Habemus papam: na und?

Mittwoch, 30. Juni 2010

oder: aus gegebenen Anlass, der eigentlich kein Anlass wäre, einige persönliche Worte.

Wenn sich in Rom der weiße Rauch noch nicht ganz verzogen hat, einige Augenblicke später ein grauhaariger Geistlicher ans Fenster tritt und ausruft, dass wir nun einen Papst hätten, dann mag das gläubige Katholiken angehen - allen anderen ist das hinlänglich egal. Geschieht Ähnliches zu Berlin, rufen sie dort ihr Habemus papam! in die Kameras, nachdem sie stundenlang im Konklave schacherten, dann ist das von Interesse für fromme Anhänger der parlamentarischen Demokratie - jemand, der den Glauben daran aber aufgegeben hat, den kümmert der neue Ersatzkaiser wenig. Zumal sich Weihnachtsansprachen ganz vortrefflich per Fernbedienung abschalten lassen.

Was will so einer also zum neuen Pontifex mit Grüßonkelfunktion äußern, wenn ihm diese unehrenhafte Verrichtung des Parlamentarismus so gar nicht (mehr) zusagt? Günstig wäre es ohnedies, dass er es unkommentiert läßt, einerseits weil es belanglos ist, ob der neue Lustschlößcheregent nun Horst, Joachim, Christian oder sonstwie heißt - und andererseits, weil die Schwärme von Wahlmännern und -frauen ihren geistigen Flausen und cerebralen Luftblasen mehr als neun Stunden freien Lauf ließen und die Ereignisse des Tages damit mehr als ausgiebig kommentiert und hochgespielt sind.

Das Ende der Koalition sei eingeläutet, hörte man oft. Jetzt starte sie erst richtig durch, vernahm man auch. Für jede Gesinnung eine seichte Schnellstudie! Doch was soll das Theater? Koalition am Ende oder nicht am Ende - na und? Wat geiht meck dat an? Was kümmert es denn solche, die nichts von der Heilslehre der bundesrepublikanischen Demokratie halten? Solche, die in dieser Demokratie immer häufiger eine Strohmannsveranstaltung wittern? Dann sei doch die Koalition am Verscheiden: es wird eine neue geben, eine die anders heißt und genauso inhaltsarm, genauso mit Schaum vorm Mund agiert.

Ganz so läuft es auch mit dem obersten Gutsherrn des Landes. Der eine geht, der andere kommt - und falls man es in den Zeitungen nicht liest, dass da einer gegangen ist, dann merkt man nicht mal, dass das ein ganz anderer Kerl ist, der da ins Mikrofon stammelt. Hui, Horst war beim Friseur, oder nicht! Kurzum, warum sollte an dieser Stelle ergiebig über die demokratische Scheinveranstaltung zu Berlin geschrieben werden? Wer hätte etwas davon? Was gesagt werden sollte, haben die Wahlknechte schon gesagt - was gesagt werden müsste, verhallt eh kaum hörbar. Für ad sinistram hat sich jedenfalls nichts geändert, nur weil aus Horst Christian wurde - ad sinistram wird die Wahl und die angeblichen Konsequenzen daraus nicht kommentieren. Das können andere weniger schlecht als ad sinistram...

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Nomen non est omen

Heute: "Modernisierungsverlierer"

Der Begriff "Modernisierungsverlierer" bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die durch gesellschaftliche oder ökonomische Veränderungen benachteiligt werden. Er setzt sich aus zwei Begriffen zusammen, wobei der Erste positiv konnotiert ist (modern) und der Zweite eher negativ (Verlierer). Das Schlagwort, welches von Wilhelm Heitmeyer geprägt wurde, womit er vor allem rechtsextreme Jugendliche meinte, beinhaltet für mich gleich mehrere Problematiken.

Zum einen ist überhaupt nicht geklärt, was wirklich "modern" ist und ob die "Moderne" wirklich immer erstrebenswert sei? Neoliberales Gedankentum, ökonomische Verwurstung in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie eine breitflächige Industrialisierung mit all ihren Folgen sind einige wenige Punkte, die als "modern" angesehen werden. Gleichzeitig benutzen vor allem Politiker und Ökonomen dieses Adjektiv, um ihre unsozialen Ansichten und Vorgehensweisen unter dem Deckmantel der »Moderne« zu verstecken. Oft ist "modern" aber auch einfach nur eine Plastikphrase, die inhaltlich wenig aussagt, aber einen positven Klang hinterlassen soll. Schließlich will niemand als unmodern, alt und überholt gelten.

Zum anderen deutet der Begriff "Verlierer" in diesem Kontext darauf hin, dass damit vor allem finanziell und sozial schlechter gestellte Menschen gemeint sind. Alle die sozusagen nicht vom Segen der Globalisierung reich geworden sind, sondern in Armut ihr Dasein fristen. Problematisch ist hierbei, dass selbst die politische Linke diesen Begriff ungefragt verwendet und damit die neoliberale Spaltungslogik unfreiwillig übernimmt: Verlierer ist, wer wenig Geld hat. Eigentlich sollten gerade linke Denker eher eine Einstellung haben, die so lauten könnte:
"Wer bei allem immer Mensch bleibt, sich selbst treu, mit Liebe, Zärtlichkeit und Empathie durchs Leben geht, der kann gar kein Verlierer sein! Denn solch ein Mensch hat das Leben verstanden!"
Ähnlich wie der Terminus des "Globalisierungsverlierers" assoziiert man mit dem Begriff auch eine Art Schicksalsschlag. So als gäbe es nun mal Gewinner und Verlierer und es könne eben nicht jeder auf der Gewinnerseite stehen. Die Verlierer sollten nicht murren, sondern ihr Schicksal akzeptieren. Verschleiert wird hierbei, dass es weder Zufall noch Schicksal ist, wer arm oder reich ist. Denn Politik bedeutet immer menschliches Handeln hinter dem ein gezielter Wille steht.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Hartz geht um die Welt

Dienstag, 29. Juni 2010

Die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer nehmen sich ein Beispiel an Deutschland. Beim Sparen sind wir Vorbild! Das Sparpaket macht Schule, ab 2011 schnürt auch die G 20 solcherlei Sparbündel. Und weil Deutschland nun Vorreiter ist, muß es mit positivem Beispiel vorangehen! Nicht straucheln, nicht schwach werden und nachgeben: Sparen, sparen, immer weiter sparen. Wenn man schon mal einen erfolgreichen Exportschlager hat, da ist man sich einig, dann muß man sich zu diesem auch bedingungslos bekennen.

Beim Sparen sind wir Vorbild! Wahrlich, wir sind Vorbild für die Welt - wir armen Schlucker Deutschlands! An uns nehmen sie sich ein Beispiel, an uns Arbeitslosen und Rentnern, Geringverdienern und Alleinerziehenden - an den langsam aber nachdrücklich verarmenden Kindern Deutschlands will sich der reichere Teil der Welt messen lassen. Der Hartz IV-Empfänger als Global Player in Lauerstellung, sein Lebensentwurf soll rettender Maßstab für Industrieländer werden. Selbst dem geringfügig Beschäftigten gehört morgen schon die ganze Welt! Die, die im Alter ergänzende Grundsicherung beziehen, dürfen hochbetagt nochmals um die Erde reisen! Ja, die deutsche Unterschicht ist gar vorbildlich - die Welt nimmt sich ein Beispiel an ihr.

Wir sind Vorbild: was für eine ausgemachte Sauerei! Denn wer spart, das sind nicht wir, also kein einendes, fraternisierendes Wir - es ist das Wir der ohnehin schon Armen, Alleingelassenen, immer mehr ins Elend rutschenden Gesellschaftsgruppen. Wahrlich, dieses Wir ist Vorbild dafür, wie man den Gürtel enger schnallt - sofern man denn noch einen Gürtel hat. Aber das Wir verschwisterter Klassen ist damit nicht gemeint, kein Wir sich duzender Schichten. Nicht wir alle sind gemeint - die sind gemeint; die sind Vorbild! Die da oben! Nämlich Vorbild dafür, wie man so spart, dass die eigene Klientel davon unbetroffen bleibt. Der Hartz IV-Bezieher geht als Ware um die Welt - und sein Schöpfer als ehrlicher Makler hintendrein. Kauft uns unser Modell ab, macht es zum Richtschnur eurer Gesellschaft! Und es ist ein anspruchsloses Modell, denn man kann den Hartz IV-Bezieher melken und schröpfen und niemand lehnt sich deswegen auf! Deutsche Selbstgenügsamkeit zum vorbildlichen Preis.

Da nimmt sich die Welt doch gerne ein Beispiel; sie eignet sich die unbilligen Vorhaben des Sparpaketes an, damit auch ihre Armen ausgepresst werden dürfen zur Rettung ihrer ach so verehrten und gefeierten Nation - Proletarier aller Länder, erspart es uns! Erspart uns Renditenverlust, erspart uns zu hohe Sozialausgaben - und erspart uns euer Gejammer! Proletarier aller Länder, wir vereinigen euch - auf Initiative und dank geistiger Urheberschaft Deutschlands! Hartz IV-Bezieher, Rentner, Prekariaten und allerlei Notleider mehr sind bereits ins Ausland verkauft - jetzt fehlt nur noch der deutsche Gleichmut und die deutsche Geduld, mit der die deutschen Habenichtse sich ihrem Schicksal ergeben. Wenn diese beiden Tugenden auch noch exportiert werden könnten, scheint einem gutem Geschäft für uns alle - kein verbrüderndes Uns; kein Alle, das alle mit einschließt - nichts mehr im Wege zu stehen...

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Macht die Diktatur komplett!

Montag, 28. Juni 2010

Was das Wahlvolk will, fragt Frank Schirrmacher, sich danach ellenlang in Konfusion ergießend. Wen will das Wahlvolk: Volkspräsident Gauck oder den Bürgerpräsidenten Wulff? Mann des Volkes oder bürgerlichen Pedell? Wobei nicht ganz sicher ist, wer welche Rolle einnimmt. Was hat denn das Wahlvolk dort eigentlich mitzuentscheiden?, fragt man sich da ratlos. Es erhält doch überhaupt keine Wahlbenachrichtigung, kein Stück Kartonage, das einen erst zum Staatsbürger einer Demokratie macht. Schirrmacher geht noch viel weiter, schreibt zum Schluss seines Tohuwabohus irgendwas von einem "verdammt guten Wahlvolk". Nur welches Wahlvolk? Es gibt doch in dieser Sache gar kein Wahlvolk...

Oder ist er ein bürgerlicher Kämpfer für Basisdemokratie? Ein literarischer Held, den er selbst in seinen Zeilen andeutet; ein basisdemokratischer Literat und Gelehrter mit Weitblick und Vision? Schmiedet er diese hypothetische Fragenstellerei nur, um uns die ganze demokratische Misere dieser Demokratie vor Augen zu halten? Mag sein, dass sich Schirrmacher, wortgewandter Sachverwalter erratischer Lehrsätze, nun gegen dieses abgekartete Wahlmännerprinzip auflehnt; gegen diese Emulsion aus Zwang und Gewissen, wo man dem Gewissen der einbestellten Abnicker zwanghaft vorschreibt, für welchen Kandidaten zwingend eine Amtszeit erzwungen werden soll. Und weil diese georderten Gewissensträger schon nicht nachfragen wollen, so hat sich Schirrmacher wohl gedacht, lassen wir mal das ungefragte Wahlvolk sprechen - läßt es mich für sie sprechen! Dass dieses Ungefragtsein auch ein Glück sein könnte, gerade bei einer so flauen Auswahl, generell in einer Gesellschaft, in der charakterliche Mittelmäßigkeit und ethisches Stümpertum zu den Grundsatzerklärungen der Politik und Wirtschaft gehören: auf diese Idee kommt er freilich nicht.

Denn das wäre wahrlich ein Segen!, könnte man mit schweijkscher Pfiffigkeit ausrufen; welches Glück es doch wäre, wenn die Wahlbenachrichtigung öfters ausbliebe. Man sollte sich ernsthaft überlegen, dem Volk auch die Bundestagswahl zu rauben! Denn dann könnten wir wahllos glücklich im unabwendbaren Unglück schwelgen - und ihr hättet eure verbergende Maske los, könntet die Urnen gleich bei Mohns und Springers, Quandts und Albrechts im Flur aufstellen. Das sparte Zeit und Geld! Und es machte sichtbar, wer wirklich die Wahl hat in diesem Land! Dann dürften wir sogar offiziell von einer Diktatur reden - und das wäre mehr als reizvoll. Macht Diktatur! Macht das Prinzip des Bundespräsidentenwahl zum universellen Leitsatz! Macht aus der freiheitlich duftenden Wirtschaftstyrannei eine wirkliche, greifbare, amtliche Diktatur und erlöst all jene, die heute wie Verschwörungstheoretiker behandelt werden, nur weil sie die wirtschaftliche Despotie als wirkliche Herrin im Lande entlarven.

Ein Frevel derartiges zu fordern? Vielleicht! Ein provokatives Bubenstück? Was denn sonst! Aber es ist auch mehr, ist ein Hintertürchen, eine List der Vernunft. Ein Rückschritt, der Fortschritt bringen könnte - wenn die Willkürherrschaft nicht mehr nur halbamtlich auf Staatskanzleifluren und in Ministerzimmern wütet, sondern frei sichtbar gemacht wird, dann kann die geraubte Mitbestimmung Proteste beschwören, blinde Augen und taube Ohren endlich funktionieren lassen. Und das selbst dann, wenn diese entwendete Mitbestimmung vormals ein halbherziges und wirkungsloses Recht war. Keine Wahl mehr zu haben, untermauert nur den Eindruck, den das Wahlvolk schon seit Jahren hat: nämlich keine Wahl mehr zu haben! Keine Wahl mehr nötig zu haben zwischen Pest und Cholera - keine Wahl der Qual mehr ertragen, nicht mehr zwischen zwei gleichen Köpfen oder vier gleichen Parteien mit verschiedenen Namen entscheiden müssen!

