Ein Sozialstaat am Stammtisch

Donnerstag, 11. April 2013

Der Arbeitslose ist nicht arbeitslos, sondern macht blau. So sieht das wenigstens der politische Boulevard. Den Blaumachern soll es nun an den Kragen gehen. Arbeitslose seien nicht nur häufiger krank als Arbeitnehmer. Sie seien es immer dann, wenn auf dem Plan des Förderns und Forderns letzteres steht.

Dass Bezieher des Arbeitslosengeld II häufiger krank sind, kann systematisch erklärt werden. Als man die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammenlegte, mischte man zwei Gruppen staatlicher Leistungsberechtigter zusammen. Beide hatten nur bedingt einen gemeinsamen Hintergrund aufzuweisen: Da waren die Arbeitsfähigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwer taten. Und diejenigen, die aufgrund begrenzter Arbeitsfähigkeit nicht als Kandidaten für den Arbeitsmarkt taugten. Mit Hartz IV wurde plötzlich so gut wie jede Arbeit für so gut wie jeden Leistungsberechtigten zumutbar. Die Klientel wurde deshalb aber nicht gesünder und damit arbeitsfähiger – im Gegenteil.

6 Kommentare:

Anonym 11. April 2013 um 21:25  

Auch in leide seit 10 Jahren unter Hartz-IV und zwar nicht als Bezieherin, sondern als Zuschauerin. Außerdem habe ich die Scheiß-SPD zweimal gewählt. Einmal aus Überzeugung und dann aus taktischen Gründen - hätte ich nur das nicht getan.

Es tut mir in der Seele weh, das systematische und gezielte Fertigmachen von Arbeitslosen hilfslos mitansehen zu müssen.

Ich schreibe dagegen an, ich streite mich mit Freunden, die danach meine Exfreunde sind, weil ich mit solchen Menschen nicht weiter befreundet sein will und kann. Ich ertrage das Geschwafel meiner Hausfrauen-Mutter nicht mehr, die nur deshalb kein Hartz-IV bekommt, weil sie meinem Alleinverdiener-Vater die Unterwäsche bügelt. Es kotzt mich so an - warum lassen so viele plötzlich ihre zivilisierte Maske fallen? Weil es dem Zeitgeist entspricht? Sind die Leute wirklich so ignorant und gehirnamputiert, dass sie sich sogar ihre Gedanken vorschreiben lassen vom ominösen Zeitgeist?

Seit 10 Jahren ist mein Gerechtigkeitsgefühl massiv verletzt und ich fange an, alles anzuzweifeln. Mit welchem Recht erwartet der Staat eigentlich noch Rechtstreue von uns Bürgern, wenn er selbst das Recht mit Füßen tritt? Oder um es mit Augustinus zu sagen: "Was ist ein Staat ohne Gerechtigkeit anderes als eine große Räuberbande?"

Ich glaube nicht mehr an das Geld (ist doch nur bunt bedrucktes Papier), ich glaube nicht mehr an den Rechtsstaat und ich glaube nicht mehr, dass wir in einer Demokratie leben. Insofern hat mir Hartz-IV wirklich die Augen geöffnet - wenigstens das.

baum 11. April 2013 um 22:59  

roberto, ich bewundere immer wieder aufs neue deine offenheit, denn nur durch die, nur durch das erzählen eigener erfahrungen wird deutlich, wie oberflächlich mal wieder die menschen gesehen werden und wie wenig man über ihre gefühlslage weiß, ja, wie wenig man darüber überhaupt wissen will.

arbeitslosigkeit zermürbt, macht auf dauer unsicher, zerstört das selbstvertrauen, zerfrisst das ich - und wenn man die erfahrung macht, dass viele der aktivitäten des amtes nur scheinaktivitäten sind, mag man da auch nicht mehr hingehen.

ich hatte 2001 noch einen schreibauftrag für den SDR, einen essay über van gogh. die arbeitsvermittlerin wollte mich in eine fortbildung stecken für so eine art bürokaufmann. als ich ihr sagte, ich wäre bereits ausgebildeter industriekaufmann mit abschluss und berufserfahrung stellte sich heraus, das war ihr gänzlich unbekannt. und wieviel bürokaufleute gibt es, die mit 60 noch eine stelle kriegen. als ich ihr dann noch erzählte, dass solch eine maßnahme mich vom schreiben abhalten würde, hatte sie ein einsehen, dabei knirschte sie allerdings mit den zähnen.

nightowl 12. April 2013 um 01:06  

Welcher Sozialstaat?

Noch leistet der Staat sich dieses Heer von Genötigten und Erpressbaren, diese jederzeit aller Unterstützung beraubbare "Verfügungsmasse" um des Terrors (ja, im eigentlichen Wortsinn) willen: zur Abschreckung (Horror der Arbeitnehmer: lieber geringe Entlohnung, als DAS) - und als Sündenbock für die Stammtische.
Divide et impera.

Hartmut B. 12. April 2013 um 08:45  

danke Roberto für Deine Ausdauer.

als ich in den achtzigern ALG-Empfänger war, habe ich an den Ministerpräsidenten (NRW) einen Brief geschrieben. Ich bat um Hilfe und mögliche Einstellung in einem angemessenem job.
Das Antwortschreiben, vom Dez. 1985, 4DIN A Seiten, der Staatskanzlei des Landes NRW endete mit folgendem Absatz:

"Obwohl meine Antwort sicherlich nicht die mit Ihrem Schreiben verbundenen Erwartungen erfüllt, möchte ich Sie nochmals bitten, nicht den Mut zu verlieren. Nach den Berichten der Arbeitsverwaltung finden am Arbeitsmarkt starke Austauschprozesse statt. Zwar meldet sich immer noch jeden Monat eine hohe Zahl von Arbeitsloseen neu bei deen Arbeitsämtern, doch sind demgegenüber auch hohe Abgänge aus der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Diese Bewegungen zeigen, daß der Arbeitsmarkt nicht chancenlos ist. Ich wünsche Ihnen, daß Sie bald die Gelegenheit erhalten, Ihre erworbenen Kenntnisse in der elektronischen Datenverarbeitung auch beruflich zu verwenden."

Anonym 12. April 2013 um 12:59  

Fördern und Fordern!
Es wird fast nur noch gefordert. Das Fördern verschwindet immer mehr. Ist das dann nicht ein Bruch, wenn nur noch gefordert wird? Kann man dagegen nicht vorgehen?
Mir wurde gesagt, dass eine Weiterbildung nicht in Frage kommt, obwohl es mir helfen würde. Stattdessen wird von mir alles mögliche gefordert. Kann ich da nicht verlangen, dass ich auch gefördert werde, weil es ja das Prinzip des Förderns und Forderns gibt?

Anonym 12. April 2013 um 14:50  

@nightowl

Außerdem muß man den Betroffenen schon ein bißchen was zu fressen geben. So haben sie immer noch etwas zu verlieren und bleiben erpressbar. Z.B. für die Niedriglohnjobs. Warum sollten sie einen solchen annehmen wenn sie ohnehin nichts mehr zu verlieren haben? Dafür leistet man sich mal ein paar Kröten im Haushaltsbudget.

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