Jemanden die finanzielle Grundlage zu entziehen war eben Usus. Frei darüber entscheiden durften wir nicht; immerhin gab es dieses ominöse Gesetzbuch, dessen Namen - oder Abkürzung besser gesagt - man ja heute als Inbegriff sozialpolitischer Teufelei brandmarkt. Außerdem ist das Entziehen der finanziellen Mittel bei weitem kein Mord...
... einem das Brot entziehen? ... in eine schlechte Wohnung stecken? Ach, Sie zitieren Brecht, nicht wahr? Hören Sie mir mit dem auf! Überhaupt sollten Sie hier nicht so dreist anderer Leute Hirngespinste runterbeten. Ich habe mich nie als potenzieller Mörder gefühlt, ganz einfach deshalb nicht, weil ich keiner war. Das Gesetz gab mir die Mittel in die Hand und ich mußte sie anwenden. Punkt - so war das eben! Hören Sie nochmals ganz genau zu, junger Mann: Ich mußte sie anwenden. Ich mußte! Verstehen Sie das?
Ja, schon richtig, ich habe vorhin gesagt, dass meine Stellung als Sachbearbeiter – Fallmanager nannte man das seinerzeit, um genau zu sein – einer Berufung gleichkam. Ach bitte... nur weil ich gerne meinen Dienst getan habe, soll ich Mitschuld tragen? Überlegen Sie doch mal: Wäre ich dort nicht gesessen, dann halt ein anderer - vielleicht einer, der wirklich einen sogenannten Mord begangen hätte. Warum hätte ich mir also Gedanken um mein Gewissen machen sollen? Was hätte mein Gewissen denn getan, wenn ich gekündigt hätte und ein anderer, viel schlimmerer Kollege, hätte mein Aufgabenfeld übernommen? Hätte ich den Kollegen beseitigen sollen, um meinem Gewissen erneut Befriedigung zu verschaffen? Sehen Sie es doch einmal so: Ich hatte ein reines Gewissen, nicht obwohl ich dort meinen Dienst tat, sondern weil ich es tat. Ich habe den Posten besetzt, um keinen Menschenfeind dort zu wissen... Ich verbitte mir diesen Zynismus! Verstanden? Ich war kein Held, ich tat meinen Dienst.
Ach, jetzt hören Sie doch auf! Wir wurden doch nie gefragt! Eines Tages verkündete die damalige Politik, dass man einen neuen Kurs einschlagen müsse. Und dann dauerte es nicht mehr lange und man hatte die Arbeitslosen mittels einem Verwaltungsprogramm... Wie? Ja, sehr wohl: ein Verwaltungsprogramm! Eure Generation hat erst den Begriff „bürokratisches Ermorden“ ersonnen; damals sprach niemand sowas aus. Genauer gesagt war dieses Programm äußerst beliebt. Was? Sie glauben es nicht? Müssen Sie auch nicht. Ich sage Ihnen noch was: Sogar die Betroffenen selbst waren große Anhänger dieses Programmes.
Damals fanden freilich Attentate auf Sachbearbeiter statt – das leugne ich gar nicht. Aber nein, junger Mann, dies widerlegt meine Erfahrung - wonach die Betroffenen des Verwaltungsprogrammes Anhänger desselbigen waren - nicht. Ganz im Gegenteil: Diese Attentäter sind sogar notwendig, um meine These zu belegen. Sie waren die Ausnahme, die die Regel erst zur Regel machten. Überhaupt sollten Sie sich einmal fragen, wen Sie hier so moralisch in die Zange nehmen. Ich meine, meinesgleichen hat niemals den Knüppel benutzt, die Arbeitslosen der damaligen Tage aber immer wieder mal. Sie verteidigen vielleicht die falschen Positionen, meinen Sie nicht?
Natürlich habe ich einigen Verweigerern - aber ich möchte schon festhalten: nur den Totalverweigerern - die Mittel entzogen. Es war so vorgeschrieben. Ich konnte, selbst wenn ich gewollt hätte, nichts dagegen unternehmen. Ob ich Freude daran hatte? Ha, was wollen Sie wohl hören? Soll ich es zugeben, damit Sie bestätigt sehen, welches Monster ich doch bin? Von mir aus: Ja, ich hatte Freude daran - aber nicht bei allen Sanktionen, die ich aussprechen mußte.