Nehmt uns nicht nur die Bundespräsidentenwahl ab! Nehmt alles an euch, macht eure Zwangsherrschaft komplett, nehmt die Maske der Demokraten ab. Und mit viel Glück, ganz optimistisch betrachtet, reißt das Wahlvolk sich vielleicht doch noch die Schlafmütze vom müden Haupt!

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Facie prima

Samstag, 26. Juni 2010

Heute: Der Privatier, Karl-Theodor zu Guttenberg


Er wird als Normalo und bodenständiger Bürger gezeichnet. Als gemütlicher, lebensfroher Mensch, der den Boden unter den Füßen nicht verloren hat. Es gibt keinen Politiker, der sich so häufig in privater Vertrautheit ablichten läßt, wie der amtierende Verteidigungsminister. Als großer, erdverhafteter Junge von der anderen Straßenseite betritt er regelmäßig die Öffentlichkeit. Zu "einem von uns" soll ihn die Presse machen - und macht sie ihn auch. Zu einem, von dem man sagt, er sei ganz normal, ganz schlicht geblieben, damit man vergisst, dass der Junge von der anderen Straßenseite, eigentlich der steinreiche Adlige von der anderen Seite, nämlich von der anderen Seite der Gesellschaft, ist. Der auf Fotos sich privat gebende Minister, er türmt von seinem "Karl-Theodor", wird zum Kalle, zum Theo - zum konzilianten, liebenswürdigen Mordskerl; einer wählbaren Alternative zwischen all diesen abgehobenen, erdentrückten Aristokraten. Wenn einem der Spagat zwischen Dienstbeflissenheit und außerdienstlicher Normalität gelingt, dann müsse er schließlich etwas auf den Kasten haben, dann müsse er einfach gewählt werden.

Dabei gelingt ihm gar kein Spagat, ganz einfach, weil er gar nicht erst zum Spagat ansetzt. Der Privatier Guttenberg und der Minister Guttenberg sind keine sorgfältig getrennten Gesichter ein und derselben Person - der Privatier umgarnt den Minister, macht den Minister erst beliebt, sichert ihm Sympathiepunkte. Er ist der eigentliche Mandatsträger, der eigentliche Minister - ohne die privaten Allüren wäre Guttenberg so grau wie mancher seine
r Anzüge, so bieder und hölzern wie Tausende andere Politiker auch. Erst der gesellige Part seiner Persönlichkeit, der fein säuberlich auf Hochglanzpapier gebannt wird, erhebt ihn in den Stand der Beliebtheit; erst dadurch adelt sich der Adlige zum Publikumsliebling. Da er medienwirksam joggt, radelt, feiert oder rockt belebt er seine ansonsten leidenschaftslose und langweilige Erscheinung. Erst jetzt, als extravertierter, geselliger Salonlöwe wird aus Karl-Theodor der betörende Kalle; erst dann, wenn der Privatier aus Karl-Theodor herausgekrochen ist, weilt er wirklich im Amt - der Politiker Guttenberg wäre nichts, wenn er sich nicht privat stilisieren würde. Seine einzige politische Qualität ist, dass er seine nicht vorhandenen Qualitäten durch Privatheit kompensiert.
Selten schien der in den Sechzigerjahren verkündete Slogan, wonach auch im Privaten die politische Gesinnung schlummere, so greifbar, so verwirklicht zu sein. Bei Guttenberg sind privat und geschäftlich, Mandat und Geselligkeit, Minister und Lebemann zu einer Einheit verschmolzen. Sein Privates ins politisch - und seine Politik ist seine private Show. An Visionen mangelt es ihm geradeso, wie so gut allen Protagonisten der Landes- oder Bundespolitik; Werte und Ideale sind für ihn austauschbar - wie sonst soll denn ein so lethargischer, monotoner Geck Karriere machen, wenn nicht durch Opportunismus und kalkulierte Anbiederung an den "Mann von der Straße"? Will er seinen Lebenslauf weiter verzieren, so muß er Qualitäten darbieten, die andere nicht vorzuweisen haben: die Marktnische der politischen Privatheit besetzen, um es ökonomisch auszudrücken. Und wo in politischer Trostlosigkeit keine Ideen und Erscheinungen mehr erblühen, da bedarf es eines Äquivalents - und dieses muß nicht unbedingt etwas mit Politik zu tun haben; denn tritt es dann auf den Plan, wird es ganz von selbst politisiert. So wie Guttenbergs inszenierte Hingabe zur Rockmusik, die er in politisches Kapital münzte, weil aus dem zugeschnürten Snob ein feierlauniger Kerl aus unserer Mitte wurde. Guttenbergs Qualität ist es demnach, aus seiner Privatheit einen politischen Wert geschaffen zu haben - der gesellige "Junge aus unserer Mitte", er joggt, radelt, feiert und rockt sich noch zur Kanzlerschaft. Er wäre ein Kanzler, mögen sich die Menschen dieses Landes denken, bei dem auch mal Fünfe gerade wären - ein dufter Typ halt, einer wie wir! Er wäre der Kanzler, der aus dem Privaten kam...

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Esoterisch aus der Krise

Donnerstag, 24. Juni 2010

Weil das eine Sommermärchen torkelt, ist ein anderes dringend notwendig - und siehe da, die Krise scheint plötzlich entfleucht, ein Sommermärchen der etwas anderen Art eingezogen zu sein. Ein Märchen, ein Job-Wunder sei es, weil Kurzarbeit nun vermehrt abgemeldet würde und bis Ende des Jahres etwa 100.000 Stellen entstehen könnten - nochmals: entstehen könnten! Das alleine reicht heute schon aus, um rhetorisch ein Wunder zu bemühen! Und weil sich die Konjunktur erhole - wobei das schon sehr hoffnungsfroh formuliert ist! -, obgleich ein Sparpaket anberaumt sei, bastelt man sich daraus eine griffige Losung für die nächsten Wochen: Keine Angst vorm Sparen! Wie man darauf kommt, dass die Menschen keine Furcht vor der sparsamen Zukunft haben, es wird stets schleierhaft bleiben - wie man überhaupt so dreist sein kann, aus belanglosen Notizen ein Sommermärchen zu fingieren, scheint noch viel rätselhafter. Die einzige Wahrheit zum Sommermärchen ist wohl: es ist ein Märchen - ist also wortwörtlich begutachtet, nicht mal erlogen.

Krise plötzlich weg! Damit daran bloß keiner zweifelt, meldet sich auch Ernst Elitz, einst Gründungsintendant des Deutschlandradios, mittlerweile schäumender Missionar aus dem Hause Springer, zu Wort. Eine schlechte Nachricht gäbe es im Sommermärchen aber doch noch, vermeldet er: es gibt noch zu viele Miesepeter, die niemanden gute Stimmung gönnen würden. Gestrige Gespenster, nennt er sie; Gespenster, die er in die Mottenkiste packen will - Defätisten gehören eingesperrt, sie schaden dem Volkskörper!, polterten andere schon mal. Das ist zwar lange her, aber für Elitz vielleicht noch nicht zu lange! Wir haben keine Wirtschaftskrise mehr - wir haben nur noch eine Krise, weil es uns leider nicht an Miesmachern mangelt; weil wir noch immer genügend Nörgler unter uns haben, die einfach nicht ausreichend Courage besitzen, fadenscheinige Zustände durch Übermittlung positiver Energien zu beschwören, zu beschönigen.

Schluckt Soma, werdet zuversichtlich! Denn begreift: es gibt keine Krisen, es gibt nur Pessimisten - wären diese Schwarzmaler nur dazu fähig, beispielsweise auch der Bettelei etwas Positives abzuverlangen: depressive Stimmungslagen wären wie weggeblasen - niemand bräuchte mehr Antidepressiva! Hier setzen die Verklärer der Armut an, jene Romantiker, die im Elend eine edle Tugend wittern. Armut sei nämlich keine Strafe - sie sei eine glänzende Chance! Und wer das nicht sieht, der soll "weg in die Mottenkiste"! Freut euch des Lebens: auch wenn die Lebensfreude nach und nach wegrationalisiert und -reformiert wird - wer sich trotzdem freut, dem werden Märchen zuteil. Froh zu sein, bedarf es wenig; und wer froh ist, ist ein König! Elitz und Konsorten, diese ganze Clique von Beschwörern und Missmut-Exorzisten, sie wirken fast wie esoterische Lebensberater, wie Kabbalisten und Spiritisten. Für sie liegt der Schlüssel der Verbesserung der Lebensumstände nicht in Fakten, nicht im materiellen Diesseits oder in der strukturellen Organisation einer Gesellschaft - er liegt in einem selbst begraben, in seiner Einstellung, in seiner geistigen Verfassung.

Es gibt gar keine schlechten Zustände, keine Missstände - es gibt nur schlechte Sichtweisen. Verändere das, was du verändern kannst - dich selbst also! Denn die Welt ist wie sie ist, die Welt ist unveränderbar - there is no alternative! Nimm hin, was unabwendbar ist - und reichere dieses Unumgängliche, gleich wie tragisch es auch ist, mit Freude und positiver Energie an! Elitz offenbart sich damit letztlich als Glaubender - er ist ein vortreffliches Beispiel dafür, wie der Glaubenseifer, der früher das Geschäft der Religion war, in den Materialismus - in diesem Falle: in den Kapitalismus - hinüberwechselte. Hoffen und glauben an das Jenseits war gestern; hoffen und glauben an ein Diesseits, das besser scheinen soll als es aber ist, ist heute. Elitz ist kein unabhängiger Kolumnist - er ist religiöser Erbauungstexter und ein Inquisitor für all jene, die seinem strikten Glauben, seiner optimistischen Religion, nicht folgen wollen.

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Eine Zigarette ist manchmal nicht nur eine Zigarette

Mittwoch, 23. Juni 2010

Fast könnte man glauben, in Bayern sei die politische Behaglichkeit ausgebrochen. Da kultivieren die Menschen mancherlei Wohlstandssorge, beobachten zwar wie der Sozialstaat vor die Hunde geht und eine übermütige Umverteilung von unten nach oben betrieben wird - aber den öffentlichen Diskurs bestimmt lediglich der anstehende Volksentscheid zum Rauchverbot.

Nebensächlich ob Pro, ob Contra; unwichtig ob man das Verbot einen Segen oder einen gesetzlich verordneten Gesundheitsfaschismus tauft - das Rauchverbot polarisiert, reaktiviert müde gewordene Wählerschaften, nötigt jedem eine eigene oder vorgefertigte - je nach geistiger Konstitution! - Meinung ab. Gleichwohl immer reichlicher Menschen in Armut abgeschoben, soziale Proteste kriminalisiert und Milliarden an Unternehmen und Banken transferiert werden, gleichwohl also dralle Sorgen, chronische Probleme das Land überziehen: das Rauchverbot wird als Prolog, Drama und Epilog der bayerischen Politik aufgeführt. Wo eigentlich monumentale Nöte thematisiert werden sollten, ereifert sich der politische Betrieb und seine Hofberichterstattung an Randnotizen, bauscht ein Vorhaben auf, welches höchstens randständig von Bedeutung wäre.

Gewiss, ärgerlich mag das Rauchverbot - oder das gegebenenfalls nicht erlassene Rauchverbot - allemal sein. Aber von zentraler Relevanz für die politische Unkultur ist es keinesfalls: man kann auch außerhalb des Gastronomiebetriebes rauchen oder selbigen nicht betreten, wenn er mit Dunst vollgepumpt wird - die Welt geht jedenfalls so oder so, mit oder ohne, nicht zugrunde. Würde man dieser Marginalie allerdings großzügigerweise etwas mehr Wichtigkeit attestieren wollen, würde man sie in den Genuss einer wichtigtuerischen Deutungs- und Auslegungskunst kommen lassen, so müsste man mit etwas weihevollem Hall diagnostizieren, dass die Priorität dieser Nebensächlichkeit zuungunsten von bedeutungsvollen Themen, die indes vornehmlich soziale Fragen betreffen, dem zeitgenössischen Klima geschuldet sind und ihm - in Wechselwirkung - zupass kommen.

Denn was thematisiert wird, ist die Beschneidung oder Wertschätzung der individuellen Freiheit - die große Marlboro Man-Freiheit, die eingezäunt, besser gesagt: aus den Gaststätten ausgeschlossen werden soll, die mit der Freiheit und Unversehrtheit des Nichtrauchers rivalisiert. Individuelle Standpunkte, die beide nicht falsch, nicht verdammenswert sein müssen und auch nicht sind. Aber der Individualismus nimmt die Agenda für sich ein, während Fragen die Solidargemeinschaft betreffend gänzlich vom Tisch genommen scheinen, keinen der Rauchverbotsempörer hinter dem Ofen hervorlockt. Das (Solidar-)Gemeinschaft ist nichts, das Individuum alles! Das schmeichelt dem Zeitgeist, der viel von egoistischen Positionen, von divide et impera zu berichten weiß - er nennt das nur anders, nennt das"individuelle Freiheit". Solidarität kennt er nicht, kennt er nur wenig - die nennt er "soziale Hängematte" oder ähnlich despektierlich. Und in diesem zeitgenössischen Biotop gedeiht die Empörung zu Rauchverboten ausgezeichnet, während sozialer Protest einfach nicht sprießen will.

