Den New Conservatism verstehen lernen

Montag, 22. April 2013

Quelle: VAT Verlag
Lynndie England und Joe Bageant sind aus derselben Gegend. Aus den beiden Virginias. England machte Karriere als Foltermagd von Abu Ghuraib. Ihr kühles und sadistisch paffendes Gesicht ging um die Welt. Bageant wurde Journalist. Beide sind Kinder einer Arbeiterklasse, die gesellschaftlich vernachlässigt wurde und die es laut der von den Medien verbreiteten Ideologie von der "klassenlosen Gesellschaft" eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. In Auf Rehwildjagd mit Jesus nimmt Bageant mit auf einen Streifzug durch ein kaltes, ja mörderisches Milieu, in dem fundamentalistische Kirchen auf fruchtbaren Boden stoßen.

Obwohl die propagierte Klassenlosigkeit Doktrin ist, spricht Bageant von "der großen Masse der Unterbezahlten, wenig Gebildeten und Überarbeiteten". Die Mittelschicht sei abhängig von Menschen seiner Klasse, erklärt der Autor weiter. "Wir sind der Grund dafür, dass sich Amerika einer niedrigen Inflation erfreut und die privaten Altersruhegelder der Mittelschicht stabil bleiben. Gleichzeitig hat man dafür gesorgt, dass die Arbeiterschaft vollständig am Tropf der Sozialhilfe-Programms hängt, eines Programms, das sich Social Security nennt und von der besitzenden Klasse über kurz oder lang durch die Hintertür gekürzt und privatisiert werden wird, um die Aktienkurse in einer auf wundersame Weise den eigenen Interessen dienenden Schleife und ganz im Sinne der von ihnen am meisten profitierenden oberen Mittel- und Oberschicht in die Höhe zu treiben."

Folgt man Bageant durch die Lebenswelt seiner Klasse, so glaubt man sich in ein Entwicklungsland versetzt, in das sich zu allem Überdruss auch noch religiös-rassistische Fanatiker verirrt haben. Er berichtet von schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen, in denen es Mitarbeiterrechte nicht gibt; von unbezahlbaren Krankenhausrechnungen und von Pflegeheimen, die entweder nach "Scheiße und Spülmittel" oder "Scheiße und Pisse" riechen; vom letzten Trost wenig gebildeter und auf dem Arbeitsmarkt schlecht behandelter Menschen: dem Evangelikalismus; davon, dass der Betrug zur amerikanischen Tugend erklärt wurde, wie man an den (so gut wie nicht vorhandenen) Vergabekriterien von Immobilienkredite sah, die horrende Zinsen und programmierte Obdachlosigkeit beinhalteten. Und es geht um Gewehrläufe, die Freiheit, sich Waffen zu halten, für die Bageant, sich selbst als linker Liberaler bezeichnend, vehement eintritt. Für europäische Ohren ist jenes Kapitel schier unerträglich; Bageants Waffen- und Lagerfeuerromantik und der Versuch, die Gefahr anhand von Statistiken herunterzuspielen, kann für Europäer wahrscheinlich nicht nachvollziehbar sein. Man muss sein Loblied auf den freien Waffenbesitz nicht teilen, sollte aber vielleicht aufgrund seiner Herkunft Verständnis aufbringen.

Überhaupt geht es dem Autor überwiegend um Verständigung. Zurück zu Lynndie England, die in diesem Milieu sozialisiert wurde. Sie galt als gute Schülerin - "das heißt aber nicht viel in Orten, in denen man das schulische Niveau absenkt, bis es im Erdreich verschwindet, um allen ein Durchkommen zu ermöglichen, die überhaupt zur Schule gehen." Sie wuchs in familiärer Zerrüttung auf, was nicht selten Folge fehlender sozialer, ökonomischer und kultureller Teilhabe ist. Sie hatte nie eine Chance, schreibt Bageant und wirbt um Verständnis. Zwischen evangelikalem Fanatismus, einer Ökonomie der Selbstsucht und prekärer Beschäftigung formiert sich nicht das Beste im Menschen, sondern stellt sich die seelische Angeschlagenheit, die psychische Verkrüppelung heraus. England ist demnach mindestens so ein Opfer, wie es ihre Opfer im irakischen Kerker waren.

So muss man aber nicht zwangsläufig enden, wenn man in einem solchen Umfeld seine Sozialisierung, seinen prägenden Stempel für das weitere Leben, erhält. Man kann auch einfach nur proletarischer Anhänger eines elitären Programmes werden. Wenn man sich gemeinhin fragt, von wo sich die Basis für die Tea-Party-Bewegung rekrutiert, so gibt Bageant deutlich Auskunft darüber. In dem Milieu der verleugneten Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten ist der Keim der Reaktion angelegt; sie ist so geprügelt und verdummt worden, dass sie Programmen zujubelt, die ihr selbst nur schaden. Bei der letzten US-Präsidentschaftswahl wählten fast fünfzig Prozent aller Wähler den der Tea Party nahen, reaktionären Kandidaten Romney. Wer diese Renaissance des New Conservatism verstehen will, der sollte sich an Bageants Essay wagen.

