Eine sprachliche Unart unserer Tage, so meint jedenfalls der Kabarettist Helmut Schleich, sei die Erwiderung einer Aussage mit einem undefinierbaren Okay. Dabei ist dieses Okay als Frage intoniert und langgezogen, also vielmehr ein Okaaay? Schleich nennt das ein "Sprachneophyt und linguales Springkraut". Vor einigen Jahren, so erklärt er, habe das noch niemand gesagt. Aber heute ist Okaaay? eine eigentlich stets passende Antwort auf allerlei Erschlagenheiten des täglichen Lebens. Denn dieses irgendwie ironisch unterlegte Okaaay?, auch das hat Schleich ganz richtig erläutert, sei Ausdruck für Überforderung. Okaaay? ist zugleich der wenig beredte Beleg für die schwindende Kommunikationskompetenz im Alltag. Es ist eine Fragestellung, die quasi ohne Worte auskommt. Ein Was willst du von mir? ohne Satzbau. Okaaay? ist aber mehr. Es tritt als Floskel in Erscheinung, wenn der Gegenüber etwas sagt, was nicht im Rahmen der standardisierten Kommunikation vorgesehen ist. Wenn man kommunikativ aus der Reihe tanzt, beispielsweise sagt, man verabscheue den Sommer - wo doch alle Welt weiß, dass jeder Mensch die Wärme liebt. Das dann folgende Okaaay? klingt dann nicht selten provokativ und herausfordernd. Natürlich auch irgendwie überfordert. Zuweilen gibt sich Überforderung provokant, um nicht sofort ertappt zu werden.
Okaaay? ist ein im Alltag verwendeter Zusatz wie sic! und damit Markierung für unverständliche Stellen in der Matrix standardisierter Kommunikationsrituale. Schleich nennt beispielsweise das Ritual nach einem Einkauf, dem Kunden und Neubesitzer noch viel Spaß zu wünschen, als eine weitere Infantilisierung der Sprache. Antwortet man da nicht pflichtgemäß mit Danke!, sondern pampig, weil man sich auf Kleinkindalter reduziert wähnt, so erntet man mit Wahrscheinlichkeit ein Okaaay? Dieses moderne sic! der alltäglichen Sprache kennzeichnet den Verstoß gegen den Sprachkodex. Es gebietet indirekt den Gebrauch der üblichen Sprachliturgie und mahnt das Abkommen vom Weg der konsumoptimierten Kommunikation an. Insofern ist Okaaay? ein Imperativ mit Fragezeichen, ein durch das Hintertürchen der naiven Frage daherkommender Befehlston, doch bitte wieder so zu kommunizieren, dass alles wieder in geregelten Bahnen läuft.
Müller-Vogg galt einige Jahre lang als renommiertester Vertreter unter den konservativen Kolumnisten. Er drechselte Sätze voll regierungsnaher Thesen, die selten besonders schön, meist aber polemisch genug waren, um als konservativer Part auch für Talkshows abonniert zu werden. Mehrmals in der Woche brachte er den Lesern seiner Kolumne in der Bildzeitung die schwere Bürde des Konservatismus nahe und mahnte beharrlich vor den Linken. Was in den letzten Monaten auffällt: Er hat ein starkes Bedürfnis danach, sich als Mann zu gerieren, der es wider aller Widerstände "mal sagt", der sich traut, das angeblich sonst Ungesagte, einfach mal zu sagen. Hierzu scheut er auch nicht die rhetorische Figur der Repetitio.
Seit September 2012 hat Müller-Vogg die Sentenz "Das muss doch mal gesagt werden!" 32-mal benutzt. Und es ist allerlei, was da so im Bezug auf Wulff, Euro, Manager-Gehälter, die GEZ oder protestierende Griechen mal gesagt werden muss. Aktuell will er die Strafbefreiung bei Selbstanzeige von Steuerbetrug abgeschafft sehen (was per se nicht unvernünftig ist) und beschließt diesen frommen Wunsch mit seiner ewigen Floskel. Und weil er sich immer noch nicht ausreichend gehört fühlte, entschloss er sich seine Kolumne am 18. April dieses Jahres mit dieser Floskel zu überschreiben. Damit es alle wissen: Müller-Vogg hat es mal gesagt!
Was ist eigentlich mit diesem Mann los? Es ist ja nicht so, dass da ein großer Goethe in die Monotonie verfiele - aber ein Wandel hin zur ewigen Wiederkehr des Gleichen, zur fast schon rituell gebrauchten Stilblüte, ist doch unverkennbar.