Sozialgesetzgeberische Fragen haben keine Konjunktur; eine Hausse haben nur Angelegenheiten, die man vermöge kühner Aufbauschung mit individueller Freiheit verbinden kann. Um freiheitlich qualmen zu dürfen, raffen sich Menschen zum Protest auf - aber senkt man Arbeitslosengelder, kürzt man Krankenkassenleistungen, reformiert man das Erziehungs- zum Elterngeld, dann kommt die Wut nur schwer in Gang; und wenn doch, wird sie scheel beäugt und für suspekte linke Despotie gehalten. Erstere sind Kinder dieser Zeit; zweitere verklärt man zu anachronistischen Schwärmern. Es ist mitnichten so, dass man der Politik die Auftragsvergabe des agenda setting unterstellen müsste; ein agenda setting, das politische Lappalien hochspielt - es sind schon die Menschen selbst, die sich für die Nichtigkeit leidenschaftlicher ereifern wollen, wenn sie darin einen Eingriff in ihre eigene Freiheit vermuten; greift man jedoch die kollektive Freiheit per reformerischer Gesetzgebung an, bleibt die Freiheitsberaubung abstrakt, irgendwie unanschaulich und unwirklich, ist daher für sie nicht wert bekämpft zu werden.

Die Staude des Egoismus also, Ich-Gesinnung und militanter Individualismus, trägt vollreife Früchte. Es hat also gefruchtet: die Spaltung der Gesellschaft, das Züchten von Ichlingen und die Entsolidarisierung zur Stärkung etwaiger Eigennutztheorien, die den klassischen Utilitarismus wie einen taubstummen Waisenknaben aussehen lassen. Das alles jedenfalls könnte man im Gekeife um das Rauchverbot erahnen, wenn man ihm, wie bereits erwähnt, weitherzig etwas Wichtigkeit zukommen ließe, wenn man sich die Mühe machte, dieses politische Kinkerlitzchen nur etwas ernster, etwas gewichtiger zu nehmen. Ansonsten müßte man es fast schon wie Sigmund Freud sehen, der seinerzeit lapidar bemerkte, dass nicht überall der verklausulierte Phallus lauere, demnach eine Zigarre auch mal nur eine Zigarre sein könne. Möglich, dass man in die Rauchschwaden des öffentlichen Diskurses zuviel hineininterpretiert - denn vielleicht ist eine Zigarette manchmal eben doch nur eine Zigarette...

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Ridendo dicere verum

Dienstag, 22. Juni 2010

"Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter zu stehn. Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter zu sitzen."
- Kurt Tucholsky -

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Leistungsvollzug

Montag, 21. Juni 2010

Führerscheinentzug auch bei Diebstahl und Körperverletzung, steht nun scheinbar auf der Tagesordnung. Denn auch dieser sei eine "Art Freiheitsentzug, der die in unserer Gesellschaft so wichtige Bewegungsfreiheit einschränkt" - man ist innovativ, Fußfesseln waren einstmals; jetzt soll Bewegungsfreiheit kreativ eingeengt werden. Dabei bräuchte man gar keinen besonders reichhaltigen Fundus an Kreativität, um die Bewegungsfreiheit zu mindern.

Mit Einführung des Arbeitslosengeld II hat man doch alle Mittel ausgeschöpft, die "Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet" (Art. 11 GG) zu beschneiden. Ein gelungener Coup, der dezente Haftbedingungen in die hypothetische Freiheit einmauerte. Damit ist nicht ausschließlich die liebevoll genannte Residenzpflicht gemeint, die Artikel 11 GG einschränkt, sondern auch die finanzielle und soziale Inhaftierung der betroffenen Menschen. Mit unzureichenden Regelsätzen werden sie an der kurzen Leine gehalten, werden ausgegrenzt und landen, auch dank einer kriminalisierenden und verächtlichen Berichterstattung seitens der Medien, im gesellschaftlichen Abseits. Ein eigener Wagen wird zum unerschwinglichen Luxus, neue Kleidung zur lang geplanten Investition, kulturelle Teilhabe zum kostspieligen Pomp - und ehe man sich versieht, inhaftiert sich der Betroffene selbst, igelt sich in seinem allmählich verfallenden Zuhause ein, meidet die Öffentlichkeit und züchtet sich den feinsten Minderwertigkeitskomplex heran, den man noch nicht mal behandeln läßt, weil man sich einredet, er sei in dieser sozialen Situation logische Normalität und daher hinzunehmen.

Das Instrumentarium zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist bereits geliefert, der Führerscheinentzug damit unerheblich. Leistungsbezug war früher, heute gibt es Leistungsvollzug! Fürwahr mutet der offene Vollzug im Geiste des Sozialgesetzbuches kerkerhafter an, weniger human als eine einkassierte Fahrlizenz - ist damit für die Freunde energischen Durchgreifens und Bestrafens auch viel geeigneter. Man nehme Langfingern nicht die Fahrerlaubnis - man schicke ihnen einen Antrag auf ALG II ins Haus; laßt dem Raufbold die mobile Freiheit - mit dem Bewilligungsbescheid erlischt die mobile Freiheit ohnehin, weil es erstens an der Finanzierung eines Wagens mangelt und, zweitens, die Mobilität vom örtlichen Arbeitsvermittler erlaubt werden muß. An den sich nun innovativ gebenden Innenministern ist die leistungsfähigste Innovation des Justizmarktes vollkommen vorbeigegangen - mit Hartz IV zu sühnen: das ist ein zukunftsfähiger Ansatz!

Einer, der den US-amerikanischen Zuständen zuvorkommt. Denn was hinter der sachfremden Sühne etwaiger Delikte mittels Führerscheinabnahme schimmert, ist die Flucht nach vorne. Dort wo Armut nachhaltig wütet, wo staatlich organisierte Solidargemeinschaften entweder nie existiert haben oder stürmisch deinstalliert werden, gedeiht Kriminalität, erblühen Gewalt und Raub. Die Vereinigten Staaten plagen sich mit überfüllten Knästen; nicht mal im oligarchischen Rußland werden, gemessen am Bevölkerungsanteil, derart viele Menschen hinter Gittern gesetzt - von der Fußfessel, die in vielen US-Bundesstaaten ein gesetzliches Mittel zum Festsetzen von Straftätern ist, also eine Art heimisches Ersatzgefängnis darstellt, gar nicht erst zu sprechen. Knäste sind teuer, überbelegte Knäste noch teurer, in Tagen der Sparwut gar nicht finanzierbar - da muß man sich Gedanken machen, muß man ersatzweise alternative Bestrafungsmodi ersinnen. Und nachdem die Fußfessel als Testballon der öffentlichen Meinungserhebung bereits auf dem Prüfstand war und keine große Anhängerschar verzeichnen konnte, muß man konzilianter agieren.

Der Führerschein als Repressionsmittel ist hierzu bestens geeignet. Schließlich kennt jeder Leute, denen schon mal der Schein abgenommen wurde - das Vorgehen ist demnach nichts Neues, auch wenn die Gründe für den Entzug nun viel variabler sein können als früher. In Zeiten da der Solidaritätsgedanke, der letzte Rest Sozialstaat nun endgültig atomisiert werden soll, die Kriminalität zwangsläufig anwachsen wird, will sich als europäisches Land von Format eine Unze Aufgeklärtheit konservieren, indem man dem direkten Polizei- und Knaststaat mittels Varianten offenen Strafvollzugs entflieht - nur einen indirekten Polizeistaat anstrebt und den Gewahrsam privatisiert. Der geplante Führerscheinentzug ist bloß eine maßvolle Spielart - Hartz IV, nicht nur geplant, sondern schon lange wirklich und stets neu justiert und optimiert, entkleidet sich als brutale Version des in Haft nehmenden Staates. Und "justieren" bedeutet in diesem Kontext: das Existenzminimum so weit herabzuschrauben wie möglich, dabei aber penibel darauf achten, die betroffenen Menschen nicht zu Kriminellen werden zu lassen - SGB II-Optimierunggesetz bedeutet demnach: zum Leben zu wenig, zum Stehlen zu viel zu belassen. Und darüber schwebt die ständige Angst vor der Regelsatzkürzung; auch sie ist präventive Kriminalitätsbekämpfung und Einschüchterungstaktik, soll diejenigen zähmen, die urplötzlich beginnen, am Unrecht der bürgerlichen Eigentumsidee zu zweifeln.

Was dann noch folgen könnte, ist die Banlieuisierung der Städte, die freiheitlich-demokratische Fassung der Ghettoisierung - ungeplante Ghettos, die rein zufällig entstanden seien, weil es der freie Markt so gelenkt habe und die der Gesellschaft eine eigene Gesetzgebung abnötigen...

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Gebt, damit wir nehmen können

Sonntag, 20. Juni 2010

Ein abgefangenes Kassiber, das im deutschen WM-Quartier nie ankam.

Wie könnt ihr uns nur dermaßen in den Rücken fallen? Was war denn abgemacht? Halbfinale war vereinbart - Halbfinale und ein großes Tamtam seitens der Medien! An denen liegt es ausnahmsweise nicht - aber ihr, ihr vertändelt den Aufstieg ins Achtelfinale und bringt unseren schönen Plan ins Wanken. Wenn ihr tatsächlich gegen Ghana eingeht, woher soll dann der Rummel, das Tratra herkommen? Ihr gefährdet nicht nur euren sportlichen Erfolg, ihr gefährdet den sozialen Frieden, ihr unverantwortlichen Hampel! Ein wenig mehr Verantwortungsgefühl stünde euch blendend zur Visage.

Vorgabe war, dass ihr die Massen toll macht; ihr solltet einen nationalen Massenrausch für Arme inszenieren, damit wir denen - den Armen - ungestört in die Taschen fassen können. Der soziale Friede braucht den Suff, er kann nur im trunkenen Milieu gedeihen. Und ihr entzieht denen die Trunkenheit und uns die zahme Gemütslage. Bemüht euch, kämpft, marschiert - die Medien warten nur auf das Spektakel: sie haben uns versprochen, die wirkliche Welt außerhalb des Fußballs stillstehen zu lassen, wenn ihr ein erfolgreiches, den sozialen Frieden sicherndes Turnier spielt. Stillstehen lassen, damit wir in der Stille fuhrwerken können. Könnt ihr uns verraten, welches Ablenkungspotenzial wir noch in petto hätten? Nach der Weltmeisterschaft wacht die Tristesse, gibt es keine massentaugliche Zerstreuung mehr - nur ihr könnt sie in den Griff bekommen!

Wir können uns kein Serbien mehr leisten, wenn wir hier, in unserem Lande, keine balkanisierten Zustände haben möchten. Jeder tut was er kann gegen die Krise - wir greifen in Taschen, einige arme Säue blechen und ihr kämpft und lauft und gewinnt! So dient ihr eurem Land - eine Dienerschaft im Sozialbereich, denn ihr dient dem sozialen Frieden, ihr müßt ihn am Leben halten. Jahre der Welt- oder Europameisterschaft sind das soziale Jahr des Kickers! Lauft, nicht um euer Leben - lauft um unser aller Leben. Denn wehe uns, die südafrikanische Ablenkungstaktik fruchtet nicht mehr! Ihr seid mehr als eine Horde kurzhosiger Balltreter; ihr spielt und rackert für die Krone des deutschen Gezüchtes. Für Konzernbosse, Manager und Unternehmerfamilien! Für sie beackert ihr die südafrikanischen Felder, für sie müßt ihr weiter, noch weiter, weit kommen und den nationalen Rausch entfesseln. Der Pokal ist nur Firlefanz, denn der wahre Grund eures Engagements sind die Eigenheime und Pools, die Karossen und Yachten unserer Klientel - Heim und Hof jener Damen und Herren verteidigt ihr auf der südlichen Erdhalbkugel!

Habt ihr daran gedacht, als ihr so uninspiriert über das Feld gestolpert seid? Dieses hehre Motiv ist euch entfallen, könnte man vermuten. Vielleicht hat man euch darüber auch nie aufgeklärt. Jetzt aber wisst ihr es, jetzt müssen Taten und Siege folgen. Wir wollen sparen, wir müssen sparen - aber nicht am Rausch, nicht am nationalen Delirium. Dort sind wir gerne großzügig - nur dort wo man generös große, pathetische Gefühle wachkitzelt, kann man auch großzügig im Sozialwesen sparen. Erst muß man geben und dann nehmen - einen Staat zu leiten heißt immer Geben und Nehmen. Ihr gebt, damit wir nehmen können! Mehr verlangt niemand von euch. Seid einfach gute Patrioten und seid behilflich dabei, dieses Land zu festigen. Eine bescheidene Bitte - mehr nicht.

Man kann euch nicht drohen, so wie es möglicherweise Kim-Jong-Il mit seinen Kickern handhabt. Ob er ihnen wirklich droht, ob er sich wirklich sanktioniert, weiß man nicht. Schön ist so eine Vorstellung allerdings schon - ein Land, das müdes Personal bestraft: in den dekadenten Demokratien des Westens ist das nicht mehr möglich. Ein drohendes Beil, Berufsverbot, Hausarrest - das würde müde Beine wieder munter machen. Dieses Prinzip ist für uns ehern, wir haben es auch ins SGB II einfließen lassen - nur der stetige Druck ringt den müden Charakter zu Boden, erpresst ihn zu Fleiß, schafft Anreize. Das ist die eigentliche Misere unserer Zeit: dass man als Regierender auf mittelprächtiges Personal angewiesen ist und dass man es nicht mal ordentlich bestrafen darf - gebt uns grenzenlose Repression, dann geben wir euch eine friedliche und ausgeglichene Gesellschaft. Druck ist gleich Leistung ist gleich Frieden!