Auf Rehwildjagd mit Jesus. Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf von Joe Bageant erschien im VAT Verlag André Thiele.

(Diese Buchbesprechung erschien in gekürzter Fassung bereits im Neuen Deutschland.)


7 Kommentare:

Anonym 22. April 2013 um 08:19  

Englands Biographie erinnert an jene gewisser SS-Männer, die ebenfalls aus präkären Verhältnissen stammten und dann ihr mangelnes Selbstwertgefühl an Rampe und Gaskammer 'nachbessern' konnten. Es kann einem Angst und Bange werden bei diesem wachsenden Potential an sozialen Zombies...

Johannes 22. April 2013 um 09:46  

Hm. Romney war der am wenigsten "rechtsreaktionäre" der republikanischen Kandidaten, oder? Das macht es freilich nicht unbedingt verständlicher, warum die von Bageant beschriebene Unterschicht ihn gewählt hat. Ich habe das Buch letztes Jahr auf englisch gelesen und fand es ebenfalls faszinierend und erschütternd. Gerade das Kapitel über Waffenbesitz zeigt, dass die Fronten eben nicht so einfach verlaufen, wie wir es uns in Europa vorstellen.
Jedenfalls frage ich mich angesichts solcher Einblicke wie lange die fragile Stabilität dort noch halten kann. Man gewinnt den Eindruck, es müsse doch jeden Augenblick zusammenkrachen.

der Herr Karl 22. April 2013 um 13:43  

Wer sich in der amerikanischen Religiosität ein wenig auskennt, weiss, dass es die in der Schweiz und Deutschland früher gängige Form der protestantischen Landeskirche praktisch nicht gibt. Dort gibt es, neben den Katholiken, fast nur noch die "Evangelikalen". Das sind Tausende von selbständigen, fundamentalistischen und eher rechtsstehenen Glaubensgemeinschaften. Viele dieser Evangelikalen sind zudem sehr pfingstlerisch-charismatisch ausgerichtet. Diese predigen leider tatsächlich ein widerliches, selbstgerechtes und oberflächliches Erfolgs- und Wellnesschristentum, welches - ganz amerikanisch - die Ellbogengesellschaft mit der vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Ideologie propagiert und äusserste Ichbezogenheit praktizert. Wer Erfolg habe (toller Job, schöne Frau, teurer Wagen), der sei von Gott gesegnet. So leider die vereinfachte Formel.
Nun die Katastrophe: Genau dieses Denken fasst in Europa in vielen Kirchen immer mehr Fuss. Es sind die neuen evangelikalen Franchise-Glaubensgemeinschaften, welche mit ihren popkonzertartigen "Events" jeden Sonntag Tausende Jugendliche anziehen und ihnen dann dieses amerikanisch geprägte Fastfood-Evangelium einimpfen. Da hat es keinen Platz mehr für Konsumkritik oder soziale Gerechtigkeit.
So verstehe ich Jeden, der vom christlichen Glauben gar nichts (mehr) wissen will...

flavo 22. April 2013 um 16:13  

Ja, zu verstehen ist daran so einiges. Die Klassenlose Gesellschaft war von Anbeginn eine Ladung Beton auf ein geschichtliches Sprachrohr. Es wurde Unmengen an Beton angerührt und in dieses Sprachrohr geleert, bis es zu war. Nun ist zu und seine Laute dringen an Ritzen und zwischen den Schrauben hinaus und vermischen sich mit allerlei. Anstatt gebündelt nach oben zu wellen, ein einem großen Lautschwall gegen die herrschenden Klassen, röhrt es nun in alle Richtungen, bis einem die Orientierung vergeht. Die Temperatur der Fritattensuppe gar kann Gegenstand eines abklungenen Klassenkampfes werden. Es ist die Verneinung der Unterdrückung. Du wirst unterdrückt als Mitglied einer Unterdrückten Klasse? Ich sage, es gibt keine Klassen und keine Unterdrückung. Sodann frage ich dich, wenn du dich wie gerade getan ob deiner unterdrückung beschwerst, wo liegen dann die Grüne für deinen Zustand, wenn es keine Unterdrückung und keine Klassen gibt?
Hier steigt die Hilflosigkeit in kafkaeske an. Die Maus irrt in der Ecke umher und sucht nach einem Fluchtweg. In dieser Situation findet sich im wesentlichen die unterdrückte Klasse heute wieder. Eine Maus ist sie geworden und anstatt mit geballter Kraft aus der Ecke auf den Angreifer zu hüpfen und ihn zu beißen, hechelt sie links und rechts hin und her und kommt nicht raus. Es ist nur eine Konsequenz langer Prägungspfade, dass die Eskalation im iraker Gefängnis stattgefunden hat. In der Repespektivierung der Eigenverantwortung entschuldet man solches nicht, jeder ist voll autonom und vollumfänglich verantwortlich. Ob ein reicher Texaner zwei Hengste kauft oder diese Frau im Gefängnis foltert, ist folge derselben Ausgangsmatrix.
Es ist die Verneinung der Unterdrückung. Wer wollte heute sich als unterdrückt einem anderen darbieten? Scham breitete sich aus, nicht nur in ejnem, man müßte sich noch schämen dafür, dass man dem anderen einen solchen Ungedanken zumutet. Du bist unterdrückt? Also bitte, nun hör aber auf, was soll das. Doch, ich bin und werde unterdrückt. Ich werde so sehr unterdrückt, dass ich schon Haltungen angenommen habe und Dinge tue, die mir schaden und meinen Unterdrückern nützen. sie müssen mich gar nicht zwingen, ich kann gar nicht anders, ich weiß aber wohl, ich werde darin unterdrückt. Ich glaube, was man mir erzählt. Man sagt, ich habe versagt. Ich habe also versagt. Ich sah meinen Handlungsspielraum immer sehr beschnitten, allerdings sagt man mir, ich hätte immer einen größeren gehabt, als mir er erschien. Es ist so. Ich glaube an Götzen, an die ich gar nicht glauben will, aber ich brauche ein gutes Gefühl, etwas, in dem es mir irgendwie gut geht, was sich gut anfühlt, Menschen die mich mögen, Dinge an die ich denken kann, wenn es mir schlecht geht, wenn ich vor dem einschlafen die Gadanken nicht in Mühsal und Traurigkeit baden lassen will. Aber ich bin so schwach, dass ich sofort aufgenutzt werden kann. Und lasse mich auch ausnutzen. Ich liebe große stareke reiche Männer, die von Gott und Gedl reden und mir Hoffnung spenden. So hilf mir doch!