Ist das die bittere Resignation des Hugo Müller-Vogg? Vor einigen Jahren schrieb er ein Pamphlet gegen den Linksruck in der deutschen Gesellschaft. Uns drohe die Volksrepublik Deutschland, meinte er damals (wie heute). All das schrieb er paradoxerweise nieder, als muntere Abbrucharbeiten am Sozialstaat stattfanden. Verfolgungswahn ist manchmal eine schwerwiegende Angelegenheit - aber manchmal greift man dafür auch ein Autorenhonorar ab. Ist dieses trotzige "Das muss doch mal gesagt werden!" ein Beleg dafür, dass er nun endgültig der Sinistophobie (der Furcht vor den Linken) erlegen ist? Bockig und als letztes Bollwerk gegen die galoppierende Unvernunft anschreiben als Therapie?
"Das muss doch mal gesagt werden!" ist eine Phrase, die suggerieren soll, dass es besonderen Mut brauchte, bestimmte Dinge von sich zu geben. Der Hype um Sarrazin ist mit dem Slogan "Das muss man doch mal sagen dürfen!" entstanden. Er sollte zum Ausdruck bringen, dass da einer gegen die Mehrheit steht, dass das Mutige gegen die Feigheit des Verschweigens aufbegehrt. Gefällt sich auch Müller-Vogg in dieser Rolle?
Oder hat der Mann einfach nur Angst vor dem Urteil der Nachwelt? Angst davor, dass die Menschen nach diesem gescheiterten Projekt der Volksrepublik Deutschland auf ihn zeigen und ihn höhnisch fragen, warum er nichts dagegen gesagt habe? Unterzeichnet er deshalb alles mit seiner Floskel, um nachher sagen zu können, er habe es doch immer gesagt, habe stets seine Finger in Wunden gehalten? Ist das Paranoia oder einfach nur der eingeschliffene Schreibstil eines gelangweilten Kolumnisten? Oder soll das am Ende gar bloß ein bestenfalls mittelmäßiger Running Gag sein?
Eventuell ist es auch nur der Beweis dafür, dass er nichts mehr zu sagen hat, fertig ist, sich als Kolumnist überlebt hat. Besonders einfallsreich schrieb er ja nie. Aber seine Uninspiriertheit mit so wenig Eloquenz vorzutragen, das ist ja fast schon kolumnistische Arbeitsverweigerung. Und nebenher ergibt "Das muss doch mal gesagt werden" inklusive Satzzeichen 32 Zeichen - so ein Zeichenschinder! Er weiß halt, wie Leistung sich lohnt. Auch das muss doch mal gesagt werden!
Die große Leere im Herzen des Terrors heißt ein Blog-Beitrag von Zeit-Redakteur Jörg Lau über das Boston-Attentat. Nicht nur über den Wahn der Attentäter liest man dort, sondern auch über einen einst sensiblen Journalisten, der nun lieber hasst als zu erklären.
Das Erfolgsrezept für Blogs zum Thema Islam und Nahost ist simpel: Möglichst viele Vorurteile, möglichst wenig Fakten, Pauschalisierungen statt Erklärungen. Eine wohltuende Ausnahme zwischen allen "politisch Inkorrekten" und "Dschihad-Watchern" war lange der Zeit-Redakteur Jörg Lau. Sein gleichnamiger Blog auf Zeit-Online bot das, was bei dem Thema ein sicherer Garant für Erfolglosigkeit ist: Differenzierungen. Dass Laus Beiträge zuweilen trotzdem so tendenziös sein konnten, wie man es von einem Redakteur einer Wochenzeitung, in dem selbst der Herausgeber schon vom "Islamofaschismus" schwafelte, erwartet, stimmt leider auch. Doch für eine Sache blieb sein Blog stets gut: Denkanstöße. Spätestens gestern hat Jörg Lau beschlossen, mit dem Denken aufzuhören.
Dass die zwei deutschen Wirtschaftsunternehmen Borussia Dortmund und Bayern München nun höchstwahrscheinlich das Champions League-Finale bestreiten, passt blendend in diese Zeit deutscher Hegemonie in Europa. Dieses deutsch-deutsche Finale bereichert das ausgelutschte Repertoire der Hegemonieverklärer und -rechtfertiger um eine neue Facette mehr, gibt eine originelle Parabel ab.
Die Krise Europas, so die deutsche Lesart, resultiert aus falschen Moral- und Wertvorstellungen an der europäischen Peripherie. Weil es den Griechen und Spaniern an deutschen Eigenschaften, deutschen Qualitäten, deutscher Beschaffenheit mangelt, musste Europa zwangsläufig in den Abgrund rutschen. Hier koaliert die neoliberale Ökonomie mit dem deutschen Wesen, die protestantische Frugalität (nach Max Weber signifikanter Baustein des Kapitalismus) mit teutonischem Sendungsbewusstsein. Der ökonomische Machtanspruch teilt sich das Terrain mit einem Primatanspruch "deutscher Ideale", ummantelt die materialistische Komponente mit einem nationalistisch-idealistischen Gewebe.