Beispiele? Bei wem es mir nicht leidtat? Lassen Sie mich mal überlegen... Achja: Da gab es einen Mann, der ist immer in mein Büro gehumpelt, war angeblich krank. Naja, er war es nicht nur angeblich. Ich glaubte es ihm auch. Aber er kann doch nicht einfach einen Arbeitsplatz abschlagen, und sich damit entschuldigen, dass er keine sieben Stunden stehend arbeiten kann. Mir tat es leid um ihn, aber die Größe eines Angestellten, der von der Gesellschaft dazu auserwählt ist, Verwaltungsarbeit zu tätigen, läßt sich am Pflichtgefühl messen. Ich konnte doch nicht einfach meine persönlichen Gefühle heranziehen, um diesen Menschen straffrei zu belassen - das wäre förmlich anmaßend gewesen.
Was aus ihm geworden ist? Hören Sie, das ist alles lange her – Jahrzehnte mittlerweile. Er nahm sich das Leben, sagen Sie? Woher wollen Sie das wissen? Schwarz auf weiß? Und ich soll davon gewußt haben? Wie gesagt, das ist alles lange her... Zeigen Sie mir doch mal das Papier... ja, meine Unterschrift ist das schon. Naja, kann schon sein, dass man mich damals mit diesem tragischen Fall konfrontiert hat. Wir mußten doch wissen, wer noch zu betreuen war und wer nicht. Also war eine solche Meldung unumgänglich. Einem Toten Einladungen schicken...
Hören Sie auf! Deswegen bin ich doch aber kein Mörder! Sie sagten doch selbst: Selbstmord! Habe ich ihn etwa dazu gezwungen? Habe ich es ihm vielleicht auch nur angeraten? Nein, nein, nun sind wir die Schuldigen, obwohl wir genauso Opfer waren, wie diejenigen, die sich heute als „Opfer des neoliberalen Regimes“ eintragen lassen können.
Selbstmitleid? Selbstmitleid? Pah, was wissen Sie schon? Sehen Sie, wenn da ein Familienvater kam, der eine Arbeitsstelle fern der Heimat nicht antreten wollte, weil er sentimental genug war, seiner Familie einen höheren Stellenwert einzuräumen, als der Solidargemeinschaft, die für ihn und die Seinen aufkommen mußte, dann tat einem das als Mensch schon leid... Wie? Natürlich mußte ich ihm eine Sanktion zukommen lassen. Meine Gefühle waren nicht maßgebend – maßgebend war das Gesetz. Aber man war eben doch Mensch - und litt zuweilen darunter.
Ja, ich habe damals gut geschlafen. Warum? Sollte ich schlecht geschlafen haben, nur weil ich meine Arbeit gemacht habe? Ich sagte doch schon, dass ich so schonend mit meiner Kundschaft war, wie nur... ja, ganz recht: Kundschaft! Wieso lachen Sie? Immerhin haben wir dem Dienstleistungssektor angehört; haben für unsere Kunden etwas getan. Aber Kunden sind oft sehr undankbar, das haben wir schnell erfahren müssen. Lassen Sie mich bitte fortfahren: Ich war ein schonender Vertreter meiner Zunft. Andere waren weitaus schlimmer. Wie schlimm, habe ich aber erst nach dem Umsturz erfahren. Glauben Sie mir, ich war auch schockiert. Wir haben ja alle nichts gewußt! Aber deswegen war doch damals nicht alles schlecht, nur weil einige es maßlos übertrieben haben.
Ja, man hat mir vorgeworfen, regionale Unternehmen, deren Besitzer ich privat kannte, mit billigen Arbeitskräften und damit verbunden, mit staatlichen Subventionen, unterstützt zu haben. Ob der Vorwurf begründet war? Sehen Sie es doch einmal objektiver: Wenn Sie einem Freund einen guten Dienst tun können und dieser gute Dienst bereichert auch noch einen Dritten, was ist dann daran auszusetzen?... Natürlich bereicherte es Dritte! Denjenigen nämlich, den ich dorthin vermittelt habe! Wie können Sie nur behaupten, dass meine Dienste wertlos waren? Es ist geradezu dreist von Ihnen zu behaupten, der in Arbeit gekommene Kunde hätte keinerlei Nutzen davon gehabt. Immerhin hatte er Arbeit und das war schon mal was. Aber die meisten wollten dieses Angebot ja gar nicht annehmen...