Dass wir uns richtig verstehen: die kommenden Monate werden schwer, selbst dann, wenn ihr uns ein neues Sommermärchen beschert. Aber so ganz ohne Sommermärchen wird es ungemütlich. Der Clou ist ja, dass ihr keine filigranen Ballkünstler seid - eine solche Truppe könnte keine Märchen schreiben, denn ein Erfolg wäre Normalität. Dass ihr ein Gurkenregiment seid, welches sich dennoch weit vorankämpft: das ist der Stoff aus dem Märchen sind! Versteht richtig: wir wollen gar nicht, dass ihr besser, spektakulärer spielt - ihr sollt ja gerade so weiterkicken, wie ihr es könnt oder besser: nicht könnt. Wir wollen und brauchen nur Erfolg, kein ansehnliches Spiel; wir brauchen Erfolg trotz Rumpelei - wenn wir Fußballkunst sehen wollen, schauen wir den Argentiniern oder Spaniern zu. Versteht also richtig: wir verlangen nichts Utopisches; ihr sollt so bleiben wie ihr seid, nur etwas erfolgreicher, mit nachhaltiger Turnieranwesenheit.

Das ist jedenfalls die letzte Mahnung. Wenn euch Ghana rupft, dann könnte es sein, dass schon morgen Villen brennen! Könnte sein! Passieren wird das vielleicht nicht gleich, denn auf die verblödende Journaille ist Verlass. Doch dann müssten wir vielleicht unser Sparvorhaben zurückziehen. Und auch das wäre der Untergang unseres Landes. Es liegt also einzig und alleine an euch, den Frieden zu erhalten. Ihr glaubt es vielleicht nicht, aber euer Einsatz in Südafrika ist ein humanitärer Inlandseinsatz, eine Friedensmission. Schafft Frieden für die Mohns, Albrechts, Quandts und wie sie alle heißen - sie haben eure Erfolge bitter nötig. Wenn ihr siegt, siegen auch sie - siegt die Freiheit: ihre Freiheit! Und wenn sie frei sind, sind wir alle frei. Ihr seid Freiheitskämpfer! Enttäuscht uns nicht, werft unser Land nicht den Säuen zum Fraß vor!

Gezeichnet,
ein besorgter Fan aus dem Dunstkreis der Bundesregierung

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Ein für pessimistisch befundener Realist

Samstag, 19. Juni 2010

oder: zum Tode José Saramagos - ein Nachruf.


Nur wenigen Romanen wird die unaufhörliche Aufmerksamkeit des Lesers zuteil; nur wenigen Romanciers gelingt es, die Leserschaft so sehr an eines ihrer Werke zu fesseln, dass diese nicht mehr aus der Erzählung heraussteigen will. Nur wenige Erzähler vermögen es, den Leser wie gebannt ins gebundene Papier starren, ihn unablässig die Geschichte weiter und weiter treiben zu lassen. Noch ein Satz - noch ein Absatz - noch eine Seite - noch ein Kapitel! Wie im Akkord schuftet und schwitzt er sich durch das Buch, nur selten unterbrechend, selten pausierend. Es gibt nur wenige Autoren, die dem Leser das Weglegen eines ihrer Werke erschweren, nur wenige, die das Verlangen nach Weiterlesen schüren können, die es beherrschen, den Leser dazu zu drängen, möglichst gleich wieder dessen Nase in die Angelegenheiten des Romanciers zu stecken. Nur wenige Romane; nur wenige Romanciers! Ein solcher Roman ist die "Stadt der Blinden"; ein solcher Romancier ist... war José Saramago.

Plötzlich breitet sich Erblindung wie eine Epidemie aus. Ansteckende Blindheit! Nach und nach erblinden die Menschen und die Sehenden, die die noch sehen können (denn langsam ereilt jeden dasselbe Schicksal), internieren die Erkrankten in Lagern und zweckentfremdeten Gemäuern. Saramago beschreibt ein solches Internierungslager, in denen alle blind sind - bis auf eine Frau, die aus ungeklärten Umständen nicht erblindet, die sich aber nicht als Sehende zu erkennen gibt; nur ihr Mann und eine Handvoll Insassen wissen davon. Organisation scheint unmöglich, wenn man auch beseelt ist, das Lagerleben zu strukturieren. Schon bald bricht das Chaos aus, die hygienischen Zustände stinken zum Himmel, das Lager ist überfüllt und das Essen knapp. In diesem Klima aus Dreck und Mangel erwachen niederste Instinkte - eine Gruppe blinder Haudraufs eignet sich die wöchentliche Essensration an und erpresst die anderen Insassen. Hilflos aus der Welt der Sehenden verbannt, entsteht ein blinder Mikrokosmos innerhalb der Lagermauern - die Sehenden mischen sich aus Angst vor Ansteckung nicht ein. Die sehende Frau wird einzige Augenzeugin davon, wie der Tumult zum täglichen Leben wird: Diebstahl, Gewalt, Prostitution - es entsteht ein Gemeinwesen auf engstem Raum, in dem es keine ordnende Macht mehr gibt, in dem ethische Gesinnung zum Luxus wird, den man sich nicht leisten kann, wenn man überleben möchte. Die Sehende greift jedoch kaum ein, möchte nicht zum Blindenhund aller Erblindeten werden, damit sie ungehindert für ihren Mann sorgen kann.

Immer wieder wurde Saramago als Pessimist tituliert. In jener Stadt der Blinden sitzend, verwundert das nicht. Denn seine Parabel offenbart zunächst zweierlei: sie schlägt jenen Armutsromantikern ein Schnippchen, die stets selbstgefällig und verklärend behaupten, dass in Armut und Not zurückgelassene Gesellschaften zwangsläufig immer zur gegenseitigen Hilfsbereitschaft tendieren, zur brüderlichen Gesellschaft würden. Und sie zeigt auf, dass auf Hilfe einer Minderheit von Bessergestellten, die Hilfe einer sehenden Frau in jenem Fall, nicht zu warten ist. Ungehemmte Not, lehrt Saramago, treibt nicht zur gegenseitigen Hilfe - sie treibt zur Gewalt, zur Unterdrückung, zum Recht des Stärkeren. Und keiner kann die Welt alleine retten, schreit er uns zu, ein Sehender rettet die blinde Menschheit nicht - darf er nicht mal versuchen, wenn er sich und die Seinen nicht gefährden will. Pessimistisch fürwahr - doch nicht unabwendbar. Denn so überraschend wie die Blindheit über die Welt kam, so überraschend verschwindet sie am Ende der Erzählung wieder. Zurück bleiben Menschen, die Demut gelehrt bekamen - Menschen, die auf ihre Unzulänglichkeit, Verletzlichkeit, Endlichkeit zurückgeworfen waren, die ihre natürliche Nacktheit erlebten; Menschen, die sich im Dreck suhlten, wahllos kopulierten und vor aller blinden Augen - und dem Augenpaar der sehenden Frau und den geistigen Augen der Leser - schissen und onanierten, Lebensmittel verbargen und sich für solche prostituierten. Saramagos Pessimismus löst sich aber ins Gegenteil auf; aus jeder Krise erwächst vielleicht ein Neubeginn - aber Leid und Gewalt pflastern den Weg. Die Protagonisten seiner Erzählung erhielten Einsichten, obwohl sie keine freie Sicht hatten - zu sehen ohne zu sehen: auch das ist nicht unbedingt pessimistisch.

Saramago einst im Interview: "Jeder sagt, Sie sind ein Pessimist! Aber ich antworte immer: Nein, nein, ich bin kein Pessimist. Es ist die Welt die so schlecht ist!" Er befand sich nicht als Schwarzmaler, er glaubte die Welt so zu sehen, wie sie war und ist. Ein Realist schlussendlich - was auch die Schwedische Akademie 1998 befand, als sie ihm den Literaturnobelpreis verlieh. In der Laudatio hieß es damals: "für sein Werk, dessen Parabeln die Menschen die trügerische Wirklichkeit fassen lassen"... nicht ihn, den Erzähler, trügt der Schein; nicht er betrügt sich mit einem literarischen Pessimismus selbst - nein, die Wirklichkeit ist zuweilen trügerisch. Sie einzufangen, das Trugbild aufzulösen: das war Aufgabe für einen, der Realist war; war Aufgabe Saramagos! Was konnte er denn dafür, dass die Welt so schlecht war, immer noch so schlecht ist? Und es ist auch nicht seine Schuld, dass sie es bleiben wird, wie er unter dem Vorwurf, wahrscheinlich nun doch ein Pessimist zu sein, vor einigen Jahren noch in einem Interview anklingen ließ: "Ich weigere mich zu akzeptieren, dass die Welt so sein muss. Ich weigere mich. Für mich ist das nicht wichtig, ich bin 84 Jahre alt, in zwei oder drei Jahren, vielleicht noch weniger, bin ich nicht mehr da. Also könnte mir das alles egal sein. Aber es ist mir nun mal nicht egal. Ich bin in eine ungerechte Welt hineingeboren worden und ich werde eine ungerechte Welt verlassen."

Es wurden noch drei Jahre - auch hier war er nicht pessimistisch; er hat realistisch betrachtet und Recht behalten. Was von ihm bleibt sind Geschichten voll erzählerischer Tiefe, gespickt mit jenen Einsichten, die er in seinem langen Leben ansammelte. Es sind die Sichtweisen eines Atheisten und Sozialisten (der Vatikan protestierte, als man ihn mit dem Nobelpreis auszeichnete), der niemals dogmatisch seine Überzeugungen vertrat, der sich jedoch freidenkerisch und mit viel Poesie zu den Problemen seines Landes äußerte. Ein Autor, der nie vergessen hat, worin seine Stärken liegen: im Schreiben! Einer, der sich nicht künstlich zur politischen Figur erhob, der bei seinen Leisten blieb. Aber einer, der sich immer wieder in den öffentlichen Diskurs einmischte - der personifizierte Beweis dafür, auch am Schreibtisch wesentliche Arbeit zur Gestaltung der Welt leisten zu können. Eine Welt, die schlecht ist - der man sich aber so, wie sie jetzt ist, verweigern kann.

José Saramago hat gestern, so wie er es angekündigt hatte, eine ungerechte Welt verlassen.

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Sit venia verbo

Freitag, 18. Juni 2010

"Die moralischste Wirtschaftsordnung ist diejenige, die mit dem geringsten Anspruch an die Moral des Einzelnen auskommt."
- Oswald von Nell-Breuning -

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Die sich vergessen machen

Donnerstag, 17. Juni 2010

Unbedingt vergessen machen, dass es die Mafia gibt!, wurde zum neuen Gebot der sizilianischen Cosa Nostra, als sich im Jahr 1992 die Wut der Sizilianer gegen sie richtete. Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, beide Juristen, die zwei bekanntesten und erfolgreichsten "Mafia-Jäger", fanden von Mörder- und Mafiahand den Tod - und wie selten zuvor machten die sizilianischen Massen deutlich, dass sie so ein Vorgehen, dass sie diese Brutalität der Mafia nicht mehr dulden werden. Für Bernardo Provenzano, Kopf der Cosa Nostra, capo dei tutti capi (Boss aller Bosse) Siziliens war es unbestreitbar, dass sein Gewerbe keine Imagekampagne braucht: es sollte geräuschlos gemacht, für nicht existent erklärt werden. Die Mafia, so schrieb es Provenzano seinen Mitarbeitern vor, gäbe es nicht für die Öffentlichkeit nicht mehr, habe es eigentlich nie so wirklich gegeben - was es aber gäbe sind Verbrechen und Verbrecher, Gruppen mit bestimmten Interessen, aber diese seien nicht zentralistisch beauftragt. Einzelfälle von Kriminalität eben, einzelne Kriminelle, einzeln verstreute Straftaten - jedoch keine organisierte Kriminalität. Und just schmettern korrumpierte italienische Politiker Arien von den vielen kleinen Verbrechern, die nur vereint in ihrer Gewaltbereitschaft, nicht aber in einer Organisation sind.

Zum Einzelfall zu erklären: das ist die gelungenste Taktik, wenn es darum geht, unliebsame Bewegungen und Interessensgruppen zu verschleiern. Davon könnte der Neoliberalismus, wenn es ihn denn gäbe, ein Liedchen singen - nochmals wiederholt: wenn es ihn denn gäbe! Denn dass es ihn nicht gibt, dass er bestenfalls ein Kampfbegriff ist, irgendein ausgedachtes Scheusal ohne konkrete Erfassbarkeit, das ist für jene, die "unbedingt vergessen machen wollen, dass es ihn gibt", die stets zu verkündende frohe Botschaft, ihr täglich' Brot. Verdunkeln, verwischen, beschwichtigen, abwiegeln - das ist die List ehrenwerter Gesellschaften. Demgemäß gibt es keine Denkschule, die unter anderem staatliche Kontrolle und Überwachung abbauen, Privatisierung vorantreiben will - wenn es dennoch so aussieht, erklären sie dann ganz seriös, dann ist das Zufall, ist das eine zufällige Häufung gleichlautender Einzelinteressen; aber eine neoliberale Ausrichtung oder gar Bewegung, eine zentral verwaltete Stoßrichtung, gäbe es nicht. Verschwörungstheoretiker, die in solche Richtungen denken!

Zufall eben. Aber nicht nur! Zwar gäbe es "den Neoliberalismus" nicht, damit auch keine Stiftungen oder Initiativen, keine Verbände und Vereinigungen, die im neoliberalen Geiste durch die Lande huschen, doch wenn rein zufällig lauter gleichgeartete Einzelfälle auftreten, wenn sich also rein zufällig Einzelfall A und Einzelfall B mit dem Einzelfall C darüber einig sind, dass mehr Arbeitsplätze nur dann entstehen, wenn man rigoros den Kündigungsschutz lockert oder besser noch: ganz aufhebt - wenn also solcherart Einigung besteht, dann ist das nicht zentralisierte, organisierte Wirtschaftsdogmatik, dann ist das nicht mal Zufall: es ist wirtschaftliche Vernunft, die sich endlich durchzusetzen scheint, der sich kein Sehender verschließen kann. Denn die Vernunft obsiegt letztlich immer! So wie die vielen einzelnen Verbrecher, die nicht der Mafia angehören, weil es die Mafia nicht gibt, nicht nur Zufall sind: sie verfügen alle nur gleichsam über kriminelle Energie - was ein anderes Wort für wirtschaftlichsdogmatische Vernunft ist.