Richtete sich Europa stärker an preußischen Tugenden aus, würde es also fleißiger, pünktlicher, ordnungsliebender und weniger wehleidig, so erwüchse ein wahrhaftig schlagkräftiges Europa. Kauder fasste das lapidar mit dem Satz zusammen, es würde wieder Deutsch in Europa gesprochen. Die Krise Europas ist demgemäß zu bändigen, wenn Europa dazu bereit ist, "Deutsch zu sprechen" und überdies Deutsch zu fühlen und zu handeln. Ein geeintes Europa muss ein deutsches Europa sein - sonst klappt es nicht. Das ist der Idealismus, den sich der neoliberale Materialismus gegeben hat, denn der Deutsche braucht auch was fürs Herz, fürs Gemüt.
Etwas fürs Herz ist auch diese passende Geschichte, die in diesen Tagen aus den Sportspalten herausrutscht, um als Beleg für das Großeganze herhalten zu dürfen. Zwei deutsche Wirtschaftsunternehmen bestreiten vermutlich das Champions League-Finale. Europa geht auch hier in Deutschland auf. Die Arroganz gebietet es nun, dies als Zeichen für deutsche Nachhaltigkeit und Gründlichkeit zu sehen. Während die überschuldeten Fußball-Unternehmen Spaniens ihren Zenit endgültig überschritten haben, stürmen nun die kraftstrotzenden deutschen Unternehmen Europas Fußballplätze, machen die Titelvergabe unter sich auf. Hier wurde anständiges Unternehmertum belohnt, südländische Entrepreneure und ihre halbseidenen Machenschaften ausgebremst. Seriöses Wirtschaften trägt Früchte. Jetzt da Deutschland Europa rettet und finanziert, da der Kontinent es bewundert und braucht, kommt ein solches Endspiel genau richtig. Dafür hätten die beiden Wirtschaftsunternehmen eigentlich einen Preis zur Wahrung und Ehrung des Zeitgeistes verdient.
War man früher noch im Felde, so ist man heute auf dem Felde ungeschlagen. Die Parolen ändern sich zuweilen nur unwesentlich. Das Deutsche braucht den Mythos, die bildhafte Geschichte, die belegt, deutlich macht und unterstreicht. Dieses deutsch-deutsche Finale ist ein solches Bild. Es macht dem größten Idioten klar, dass da etwas ganz Großes im Gange ist, das auf allenen Schienen des gesellschaftlichen Lebens nun die deutsche Qualität obsiegt.
Der Fußball wurde seit jeher als Spiegelbild der Gesellschaft missbraucht. Kraft, Ausdauer und Beharrlichkeit waren da nicht nur Eigenschaften technisch unraffinierter Kicker, sondern Adjektive einer ganzen Nation. Politiker bemühen die Sprache des Fußballs, um die Menschen bildlich zu erreichen. Als ich vor Jahren kurz vor einer betriebsbedingten Kündigung stand, meinte der für mich zuständige Vorarbeiter, mich mit Fußballquerverweisen motivieren zu müssen. Ich müsse weiterkämpfen, meinte er, nach dem Foul aufstehen und Engagement zeigen; man könne zwar verlieren, müsse aber fighten, seine Leistung trotzdem abrufen. Außerdem würde ich schon wieder einen neuen Verein finden. Er sprach, als wäre Sport das Leben. Ich gab nur zur Antwort, dass ich gleich eine Blutgrätsche von hinten in seine Waden ansetze, wenn er mich weiter so anblödelt. Vor seinem geistigen Auge wird er mir vermutlich sogleich die rote Karte gezeigt haben.
Keine Gleichsetzung, nur ein Vergleich, um zu belegen, wie sich die Zeiten manchmal ähneln können: Als 1934 und 1938 jeweils die italienische Auswahl die Weltmeisterschaft errang, nahm man das als allgemeinen Beleg dafür, dass der faschistische Mensch dem antiquierten Menschentypus überlegen sei und daher zwangsläufig siegreich vom Spielfeld treten müsse. Diese Parabel auf die neue Zeit war für jeden verständlich, war herrlich einfach und schien alle Wahrheit zu beinhalten. So platt würde das heute keiner mehr sagen. Aber fühlen und andeuten und mit pseudoseriöser Miene vortragen ist schon mal drin. Denn wie sagte schon der Fußball-Philosoph Rehhagel, der nun im Auftrag der Kanzlerin in Griechenland unterwegs ist, um gute Stimmung zu machen: Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Und genau deshalb eignet sich dieser Doppelerfolg deutscher Fußball-Aktiengesellschaften besonders gut zur ideologischen Erbauung.
