Schwein oder Mensch?

Donnerstag, 8. Mai 2008

Mit dieser Überschrift soll keinesfalls die plumpe RAF-Dogmatik angesprochen sein. Jenes berühmte Dogma, welches Menschen in Uniformen - dabei meinten die damaligen Protagonisten hauptsächlich Polizisten - zu Paarhufern erklärte. Gemeint soll damit das Rätselraten der orwellschen Farmtiere sein, die durch das Fenster des Farmhauses erblicken, wie die Herrscher der Tierfarm - die Schweine - mit dem Feind - den Menschen - verhandeln: "Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch; doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war." - Wenn auch die meisten Tiere auf Orwells Farm, zum Zeitpunkt, da die Schweine mit den Menschen in Verhandlungen traten, zu beschränkt waren, andere über alle Maßen gleichgültig und mit sich selbst beschäftigt - die kritischen Tiere waren da längst liquidiert -, so wurde ihnen trotzdem offenbar, wenn auch vielleicht nur hintergründig, dass es an einer fundamentalen Eigenschaft menschlichen Daseins - jene Farmtiere sind anthropomorph gestaltet - mangelt: an der Verschiedenheit; dem Unterschied zwischen zwei Dingen, zwei Lagern, zwei Einstellungen oder Ideen, zwei Seiten...

In Zeiten, in denen die zwei dominierenden politischen Parteien eines Landes, nicht nur realpolitisch zusammenarbeiten müssen, weil es die Wahlergebnisse so geboten, sondern auch ideologisch wie eine Einheit wirken - weil dies das Primat der Wirtschaft so gebietet -, wird dieser Mangel an Vielheit oder zumindest an Dualität greifbar. Wenn sich Parteiprogramme nur an der Farbe des Buchrückens unterscheiden; wenn Gewerkschaften in den gleichen kapitalistischen Kategorien wandern, wie es ihre Gegenspieler, die Verbände von Arbeitgebern, tun; wenn Sozialverbände - wie erst kürzlich berichtet wurde - für private Finanzunternehmen werben und damit handeln wie ein Unternehmen, welches sich auf Profitmaximierung zu konzentrieren hat; wenn Bürgerinitiativen die Argumente der Versicherungs- und Finanzwirtschaft ungeprüft verwenden, um den Bürgern klarzumachen, dass der Kampf für eine bessere Gesellschaft nur innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens geführt werden darf; wenn religiöse Instanzen genauso gesichts- und wesenlos geleitet werden, wie weltliche Industriekonzerne; wenn Gewerkschaftsfunktionäre ihren Posten aufgeben, um nahtlos auf der anderen Seite, beim ehemaligen Kontrahenten anzuheuern; wenn Arbeitnehmer das Wohl ihres Unternehmers als ihr eigenes Wohlergehen begreifen, dann ist ein Maß an Gleichschaltung erreicht, welches dem Einzelnen keine Alternative mehr beläßt, welches ihn in eine Schablone presst, der er sich anzupassen.

Diese manifest gewordene Alternativlosigkeit im alltäglichen Leben - und dies vielmehr als die Klüngelei und interne Rauferei der politischen Parteien, die zwar abstossend sind, aber noch erträglich - nähren die Resignation der Bürger. Eine Resignation, die von Politologen "Politikverdrossenheit" genannt wird. Doch ist es weniger eine Verdrossenheit, die sich alleine im Politischen gründet. Es wäre eine verknappende und irreführende Erklärung, wenn man den Mißstand breitgefächerter Interessenlosigkeit innerhalb dieser Gesellschaft - nicht nur der deutschen Gesellschaft - einzig mit den Handlungen im politischen Alltag abtun würde. Vielmehr ist es so, dass sich eine konstante Ideologie der Kommerzialisierung und Verwurstung menschlicher Arbeitskraft mehr und mehr den Menschen bemerkbar macht. Jede Organisation, egal auf welcher Seite sie Interessen vertritt, nimmt diesen Zustand als axiomatische, nicht zu hinterfragende Tatsache in Kauf und betoniert diese häßliche Stele in ihren Wirkungsbereich fest. Zwar ist man bemüht, die Stele, die häßlich und störend im Raume steht, mit allerlei Schönheitskorrekturen zu kaschieren, den Abriss derselbigen scheut man aber, entschuldigt sich in der Form, dass diese Stele eine tragende Funktion erfüllt, deshalb ein Abriss einen Einsturz zur Folge hätte. So ist also viel weniger der politische Zirkus, den die Clowns und Akrobaten der politischen Einheitsparteien betreiben, der die Menschen von der Wahlurne wegtreibt und sie politischer Bildung entfremdet, als die Gesamtheit der Stelen, die sich durch jedes einzelnes Unternehmen, jede Organisation, jeden Verein, jedem Gremium, jede Versicherung, jede Kirche ihren Weg bahnt. Es ist kafkaeske Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit, ein Gefühl der Ohnmacht und der vergebenen und enttäuschten Liebesmühe. Wie Joseph K., die Hauptfigur Kafkas im "Process", verharren viele zurückgelassene Menschen in Starre, auch weil sie nicht konkretisieren können, was ihnen aufstößt. Aber vage begreifen sie, dass sie ein "Bündel Arbeitskraft" sind, welches in der kapitalistischen Gesellschaft der Zukunft - und dies im immer größeren Maße - entweder nützlich oder aber nutzlos und damit ohne Existenzberechtigung - im Sinne des Systems - ist. Und zur Aussichtslosigkeit gesellt sich die Gewißheit, dass jede Initiative korrumpierbar ist, dass niemand für die Ausgestossenen Partei ergreift; "kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun"...

Den Menschen wird offenbar, dass sich keine Alternative bietet, schlimmer noch: dass jede mögliche, neu entstehende Alternative, schnell den Weg ins Alternativlose einschlägt, quasi den "Keim der stumpfen Alternativlosigkeit", schon in sich trägt. Im Anwachsen zurückhaltender Gleichgültigkeit, dem die Menschen mehr und mehr zugeneigt sind, äußert sich einerseits die Unzufriedenheit am Status quo; andererseits wird ein revoltierendes Potential sichtbar. Die wohl einzige Alternative in dieser Welt der Alternativlosigkeit steckt im kollektiven Umdenken und sich entfremden von den durchweg überall anzutreffenden kapitalistischen Kategorien. Wenn die "Ideologie der vermeintlichen Ideologielosigkeit" schwindet, dann kann sich eine "vermeintliche Ideologie verschiedener Alternativen, Lebensentwürfe und Gedanken" Bahn schlagen. Erst dann - nur dann - kann man zwischen Schwein und Mensch wieder unterscheiden. Um Vielheit zu erreichen, um nicht den Wölfen im Schafspelz zum Opfer zu fallen, bedarf es des Auswegs aus der Eindimensionalität der kapitalistischen Welt.

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