Gesundheitswesen à la americaine

Sonntag, 4. Mai 2008

Als ich kürzlich durch ein - wie so oft - ödes TV-Programm zappte, beinahe den Kasten programmierter Langeweile ausschalten wollte, stach mir doch noch - quasi kurz vor dem Ausschalten - ein Bericht des Auslandsjournals ins Auge. Emsig funktionierten dort Menschen eine Turnhalle zu einer gigantischen Arztpraxis um, dazwischen medizinisches Personal, sich bemühend, die medizinischen Apparaturen funktionstüchtig zu machen. Währenddessen warteten draußen unzählige Menschen. Sich brav in eine Reihe einsortierend, harrten sie der Öffnung der Praxishalle. All jene, die teilweise schon seit Stunden warteten, so verkündet es die Stimme aus dem Off, seien nicht krankenversichert, würden dort nun eine kostenlose Behandlung erhalten.
Zunächst glaubte ich noch, dies alles spiele sich irgendwo in einem Entwicklungsland ab, zweifelte aber schnell daran, weil die Mehrzahl der Menschen "europäisch aussahen", also "caucasian" wirkten, wie man dies im anglo-amerikanischen Raum gemeinhin nennt. Und tatsächlich, hinter dem vermuteten Entwicklungsland steckten die USA; wir befanden uns mitten im tiefsten Tennessee.

Die Patienten für Zahnbehandlungen wurden bereits am Eingang selektiert. Rechts diejenigen, denen man gleich einen oder mehrere Zähne extrahieren wird; links die vermeintlich Glücklicheren, denen man die Zähne noch retten kann. Eine Frau betritt die Szenerie, der man andernorts empfohlen hatte - nur empfohlen, denn das Aktivwerden, d.h. die ärztliche Behandlung dort, hätte die Patientin selbst bezahlen müssen -, man solle den entzündeten Zahn, der sie plagt, schnellstens entfernen. Tut sie es nicht, so könnte dies gravierende Folgen mit sich bringen, könnte sogar zum Tode führen. Am Ende zog man ihr fünf Zähne und der behandelnde Arzt stellte klar, dass in der westlichen Welt eigentlich kaum jemand an Zahnentzündungen stürbe, dies aber in Entwicklungsländern häufig der Fall sei. Außerdem habe man sich zum Reißen mehrerer gefährdeter Zähne entschlossen, weil die Frau kein Geld habe, sich einer langfristigen Behandlung zu unterziehen. Lieber reiße man sofort, als dass man nachher Schmerzen leiden müsse, die nicht beseitigt werden könnten, schlicht weil der Kranke kein Geld zur Behandlung habe. Eine zynische Form der Prophylaxe, die in den Vereinigten Staaten an den Armen durchgeführt wird! Außerdem, so fuhr der Zahnarzt fort, sei diese Veranstaltung nicht jede Woche in der Stadt; die Patientin könne also auch in diesem Rahmen keine langwierige Behandlung erfahren, die ihre Zähne retten würde.
Eine weitere Frau erklärte, dass ihr Mann zwar eine Arbeitstelle habe, dass er daher auch krankenversichert sei - mit ihm ebenso sie und die Kinder -, aber dass diese Krankenversicherung jegliche Zahnbehandlung und die Kosten für einen Augenarzt nicht übernehme. Als sie am Abend die Turnhalle verläßt, hat man ihr zwei Zähne gezogen und eine neue Brille verpaßt, die in einer mobilen Glasschleiferei umgehend gefertigt wurde. Obwohl der Tag eine Tortur ist, man stundenlang warten muß, teilweise Zähne wie im Fließband gerissen bekommt, stellt sich Dankbarkeit bei den Bedürftigen ein.