Deutsche Zeitungen ergreifen Partei für türkische Beobachter im NSU-Prozess. Der Stern hält eine Podiumsdiskussion über Neonazis ab. Doch die Hoffnung auf ein Ende des Alltagsrassismus vergeht, sobald man aus der Wohnung tritt.
Geht endlich ein Ruck durch Deutschland? Die Bildzeitung gibt sich als Anwalt der NSU-Opfer, nachdem sie bis vor kurzem noch das rudimentäre Verständnis von Genetik und die rassistischen Schlussfolgerungen des Thilo S. verkündigt hatte. Die Presse hält das Verhalten des Münchner Oberlandesgerichtes für unwürdig und kritisiert es nachdrücklich. Diskussionsrunden gegen Rassismus und Xenophobie werden abgehalten. Es wirkt, als ginge es endlich der gefährlichen Unart ans Leder.
oder Die Videoüberwachung des öffentlichen Raumes schützt die öffentliche Hand auch nicht.
Nach Boston scheint mal wieder klar: Der Überwachungsstaat ist das Gebot der Stunde. Denn er schützt unsere Freiheit. Nur wenn wir uns zu einer Freigänger-Gesellschaft aufrappeln können, in der alle a priori verdächtig und daher mit stetem Argusauge verfolgungsbetreut werden müssen, gelingt uns der Spagat zwischen Sicherheit und freiheitlicher Grundordnung. Nur dann glückt uns ein freiheitlich grundgeordnetes Gefängnis, das kaum jemand bemerkt.
Videoüberwachung ist hierzu aber überbewertet, sie bringt keine Sicherheiten. Hat denn auch nur eine einzige Kamera am Grenzübergang zur Schweiz etwaige Steuerflüchtlinge aufgezeichnet? Und wenn ja: Wie viele? Und: Wo sind diese Aufzeichnungen denn jetzt? Nicht Kameras überführen den türmenden Reichtum, der muss sich schon selbst anzeigen, um überhaupt spruchreif zu werden. Oder er benötigt Amnestie-Gesetze, um sich zu outen. Noch nie hat eine Kamera auch nur einen Steuerflüchtling überführt.
Kameras haben beispielsweise Hoeneß oft erfasst. Vor einem halben Jahr nahmen viele Überwachungskameras diesen Mann bei Jauch ins Visier. Dort schimpfte er auf Arbeitslose, Die Linke und auf Defäitisten. Und er sagte ganz ungeniert, dass zu hohe Steuersätze kurzzeitig auch ihn zur Steuerflucht verleitet hätten - wie übrigens jeden anständigen Leistungsträger. Und was haben die Kameraaufzeichnungen gebracht? Man hat gefilmt und ertappt - aber nichts ist passiert. Dieser Biedermann musste sich jetzt schon selbst überführen, die Videoüberwachung hat da gar nichts gebracht. Was nützen also all die Kameras an Grenzübergängen zu Steueroasen? Nicht mal die viel gepriesene abschreckende Wirkung wirkt. Alles Humbug und Feuchttraum naiver Sicherheitspolitiker.
Auch Hoeneß hat die Nutzlosigkeit der Videoüberwachung wohl stets gespürt. Wieso denn sonst hätte er sich in den letzten Jahren wohl als Befürworter des so genannten Videobeweises aufgespielen sollen? Zeitigte der Wirkungen, hätte er Ertappensängste haben müssen. So aber durfte er gar für ihn sein. Er wusste, dass das alles nur Attrappe ist.
Wir leisten uns seit vielen Jahren schon die dauerhafte Videoüberwachung unserer Eliten. Man kann zwischen Kanälen zappen, um ihre Bilder jederzeit betrachten zu können. Sind wir deshalb sicher vor ihnen? Oder sind sie es wenigstens vor sich selbst? Medienlandschaft nennen wir diese Überwachung, die zwar Bilder, selten aber stichhaltige Indizien liefert. Haben diese Eliten ihre Anschläge auf den Sozial- und Rechtsstaat je unterlassen, weil sie dabei gefilmt wurden? Wenn einer einen Anschlag verüben will, dann kümmern ihn Kameras nicht. Boston hat das bewiesen. Der öffentliche Raum der Medien ist so gut überwacht, wie kein öffentlicher Platz irgendwo auf der Welt. Und dennoch terrorisiert uns die Steuerflucht, der Standesdünkel und die Abneigung gegen Umverteilung. Hassprediger gegen Arbeitslose fürchten sich nicht vor Videoüberwachung, sie gieren stattdessen nach der Kamera und lächeln sanft hinein - das gehört zur Terrorstrategie. Es gibt den Terror mit oder ohne Kamera. Letztere ist folglich unwesentlich, nur eine Hürde, keine Unterlassungsstrategie.
