Ein Paket voller Umgangsregeln

Freitag, 19. April 2013

Zeit für Wahlprogramme. Überall schießen sie nun aus dem Boden. Alle verabschieden welche. Wer sich eines zulegt, gibt lediglich die politolinguistische Richtung für die nächsten Monate vor. Der Inhalt des Wahlprogrammes besteht nicht aus Konzepten, die gesellschaftlich organisiert werden sollen, sondern es handelt sich um reine Sprachkonzepte.

Die Sozialdemokratie zum Beispiel, die hat sich ein Wahlprogramm zugelegt, in dem der Begriff soziale Gerechtigkeit Platz findet. Verabschiedet wurde es auf Initiative jener parteilichen Avantgarde, die die soziale Gerechtigkeit vor einigen Jahren noch als Sozialromantik abtat. Es geht dabei aber auch nicht um handfeste Vorhaben, sondern um die Vereinbarung darüber, in den nächsten Monaten verstärkt und nachdrücklich der sozialen Gerechtigkeit das Wort zu reden. Es ist eine Sprachregelung, über die die Partei abgestimmt, die sie sich selbst auferlegt hat.

Das Wahlprogramm ist insofern nicht die Wahl eines Programmes, sondern die Wahl über Worte, die man verstärkt benutzen möchte in Zeiten des Wahlkampfes. Es ist eine von Parteifunktionären abgesegnete PR-Strategie, ein sprachlicher Modus auf den man sich selbst programmiert.

Als sich Müntefering vor Jahren empörte, man dürfe seine Partei nicht an den Versprechungen messen, die sie im Wahlkampf gemacht habe, setzte er voraus, dass eigentlich alle Welt wissen müsste, dass die auf dem Wahlprogramm basierten Versprechungen, lediglich als rein linguistische Übungen gemeint waren. Er fand ungerecht, dass man diese Sprachregelung nun auch noch in die Welt der Taten hieven wollte, obwohl sie nur für die Welt der Worte ersonnen war. Der Wähler meint ja ohnehin viel zu oft, dass diesen Worten Taten folgen sollten, obgleich das nicht der ursprünglichen Aufgabe des Wahlprogrammes entspricht. Das ist nicht mehr als ein rein soziolektisches Programm, das sich die gesellschaftliche Gruppe der Politiker gibt.

Wenn nun über Wahlprogramme berichtet wird, vermittelt man gerne den Eindruck, hier feilten sich Parteien ein Profil, das sie durch Planung von Handlungen konturieren möchten. Dabei ist die Wahlprogrammiererei ein rein passiver Akt der Kommunikation. Wie sprechen wir miteinander und mit anderen? oder Welche Worte müssen unbedingt verwendet werden? sind die Statuten des Wahlprogrammes. Wie eine Schulklasse, die sich am Jahresanfang eine Liste mit Umgangsregeln erstellt, die sich notiert Wir melden uns bevor wir reden!, so heben die Delegierten der Parteien die Hand, um über die Regeln kommender Tage abzustimmen.


7 Kommentare:

altautonomer 19. April 2013 um 07:54  

Erfahrungsgemäß läuft das Haltbarkeitsdatum von Wahlprogrammen am Wahltag ab. Sie werden dann erst wieder in 4 Jahren umettiketiert.

Der SPD-Bundesparteitag hat im Dezember 2012 mit über 90 % der Stimmen beschlossen, dass Peer Steinbrück den Wahlkampf für die CDU übernimmt. Und das macht er gut.

Raffiniert spekulierend auf das unterentwickelte Langzeitgedächtnis der Wählerinnen und Wähler glauben die Granden der SPD, dass die Kälber ihre Schlächter auch dann noch selber wählen, wenn ihnen das Blut von letzten rot-grünen Schlachtfest noch vom Messer tropft.

altautonomer 19. April 2013 um 08:28  

Nachtrag: In der jW ist heute auch etwas unter dem Titel "Keine Schnittstellen" zu diesem Thema zu lesen.

Leseprobe: "Es spricht somit alles dafür, daß die SPD auch nach den Wahlen am 13. September 2013 ihre im Wahlkampf gegebenen Versprechungen sofort vergessen und ihre Politik des Sozialabbaus fortsetzen wird. Und neue Zumutungen zeichnen sich bereits am Horizont ab. Von Kapitalseite gibt es Vorstöße für eine erneute Anhebung des Rentenalters, diesmal auf 69 Jahre. Auch diesen wird sich die SPD kaum widersetzen."