Freilich muß man unterscheiden: die Verbrechen gleichen sich nicht völlig. Hie werden monetäre Verbrechen begangen, dort physische Straftaten ausgeübt; auf der einen Seite überstellt man Menschen einem langwierigen Verfall, auf der anderen wird flott gemeuchelt; hüben Initiativen und Stiftungen, drüben macht man in Olivenöl und Zitronen. Ja, man muß unterscheiden zwischen Wirtschaft und Kriminalität, Kriminalität und Wirtschaft - nur um letztlich festzustellen, dass eine saubere Trennlinie nicht zu ermitteln ist. Wirtschaft und Kriminalität: zwei Bereiche, in denen es um das Vergessenmachen geht - zwei Schattenwelten, in denen Verbrechen auf jeweils verschiedene und doch so gleiche Weise ausgeübt werden. Beide gibt es offiziell nicht, will es nicht geben: dümmliches Schicksal, Zufall oder Vernunft, dass ein Heer an Einzelfällen auftritt, das es so aussehen läßt, als gäbe es das organisierte Verbrechen doch - zur Vernunft verklärter Zufall nur, nicht Organisation! Die Mafia, das organisierte Verbrechen also, gibt es nicht; den Neoliberalismus, das organisierte Verbrechen also, auch nicht!

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Bloß keine Reichensteuer!

Mittwoch, 16. Juni 2010

Zögerlich kommt die Reichensteuer aufs Tapet. Lediglich verhalten selbstverständlich, nur bedächtig widmet man sich ihr - aber einige Prozentchen, so sprudelt es selbst aus dem Mund begüterter Zeitgenossen, wären schon drin, sollten auch unbedingt abgeleistet werden. Man muß nicht übertreiben, liest man aus solchen Äußerungen, man muß ja nicht gleich an den Grundfesten des Reichtums herummelken, aber eine unmaßgebliche Abschlagszahlung sollte doch machbar sein und auch politisch umgesetzt werden. Ein bisschen Reichensteuer bittesehr, damit klassenübergreifend gespart werden kann; damit eine friedliche Nation von Sparern erblüht, in der jeder seinen Beitrag zur gemeinsamen Kraftanstrengung leistet, in der alle ohne Rücksicht auf geldliche Verhältnisse gleichermaßen gemolken werden.

Die unaufdringliche Reichensteuer, so wie sie manchem betuchten Verfechter vorschwebt, sie ist nicht mehr als ein Feigenblatt; soll die bodenlosen Kürzungen im Sozialwesen, wenn nicht verstecken, so doch erträglich machen. Habt euch nicht so!, rufen sie dann vom Olymp herab, wir leisten doch auch Anteil, führen mehr Steuern ab, lassen uns unseren Wohlstand eingrenzen. Sicherlich tut es mancher Mutter aus der Unterschicht weh, kein Elterngeld zu erhalten; freilich sind zurückbehaltene Heizkostenzuschüsse schmerzlich - aber bitte, nicht so eingleisig, nicht so egozentrisch! Auch andere leiden, auch andere müssen mit weniger auskommen - alle in einem Boot! Und weil dem so ist, dürfen die Insassen nicht derart einseitig Platz nehmen, denn sonst kippt der Kahn. Wer über gestrichene Zuschüsse klagt, dazu auch noch einen Groll gegen Bessergestellte hegt, so werden sie dann bekanntgeben, der ist blind für den klassenübergreifenden Kraftakt dieser Nation, der ist wahrscheinlich sogar ein bisschen asozial.

Nein, die als Reichensteuer titulierte Forderung nach höherer Besteuerung von ausladenden Einkommen, ist in der Form, wie sie bestimmten sozial angestrichenen Vermögenden im Sinn herumgeistert, kein Mittel zur Aufrechterhaltung des Sozialstaates. Einerseits reicht die angestrebte Erhöhung kaum aus, andererseits ist sie ein Instrument der scheinbaren Zufriedenstellung. Sie soll das Knurren und Murren bändigen, soll suggerieren, es ginge in diesem Lande jeden an den Kragen zur Sanierung der Staatsfinanzen. Sie ist als Ablasszahlung erdacht; Ablass, der zwar nicht die schlechten Gewissen einiger reicher Leute beseitigen soll, denn für Reichtum muß man sich doch nicht schämen, sich mit einem hadernden Gewissen plagen - aber den sozialen Frieden, die Villa und den Luxusschlitten soll er fraglos sichern. Daher: Bloß keine Reichensteuer! Solange nicht, bis sie im wirklich erklecklichen Ausmaß angesteuert wird; solange nicht, bis die Kürzungen am unteren Ende der Gesellschaft, wo jeder eingesparte Euro Existenzen vernichten kann, zurückgenommen werden!

Behaltet eure Almosen!, sollte die Devise lauten - und wenn ihr sie nicht behalten wollt, dann glaubt nicht, ihr könnt euch damit den sozialen Frieden erkaufen!, müßte man ihnen zurufen. Sollte, müßte... nichts dergleichen wird geschehen. Man wird sich über den Weg der Medien Dankbarkeit zusammenreimen, wird den potenten und generösen Reichenbesteuerte Habenichtse präsentieren, die sich erkenntlich verneigen - und man wird sie als Retter des Sozialstaatsgedankens und des Gleichheitsprinzips rühmen. Keine handfesten Retter, die dem Sozialstaat finanziell Atem einhauchen, eher sowas wie symbolische Retter - denn: alleine der Gedanke zählt! Und denen, die wirklich jeden Cent benötigen wird man eintrichtern, dass jeder blute, selbst hohe Damen und Herren würden dem Aderlaß unterworfen: Nur nicht klagen, Unterschicht!

Wer da dezent besteuert werden will sind Vertreter einer Gesinnung, die stets vorgibt, alles sei einkaufbar: sogar das Wehklagen der Armen könne aufgekauft und in dunkle Truhen gesperrt werden. Daher: nur keine Reichensteuer! Führt man sie so ein, wie sie derzeit durch die Öffentlichkeit geistert, beseitigt sie die Armut, indem sie sie kanalisiert und mundtot macht! Keine Reichensteuer in Prozentchen-Höhe; keine Reichensteuer als Instrument!

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Sie konnten gar nicht anders handeln...

Dienstag, 15. Juni 2010

Das Vertrauensverhältnis hätten Sie schwer belastet, liebe Frau Emme - diminutiv "Emmely" gerufen -; so urteilte das Bundesarbeitsgericht zwar auch, gab Ihrem ehemaligen und wahrscheinlich baldigen Arbeitgeber demzufolge recht, kassierte aber die gegen Sie ausgesprochene Kündigung dennoch ein. Eine Abmahnung zur Bestrafung Ihrer Dreistigkeit, die Sie zwei verwaiste Pfandbons einlösen ließ, hätte völlig genügt, urteilten die Richter. Ob ein solches Einlösen moralisch ist oder nicht, soll hier nicht mehr erläutert werden: zu oft wurde Ihre Geschichte wiedergekäut, aufgebauscht, ausgeschlachtet - und moralische Exegese wurde eh wild betrieben. Daher keine weiteren ethischen Bulletins hierzu!

Lassen Sie uns über das Vertrauen sprechen, mit welchem in Ihrer Branche, so scheints, noch so hoch gehandelt wird. Ein prahlerisches Elysium voller Zutrauen und Verlässlichkeit, baut sich da vor unserem geistigen Auge auf; wir sehen Supermärkte und Discounter, in denen das Vertrauen waltet - sich strebsam gegen den allerorten praktizierten und vorangetriebenen Stellen- und Vertrauensabbau sträubt. Und dann beobachten wir Sie, liebe Frau Emme, wie Sie täppisch in dieses Idyll stolpern, berechnend raffgierig und knauserig eigennützig. Wie können Sie nur?, will man Ihnen zurufen. Weshalb demolieren Sie diese vertrauensvolle Welt?, möchte man Sie fragen. Kein Wunder, Ihr Dienstherr erdichtete sich frei von jeglicher Scham, ganz öffentlich, ansehnlich medienwirksam, ein Vertrauensverhältnis, welches Sie mutmaßlich strapaziert hätten - und die Richterschaft hat fleißig mitgedichtet, sich allerlei Reime über Vertrauensbruch einfallen lassen. Klar, dass man als neutraler Beobachter irgendwann glaubt, Sie hätten das Vertrauen aus Ihrer Branche geprügelt, die heilige Omertá Ihres Berufszweigs gebrochen.

Dabei ist jene Sparte, in der billig noch zu teuer ist, in der Preise unterboten und nochmals unterboten werden, kein gesegnetes Pflaster für vertrauensvolle Basen. Wo die Geizgeilheit und die Billigmanie wüten, da ist für Vertrauen wenig Spielraum. Geringfügig bezahltes Personal, unbezahlte Überstunden, die Demontage sozialversicherungspflichtiger Stellen - all das läßt Vertrauen zu einer unerfüllbaren Annahme werden, zu einem fossilen Begriff, der eben nicht mehr als Begriff ist, keinesfalls spürbare Konstellation zwischen Partnern. In so einem Biotop fühlen sich Angestellte schnell ausgenutzt und ausgebeutet, entwickeln Unzufriedenheit, glauben sich zum selben austauschbaren Ramsch zu verformen, den sie tagsüber in Discounter-Regale ordnen. Aufmüpfige Belegschaften zieht man sich da heran, die man kontrollieren, begutachten, überwachen, prüfen und kleinhalten muß. Hier kommen die Horrormeldungen aus dem Paradies der Billigware ins Spiel: Beschattung, Observation, heimlich angelegte Mitarbeiterakten und allerlei stasifiziertes Vorgehen mehr.

Auch solche Meldungen aus dem Hause Lidl, Schlecker, Penny und so weiter, wurden medial eingehend abgehandelt - sie zu rekapitulieren wäre müßig, außerdem sind sie hinlänglich bekannt und bergen keine neuen Erkenntnisse. Sicher, Frau Emme, Sie waren bei Kaiser's Tengelmann kassierend - Tengelmann! Bei den Konzerntöchtern TEDi und KiK weiß man auch, wie man Vertrauen zertrümmert - bei Kaiser's selbst freilich ohnehin, man ist ja lange genug im Geschäft. In dieser Welt geschah Ihr Einbruch ins vorgebliche Idyll. Welches Vertrauen haben Sie also untergraben? Jenes etwa, welches Ihnen Ihr Arbeitgeber entgegenbrachte? Dieses Gebräu aus Überwachung und Kontrolle, Ausbeutung und unbezahlter Mehrarbeit? Und dass man zwei Bons bei Ihnen gefunden hat, dokumentiert doch nur bestens, wie dort geschnüffelt und ausgeforscht wird - da haben die Spitzel ganze Arbeit geleistet. Ein schweres Stück Arbeit, denn zwei winzige Pfandbons müssen erstmal gefunden werden. Wie genau man Ihnen auf die Schliche kam, wurde indes kaum erläutert. Handtaschenkontrolle etwa? Auch solcherlei soll es im Vertrauensparadies geben, hört man dann und wann...

Die Wahrheit ist, dass Sie gar keine Vertrauensbasis niedergewalzt haben, weil es überhaupt keine Grundlage für Vertrauensbildung gab. Sie, liebe Frau Emme, sofern Sie sich denn die Bons wirklich angeeignet haben - was Sie ja stets verneinten -, haben nur so reagiert, wie es Ihnen Ihr geistig-moralisches Vorbild, Ihr Arbeitgeber nämlich, täglich vorexerziert hat. Gehen wir nochmals davon aus, dass Sie jene Handlung begangen haben; gehen wir ferner davon aus, dass so eine Tat als schändlich zu werten ist, eine Schandtat ist demgemäß: wer wäre zu tadeln? Sie gewisslich nicht, denn Sie sind nur Produkt Ihres Dienstherrn, haben gelehrt bekommen, was Vertrauen wirklich heißt. Vertrauen ist nämlich nicht gut, Kontrolle besser - nein, gutes Vertrauen basiert auf Kontrolle: so muß man das verstehen, so verstehen das Supermärkte und Discounter heute. Misstrauen ist Vertrauen, könnte man auch sagen - und in so einer verdrehten Welt, da handeln Subjekte eben nicht mustergültig und tadellos; da modifizieren sie lediglich die niederen Instinkte und Triebe der Vorbilder innerhalb der Subkultur, des Mikrokosmos.