Die Sicherheitspolitiker sollten diesen Feldversuch der Videoüberwachung, genannt Medienlandschaft, mal berücksichtigen und ihre Schlüsse ziehen. Sie sitzen ja selbst oft genug im videoüberwachten Raum. Und obgleich sie dort nach allen Regeln der Observierungskunst gefilmt werden, obwohl man sogar Mikrofone installiert hat, können sie ihren Sicherheitsterror so entfalten, wie auch die Anti-Sozialstaat-Egomanen ihren Terror, der die öffentliche Hand ausblutet, der Steuern vorenthält und Steuersätze niedrig presst, der Arbeitnehmerrechte verstümmelt und die sozialen Netze auftrennt.
Vielleicht wäre die Fußfessel für diese Eliten ja doch die bessere Alternative, um die allgemeine Sicherheit zu garantieren ...
"Nichts verbindet diese Nation so sehr wie die Abneigung gegen Randgruppen, wie das gemeinsame Gefühl des Betrogenwerdens und -seins, wie der Umstand, sich gegenseitig zuraunen zu können, wieder mal hintergangen worden zu sein. Hysterie vereint die Gesellschaft, nicht der Stolz auf Institutionen, auf Sozial- und Rechtsstaatlichkeit und so weiter. Die werden eher geächtet: das gemeinsame Betrogensein birgt die Gemeinschaft. Man steht zusammen weil man scheinbar betrogen wird - das funktioniert sogar klassenübergreifend. Die Empörung ist aber nicht nur heute modern als Klebstoff, sie war es in der letzten deutschen Demokratie auch schon. Sich kollektiv betrogen gefühlt zu haben: genau das war der Grundstock, auf den die ganz besonders empörten Herren in den braunen Phantasieuniformen bauten. Auch jene sprachen von einer Schicksalsgemeinschaft, die aber nicht sie entworfen oder terminologisch ersonnen hatten - sie rauschte in ihrer ganzen Empörung schon seit mehr als einem Jahrzehnt durch den Blätterwald, als man von dem großen Betrug an der gesellschaftlichen Mitte berichtete ..."
Lynndie England und Joe Bageant sind aus derselben Gegend. Aus den beiden Virginias. England machte Karriere als Foltermagd von Abu Ghuraib. Ihr kühles und sadistisch paffendes Gesicht ging um die Welt. Bageant wurde Journalist. Beide sind Kinder einer Arbeiterklasse, die gesellschaftlich vernachlässigt wurde und die es laut der von den Medien verbreiteten Ideologie von der "klassenlosen Gesellschaft" eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. In Auf Rehwildjagd mit Jesus nimmt Bageant mit auf einen Streifzug durch ein kaltes, ja mörderisches Milieu, in dem fundamentalistische Kirchen auf fruchtbaren Boden stoßen.
Obwohl die propagierte Klassenlosigkeit Doktrin ist, spricht Bageant von "der großen Masse der Unterbezahlten, wenig Gebildeten und Überarbeiteten". Die Mittelschicht sei abhängig von Menschen seiner Klasse, erklärt der Autor weiter. "Wir sind der Grund dafür, dass sich Amerika einer niedrigen Inflation erfreut und die privaten Altersruhegelder der Mittelschicht stabil bleiben. Gleichzeitig hat man dafür gesorgt, dass die Arbeiterschaft vollständig am Tropf der Sozialhilfe-Programms hängt, eines Programms, das sich Social Security nennt und von der besitzenden Klasse über kurz oder lang durch die Hintertür gekürzt und privatisiert werden wird, um die Aktienkurse in einer auf wundersame Weise den eigenen Interessen dienenden Schleife und ganz im Sinne der von ihnen am meisten profitierenden oberen Mittel- und Oberschicht in die Höhe zu treiben."