Hartmut B. 22. April 2013 um 17:33  

An das Buch werde ich mich ranwagen ;-) - hoffentlich regt es mich nicht zu sehr auf... dann muß ich es wohl in kleinen Dosierungen lesen.

In den 70ern war ich knapp 2 Jahre mit den evangelisch Freikirchlichen involviert. Wenn ich daran nur zurückdenke fange ich an vor Zorn zu beben. Seitdem habe ich mich mit diesem Thema nicht mehr befaßt.
Meine jetzige Frage, sind die den Evangelikalen sehr ähnlich ?

Anonym 22. April 2013 um 18:59  

das Problem mit den US-Evangelikalen ist MMN nicht nur fehlende Empathie für wirtschaftlich nicht so "gesegnete" - sondern daß sie es tatsächlich schaffen, Biologie bzw die Evolution aus dem Schulunterricht zu verbannen, und mit Berufung auf die Religion ihre Kinder aus der Schule nehmen um ihnen im Selbstunterricht dann Kreationismus etc zu lehren...

das könnte man alles belächeln - man muß man sich aber vor Augen halten, welche Macht diese Gruppen - trotz ihres sektenhaften Verhaltens & mittelalterlichen, wort-wörtlichen Auslegung der Bibel - in den USA haben; und durch Think Tanks wie z.B. das Hudson - oder Discovery Insitute Einfluß bis in höchste Militär - & Regierungskreise.

Da ist es nur logisch, daß im Gegenzug eine fast schon missionarische Atheisten-Bewegung entstanden ist.

In Amerika muß es halt immer ne Spur abgedrehter sein.
Daß sich die USA dabei ganz selbstverständlich als Führungsnation der Welt verstehn - die sie ja auch sind - ist irgendwo schon abenteuerlich...

nb - MMN gut daß "Conservatism" in der Überschrift nicht übersetzt wurde.
Viele übertragen Konservative/Demokraten bzw Liberale 1:1 in unser links/rechts-Schema, MMN sind die amerikanischen Verhältnisse dafür einfach zu grundverschieden.

Art Vanderley 22. April 2013 um 21:02  

Ich fürchte , der Hang zur Reaktion ist in der "Arbeiterklasse" von jeher angelegt und die Wirtschaftskrise ist zu einem gut Teil Ergebnis dieser Haltungen.
Nicht , indem Mitglieder der Arbeiterklasse direkt schuld wären an den Taten der so bezeichneten Eliten , sondern weil der Hang der "Arbeiter" zu starker Unterwürfigkeit und Kritiklosigkeit überhaupt erst ermöglicht , daß solche "Eliten" entstehen können.

Es scheint mir folgerichtig , daß sich das Verhalten der Arbeiter beim scheinbar plötzlichen Auftreten der Krise nicht schlagartig ändert , warum auch ?

Also ist es in gewisser Hinsicht logisch und kann vielleicht gar nicht anders sein , daß sich die Benachteiligten erst mal so verhalten , wie sie es tun.

Wären sie anders drauf , gäbe es weder solche "Eliten" noch die Wirtschaftskrise selber.
Analog gilt dasselbe natürlich für das intellektuelle Prakriat in allen Schichten , sind ja nicht die Arbeiter alleine.

Allerdings liegt hier auch ein Stück Hoffnung , extreme Veränderungen haben schon immer Verhaltensänderungen erzwungen, es mag zu optimistisch sein , aber ich sehe die Zukunft trotz allem eher bei einem Schulterschluß aus Linken ,Werteliberalen und Wertkonservativen , und nicht so sehr bei den Rechten.

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