Kurzum, Sie saßen da ganz unrechtmäßig auf der Klägerbank, die in den Medien dann zur Angeklagtenbank modelliert wurde. Sie, Frau Emme, hätten da nicht sitzen dürfen - die Richter, die Ihren steinigen Weg zum letztlichen Erfolg ebneten, sie hätten urteilen, hätten erklären müssen: Frau Emme hat sich möglicherweise Pfandbons widerrechtlich angeeignet und daher verurteilen wir ihren Arbeitgeber, der sie zu dieser Tat ermutigte, der sie dazu trieb, der sie zur vertrauensunbegabten Kassenkraft erzog. Ja, die Richter hätten verkünden müssen: Schuldig ist unserer Ansicht nach ein Arbeitgeber, der in seinen Hallen ein Klima erzeugt, in dem kein halbwegs gesunder, halbwegs mit Selbstwert gesegneter Mensch arbeiten und sein mag. Schuld hat der vom Vertrauen faselnde Dienstherr, der nur Vertrauen in Spitzelprotokolle, Kameraaufnahmen und Spinddurchsuchungen setzt. Und sie hätten aus ihren Roben blaffend erklären müssen, dass Sie vielleicht in einem streng ethischen Milieu verfehlt hätten, dass man Sie dort hätte verurteilen müssen: nicht aber dort, wo Sie tatsächlich zur Handlung ansetzten. Frau Emme, hätten sie bekunden müssen, streng betrachtet haben Sie einen Verstoß begangen, aber im Anbetracht der wirklichen Umstände, in diesem Flair aus Kontrolle und Lohnsklaverei, Misstrauen und Verdächtigung, konnten Sie gar nicht anders handeln. Frau Emme, Sie waren über dreißig Jahre dort angestellt, dreißig Jahre in einer Branche, die immer mehr Wesenszüge der Staatssicherheit oder der Geheimen Staatspolizei annahm: Sie sind ja fast unzurechnungsfähig, in einer Ausnahmesituation, die ein unethisches Tun erklärt und sogar rechtfertigt. Sie sind, so hätten es die höchstrichterlichen Damen und Herren ein für allemal darbringen müssen, ein Produkt Ihres Umfeldes, das Resultat unwürdiger Zustände, die logische und folgerichtige Konsequenz - Sie sind die verkörperte Bilanz einer betriebswirtschaftlichen Denkart, die den Angestellten zwar Mitarbeiter nennt, ihn damit zunächst auf eine Stufe mit seinen Herrn stellt, die aber diesen Mitarbeiter für einen überteuerten, dem Anspruchsdenken verfallenen Kostenfaktor und Feind hält. Anders vorgebracht: Ihr freier Wille war insofern keiner, Sie wurden abgerichtet, dressiert, domestiziert - Sie, liebe Frau Emme, sind insofern eben nicht Frau Ihrer selbst gewesen, sondern Kind einer harten Schule, der Sie tagtäglich ausgesetzt waren; Spross, verniedlicht gesagt eine Emmely eben, einer Erziehung, die mit Vertrauen gar nichts anfangen konnte, weswegen Sie auch keinen blassen Schimmer von vertrauensvollem Umgang erlangen konnten. Lieber Arbeitgeber, müssten die Gerichte unisono predigen, du hast dir deine Belegschaft verzogen, bist kein leuchtendes Leitbild von Vertrauen, belästige die Justiz daher erst dann, wenn du so mit deinen Leuten umgehst, wie du gerne mit dir umgegangen haben willst!

Natürlich sprechen Gerichte nicht in dieser Form, weil sie sich stets nur um den konkreten Sachverhalt, nicht aber um das Großeganze scheren. Gerichte werkeln im Kleinen, haben nichts Großes vor Augen. Und aus diesem Grund, liebe Frau Emme, unterstellt man Ihnen, Sie hätten irgendein undefinierbares Vertrauensverhältnis untergraben - Gerichte prüfen keine Vertrauensgrundlagen, sie gehen optimistisch und hoffnungsfroh einfach von solchen aus. Und wenn der gepeinigte, sich im Ehrgefühl beleidigte Dienstherr so beflissen von Vertrauen spricht, so denkt man sich prozessabkürzend, dann wird da schon ein Stäubchen Wahrheit dahinterstecken. Ob Sie dann überhaupt diesen Diebstahl begangen haben, steht auf einem anderen Fetzen Papier.

Und dass man dieser Tage mit einer Abmahnung auch noch zufrieden sein soll, obwohl man womöglich unschuldig ist, obwohl man Vertrauen dort beschädigte, wo das Vertrauen gar nie heimisch war, gehört zu den traurigen Umständen des zeitgenössischen Arbeitsmarktes. Frei nach Benn: Abmahnung akzeptieren und Schnauze halten - das ist das Glück! Und Sie, Frau Emme, Sie haben dieser Definition gemäß, ein kleines Glück errungen: kosten Sie es aus, denn bald stehen Sie vielleicht wieder hinter der Kasse - und dann hat es sich ausgeglückt! Denn Sie sind für Ihren Arbeitgeber, diesem Herrn guter Sitten, mit einem Stigma behaftet. Trotzdem so halbwegs wie ein Sklave behandelt zu werden, wie ein Mensch dritter Klasse also: auch das nennt sich heute Glück, auch da ruft man einem zu, es hätte ihn schlechter treffen können, da hätte er doch nochmal Glück gehabt! Denn mit ihm würde zwar wie mit einem Sklaven umgegangen, aber Sklaven sind Menschen und somit würde man wie ein Mensch behandelt - Hauptsache Mensch, wenn auch einer von niederer Güte. Ein Schnipsel Menschenrecht wird man dann schon zuerkannt bekommen, jedenfalls mehr als man einem Gorilla verleiht...

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De auditu

Montag, 14. Juni 2010

Mit der Einsicht, es müsse unbedingt gespart werden, geht man zur Zeit nicht besonders sparsam um. Überall wird sie breitgetreten, wird sie zum Stoff von Diskussionen und Artikeln. Wir müssen sparen!, ist die Parole der Stunde - war sie vorher schon, nur jetzt soll "so richtig gespart" werden. Daher werden Sparpakete benötigt - ganze Stapel von Sparmaßnahmen also, damit am Sparwillen bloß nicht gespart und damit vorallem auch nicht am falschen Ende gespart wird - wobei es Definitionssache ist, wo das falsche, wo das richtige Ende liegt. Dass die Regierung spart, ist die Binsenweisheit der letzten Tage; jeder glaubt es zu wissen, jeder meint das Sparvorhaben begriffen zu haben: Wenn wir nicht sparen, endet es böse! Das Sparen, es ist derzeit mehr denn je in aller Mund, in aller Ohren und liegt in (fast) aller Magen.

Dabei wird übergangen, dass nicht vom Sparen die Rede ist. Sparen vom Lateinischen separe: trennen, abspalten - bürgerlicher umschrieben: etwas zurücklegen, vom Ganzen etwas wegnehmen, absondern, beiseite schaffen. Dabei wird bei dem, was als "die Regierung spart!" den Diskurs bestimmt, nichts zur Seite geschafft, nichts abgesondert. Es wird ja nicht versucht, irgendwo etwas im Etat zurückzuhalten, damit in schlechteren Zeiten darauf zurückgegriffen werden kann. Nein, es wird gekürzt und gestutzt - unwiederbringlich! Das Sparvorhaben baut nicht auf das bürgerliche Verständnis des Sparbegriffes, es fußt auf Entwendung, Wegnahme, ja auf Diebstahl, wenn man es denn drastischer liebt.

Doch natürlich nutzt man dieses Missverständnis nur zu gerne - man hat es doch gerade dafür entworfen! Verschleiert wird, dass nichts zurückgelegt wird; verdunkelt wird, dass irreversibel gekürzt wird; verhüllt wird, dass es ans Existenzminimum geht; verwischt wird, dass die ohnehin nicht erbrachten Rücklagen, niemals denen zugute kommen würden, die beim Zurücklegen beteiligt wären, indem sie ihren Gürtel nochmalig enger geschnallt haben müssten - wobei der Konjunktiv hier zynisch zu verstehen ist, denn der enger geschnallte Gürtel wird keine Möglichkeit von vielen sein, er wird dem TINA-Prinzip (There is no alternative!) unterstellt und ist damit prophezeibare Zukunft. Das euphemistische Sparpaket jedenfalls ist in aller Munde - ohne Euphemismus, so könnte man meinen, wird es immer unmöglicher Staat zu machen.

Oder ist es eher so, dass man den Sparbegriff nach herrschender Lesart nur falsch versteht? Vielleicht bedeutet er ja, dass sich diese Gesellschaft zukünftig Armut sparen will, indem sie die Armen langsam aber sicher aushungert - wenn dem so ist, dann kämen Sparen und Kürzen doch noch friedlich zueinander.

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Wehret den Schmunzlern!

Samstag, 12. Juni 2010

Ist das grauslich; ist das scheußlich! Nicht überraschend fürwahr, kein unverhoffter Schock: nur schaurig. Kein schlagartiger Schreck, kein urplötzliches Aufflammen rassentheoretischer alter Schule, denn Sarrazin und seine clownesken Narreteien kennt und erträgt man leider schon länger hierzulande - viel zu lange schon. Doch auch wenn man ihn und seine beschränkten Eseleien bereits kennt: man gewöhnt sich nur schwerlich an dieses Auftreten fremdenfeindlicher und rassentheoretischer Machart - selbst jetzt, da dieses Benehmen, dieser Schliff rassenspezifischer Ethnologie, zur Normalität in dieser Republik gedeiht, mag man sich damit nicht anfreunden, mag man nicht einfach weghören, wegsehen.

Der natürliche Weg sei es, der uns als Gesellschaft durchschnittlich dümmer mache, predigte er nun seinen aufmerksamen Scholaren vom Katheder herab. Natürlicher Weg heißt: Zuwanderer aus der Türkei, dem Mittleren und Nahen Osten und aus Afrika drückten das Bildungsniveau. Wie erwähnt, derlei rassistische Ausführungen verblüffen keineswegs mehr, sie machen nur traurig, ärgerlich, treiben in Resignation oder zur Gewaltbereitschaft - je nach Lage, je nach Gemüt und Verfassung. All das ist bedrohlich, jedoch schon fast normal - ist immer wieder erstaunlich, jedoch beinahe schon nicht mehr überraschend - ist stets erneut gefährlich, jedoch nahezu alltäglich. Sarrazinaden durchdringen den politischen Ungeist immer hartnäckiger, werden verstärkt zum Usus, zum gebräuchlichen Aufhänger zu klärender Gesellschaftsfragen.

Normalität also; wohlbekannt also - geradezu amtlich ist dieses großartig debile Betragen: von Amts wegen umnachtet... und mit ihm verfallen ganze Gesellschaftsschichten in Umnachtung, wenn sie ihn liebevoll zum enfant terrible, zum berückenden Schandmaul küren; einem Schandmaul mit würziger, derber, oft drastischer Diktion, welches sein Herz aber auf dem rechten Fleck trägt - allzu rechts, wenn man es präzise beschaut! Man dürfte sich nicht mehr wundern, doch ist es innerhalb der Berichterstattung zum neuesten Ausfall vor allem ein kleines Detail, in dem der Teufel, präziser: das Teuflische sitzt, ein kurzer, fast untergegangener Satz: "Einige der Zuhörer reagierten mit Schmunzeln, erkennbare Unmutsäußerungen gab es nicht."

Das ist der Furor, der uns erfüllen sollte; von denen die nur schmunzeln, sonst aber schweigen, sollte uns bange sein. Trommler mit krummen Schnauzern sind das eine, gibt es immer wieder - schweigende Zuhörer, die der Ernsthaftigkeit des Augenblicks mit dämlichen Schmunzeln begegnen: das ist das andere. Natürlich ist der rassentheoretische Tambour mit windschiefen Gesichtszügen gefährlich: gefährlich anheizend, gefährlich aufrührend, gefährlich aufhetzend. Stünde er aber einsam und verlassen auf seinem Sockel, würde von den Zuhörern nicht lautlos geduldet, sondern lauthals verspottet, dann wäre er flugs nebenher noch etwas gefährlicher gemacht: gefährlich wirkungslos! So aber, ausgehalten und toleriert, befreit von Unmutsbekundungen, frei von Häme und Spott: da multipliziert sich seine Gefährlichkeit und überträgt sich zuerst auf seine unmittelbaren Zuhörer, um hernach den Rest der Gesellschaft zu infizieren.

Die sich kompromittiert und dezent entsetzt gebende Berichterstattung zur taufrischen Sarrazinade: sie ist weniger ein Skandal, den man dem Trommler Thilo Matzerat, der sich partout nicht erbarmt erwachsen zu werden, in die Schlappen schieben könnte - nein, Skandal ist einmal mehr, dass er Publikum findet, das ihn umschwärmt; Publikum, das seine unverschämten Ausfälligkeiten, herausgefiltert aus dem längst schon vermoderten Aas der Rassenlehre, ja, der Rassenhygiene, gutheißt und tonlos duldet. Schweigende Mehrheiten sind es, die dem Faschismus zur Rückkehr verhelfen - nicht die fahnenschwingenden Tolpatsche vom nationaldemokratischen oder republikanischen Gesinnungstreff: die sind nur die hilfreichen Schwachköpfe, die man medienwirksam in Szene rückt, um den antifaschistischen Geist derer herauszuputzen, die ansonsten den Sarrazinaden verstohlen zuschmunzeln.

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Schönwetterprämissen

Freitag, 11. Juni 2010

Schönes Wetter! Schönes Wetter? Hören Sie, ich dünste aus, gare in meiner eigenen Tunke. In meiner Achselhöhle brodelt und blubbert es, dem Rücken läuft ein überdimensionaler Sturzbach hinab, mein Kopf ist so naß, dass man annehmen könnte, ich hätte ihn eben in einen Wolkenbruch gehalten. Schönes Wetter? Mein Schritt ist durch und durch, mit Sack und Pack durchfeuchtet, der Schambereich barock bewässert, über die natürlichen Furchen meiner Arschphysiognomie strömt der Sturzbach meines Rückens postwendend die Oberschenkel hinab. Ich japse gierig nach Luft, kann hieran meine eigene Verschwitztheit, dieses Parfüm meiner Körperausscheidungen, das eine salzig-herbe Blume verströmt, kaum noch ertragen, ringe nach einem Augenblick, in dem ich nicht meine stinkende Abgekochtheit hinnehmen muß, in dem ich nicht innerlich koche. Das Hemd liegt schon beiseite, die Jeans obenauf, bleibt nur noch der Slip, den ich mir runterziehen möchte, stets hoffend, einen winzigen Windhauch, ein wenig Abkühlung zu erhaschen. Nur der Slip - und die Haut, die ich mir am liebsten vom Fleisch kratzen würde! Und das Fleisch, dass ich mir irre vom Knochen schaben möchte! So als Skelett hätte man es fein, so voller Hohlräume, übersät von Durchzugslöchern, so luftig geschaffen...