Folgt man Bageant durch die Lebenswelt seiner Klasse, so glaubt man sich in ein Entwicklungsland versetzt, in das sich zu allem Überdruss auch noch religiös-rassistische Fanatiker verirrt haben. Er berichtet von schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen, in denen es Mitarbeiterrechte nicht gibt; von unbezahlbaren Krankenhausrechnungen und von Pflegeheimen, die entweder nach "Scheiße und Spülmittel" oder "Scheiße und Pisse" riechen; vom letzten Trost wenig gebildeter und auf dem Arbeitsmarkt schlecht behandelter Menschen: dem Evangelikalismus; davon, dass der Betrug zur amerikanischen Tugend erklärt wurde, wie man an den (so gut wie nicht vorhandenen) Vergabekriterien von Immobilienkredite sah, die horrende Zinsen und programmierte Obdachlosigkeit beinhalteten. Und es geht um Gewehrläufe, die Freiheit, sich Waffen zu halten, für die Bageant, sich selbst als linker Liberaler bezeichnend, vehement eintritt. Für europäische Ohren ist jenes Kapitel schier unerträglich; Bageants Waffen- und Lagerfeuerromantik und der Versuch, die Gefahr anhand von Statistiken herunterzuspielen, kann für Europäer wahrscheinlich nicht nachvollziehbar sein. Man muss sein Loblied auf den freien Waffenbesitz nicht teilen, sollte aber vielleicht aufgrund seiner Herkunft Verständnis aufbringen.
Überhaupt geht es dem Autor überwiegend um Verständigung. Zurück zu Lynndie England, die in diesem Milieu sozialisiert wurde. Sie galt als gute Schülerin - "das heißt aber nicht viel in Orten, in denen man das schulische Niveau absenkt, bis es im Erdreich verschwindet, um allen ein Durchkommen zu ermöglichen, die überhaupt zur Schule gehen." Sie wuchs in familiärer Zerrüttung auf, was nicht selten Folge fehlender sozialer, ökonomischer und kultureller Teilhabe ist. Sie hatte nie eine Chance, schreibt Bageant und wirbt um Verständnis. Zwischen evangelikalem Fanatismus, einer Ökonomie der Selbstsucht und prekärer Beschäftigung formiert sich nicht das Beste im Menschen, sondern stellt sich die seelische Angeschlagenheit, die psychische Verkrüppelung heraus. England ist demnach mindestens so ein Opfer, wie es ihre Opfer im irakischen Kerker waren.
So muss man aber nicht zwangsläufig enden, wenn man in einem solchen Umfeld seine Sozialisierung, seinen prägenden Stempel für das weitere Leben, erhält. Man kann auch einfach nur proletarischer Anhänger eines elitären Programmes werden. Wenn man sich gemeinhin fragt, von wo sich die Basis für die Tea-Party-Bewegung rekrutiert, so gibt Bageant deutlich Auskunft darüber. In dem Milieu der verleugneten Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten ist der Keim der Reaktion angelegt; sie ist so geprügelt und verdummt worden, dass sie Programmen zujubelt, die ihr selbst nur schaden. Bei der letzten US-Präsidentschaftswahl wählten fast fünfzig Prozent aller Wähler den der Tea Party nahen, reaktionären Kandidaten Romney. Wer diese Renaissance des New Conservatism verstehen will, der sollte sich an Bageants Essay wagen.
Zeit für Wahlprogramme. Überall schießen sie nun aus dem Boden. Alle verabschieden welche. Wer sich eines zulegt, gibt lediglich die politolinguistische Richtung für die nächsten Monate vor. Der Inhalt des Wahlprogrammes besteht nicht aus Konzepten, die gesellschaftlich organisiert werden sollen, sondern es handelt sich um reine Sprachkonzepte.
Die Sozialdemokratie zum Beispiel, die hat sich ein Wahlprogramm zugelegt, in dem der Begriff soziale Gerechtigkeit Platz findet. Verabschiedet wurde es auf Initiative jener parteilichen Avantgarde, die die soziale Gerechtigkeit vor einigen Jahren noch als Sozialromantik abtat. Es geht dabei aber auch nicht um handfeste Vorhaben, sondern um die Vereinbarung darüber, in den nächsten Monaten verstärkt und nachdrücklich der sozialen Gerechtigkeit das Wort zu reden. Es ist eine Sprachregelung, über die die Partei abgestimmt, die sie sich selbst auferlegt hat.
Das Wahlprogramm ist insofern nicht die Wahl eines Programmes, sondern die Wahl über Worte, die man verstärkt benutzen möchte in Zeiten des Wahlkampfes. Es ist eine von Parteifunktionären abgesegnete PR-Strategie, ein sprachlicher Modus auf den man sich selbst programmiert.