Hetze? Was Sie hier Hetze nennen – nach dem Umsturz hat man ja oft von dieser angeblichen Hetze geredet -, war die bittere Realität. Was die Tageszeitungen damals schrieben war Tatsache. Ich konnte alle Geschichten von den Tricks und Raffinessen der Arbeitslosen unterschreiben, habe alles so oder ähnlich auch selbst erlebt. Die meisten Arbeitslosen waren einfach faul, haben einen ordentlichen Tritt gebraucht. Ich könnte Ihnen Sachen erzählen! Aber wozu? Man glaubt uns heute sowieso nicht mehr.
Junger Mann, Sie müssen nicht so erstaunt den Kopf schütteln. Sie waren damals nicht dabei. Nebenbei: Wie alt sind Sie eigentlich?... Dachte ich mir. Jung, aber vorwitzig genug, mir das Gefühl zu geben, ein ganz besonderer Exot aus einer längst vergangenen Zeit zu sein. Ich komme mir vor wie ein Wilder – Sie machen einen Wilden aus mir. Damals hätte man uns nie als Wilde oder Asoziale bezeichnet, wie man es dann danach immer wieder tat. Fehlgeleitete hat man uns genannt. Ich sagen Ihnen was, hören Sie genau hin: Wir haben uns damals geirrt. Aber nicht, weil wir uns geirrt haben im Inhalt unseres Tuns, sondern weil die Zeit noch nicht reif war, einen neuen, auf Disziplin bedachten Menschentypus zur Wirklichkeit werden zu lassen. Die Welt war ja damals noch immer kommunistisch verseucht...
Sehr wohl: Disziplin. Da haben Sie schon ganz richtig gehört! Wenn ich Ihresgleichen schon höre! Da schwingen Sie wundervolle Reden, erklären, dass wir seinerzeit hätten rebellieren sollen. Individuelles Gewissen und dergleichen mehr! Alles Quatsch! Jeder Mensch - auch Sie! - hat eine Aufgabe, die er zu erfüllen hat. Meine Aufgabe war seinerzeit das, was wir hier besprochen haben. Daran gab es nichts zu deuteln. Ich war mir meiner zugeteilten Aufgabe bewußt, meine Kunden leider nicht immer. Im Leben kann man sich nicht aussuchen, was einem angenehm ist und was nicht. Man ist da und man tut – das ist die ganze Wahrheit. Moral ist eine Kategorie für Nichtsnutze, die Zeit haben, sich solche Kategorien zu erfinden. Von diesem Ehrgefühl weiß Ihre Generation leider nichts mehr. Deshalb glaubt ihr ja, dass ihr uns wie Verbrecher behandeln dürft! Wir sind für euch Verbrecher, weil wir Ehrgefühl hatten.
Oder besser gesagt: Wir waren Verbrecher! Denn viele sind wir nicht mehr. Bei der letzten Jahreszusammenkunft der ODESSA (Anmerkung des Aufzeichners: Organisation der ehemaligen SGB-Sachbearbeiter der ArGen) waren nur noch einige hundert Mitglieder anwesend. Traurig? Natürlich! Aber nicht wegen mir. Wer weiß wie lange ich dieses Leben als geächteter Verbrecher der Vergangenheit noch ertragen muß... nein, wegen euch! Ihr werdet uns vermissen, dessen bin ich mir felsenfest sicher. Euch werden früher oder später Staatsbedienstete fehlen, die ihr eigenes Gewissen ausschalten, die kollektiv denken, nicht fragen sondern tun – ihr werdet unserer liebevolle gedenken.
Sagen Sie niemals nie! Der Zeitgeist hat uns schon einmal zu Teufeln verklärt. Warum sollte er sich nicht noch einmal wenden? Wir waren Sieger, wurden Verlierer – und womöglich macht uns der Ozean der Zeit erneut zu Gewinnern...
