Sit venia verbo

Montag, 1. September 2008

"Mit der Bildung der SPD/FDP-Bundesregierung hatte 1969 das Spiel „Spalten und Herrschen“ begonnen. 1970 waren etwa 10.000 Menschen amnestiert worden, die während der APO für Gesetzesverstöße im Zusammenhang mit Demonstrationen bestraft worden waren. Zuckerbrot für diejenigen, die der Staat für integrierbar hielt und die für die Modernisierung gebraucht wurden. Nicht amnestiert wurden z.B. die RAF und das Sozialistische Heidelberger Patientenkollektiv.
In nie dagewesenen Ausmaß wurde von 1969 bis 1976 das Bundeskriminalamt (BKA) ausgebaut, personell erweitert und mit Befugnissen – auch des Verfassungsschutzes – ermächtigt. Das BKA wurde zu einer Eliteeinheit der Polizei. Die Länderpolizeien erhielten gleichfalls neue Befugnisse und immer mehr Waffen, die Westberliner Polizei beispielsweise Handgranaten und Maschinengewehre, die auch gegen Menschenmengen eingesetzt werden durften. Der Verfassungsschutz bekam mehr Mittel, mehr Personal, mehr Befugnisse zur Überwachung und Ausforschung der Opposition.
1972 jagten 150.000 Polizisten und Beamte des Bundesgrenzschutzes die „Baader-Meinhof-Bande“. Die RAF hatte am 11. Mai 1972 ihren ersten Bombenanschlag verübt. Wenige Monate später war fast die ganze Gruppe der „ersten Generation“ gefaßt. Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader u.a. wurden festgenommen und blieben bist zu ihrem ungeklärten Tod – 1976 bzw. 1977 – in Haft. Der Ausbau des „Sicherheitsstaats“ ging weiter.
Mit dem „Radikalenerlass“ von 1972, der international Aufsehen erregte, verschlechterte sich die Lage aller Linken noch einmal: Es folgten 3,5 Millionen politische Überprüfungen von Bewerbern im öffentlichen Dienst; in 35.000 Fällen wurden Erkenntnisse von Verfassungschutzämtern an die Einstellungsbehörden weiter gegeben und – neben Entlassungen und Disziplinarverfahren – rund 10.000 Berufsverbote ausgesprochen.
Der Bundesgrenzschutz wurde für den möglichen Einsatz im Inneren und zur Polizei des Bundes aufgerüstet. Seine Hubschrauber lernten wir bei Demonstrationen kennen und vergaßen – neben den Prügeltruppen, die ihnen entstiegen und dem Tränen- und Kampfgas, das sie auf uns schleuderten – ihr Geräusch nie mehr.
In allen Bundesländern waren seit 1973 polizeiliche Spezialeinheiten eingerichtet worden, darunter mobile Einsatz- und Präzisionsschützenkommandos. Als die Regierung 1973/74 die zweite große Nachkriegsrezession nicht in den Griff bekam und Arbeitskämpfe z.B. bei Ford ausbrachen, zog sie die Schraube weiter an und setzte Polizei nun wieder auch gegen Arbeiter an.
Die staatlichen Verfolgungsbehörden unternahmen im Herbst 1974 eine Art Probe für den „Deutschen Herbst 1977“: die Aktion „Winterreise“. Geheimgehaltene Maßnahmen dienten der Aufrechterhaltung des Fetischs „Innere Sicherheit“. Sie hinterließen eine breite Spur von Verwüstungen und Misshandlungen: Viele Dutzend Wohnungen wurden durchsucht, Verlage, Druckereien, Projekte; Hunderte von Menschen festgenommen und wieder freigelassen. Ein „Erfolg (...) vor allem für das Image und das Selbstbewußtsein der Polizei“, wie Bundesinnenminister Maihofer (FDP) prahlte.
Die Rechte von Verteidigern und von Strafgefangenen wurde eingeschränkt, die kollektive Verteidigung untersagt, die Korrespondenz zwischen Rechtsanwälten und Mandaten überwacht, die Trennscheibe bei Knastbesuchen eingeführt.
Mehr als einhundert Menschen waren seit 1971 durch Polizeischüsse ums Leben gekommen. 1975 wurde nun der polizeiliche Todesschuss legalisiert.
Seit Februar 1975 wurde der Bauplatz für das geplante Atomkraftwerk in Wyhl besetzt. 1976 schränkten Strafrechtsänderungen und sogenannte Anti-Terrorgesetze wie der Paragraf 129a StGB die Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit ein.
Der 129a stellte die Bildung, Mitgliedschaft, Unterstützung und Werbung für eine „terroristische Vereinigung“ unter Strafe. Es mußte nicht mehr, so das bisherige bürgerlich-demokratische Rechtsstaatsprinzip, die konkrete Straftat einem konkreten Individuum zugeordnet werden, sondern unter Strafandrohung stand die linksoppositionelle Gesinnung. Ein staatsdiktatorischer Apparat war geschaffen worden. Politische Gruppen, ob Streikkomitees oder Anti-AKW-Initiativen, konnten als „terroristische Vereinigungen“ diffamiert, samt persönlichem Umfeld ausgeforscht und aus geringem Anlaß verfolgt werden."
- Jutta Ditfurth, "Durch unsichtbare Mauern" -

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