So ein Unfug! Schönes Wetter! Wo denn bitteschön? Ich nehme jedenfalls keinen Sprüh- oder Nieselregen wahr. Und besonders schummrig ist es auch nicht - ganz gegenteilig: hell ist es. So gleißend hell, dass es mir die Pupillen nahezu zerreißt. Ich kann kaum denken, so durchflutet von Sonnenlicht werde ich. Und dann dieses Jucken und Kratzen, dieses Triefen und Nässen - Pollen in den Augen, in der Nase, in jeder Körperspalte. Niesen, Halskratzen, grüner Auswurf! Grün, sonnenbeschienenes Grünzeug - da bleibt nichts verborgen, so blendend hell, wie es ist. So hell, dass ich depressiv werde, mich in Melancholie zurückziehe und dem Herbst und dem Frühling ein Requiem heule. Schönes Wetter also? Schönes Wetter ganz ohne leichten Regen, ohne Bewölkung, ohne Schweiß? Gibt es das? Was wollen Sie mir denn da eigentlich einreden?

Natürlich, Sie müssen sich nicht erklären, ich kenne diese Phrase doch nur zu gut. Überall plappern sie vom schönen Wetter, nicht nur in den meteorologischen Berichten. Hey, schönes Wetter heute!, rufen sie sich zu. Herrlich, schönes Wetter haben wir!, bestätigen sie sich gegenseitig. Oder aber: Wer will denn bei diesem herrlichen Wetter in der Bude hocken bleiben?, fragt man speziell solche Leute wie mich. So wie Sie augenblicklich mich ja auch mit Ihrem schönen Wetter tyrannisiert haben. Phrasen, wie Sie ganz richtig erklärt haben. Das sagt man halt so, weil es jeder "halt so sagt" - wobei man von den telegenen Wetterfröschen mehr Objektivität verlangen könnte, finde ich. Aber es ist mehr als nur das übliche Nachäffen: es ist bereits unumstößliche Prämisse. Sonnenschein gleich schönem Wetter: aus der Wettersituation einer scheinenden Sonne - der scheinenden Sonne, es gibt ja nur eine -, ist die Schönheit erwachsen: die ästhetische Wertung hat schon ihren Lauf genommen. Und noch etwas spricht aus der Prämisse: großspurige Überheblichkeit! Oder glauben Sie aufrichtig, dass Ihre Präferenzen als Basis für eine universelle Alltagssprache taugen? Meinen Sie, nur weil Sie die wärmenden, aufheizenden Sonnenstrahlen lieben, sei es rechtens, sie in die Rubrik mit positiv auslegbaren Adjektiven zu verfrachten? Was, wenn die Mehrzahl der Menschen plötzlich Analfissuren aufgrund der wohltuenden, demutlehrenden Schmerzen lieben würden? So abwegig das nun auch klingen mag, stellen Sie sich das mal hypothetisch vor: was wäre dann? Sprächen Sie den Quark, den diese masochistisch veranlagten Fissuristen von sich gäben, diesen irrwitzigen Mischmasch aus "guten und wertvollen Gefühlen", "schönen und erhabenen Augenblicken" und "good vibrations" nach? Würden Sie im Supermarkt von der erlesenen Schönheit der Analfissur schwärmen?

Gewiss, ganz gewiss und ganz richtig: man sagt das halt so, es hat sich eingebürgert. Aber das ist ja der ganze Haken daran! Man sagt es einfach so. Einfach so! Ohne sich darüber Gedanken gemacht zu haben. An diesem Manierismus leidet die ganze Gesellschaft, sie quasselt einfach drauflos, nichts denkend, an keinen Zweifeln brütend, nichts hinterfragend. So tut sie es immerfort: es ist zu ihrer verdammten Leidenschaft geworden. Was für Sie schönes Wetter ist, so haben wir vorhin ja schon festgestellt, ist für mich ungenießbares, beschissenes Wetter - Sie mögen, so darf und muß man annehmen, wahrscheinlich keinen Sprühregen. Wo ich von Sonnenschein oder Regen, also von zwei verschiedenen Wetterlagen spreche, verwenden Sie jedoch wertende Begrifflichkeiten. Für Sie ist das entweder schönes oder schlechtes Wetter - dabei ist das, was Sie für schlecht befinden, für mich erfreulich, ja göttlich fast. Sie entweihen das, was ich für schön beurteile, indem Sie es als schlecht bezeichnen. Und daran kranken fast alle, nicht nur beim Wetter - es wird einfach nicht nachgedacht beim Sprechen, es werden Bewertungen vorgenommen, wo es keiner Bewertungen bedarf.

Sehen Sie, was für uns hier das "schöne Wetter", ist im öffentlichen Diskurs die Freiheit. Alle möglichen Begriffe drapieren sie mit "frei" oder "freiheitlich", versehen sie mit diesem erlauchten Zusatz. Und alle plappern es nach, weil man das "eben mal so sagt". Beim schönen Wetter, welches für viele überhaupt nicht schön ist, fängt es nur an - über den freien Markt, der für die Mehrzahl der Menschen nicht frei ist, sondern ein Verlies, nimmt es seinen Lauf. Diese verankerten Prämissen, diese besiegelten Vorbedingungen: sie töten jede Diskussion im Keim ab, weil sie einen zu beschreibenden Umstand mit Bewertungen belegen. Da sitzen dann solche wie ich, zwei vollkommen klatschnasse Arschbacken in der Hose, der Rücken ein einziger Schweißfleck, unter den Armen und werweißwo noch rinnt es schwül, und reden sich nebenher auch noch selbst ein, dies seien die Segnungen schönen Wetters. So wie jene, die man im Namen freier Märkte an Armenverwaltungen, an Sozialgesetzbücher und derlei Plunder kettet: die sitzen in ihren Bruchbuden und quatschen sich selbst ins Gewissen, reden sich ein, ihre Not sei die hohe Weihe, das heilige Sakrament des freien Marktes.

Daher werde ich bissig, wenn man mich fragt, was ich bei schönem Wetter so alles treibe, müssen Sie wissen. Damit fängt es nämlich an. Sie wissen doch, zunächst klappert man das Wetter ab, danach wird es persönlicher. Und was fragen Sie dann? Ob ich frei bin? Ob ich täglich drei Marktunser bete - zu Ehren des barmherzigen Freihandels? Oder möchten Sie hernach über das Sparpaket der Regierung schwafeln, das letztlich nichts mit Sparen, viel aber mit Kürzen zu tun hat? Wollen Sie in jenem Falle ebenfalls Begrifflichkeiten nachäffen, die man "halt so sagt"? Die man so sagt, weil es alle so sagen? Solche, wie Sparpaket beispielsweise? Man halte mir bloß die Schönwetter-Schwadroneure vom Leib, denn mittels ihrer undurchdachten Art vom schönen Wetter zu schwätzen, sind sie die Türsteher ins Verderben. Sie bewachen den Einstieg ins Blabla, marmorieren mit ihrem fahrlässigen und sorglosen Repetieren vorgekauter Begriffe das triviale Alltagsgeschwätz mit vorgefertigten Wertungen.

Schönes Wetter? Dass ich nicht lache! Schlechtes Wetter, ganz ganz schlechtes Wetter, wenn ich es denn subjektiv bewerten soll. So wie die freiheitliche Selbstbestimmung innerhalb des ach so freien Marktes ganz ganz unfrei ist, wenn ich es denn objektiv einschätzen soll. Aber ich käme nie auf die Idee, den von Ihnen geliebten Sonnenschein als schlechtes Wetter zu verurteilen. Das fände ich anmaßend! Direkt frech! Nein, ich nenne es beim Namen, völlig wertfrei, ich nenne es Sonnenschein - und jeder soll für sich selbst wählen, wie er zu diesem steht. Und glauben Sie, ich spreche gemeinhin vom freien Markt? Oder der sozialen Marktwirtschaft? Sozial! Auch so ein Schönwetterbegriff! So, und nun lasse ich Sie mit Ihrem schönen Wetter alleine - ich möchte meinen begossenen Slip durch einen trockenen ersetzen...

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Sit venia verbo

Donnerstag, 10. Juni 2010

"Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen Herr zu sein."
- Friedrich Nietzsche, "Also sprach Zarathustra" -

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Das ist schon keine Kriegserklärung mehr...

Mittwoch, 9. Juni 2010

Dass man den Eltern, die ohnehin wenig bis gar nichts besitzen, auch noch das auf das Arbeitslosengeld II anrechnungsfreie Elterngeld streicht: das wird ausreichend tragische Verhältnisse beschwören, wird manche unstemmbare Sorge verursachen, etliche Ehezwiste schüren, mehrere Kinder noch enttäuschter zurücklassen, als sie ohnedies schon sind. Sich sorgend, zankend, grämend aber hinauf blicken zu müssen, dorthin, wo das Geld etwas stattlicher fließt, wo das Elterngeld um keinen Cent gekürzt wurde, wo man weiterhin im besten Falle 1.800 Euro im Monat einstreicht: das setzt dem Drama noch ein Dornenkrönchen auf.

Denn man wird schwer daran zu nagen haben, seinem Kind schon an der Schwelle seines Daseins kaum etwas Lebensqualität außerhalb des Existenzminimums schenken zu können - dabei aber auch noch zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass es Kinder gibt, für die die Gesellschaft aufzukommen bereit ist: das ruiniert einem die letzte verbliebene Zuversicht. Gleichwohl Frau Doktor oder Frau Juristin ein Jahr Mutterurlaub auf 1.800 Euro-Basis fristet, treibt man Frau Unterschichten-Mama in den Niedriglohnsektor, der sie weder von Hartz IV befreien noch in den Genuss eines Sockelsatzes des Elterngeldes bringen würde.

Nein, hier wird nicht einfach nur gespart; hier wird erneut ein Exempel statuiert. Die Machteliten, repräsentiert durch ihre Regierung, wollen nicht nur Sockelsätze einbehalten, sie wollen auch an anderer Stelle nicht sparen: nämlich an ihrer Verachtung gegenüber den Ärmsten. Denn bestechendes Spar- und Kürzungspotenzial birgt der bald gekippte Sockelbetrag beim Elterngeld ja nicht gerade: aber denen da unten mal deutlich zu machen, dass sie und ihre Brut nicht auf Kosten der raffenden und hortenden und verspekulierenden Gesellschaftsschicht (die sie der Kürze halber "Leistungsträger" nennen) durchs Leben schmarotzen können, dafür halten sie diese Sparmaßnahme in jedem Falle bestens geeignet.

Jungen Müttern (und den dazugehörigen Vätern) diese verrechnungsfreien 300 Euro nicht mehr auszuzahlen, wird desolate und trostlose Zustände heraufbeschwören, wird Verwahrlosung schüren, ein Leben in den muffigen und mottigen Tiefen des Second- oder gar Third-Hand anheizen. Aber die tatsächliche Kriegserklärung, sie liegt darin, dass diese Gesellschaft sich nicht dafür schämt, einer Sorte Mütter 1.800 Euro zu überweisen, während sie die andere Sorte leer ausgehen läßt. Wisse, Muttertier aus dem Rinnstein, dein Kind ist uns nicht mal mehr Rumpf- oder Sockelsätze wert!: das riecht schon nicht mehr nach Klassenkampf von oben, es stinkt gewaltig nach Kriegserklärung. Wisse, Gossen-Mama, wir müssen bei dir und deinem Gezücht kürzertreten, damit wir den blendenden Müttern aus der Leistungsträgerschaft unter die Arme fassen können!: das ist schon keine Kriegserklärung mehr, das ist schon ein Frontalangriff.

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Ein Gaukler für alle

Dienstag, 8. Juni 2010

Mehr Mut, verlangt er. Mehr Mut von Politikern, die Dinge auch mal beim Namen zu nennen, Kontroversen zu suchen, Risikobereitschaft generell. Mehr Mut, denn es bräche nicht gleich alles zusammen. Phrasenhaftes Gedresche, doch erquickliches Labsal für die bürgerliche Mitte - Gauck, der alternative Bundespräsident, der freigeistige, humane Streiter, der besser zum Präsidenten aller Deutschen taugt, als sein jüngerer Zwilling aus Hannover: er weiß seiner Klientel zur Ohrenweide zu werden.

Zeigt mehr Mut, erklärt er der Welt, einen Mut, wie Gerhard Schröder damals. Gauck der Verklärer sozialdemokratischer Wohltaten: "Als Bundeskanzler Schröder einst die Frage aufwarf", so schwatzt er, "wie viel Fürsorge sich das Land noch leisten kann, da ist er ein Risiko eingegangen. Und es begann eine Phase, in der Politik und Risiko zusammen gingen. Solche Versuche mit Mut brauchen wir heute wieder." Mut wie Schröder, mehr Mut zur Reform, Mut zu neuen Hartz-Experimenten. Gauck: das ist der nonkonformistisch duftende, der sich unpolitisch anfühlende Kandidat - der Kandidat aller Deutschen. Einer, der wenig übrig hat für die Habenichtse; einer, der die Mittellosen kritisierte, weil sie sich immer montags trafen, zu Demonstrationen, zu Montagsdemos. Töricht und geschichtsvergessen seien jene gewesen, die den Begriff "Montagsdemo" verwendeten, kritisierte Gauck dereinst. Heute ist er es, der seine possierliche und törichte Geschichtsvergessenheit zur Schau stellt, weil er aus Schröder einen waghalsigen und mutigen Herkules spinnt. Was für ein selbstgerechter Offenbarungseid!