Sicher, Sie haben recht, die Geschichte hat uns als Irrtum abgestempelt und, nebenbei bemerkt, wir haben dafür auch bezahlt. Wissen Sie eigentlich, welche Auflagen einem sogenannten „Kollaborateur“ danach gemacht wurden? Ich hatte Glück... das heißt vielmehr: ich hatte mir nichts zu Schulden kommen lassen. Bin deswegen auch in zweiter Instanz von der Kommission zur Vergangenheitsüberprüfung freigesprochen worden.
Wie bitte? Achso, ja, da sprechen Sie den wunden Punkt meines Berufslebens an. Ich durfte wirklich nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten, meine Karriere als Sachbearbeiter war nach dem Umsturz beendet. Ich hatte diese Arbeit gerne gemacht; sie war mir Berufung. Später durfte ich Akten in Regale ordnen und Papiere abheften - der berufliche Umgang mit Menschen war mir ab da strikt verboten. Aber ich muß trotzdem zugeben, Glück gehabt zu haben. Andere - Kollegen von mir, wenn man das so bezeichnen will - wurden ja sogar wegen versuchten Mordes eingesperrt. Ich las damals voll Erstaunen, dass man einige Unglückliche sogar wegen Mordes, nicht nur wegen des angeblichen Versuches dazu, zu lebenslanger Haft verurteilt hat.
Zurecht? Ich bitte Sie! Wir haben damals nur das geltende Recht angewandt. Jemanden die finanzielle Grundlage zu entziehen war eben Usus. Frei darüber entscheiden durften wir nicht; immerhin gab es dieses ominöse Gesetzbuch, dessen Namen - oder Abkürzung besser gesagt - man ja heute als Inbegriff sozialpolitischer Teufelei brandmarkt. Außerdem ist das Entziehen der finanziellen Mittel bei weitem kein Mord...
... einem das Brot entziehen? ... in eine schlechte Wohnung stecken? Ach, Sie zitieren Brecht, nicht wahr? Hören Sie mir mit dem auf! Überhaupt sollten Sie hier nicht so dreist anderer Leute Hirngespinste runterbeten. Ich habe mich nie als potenzieller Mörder gefühlt, ganz einfach deshalb nicht, weil ich keiner war. Das Gesetz gab mir die Mittel in die Hand und ich mußte sie anwenden. Punkt - so war das eben! Hören Sie nochmals ganz genau zu, junger Mann: Ich mußte sie anwenden. Ich mußte! Verstehen Sie das?
Ja, schon richtig, ich habe vorhin gesagt, dass meine Stellung als Sachbearbeiter – Fallmanager nannte man das seinerzeit, um genau zu sein – einer Berufung gleichkam. Ach bitte... nur weil ich gerne meinen Dienst getan habe, soll ich Mitschuld tragen? Überlegen Sie doch mal: Wäre ich dort nicht gesessen, dann halt ein anderer - vielleicht einer, der wirklich einen sogenannten Mord begangen hätte. Warum hätte ich mir also Gedanken um mein Gewissen machen sollen? Was hätte mein Gewissen denn getan, wenn ich gekündigt hätte und ein anderer, viel schlimmerer Kollege, hätte mein Aufgabenfeld übernommen? Hätte ich den Kollegen beseitigen sollen, um meinem Gewissen erneut Befriedigung zu verschaffen? Sehen Sie es doch einmal so: Ich hatte ein reines Gewissen, nicht obwohl ich dort meinen Dienst tat, sondern weil ich es tat. Ich habe den Posten besetzt, um keinen Menschenfeind dort zu wissen... Ich verbitte mir diesen Zynismus! Verstanden? Ich war kein Held, ich tat meinen Dienst.
Ach, jetzt hören Sie doch auf! Wir wurden doch nie gefragt! Eines Tages verkündete die damalige Politik, dass man einen neuen Kurs einschlagen müsse. Und dann dauerte es nicht mehr lange und man hatte die Arbeitslosen mittels einem Verwaltungsprogramm... Wie? Ja, sehr wohl: ein Verwaltungsprogramm! Eure Generation hat erst den Begriff „bürokratisches Ermorden“ ersonnen; damals sprach niemand sowas aus. Genauer gesagt war dieses Programm äußerst beliebt. Was? Sie glauben es nicht? Müssen Sie auch nicht. Ich sage Ihnen noch was: Sogar die Betroffenen selbst waren große Anhänger dieses Programmes.