Als sich Müntefering vor Jahren empörte, man dürfe seine Partei nicht an den Versprechungen messen, die sie im Wahlkampf gemacht habe, setzte er voraus, dass eigentlich alle Welt wissen müsste, dass die auf dem Wahlprogramm basierten Versprechungen, lediglich als rein linguistische Übungen gemeint waren. Er fand ungerecht, dass man diese Sprachregelung nun auch noch in die Welt der Taten hieven wollte, obwohl sie nur für die Welt der Worte ersonnen war. Der Wähler meint ja ohnehin viel zu oft, dass diesen Worten Taten folgen sollten, obgleich das nicht der ursprünglichen Aufgabe des Wahlprogrammes entspricht. Das ist nicht mehr als ein rein soziolektisches Programm, das sich die gesellschaftliche Gruppe der Politiker gibt.
Wenn nun über Wahlprogramme berichtet wird, vermittelt man gerne den Eindruck, hier feilten sich Parteien ein Profil, das sie durch Planung von Handlungen konturieren möchten. Dabei ist die Wahlprogrammiererei ein rein passiver Akt der Kommunikation. Wie sprechen wir miteinander und mit anderen? oder Welche Worte müssen unbedingt verwendet werden? sind die Statuten des Wahlprogrammes. Wie eine Schulklasse, die sich am Jahresanfang eine Liste mit Umgangsregeln erstellt, die sich notiert Wir melden uns bevor wir reden!, so heben die Delegierten der Parteien die Hand, um über die Regeln kommender Tage abzustimmen.
Das Innenministerium spricht nach Boston davon, dass eine abstrakte Anschlagsgefahr weiterhin bestehe, konkrete Hinweise auf Anschläge aber nicht existierten. Was soll eine solche inhaltslose Wasserstandsmeldung? Sie hat den informativen Gehalt von Sätzen wie: Morgen ist ein neuer Tag.
Abstrakte Gefahren lauern überall. Theoretisch ist die Gefahr stetiger Begleiter. Wenn ein Ministerium so tut, als sei die Gefahr für die Allgemeinheit etwas, was nicht üblich sei, dann hat es das Wesen der Menschheit nicht begriffen. Verräterisch ist dabei das Wörtchen "weiterhin". Es suggeriert hier, als habe es menschliche Gesellschaft auch mal ohne etwaiges abstraktes Gefahrenpotenzial gegeben. Mit "intellektuellen Niedergang" alleine kann man dergleichen Statements nicht erklären.
OffshoreLeaks der Grundstein eines Yad Vashems von der Steuer verfolgter Minderheiten?
Mindestens zwei Dekaden lang las man von Leistungsträgern, die die Früchte ihrer Leistung nicht genießen dürften, weil die großen Räuberbanden (so nannte der Kirchenvater Augustinus mal den Staat) sie schächteten. Steuern runter! war das parteipolitische Bittgebet jener Denke. Peter Sloterdijk nannte die Steuererhebung sogar herablassend eine „Revolution der gebenden Hand“ und sprach von kleptokratischen Strukturen, denen sich der Reichtum zugunsten der Armut unterordnen müsse. Dass Leistungsträger selbstlos der Enteignung ihrer Einkünfte zustimmten, sei indes „ein politisches Dressurergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid hätte erblassen lassen“. Moderne Finanzminister seien daher wie Robin Hood, beschloss Sloterdijk mit sophistischer Chuzpe.
Dieser philosophische Anstrich eines Lebensgefühls, das verinnerlicht hatte, dass Reichtum immer eigene Leistung und dass damit Umverteilung ein ungerechter Akt sei, der Armut und somit letztlich Faulheit stütze, war die intellektuelle Krone einer Ego-Kultur, wie sie in den Achtzigerjahren schon im Yuppie angelegt war. Später hockten diese erfolgsorientierten und ignoranten Personen in politischen Talkshows und flehten darum, zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und natürlich aus Gründen der Fairness, die Steuerlast runterzuschrauben. Steuerlast war dabei ein Lieblingswort, denn es korrumpierte die Klarsicht, überlagerte Debatten um maßlose Einkünfte mit Gefühlsduselei für Menschen, deren Leistung mit drückenden Lasten belegt würden. Sie seien schließlich die Lastesel der Nation.
Der allgemeine Widerstand dieser von Steuern verfolgten Minderheit war ein Programm, das man auch dem kleinen Steuerzahler irgendwie schmackhaft machen wollte. Das gelang auch eindrucksvoll, die Mehr Netto vom Brutto!-Parolen der Steuer runter!-Partei unter dem Vorsitz Westerwelles wurden bei der letzten Bundestagswahl hochprozentig belohnt. Die Agenda reicher Pfeffersäcke war plötzlich in der Mitte und im Unten dieser Schnäppchen-Gesellschaft angekommen.