Die Stimme aus dem Off liefert weitere wertvolle Informationen: Von den 300 Millionen US-Amerikanern müssen etwa 50 Millionen gänzlich ohne Krankenversicherung leben. Weitere Millionen von Menschen sind unterversichert, können die oft horrenden Selbstbeteiligungskosten nicht aufbringen oder erhalten keinen Zugang zur Zahnpflege. Nüchtern wird festgestellt, dass die USA das einzige Industrieland der Erde sei, welches keine allgemeine Krankenversicherung kenne. Die Gesundheitskosten seien dennoch in den letzten Jahren gestiegen, liegen derzeit bei 15 Prozent des Bruttosozialproduktes. Dies liege vorallem daran, dass es eben kein allgemeines und universelles System der Krankenversicherung gäbe, denn die medizinische Versorgung wird über mehrere einzelne Versicherungsysteme sichergestellt. Trotz des Mißstandes im US-amerikanischen Gesundheitswesen, so erfährt man, halten die Amerikaner nichts von staatlicher Intervention. Ein behandelnder Arzt meint, es habe ja schon staatliche Initiativen in der Vergangenheit gegeben, die letztendlich doch nichts brachten; dies sehen die meisten US-Bürger ähnlich. Wie weit die radikal-liberalen Ansichten ihren Weg bereits in die Köpfe der Menschen beschritten haben, erkennt man gerade hier, da Menschen unter Schmerzen nur resigniert abwinken, wenn man ihnen die Vorzüge einer staatlich gelenkten und gesetzlich garantierten Krankenversorgung vor Augen führen will. Die Ressentiments gegenüber Staatsinterventionen aller Art scheinen tief verankert in der amerikanischen Seele.

Initiator der kostenlosen Behandlung ist Remote Arial Medical (RAM). Besonders peinlich für das Gemeinwesen der Vereinigten Staaten ist es, dass diese Hilfsorganisation eigentlich aufgebaut wurde, um in der Dritten Welt ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Doch eines Tages wurde dem britischen RAM-Gründer Stan Brock klar, dass die Not auch vor der eigenen Haustüre herrsche, dass in einem der reichsten Länder der Welt, Menschen von der ärztlichen Versorgung ausgeschlossen werden. Das Jahresbudget der Organisation ist allerdings sehr gering, beträgt gerade einmal 250.000 Dollar. Man hält sich mit oft sehr geringen Spenden über Wasser, wohl nicht selten aus den Geldbeuteln derer, die RAM benötigen und schon in Anspruch genommen haben. Mit diesem Budget und der Hilfe von ehrenamtlichen Helfern und Ärzten, die ihr Können kostenlos zur Verfügung stellen, werden an Wochenenden kostenlose Behandlungen durchgeführt. Allerdings ist der Andrang manchmal so groß, dass man auch da Patienten unbehandelt nach Hause schicken muß.

In vielen Bereichen des täglichen Lebens sind die USA tatsächlich noch in den Stand eines Entwicklungslandes geworfen. So gesehen war meine anfängliche Vermutung gar nicht so falsch. Und selbstverständlich ist mir auch bewußt, dass diese Art von Berichterstattung gerne verwendet wird, um den Menschen hierzulande aufzuzeigen, dass das deutsche Gesundheitswesen trotz erheblicher Sparmaßnahmen, immer noch leistungsfähiger ist, als jenes im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten". Treffender wäre es allerdings, wenn man solche Berichte nicht zur Selbsthuldigung gebrauchen würde, sondern als Warnung begriffe. Nicht "seht her Leute, andernorts ist es noch viel schlimmer", sondern "schaut, so darf es nicht bei uns ausarten" wäre das zu beherzigende Gebot. Medizinische Versorgung für jedermann ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft, die immer wieder erkämpft sein will. Alleine der Status, den eine Industrienation besitzt, ist nicht ausreichend, um allgemeine medizinische Versorgung zur unumstößlichen Gewißheit zu machen, gemäß dem oft vernommenen Ausspruch: "In Deutschland muß keiner an dieser oder jener Krankheit sterben." (Wahlweise ist dieser Ausspruch auch zu anderen Themen zu hören, wie z.B.: In Deutschland müsse niemand verhungern.) Das Beschwichtigen mit dem Status eines Landes, ist wohl die bequemste Form, sich seiner Kritikfähigkeit zu entledigen, um hedonistischeren Zielen folgen zu können. Der Status der USA würde demnach auch eine andere, sprich: bessere medizinische Grundversorgung voraussetzen. Doch da der Status nicht automatisch zur Verbesserung sozialer Sicherungsmechanismen führt, da letztere kein Effekt, sondern eine erkämpfte Errungenschaft ist, kann mit derartigen "Weisheiten" nichts bewirkt, aber viel zerstört werden. Und obwohl die USA eine Industrienation sind, werden also Millionen von US-Bürgern weiterhin von RAM abhängig sein...

1 Kommentare:

Anonym 5. Mai 2008 um 06:48  

Lieber Roberto,
die Grenzen zwischen erst- und drittweltsländern verschiebt sich immer mehr. Leider nicht in eine positive Richtung. Oder wie ist das Mitgefühl der Kenianer sonst aufzufassen:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,404553,00.html

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