Damals fanden freilich Attentate auf Sachbearbeiter statt – das leugne ich gar nicht. Aber nein, junger Mann, dies widerlegt meine Erfahrung - wonach die Betroffenen des Verwaltungsprogrammes Anhänger desselbigen waren - nicht. Ganz im Gegenteil: Diese Attentäter sind sogar notwendig, um meine These zu belegen. Sie waren die Ausnahme, die die Regel erst zur Regel machten. Überhaupt sollten Sie sich einmal fragen, wen Sie hier so moralisch in die Zange nehmen. Ich meine, meinesgleichen hat niemals den Knüppel benutzt, die Arbeitslosen der damaligen Tage aber immer wieder mal. Sie verteidigen vielleicht die falschen Positionen, meinen Sie nicht?
Natürlich habe ich einigen Verweigerern - aber ich möchte schon festhalten: nur den Totalverweigerern - die Mittel entzogen. Es war so vorgeschrieben. Ich konnte, selbst wenn ich gewollt hätte, nichts dagegen unternehmen. Ob ich Freude daran hatte? Ha, was wollen Sie wohl hören? Soll ich es zugeben, damit Sie bestätigt sehen, welches Monster ich doch bin? Von mir aus: Ja, ich hatte Freude daran - aber nicht bei allen Sanktionen, die ich aussprechen mußte.
Beispiele? Bei wem es mir nicht leidtat? Lassen Sie mich mal überlegen... Achja: Da gab es einen Mann, der ist immer in mein Büro gehumpelt, war angeblich krank. Naja, er war es nicht nur angeblich. Ich glaubte es ihm auch. Aber er kann doch nicht einfach einen Arbeitsplatz abschlagen, und sich damit entschuldigen, dass er keine sieben Stunden stehend arbeiten kann. Mir tat es leid um ihn, aber die Größe eines Angestellten, der von der Gesellschaft dazu auserwählt ist, Verwaltungsarbeit zu tätigen, läßt sich am Pflichtgefühl messen. Ich konnte doch nicht einfach meine persönlichen Gefühle heranziehen, um diesen Menschen straffrei zu belassen - das wäre förmlich anmaßend gewesen.
Was aus ihm geworden ist? Hören Sie, das ist alles lange her – Jahrzehnte mittlerweile. Er nahm sich das Leben, sagen Sie? Woher wollen Sie das wissen? Schwarz auf weiß? Und ich soll davon gewußt haben? Wie gesagt, das ist alles lange her... Zeigen Sie mir doch mal das Papier... ja, meine Unterschrift ist das schon. Naja, kann schon sein, dass man mich damals mit diesem tragischen Fall konfrontiert hat. Wir mußten doch wissen, wer noch zu betreuen war und wer nicht. Also war eine solche Meldung unumgänglich. Einem Toten Einladungen schicken...
Hören Sie auf! Deswegen bin ich doch aber kein Mörder! Sie sagten doch selbst: Selbstmord! Habe ich ihn etwa dazu gezwungen? Habe ich es ihm vielleicht auch nur angeraten? Nein, nein, nun sind wir die Schuldigen, obwohl wir genauso Opfer waren, wie diejenigen, die sich heute als „Opfer des neoliberalen Regimes“ eintragen lassen können.
Selbstmitleid? Selbstmitleid? Pah, was wissen Sie schon? Sehen Sie, wenn da ein Familienvater kam, der eine Arbeitsstelle fern der Heimat nicht antreten wollte, weil er sentimental genug war, seiner Familie einen höheren Stellenwert einzuräumen, als der Solidargemeinschaft, die für ihn und die Seinen aufkommen mußte, dann tat einem das als Mensch schon leid... Wie? Natürlich mußte ich ihm eine Sanktion zukommen lassen. Meine Gefühle waren nicht maßgebend – maßgebend war das Gesetz. Aber man war eben doch Mensch - und litt zuweilen darunter.