Gauck, dem es einstmals um grundsätzliche Gesellschaftskritik ging, um Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit; der denen, die bei Montagsdemos gegen Hartz IV aufliefen als Rat angedeihen ließ, dass ihre Protesthaltung allerdings im Rahmen eines demokratischen Systems geschähe: mit mehr Pathos könnte man sagen, dass es ihm immer wieder montags auf Leben und Tod ging, während das Kurz- und Knapphalten von Erwerbslosen eine montägliche Luxusproblematik darstellt. Gauck, ein Gaukler, der sich selbstbeweihräuchernd vorgaukelt, nur sein soziales und politisches Engagement hätte Berechtigung gehabt. Der zudem nie müde wurde zu erläutern, dass diese Art Reformen am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala, unbedingt notwendig seien, umgesetzt werden müssten. Der gelobte und propagierte Präsident für alle, der da spricht; ein Gaukler für alle, den man über uns kommen lassen wird...

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Der brave Christ?

Montag, 7. Juni 2010

Was für ein Segen, dass es in diesem Land kaum von Religiosität berauschte Menschen gibt! Das ist ein Glücksfall, den uns die Säkularisierung einhandelte. Ein zufälliges Glück, wenn man das so salopp festhalten darf - und ein Glück auch für eine Studie, die nun ihren langen Weg durch die Vorzimmer und Institutionen der Vierten Gewalt nimmt, die von jungen Muslimen behauptet: je gläubiger, desto brutaler. Und noch etwas weiß die Studie zu erzählen: Junge Christen mit steigender Religiosität begehen weniger Straftaten. Das Christentum als Hort der Lämmer - der Islam: ein heulendes Wolfsrudel?

Leben, die regelmäßig mit Ideologie unterspritzt werden, pflegen stets einen Hang zur Gewalt. Dabei ist die Beschaffenheit der Ideologie unerheblich - ob profane Ideenlehren, ob Kommunismus oder Kapitalismus, Progressivismus oder Konservatismus: erst zum Gedankengebäude errichtet, zum Sockel für die Lebensplanung, wohnt dem -Ismus immerzu die Brechstange, das brachiale Stemmeisen inne. Den sakralen Ideologien ergeht es da kaum anders: wer sein Leben zwischen die Gebote, Vorgaben, Engstirnigkeiten einer strikten Religionsauslegung quetscht, inhaliert die Gewaltbereitschaft mit, selbst wenn sich diese oftmals zunächst im rüden Wort oder nur im barschen Vorurteil gegen Andersglaubende artikuliert. Die Gebote und Dogmen von Ideologien für lose Empfehlungen zu halten, nicht für Patentrezepte und imperative Instruktionen: das läßt Gewaltpotenzial schwinden; wo sich starre Lehrsätze und verbindliche Dekrete lockern, da löst sich auch die Gewaltwilligkeit aus ihrer fortwährenden Alarmbereitschaft.

Und genau dies ist das Glück jener Länder, die in den Genuss der philosophischen Aufklärung kamen. Zwar haben die Aufklärer dereinst die Religion nicht zertrümmert - was ohnehin ein aussichtsloses und unmenschliches Unterfangen gewesen wäre, weil die sakrale und transzendente Idee eine allgemeine Bedingung des Menschseins ist -, aber sie haben bewirkt, dass die zwanghafte Haltung zum Christentum, zum Katholizismus ebenso wie zum Protestantismus, abgelegt werden konnte. Dies jedoch nur einerseits, denn indirekt hat die Aufklärung, die später in einer bürgerlichen Revolution (1789 bis 1799) gipfeln sollte, eine Verlagerung des Sakralen verordnet. Gott war insofern tot - schon lange vor Nietzsche -, später kurzzeitig unter Robbespierre durch ein nebulöses Höchstes Wesen ersetzt und dekretiert, aber die Inbrunst, die theokratische Aufwallung, sie verlagerte sich aufs Irdische - die Profanisierung der Spiritualität stattete die ideologischen Kodizes stammend aus religiöseren Tagen mit einem neuen Überbau aus, zerrte die Glaubensbereitschaft zu Boden, materialisierte die Glaubenswilligkeit, verlagerte sie dorthin, wo die Bourgeoisie auch etwas davon hatte - ins schöne neue irdische Himmelreich der Arbeit.

Schon damals erklangen viele Stimmen, die von der Revolution mehr als enttäuscht waren. Sie hätte nicht befreit, wäre die Revolution feiner Damen und Herren, nicht der Sansculotten gewesen; hätte die starren Rituale der Kirchen profanisiert, hinübergerettet ins bürgerliche Interessenslager, die langsam ins Rollen kommende ökonomische Umstrukturierung der Gesellschaft zu einer Form neuen religiösen Wahns gemacht. Paul Lafargue erläuterte, dass die Siebentagewoche von den Revolutionären durch eine Zehntagewoche ersetzt wurde, damit der Bauer und Arbeiter neun anstatt sechs Tage seiner Pflicht nachkommen dürfe - gleichwohl wurde die endlose Litanei an katholischen Feiertagen aufgehoben, die gut ein Drittel des Jahres die Arbeit verbot. Und natürlich: es wurde ein Recht auf Arbeit postuliert, ein Menschenrecht, welches - nochmals mit Lafargue gesprochen - nichts weiter als ein Recht auf Elend sei, weil es Menschen nicht befreit, sondern in Abhängigkeit drängt. Die zur Ideologie verkommene Programmatik von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit pickte sich die Rosinen der kränkelnden sakralen Ideologien heraus, riss sie ins Profane und überhöhte die eigenen Dogmen zu fast schon religiösen Lehrmeinungen.

Zurück zur Aussage der Studie. Sie erklärt, dass gläubige Jungchristen weniger Straftaten begehen, während bekennende Jungmuslime sich radikalisierten. Ginge man von der oben vertretenen These aus, dass glühend verfochtene Ideologien sich aus Gewaltfreude speisen, so muß etwas mit dem hiesigen Christentum, so wie es heute praktiziert wird, nicht ganz stimmen. Und tatsächlich mangelt es hierzulande wahrscheinlich an religiöser Ernsthaftigkeit. Man jubelt senilen Kirchenoberhäuptern zu, die sich hinter Panzerglas schützen lassen, obgleich sie Gottvertrauen predigen; man feiert diese durch die Gegend fahrenden Anachronismen dafür, dass sie Verhütung gleichso verdammen wie vorehelichen Sex; feiert rauschende Feste mit Millionen Mitgläubigen und kürt Religion für chic, Glauben für voll im Trend - Popchristentum, Schönwettergläubige, SMS-Betschwestern: das ist Glaubenseifer der Voll-geil- oder Voll-krass-Generation. Das stille Kämmerlein, in dem die Zwiesprache mit Gott gesucht werden soll: es ist schlichtweg ungeeignet für eine Glaubensmentalität, die sich nicht für sich begreift, aus dem selbstbestimmen Bedürfnis nach Spiritualität nährt - im Kämmerlein wird man nicht gesehen, im Kämmerlein bewundert man das eifrig sich bußfertig gebende Schäfchen ja nicht. Wie soll man Gott im dunklen Kämmerlein finden? Dunkel ist es dort und ob der Herr die Langeweile bevorzugt, muß arg bezweifelt werden - nein, er liebt wohl eher das große Zeremoniell, die gigantische Massenparty! Da findet man ihn heute in Europa eher: im Happening, im Spektakel, beim Gottesdienst-Event - und danach strömen die Schäfchen zurück in ihr irdisches Dasein, haben genug Himmelreich für heute, halten Ausschau nach weiteren Großkundgebungen, nach weiteren Himmelreichsparteitagen unter dem gekreuzten Logo, dem Wiedererkennungseffekt des Herrn.

Nicht verwunderlich also, dass das, was sich heute Christ nennt, keinen Hang zur Gewaltausübung kennt. Der mitteleuropäische Christ, jedenfalls der durchschnittliche Typus, ist nurmehr Wrack seiner Ahnen im Geiste, kennt weder Bußfertigkeift noch Leidensfreude, nimmt Krankheit und Todeserfahrung nicht mehr stoisch und gottergeben hin, mit Houellebecq gesprochen: ist seines allumfassenden, allordnenden Regulativums enteignet, vorgestossen in eine rein materielle, rein ökonomische, rein entmenschlichte Welt. Das heute gelebte Christentum ist keine Ideologie mehr, es ist ein Trümmerhaufen, der zum Pop-Stil mutierte, zum trendy Fetisch, zum rauschenden Massenbesäufnis. Und das brennende Schwert, Zeichen für einen wehrhaften Glauben, oder das Autodafé, Mahnung an Andersglaubende: der moderne Christ kennt dies - Gott oder wem auch immer sei dank! - freilich überhaupt nicht mehr. Jene christlichen Gruppen, die von den Auswüchsen der Aufklärung und der Gegenreformation in die Neue Welt flüchteten, konnten sich ihren Enthusiasmus hingegen bewahren. Für evangelikale Gruppen in den Vereinigten Staaten ist das flammende Schwert heute kein Fremdwort - nie gewesen. Da wird mit der üblichen Penetranz bibelfester Naivlinge gegen Schwule und Alleinerziehende gemosert, da werden Schwangerschaftsabbrüche mit Kieferbrüchen vergolten und manches Lotterleben unter die Erde gebracht. Der europäische Christ kennt solche Zudringlichkeiten kaum noch, wenn doch, dann in sehr gemäßigter, beinahe schon niedlicher Variante: Das ist das Glück Mitteleuropas! Und es ist gleichzeitig das Pech von ebenda!

Denn der christliche Gott tötet nicht mehr, er zürnt nicht mal mehr. Ein ausgetrocknetes Wesen ist er, undefinierbar, stets nach Nischen schnüffelnd, in die er vielleicht sein müdes Fleisch ablegen kann, um dort drinnen möglicherweise nochmals eine kleine, bescheidene Renaissance zu erleben. Nein, Kreuzzüge sind nicht mehr der letzte Schrei - aber die Welt ist nicht besser geworden. Das ideologische Hardlinertum, so hieß es weiter oben ja schon, habe in der bürgerlichen Welt, die mal mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ihren Anfang nahm, Fuß gefasst. Von dort zog es in die Welt - als Kanonenboot. Mit gleichnamiger Politik, im Namen des heutigen Gottes, des Profits; mit Unterstützung und Beratung seines Klerus, von Nadelstreifen tragenden Wirtschaftspriestern, hat die Gewaltbereitschaft der totalen gesellschaftlichen Durchidealisierung überlebt. Heute töten nicht mehr Christen, heute morden Wirtschaftsdelegierte, die zufällig Christen sein können, von ihren Schreibtischen aus, Kunden meucheln aus dem Supermarkt heraus, Angestellte töten für Salär und die Gesellschaft, die sich etwas abstrakt Staat nennt, läßt von Soldatenhand verstümmeln. Das stolze Europa, großspurig, weil es die Gewalt aus der Religion forttrug, es macht sich selbst diese Reife nur vor: die Gewalt ist nicht entschwunden, der Europäer nicht reifer geworden - er hat sie nur dem irdischen Treiben, der ökonomischen Ideologie überschrieben.

Je gläubiger, desto brutaler, verkündigt die Studie. Grundsätzlich richtig - nicht nur für jene Moslems, die engstirnig an Glaubenssätzen haften. Je intensiver dem Marktglauben gehuldigt wird, desto beschwingter schreitet die Glaubensgemeinschaft zur Gewalt, desto brutaler vertritt sie ihren einzigen und wahren Glauben. Dem Islam, sofern man ihn bewusst und rein vorschriftsmäßig lebt, dabei jene Suren tilgt, die von Nächstenliebe und Respekt erzählen (so wie viele Evangelikale ebenfalls nur das aus der Bibel herauspicken, was sie für ihre Betonköpfigkeit benötigen), einen besonderen Hang zur Brutalität zu unterstellen, ist schon ein dreistes Stück - denn er ist fundamentalistisch praktiziert ebenso gewaltsam wie jeder profane oder religiöse Fundamentalismus auf dieser Welt. Jene Studie hätte sich mit der Bedeutung vom heutigen Christentum auseinandersetzen müssen - und sie dürfte nicht so daherkommen, als sei Christentum tendenziell gewaltarm, der Islam hingegen gewaltbereit. Beide sind gewaltsam, beide wären es, wenn sie radikalisiert gelebt würden - was beide in vielen Teilen der Welt tun. Das europäische Christentum wird jedoch so nicht mehr gelebt, weil es sein Gewaltpotenzial in die Ökonomie schickte - was einst der Terror der Inquisition war, ist heute - frei nach Viviane Forrester - der Terror der Ökonomie.

Ein Segen also, dass das Fundament des europäischen Christentums derart mürbe, derart unterhöhlt ist. Und nebenher: dass die hier lebenden Moslems zum Großteil aus solchen Ländern stammen, die einst dem Osmanischen Reich unterstellt waren, das eine Form von aufgeklärten, weltoffenen Islam - (historische Nähe der Hohen Pforte zu Frankreich, später Tanzimat) - seinen Nachfolgestaaten vererbte, letztlich somit selbst eine verwässerte Religion ausüben, soll hier nur als Fußnote erwähnt werden. Als Fußnote auch dafür, dass religiöse Gewaltausbrüche, wenn überhaupt, heute nurmehr als Surrogat für sozio-ökonomische Notstände herhalten müssen - in den radikalen islamischen Republiken und Diktaturen ist nicht der Islam der Agitator: es sind die äußeren Einflüsse, der freie Welthandel, der frei nur für die großen Industrienationen ist, die den Mullahs Personal an die Brust treiben. Hatte der Islam Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe schon verspielt, durch Nationalismus und Autonomiebestrebung abgewirtschaftet, wäre fast einem progressiven Modernisierungswillen erlegen, so erfuhr er durch äußeren Druck der Welthandelsmächte eine Wiedergeburt - die einzige Chance für das Christentum wäre es demnach, wenn Europa von einer ökonomischen Allmacht gegängelt und jahrelang unterdrückt würde. Dann radikalisierten sich auch Christen, würden zurück zu ihren Wurzeln kriechen. Nur: dann wäre es auch nicht das Christentum, das per se gewaltbereit wäre - es stünden sozio-ökonomische Gründe dahinter.

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