Anonym 19. April 2013 um 14:58  

ANMERKER MEINT:

Es gab mal eine Zeit, da waren Wahlprogramme auch eine Selbstvergewisserung für eine Partei, außer der Reklame. Aber das ist vorbei, vor allem bei der SPD, die es tatsächlich geschafft hat in 15 Jahren, gerademal in 10% ihrer Geschichte, also seit Schröder, sich selbst an die Wand zu fahren. Sie scheint weiterhin Gefallen daran zu finden.

MEINT ANMERKER

Hartmut B. 19. April 2013 um 15:39  

statt eines Kommentars möchte ich aus einem Buch mit dem Titel, Politik als Show-geschäft, von R.G. Schwartzenberg aus dem Jahre 1980 zitieren: (Teil 1 vorangestellt)

DIE PERSONEN UND IHRE DARSTELLER

Früher bestimmten Ideen die Politik, heute sind es Personen, oder besser gesagt, Rollenträger, denn jeder leitende Politiker scheint eine Rolle zu besetzen und einen Part zu spielen, genau wie auf der Bühne.
Seit dieser Wandel eingetreten ist, hat sich der Staat selbst in eine Art von Filmverleih verwandelt, oder er agiert gleichsam als Schauspieldirektor. Die Konsequenz: Die Politik bewegt sich nach den Gesetzen der Regie, und jeder Politiker exhibitioniert sich als eine Art Star. Auf diese Weise vollzieht sich die Personalisierung der Macht,der Etymologie des Wortes entsprechend, denn bekanntlich kommt das Wort "Person" vom lateinischen "persona", Theatermaske.

eb 20. April 2013 um 11:30  

Die Etablierung und Profilierung des Unechten, und der Selbstpositionierungen der Unechten darin, über strategische Werbung und PR nach dem Muster amerikanischer Unternehmensstrukturen und deren Managements. Die generelle Mentalität hinter dem Gedanken D-Land wie ein Unternehmen zu führen und alles und jeden wie ein Werbeobjekt im Markt zu betrachten. Inklusive sich selber.

Letztens gab es eine Ausstellung in Freiburg zum Thema "Ich ist ein anderer" im Sinne eines Briefes von Arthur Rimbaud an Paul Demeny. Rimbauds Kernedanke "Ich denke nicht, sondern man denkt mich" ist im Sinne moderner PR und Werbepsychologie nochmals gesteigert zum "Ich steuere zu meinen Gunsten, - wie man mich denken soll".
Bei ausreichender Normalisierung des Ganzen, kann es dabei nur Unechtes geben, bei welchem der/das Unechte trotzdem glaubt, dass dies echt ist.
Das perfekte falsche Leben in einem möglicherweise Richtigen, bei welchem aber keiner mehr weiß, was dies sein könnte. Der Fluch der Werbung.

Anonym 21. April 2013 um 21:39  

Bitte zur klenntnis nehmen:

http://kritikundkunst.wordpress.com/2013/04/21/fall-bence-toth-iii-nsu-prozess/

danke

Anonym 24. April 2013 um 20:33  

Man muß das Wort "Wahlprogramm" nur endlich mal ernstnehmen: Ein Programm zur Wahl. Das impliziert auf keine Art einen Zusammenhang zu einem Regierungsprogramm (ein Programm zum Regieren, alleine oder als Koalition).

Was ich gerne sehen würde, wäre eine Webseite, die mal klar für jede Partei aufdröselt:
Wahlprogramm 2009 (Ansage), Regierungsprogramm 2009-2013 (Umsetzung), Wahlprogramm 2013 (Ansage), daraus logisch abzuleitendes Regierungsprogramm 2013-2017 (vermutliche Umsetzung). Da kann dann auch prima einfließen, wie sich die Parteien der Opposition verhalten zu Gesetzesvorschlägen aus der Opposition (SPD/Grüne-Abstimmungsverhalten bei Linke-Vorschlägen etc.)

Wenn ich in Frankfurt in einen Zug nach Hamburg einsteige, und der Zug Richtung offenkundig nach Basel fährt, obwohl mir der Schaffner mehrfach versichert, er führe nach Hamburg, dann... ist das, wie Wahlprogramm und Regierungsprogramm. ;-) Ein guter Grund jedenfalls, umzusteigen und weniger auf vollmundige Ankündigungen und mehr auf bisherige Taten zu achten.

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