Unter Pultdächern

Mittwoch, 3. April 2013

Sascha Lobo meinte mal sinngemäß irgendwo, es habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Was früher zunächst privat war, für das öffentliche Auge erst freigegeben werden musste, ist heute durch den unbedarften Gebrauch sozialer Netzwerke erst öffentlich, bis man per Wink verordnet, es möge doch lieber privat bleiben. Die Facebookisierung hat bewirkt, dass das Label Privatsphäre nicht a priori herrscht, sondern erst angebracht werden muss. Alles ist öffentlich, bis es privatisiert wird - wir sprechen hier natürlich ausschließlich vom Normalbürger.

Schemata eines Sciapuno;
Quelle: Geschichte der Architektur

Dieser umgekehrte Umgang mit den jeweiligen Räumen kann als Rückschritt ins Primitive gesehen werden. Die Yanoama-Indianer, die im Orinoco-Gebiet angesiedelt sind, leben beispielsweise in einem Zustand, der das Private nicht kennt - oder besser gesagt: das Private ist dort Allgemeingut und für jeden sichtbar. Die architektonische Ausformung der für alle zugänglichen Privatheit nennt sich Sciapuno. Das sind Mehrfamiliensiedlungen, die kreisförmig angeordnet sind und nur aus Pultdächern bestehen. Es ist eine primitive Siedlungsform, die ähnlich in vielen Weltgegenden üblich war, bis der Fortschritt trennende, verbergende Wände entwarf, hinter denen bestimmte soziale Umgänge für die Betrachter ohne unmittelbaren Bezug zum Geschehen, privatisiert wurden.

Diese Metapher mit den Pultdächern trifft nicht übel ins Schwarze. Soziale Netzwerke werden wie ein Sciapuno verwendet - dafür sind sie gemacht; es ist eine Form öffentlichen Hausens, in dem es Begrenzung neugieriger Blicke nur dann gibt, wenn man sich Wände unter sein Dach zieht. Maurerarbeiten sind die Sache der Nutzer aber eher selten. Sie beschreiten lieber den Weg der Primitivierung - wobei primitiv hier nicht falsch, als Überheblichkeit verstanden werden soll, sondern etymologisch, sich von primarius ableitend, "zu den Ersten gehörend" - wie das Sciapuno primitiv war, so ist der Umgang und die Kultivierung sozialer Netzwerke von einer Primitivität gekennzeichnet, die wie das Einreißen von Wänden wirkt.

Sciapuno der Yanoama;
Quelle: Geschichte der Architektur
Der Unterschied zu den Yanoama ist nicht nur, dass sie höhere Formen der Siedlung kaum kennen - es gibt nämlich Ausnahmen, Sciapunos mit Häuptlingshütten, die den Egalitarismus aufheben und hierarchisch verordnete Privatsphäre monumentalisieren -, der Unterschied ist, dass sie sich gegen Eingriffe und Bespitzelung ihrer Privatheit nicht wehren, weil sie faktisch keine kennen. Sie leben gut sichtbar unter Pultdächern und fristen ihr Leben vor aller Augen - die Pultdächer in der digitalisierten Welt nutzt man ungeniert, mosert aber immer dann, wenn in die persönliche Privatheit eingegriffen wird, wenn man sie beobachtet und ausspioniert. Der Umgang mit sozialen Netzwerken hat primitive Gestalt angenommen, die moderne Denkweise, die etwas wie Datenschutz im Hinterkopf hat, passte sich aber nie an.

Das Dilemma ist, dass archaisches Hausen im Internet für eine Vielzahl von Menschen zur Normalität geworden ist, während sie in ihrer Denkweise modernen Anschaffungen wie dem Datenschutz weiter verhaftet bleiben. Wohngefühl ist Lebensgefühl, insofern hat der Werbeslogan dieses Herstellers frugalen und uncharmanten Mobiliars völlig recht. Wohnt man ohne schützende Wände, so weichen auch Ideen auf, die in dieses Wohnumfeld nicht mehr passen; Datenschutz als Gut hat keine Chance, wenn man selbst unter digitalen Pultdächern haust; wenn man primitiv logiert, ziehen fortschrittliche Standpunkte aus ...