Ja, ich habe damals gut geschlafen. Warum? Sollte ich schlecht geschlafen haben, nur weil ich meine Arbeit gemacht habe? Ich sagte doch schon, dass ich so schonend mit meiner Kundschaft war, wie nur... ja, ganz recht: Kundschaft! Wieso lachen Sie? Immerhin haben wir dem Dienstleistungssektor angehört; haben für unsere Kunden etwas getan. Aber Kunden sind oft sehr undankbar, das haben wir schnell erfahren müssen. Lassen Sie mich bitte fortfahren: Ich war ein schonender Vertreter meiner Zunft. Andere waren weitaus schlimmer. Wie schlimm, habe ich aber erst nach dem Umsturz erfahren. Glauben Sie mir, ich war auch schockiert. Wir haben ja alle nichts gewußt! Aber deswegen war doch damals nicht alles schlecht, nur weil einige es maßlos übertrieben haben.
Ja, man hat mir vorgeworfen, regionale Unternehmen, deren Besitzer ich privat kannte, mit billigen Arbeitskräften und damit verbunden, mit staatlichen Subventionen, unterstützt zu haben. Ob der Vorwurf begründet war? Sehen Sie es doch einmal objektiver: Wenn Sie einem Freund einen guten Dienst tun können und dieser gute Dienst bereichert auch noch einen Dritten, was ist dann daran auszusetzen?... Natürlich bereicherte es Dritte! Denjenigen nämlich, den ich dorthin vermittelt habe! Wie können Sie nur behaupten, dass meine Dienste wertlos waren? Es ist geradezu dreist von Ihnen zu behaupten, der in Arbeit gekommene Kunde hätte keinerlei Nutzen davon gehabt. Immerhin hatte er Arbeit und das war schon mal was. Aber die meisten wollten dieses Angebot ja gar nicht annehmen...
Hetze? Was Sie hier Hetze nennen – nach dem Umsturz hat man ja oft von dieser angeblichen Hetze geredet -, war die bittere Realität. Was die Tageszeitungen damals schrieben war Tatsache. Ich konnte alle Geschichten von den Tricks und Raffinessen der Arbeitslosen unterschreiben, habe alles so oder ähnlich auch selbst erlebt. Die meisten Arbeitslosen waren einfach faul, haben einen ordentlichen Tritt gebraucht. Ich könnte Ihnen Sachen erzählen! Aber wozu? Man glaubt uns heute sowieso nicht mehr.
Junger Mann, Sie müssen nicht so erstaunt den Kopf schütteln. Sie waren damals nicht dabei. Nebenbei: Wie alt sind Sie eigentlich?... Dachte ich mir. Jung, aber vorwitzig genug, mir das Gefühl zu geben, ein ganz besonderer Exot aus einer längst vergangenen Zeit zu sein. Ich komme mir vor wie ein Wilder – Sie machen einen Wilden aus mir. Damals hätte man uns nie als Wilde oder Asoziale bezeichnet, wie man es dann danach immer wieder tat. Fehlgeleitete hat man uns genannt. Ich sagen Ihnen was, hören Sie genau hin: Wir haben uns damals geirrt. Aber nicht, weil wir uns geirrt haben im Inhalt unseres Tuns, sondern weil die Zeit noch nicht reif war, einen neuen, auf Disziplin bedachten Menschentypus zur Wirklichkeit werden zu lassen. Die Welt war ja damals noch immer kommunistisch verseucht...
Sehr wohl: Disziplin. Da haben Sie schon ganz richtig gehört! Wenn ich Ihresgleichen schon höre! Da schwingen Sie wundervolle Reden, erklären, dass wir seinerzeit hätten rebellieren sollen. Individuelles Gewissen und dergleichen mehr! Alles Quatsch! Jeder Mensch - auch Sie! - hat eine Aufgabe, die er zu erfüllen hat. Meine Aufgabe war seinerzeit das, was wir hier besprochen haben. Daran gab es nichts zu deuteln. Ich war mir meiner zugeteilten Aufgabe bewußt, meine Kunden leider nicht immer. Im Leben kann man sich nicht aussuchen, was einem angenehm ist und was nicht. Man ist da und man tut – das ist die ganze Wahrheit. Moral ist eine Kategorie für Nichtsnutze, die Zeit haben, sich solche Kategorien zu erfinden. Von diesem Ehrgefühl weiß Ihre Generation leider nichts mehr. Deshalb glaubt ihr ja, dass ihr uns wie Verbrecher behandeln dürft! Wir sind für euch Verbrecher, weil wir Ehrgefühl hatten.
