Die Hartz IV-Regelsätze sind nicht zu niedrig, meint er. Er kenne auch einen Hartz IV-Empfänger, ganz persönlich, ein Intimus quasi, und der lebe immerhin in Saus und Braus, der rauche sogar und käme ab und an auf ein Bier in die Kneipe herüber. Ich kenne einen, leitet er dann seinen Satz ein, ich kenne einen Arbeitslosen, dem geht es gut. Er kenne einen Arbeitslosen, der ein schönes Leben habe, Zeit und ausreichend Geld, genug Jammerkraft habe er zudem. Aber schuld sei der Erwerbslose an der Misere nicht, viele wollen ja arbeiten, bestimmt die Hälfte der Arbeitslosen, meint er mitmenschlich. Er sei ja kein Unmensch, aber man müsse schon deutlich sagen, dass jemand, der nicht arbeitet, auch keine zu hohen Ansprüche stellen dürfe. Schon gar nicht, wenn es denen eh so gut geht.
Die wollen sich nur in unserem Sozialstaat einnisten, meint er. Er kenne selbstverständlich auch Asylbewerber, nicht zu persönlich, aber immerhin. Alleine schon, dass man sie erstmal aufnimmt, sie wochen- und monatelang auf Verfahren warten läßt, sie in dieser Zeit durchfüttere - sind wir Deutschen denn des Wahnsinns? Die säßen alle nur in ihrer afrikanischen Steppe, warten darauf, endlich ihrer Heimat zu entfliehen und dann reißen sie sich unseren Wohlstand unter den Nagel, meint er. Er wisse das, sein bekannter Asylant habe ihm das in aller Deutlichkeit gesagt. Eine Mauer würde er errichten lassen, sich abkapseln von diesem faulen Pack jenseits des Mittelmeeres, Selbstschussanlagen installieren. Man sollte mehr Spendenaktionen ins Leben rufen, schließlich sei man trotz alledem Mensch und Christ. Und denen, die eine humanere Verwahrung von Asylstellern fordern, gehöre ordentlich die Fresse poliert. Man halte die Hoffenden zwar sehr spartanisch, aber es gehe ihnen doch gut, sie bekämen Suppe und Aspirin - mehr wollen die eh nicht. Nicht Arbeit, nur Sozialhilfe sei das Ziel, bekräftigt er, dies sagte ihm sein asylierender Bekannter.
Drückeberger, und das seit Jahrhunderten, schimpft er. Er kenne einige Sinti und Roma, hoffnungslose Faulpelze, laut und ordinär seien sie, empörten sich ständig darüber, dass sie in ganz Europa unbeliebt sind, im Osten und Süden würden sie laut Eigenangaben sogar regelrecht gejagt. Sie bräuchten sich gar nicht so künstlich zu entrüsten, denn sie zahlten ja auch keine Steuern, weiß er. Sie würden sich ja willentlich der Solidargemeinschaft entziehen und sind daher nicht besonders liebenswert. Anders sein wollen und auch noch Extrawürste braten, das habe man ja gerne. Er hätte nichts gegen Zigeuner - er sagt Zigeuner zu Sinti und Roma -, aber sie machen es einem nicht besonders leicht. Eine laute und schmierige Bagage sei das, die nichts mit dem Leben innerhalb geordneter Bahnen zu tun haben wolle. Das wisse er alles aus erster Hand, direkt aus Zigeunermund, der zwar selten Wahrheit kund täte, aber in diesem besonderen Falle würde er eine Ausnahme machen und dem Gesagten Glauben schenken.