8 Kommentare:

maguscarolus 3. April 2013 um 08:56  

Primitivität auf gesellschaftlicher und individueller Ebene scheint mir ein treffliches Alleinstellungsmerkmal der neoliberal indoktrinierten Menschheit zu sein – primitiver noch als die primitiven menschlichen Ethnien – eher vergleichbar mit irgend welchen präkambrischen Kreaturen.

Anonym 3. April 2013 um 09:03  

...eben....suum cuique...Jedem das Seine....wie die alten Römer schon sagten........

Anonym 3. April 2013 um 12:34  

Ich denke auch wie Maguscarolus, dass man erhobenen Hauptes auf diese "modernen" präkambrischen Kreaturen herabschauen kann.
Ich kenne nicht wenige Leute ganz ohne Facebook-Account. Ich habe zwar einen Account, um zu wissen, wovon geredet wird, über mich wird man dort aber nichts lesen.

Hartmut B. 3. April 2013 um 14:02  

Roberto, aus diesem Artikel werde ich nicht schlau - der tiefere Sinn erschließt sich mir nicht ?

Fakt ist doch, dass seit der Globalisierung (Neoliberalisierung) nahezu alles Öffentliche privatisiert und viel Privates veröffentlicht wurde.

Anonym 3. April 2013 um 15:22  

eine der besten metaphern von facebook die ich gelesen hab bis jetzt.

Patrick 3. April 2013 um 18:50  

Ist es aus gesellschaftlich-soziologischer Sicht nicht noch primitiver, wenn sich eine Gesellschaft im >>Habitus<< erkennen und kennzeichnen lässt? Ein Gut, dass allen zugänglich ist, verliert an Wertigkeit für den Einzelnen. In unserer Gesellschaft geht es aber eben genau um die Offenbarung das StatusQuo's. Jede Form des Besitzes muss sich vom Besitz eins anderen abgrenzen. Nur dann sehen wir uns als Individuum. Jeder Versuch über soziale Medien wie Facebook die Aufmerksam der anderen Individuen auf sich zu lenken (via Postings von tollem Essen, coolen Fernsehgeräten etc.), ist doch eigentlich nichts anderes als die primitive Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung. Jeder "Like" bestärkt dieses Gefühl.

Nur glaube ich nicht, dass es den Indianern in ihrer (für uns ach so "westlich zivilisierten Menschen") primitiven Art um solche Anerkennung ging.

Anonym 3. April 2013 um 19:58  

Das Netz bringt endlich die griechische "Agora" zurück: die Versammlungsstätte für's Volk. In einem größeren Rahmen, niemand ist ausgeschlossen, und jeder kann das Wort erheben und (!) ausreden.

Micheline 3. April 2013 um 22:05  

"...wenn man primitiv logiert, ziehen fortschrittliche Standpunkte aus"


Kann man das nicht noch weiterführen hin zu Medien und Populismus?

Die oft unreflektierte und aus dem Kontext gerissen Veröffentlichung auch kleinster Satzfetzen, quasi auch ein Verlust von Privatspähre, die man ja besser kontrollieren kann, hat schon mehr als eine Person des öffentlichen Lebens eben das öffentliche Wohlwollen gekostet. Ist es daher nicht zu erwarten, dass Personen des öffentlichen Lebens sich dieser Allgegenwärtigkeit anpassen, keine komplexeren und differenzierteren Äußerungen mehr machen sondern nur möglichst schmissige, populistische Statements von sich geben?
Bei den Indianerstämmen war in gewisser Weise noch zeitlicher und räumlicher Kontext zugegen, man konnte immer alles live sehen. Aber in sozialen Netzwerken sieht man nicht unbedingt, in welchem Kontext eine Information oder Äußerung steht. Denn alles, wirklich alles inklusive Einkäufe, Kreditkartenabrechnung und Grundschulzeugnisse sind ja nun noch nicht zu sehen.

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