Oder besser gesagt: Wir waren Verbrecher! Denn viele sind wir nicht mehr. Bei der letzten Jahreszusammenkunft der ODESSA (Anmerkung des Aufzeichners: Organisation der ehemaligen SGB-Sachbearbeiter der ArGen) waren nur noch einige hundert Mitglieder anwesend. Traurig? Natürlich! Aber nicht wegen mir. Wer weiß wie lange ich dieses Leben als geächteter Verbrecher der Vergangenheit noch ertragen muß... nein, wegen euch! Ihr werdet uns vermissen, dessen bin ich mir felsenfest sicher. Euch werden früher oder später Staatsbedienstete fehlen, die ihr eigenes Gewissen ausschalten, die kollektiv denken, nicht fragen sondern tun – ihr werdet unserer liebevolle gedenken.
Sagen Sie niemals nie! Der Zeitgeist hat uns schon einmal zu Teufeln verklärt. Warum sollte er sich nicht noch einmal wenden? Wir waren Sieger, wurden Verlierer – und womöglich macht uns der Ozean der Zeit erneut zu Gewinnern...
8 Kommentare:
also wenn man solche berichte liest, indem ein arbeitsloser selbstmord beging, weil man ihn bis zum schluss entwürdigend behandelt hatte - dann scheint dein beitrag schon allzu schnell gegenwart zu werden.
Nachdenkseiten-Leser:
Danke für den utopischen Ausblick in eine ferne Zukunft - der "Sachbearbeiter" hört sich fast an wie ein gewisser Herr Prof. Dr. Lauterbach in einem Interview mit Ottmar Schreiner heute - bei Nachdenkseiten mehr über diese Flitzp...
Gruß
Nachdenkseiten-Leser
Noch was, hoffen wir, dass die es ernst meinen:
http://www.nie-wieder-basta.de.vu
Ich bin da übrigens skeptisch, weil Jusos sich meist extrem links zeigen, bevor die "vernüftig" werden und rechts abbiegen - wie einst der Ex-Juso-Vorsitzende, und Alt68er, Ex-Kanzler Gerhard Schröder.
Gruß
Nachdenkseiten-Leser
PS: Ist doch interessant über die Wendehälse unter den 68er, die die Institutionen nicht verändert haben, sondern von denen verändert wurden, d.h. rechts abdrifteten liest man derzeit weder bei SPIEGEL noch sonstwo was. Kein Wunder, man legt sich nicht mit den Menschen an, die einem finanzieren - den Alt68ern und Nun-Regierungsmitgliedern der SPD.
Sehr schön geschrieben, danke. Erinnert mich an die 'Memoiren, gefunden in der Badewanne'.
Solche Geschichten Habe ich nach dem Krieg genug gehört.
Damals hieß es: "Ich war doch nur Mitläufer, ich konnte doch garnichts tun!"
In mehr als 60 Jahren haben wir leider Demokratie noch nicht richtig gelernt oder nicht begriffen.
Voller Trauer
Heinz Reuter
Die Satire von dir ist Klasse geworden. Zu nah an der Wahrheit dran. Zuerst dachte ich, du schreibst über 1933 bis 1945!
Dann wurde mir klar, das du vom Zeitraum 2003 bis 2015 schreibst!
Dummerweise glaube ich aber, das der Sachbearbeiter der ArGe (vormals Telekom-Mitarbeiter und nur für diese Aufgabe freigestellt) letztendlich Recht behalten wird. Man wird diese faschistischen, neoliberalen Schweine vielleicht in 100, oder auch in 200 Jahren über den Klee loben, weil sie das deutsche Volk von jenen Schmarotzern gesäubert haben, wie einst das Regime von 1933!
Und dann hoffe ich echt, das bis dahin das deutsche Volk echt ausgestorben ist, damit es solche gehirntote Blödheit nicht doch noch ertragen muß.
Es erinnert mich aber auch an eine Folge der zweiten Staffel der ZDF-Serie 'KDD': das Büro eines solchen 'Sachbearbeiters' (der Mensch als 'Sache') fliegt in die Luft, im anschliessenden Gruppenverhör mit den letzten 'Kunden' stellt sich schliesslich heraus, dass es der Sachbearbeiter selbst war, der seinen 'Job' nicht mehr ausgehalten hat...
Ausgezeichnet!
Kommentar veröffentlichen