Und wen er noch so kennt: Mikrokredit in Anspruch nehmende Rumänen, die natürlich allesamt ein Haus in Deutschland finanziert hätten, rentenerschleichende Russen, einen in Luxus lebenden deutschen Kleinrentner, kindergeldsüchtige Alleinerziehende und allerlei Kuriositäten mehr. Er kenne Gott und die Welt, zu jedem sozialen Brennpunkt könne er einen Zeitgenossen benennen, der die Diskussion entschärfe, weil letztlich keine Suppe so heiß geschlürft würde, wie man sie zur Zubereitung erhitze. Weil er vielleicht solche menschlichen Fallbeispiele kenne, vielleicht auch nicht, das kann man nur schwerlich beurteilen, weil er also ein Exemplar jeder Art aus dem Hut zaubern könne, seien Rückschlüsse auf die Gesamtheit erlaubt. Statistiken und Erhebungen, Berichte mehrerer Einzelfälle, addiert zu einem Bild der Gesamtheit - wer braucht das schon? Die eigene Erfahrung am lebenden Objekt, das Kennen irgendeines fernen Nachbarn, macht die Bewertbarkeit des Weltbildes erst möglich. Weil man oberflächlich erkennt, dass der Arbeitslose einen Rest seiner Würde bewahrt hat, folgert man daraus, es gehe ihm blendend; weil der Asylsuchende nicht aufbegehrt in der Kargheit seiner geweißten Zelle, glaubt man, er sei zufrieden und fühle sich im Garten Eden; weil der Sinti gerne schwungvolle Balladen singt, deshalb müssen die Berichte verfolgter und verfolgungsbetreuter Genossen nichts als Lüge sein.
"Ich kenne auch einen..." beginnt er seine Vorträge. Und so schließe ich hier: Ich kenne einen, eigentlich kenne ich eine Handvoll solcher Menschen, die immer wieder jemanden kennen. Ich kenne einen, der erzählt mir im gröbsten Jargon solche Dinge, manchmal bierdunstig unterlegte Worte, manchmal in Wolken von Schweißmief verpackt. Abends besucht er seinen Stammtisch, vormittags und nachmittags trägt er das Niveau dieses Tisches mit sich herum, lädt jeden arglosen Passanten ein, sich auf sein Niveau hinabzubegeben. Dann nimmt er Anlauf, erzählt von seinen ominösen Bekanntschaften, kehrt den Menschenfreund heraus, er sei ja kein Unmensch, aber genug sei eben genug und das müsse man doch sagen können. Ein tiefgründigeres Gespräch ist nicht machbar, spricht man von Kant, glaubt er, man meine den Markennamen eines Winkel- und Kantenschleifers, zitiert man Marcuse, fragt er sich, was Doktor Mabuse zur Sache tut. Kant und Marcuse kennt er schließlich nicht, aber er kennt andere, wichtigere, bedeutendere, seinen kleinen Kosmos immanentere Typen - oder auch nicht: wer will ihm seine Bekanntschaften widerlegen?
Ja, auch ich kenne einen, eine trübe Gestalt, entgeistigt und vollkommen isoliert in seiner Welt des Ich-glaube und Ich-meine und Ich-kennen-einen. Der, den ich kenne, ist Deutscher. Ich kenne auch einen Deutschen!, könnte ich nun hinausschreien. Die sind gar nicht dichtend und denkend, eigentlich sind das plumpe Leute, vollkommen verblödet, sitzen viel um Stammtische herum, lassen kein gutes Haar an Schwächeren, ja, eigentlich sind sie immer noch Nazis. Verkapptere Nazis als einst! Aber alle Nazis! Alle Deutschen ausnahmslos! Nur dann... dann wäre ich nicht besser wie diese Alles-und-jeden-Kenner, dann wäre ich das Spiegelbild der Dummheit. Ich kenne einen, aber der steht nicht für alle; ich kenne einen, der verblödet ist und dabei leider auch noch redselig. Er ist zufällig Deutscher, ist nicht dumpf, weil er Deutscher ist, sondern ist dumpf und deutsch. Ich kenne ihn als einen Freund schwarzer Dialektik, als einen Feind aufklärerischer Positionen, als einen Selbstdarsteller, der auch noch meint, er würde aufklärerische und fortschrittliche Gedanken an den Mann bringen, der von sich selbst überzeugt ist, ein mündiger, selbstdenkender, autonomer Charakter zu sein.
So einen Kerl kenne ich. Eigentlich kenne ich viele solcher Menschen. Nicht nur Kerle, sondern auch grobschlächtige Frauen, die sich schwerfällig an den Nächsten heranmachen, um ihre Dummheit als Belesenheit zu verkaufen. Manche Menschen will man einfach nicht kennen, aber man kann über seine Bekanntschaften oft nur schwer verfügen. Der Arbeitslose, der auf Asyl Hoffende, Sinti und Roma haben sich ihre Bekanntschaften mit solchen Dampfplauderern auch nicht aussuchen können...
Hier weiterlesen...