Für die Leute, die nun namentlich bei OffshoreLeaks genannt werden, mögen einige schwere Monate ins Haus stehen. Man wird sich öffentlich moralisch erklären müssen. Das ist lästig. Untereinander werden sie diese Liste aber nicht als Verdammung betrachten, sondern als Datensatz des Widerstandes. Da stehen Leute drauf, die sich des unkontrollierten Zugriffs ihrer zu Geld gewordenen Eigenleistungen erwehrt haben, die anpackten und nicht nur jammerten, richtige Macher eben. Diese Resistance gegen diebische Staatsstrukturen versteht sich nicht als Verbrecherbande, sondern als Gruppe wehrhafter Demokraten, die nicht mal ein Kavaliersdelikt begangen, sondern nur die notwendigen Schritte unternommen hat, um sich aus ausbeuterischen Verhältnissen zu entwinden.
OffshoreLeaks wird gleichsam zur Gedenkstätte für Helden wie für Märtyrer. Jenes dumpfe Wahlvolk, das vorher zustimmte, die Steuerlast sei eigentlich ungerecht verteilt und es sei schon richtig, dass Leistungsträger aus der Wirtschaft bei zu hoher Besteuerung die Lust an der Leistung verlören, liest nun in der Süddeutschen von Steuerbetrügern und wird böse darüber. Aber gibt es denn überhaupt einen Betrug an der Steuer? Vorher nannten es diese Eliten Widerstandsgebot und ernteten Applaus. Und nun soll alles falsch gewesen sein? Dabei war man auf dem besten Wege, die Steuerhinterziehung als Straftatbestand zu entmoralisieren. Und nun dieser investigative Drang, die Entwicklung zu verkehren. Was damals richtig war, kann doch heute nicht falsch sein!
Vielleicht gründen die Personen des Datensatzes ja bald einen Verband, in dem sich alle Verfolgten der "Staats-Kleptokratie" vereinen. Dort wird man OffshoreLeaks als Yad Vashem von der Steuer verfolgter Minderheiten verstehen. Respekt für die Helden aufbringen, die ungeschoren davonkamen und Trauer für die Märtyrer, die einst von der neoliberalen Welle getragen Beifall bekamen und dann am Ende doch nicht mehr waren als Steuerbetrüger und Ganoven, deren Lebensleistung man nicht anerkennen wollte, sondern abschöpfte wie Rahm von der Milch.
Schulden und Schuld sind sprachlich und vom Sinngehalt verschwistert. Wer Schulden hat, trägt Schuld mit sich. Bringschuld, die Schuld, die Ausstände zu begleichen. Schulden tragen somit terminologisch eine ethische Klassifizierung mit sich. Der Schuldner hat nicht nur pekuniäre, also materielle Verpflichtungen, die offen sind, sondern steckt letztlich auch moralisch in Kalamitäten. Das Wort Schulden hat auch deshalb einen schlechten Ruf, weil es moralischen Ursprungs, weil es die Zuweisung eines Missstandes ist, der aber in der modernen Gesellschaft unausweichlich, ja notwendig wird. Denn ohne die Aufnahme von Schulden entsteht nicht das Maß an Investitionen, das in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft nötig ist.
Fraglich ist jedoch, ob man die Schulden, die Menschen aufhäufen, die in Armutsverhältnissen leben müssen, auch wirklich als Schulden bezeichnen kann. Welche Schuld trägt jemand, der sein Konto nur dafür überzieht, um sich Lebensmittel kaufen zu können? Der sich zwecks Mobilität ein Monatsticket für den Bus zulegt? Der ins Minus geht, um sich neue Schuhe zu erwerben? Wieviel Schuld steckt in Schuldnern, die Schulden haben, weil sie aus Gründen finanzieller Not über Katalog Bestellungen aufgeben, die sie nie werden begleichen können? Sind Schulden da noch mit Schuld verwandt? Macht sich derjenige, der sich die notwendigen Befriedigungen des körperlichen Daseins auf Grundlage von Geld finanziert, das er nicht hat, wirklich schuldig? Kommt nicht erst das Fressen, bevor die Moral wirken kann? Fangen Schulden (der Wortherkunft nach) nicht erst dort an, wo alle menschlichen Bedürfnisse, alle existenziellen Bedarfe abgedeckt sind?
Schulden sind nicht Schulden. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob eine Gesellschaft, die Investitionen nur stemmen kann, wenn es die Bereitschaft zum Verleihen von Kapital gibt, Schulden mit dem ethischen Ursprung des Wortes in Verbindung bringen kann. Diese sittliche Einbettung von Verbindlichkeiten ist jedoch dann völlig unangebracht, wenn sie entstehen, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. In einer Mangelgesellschaft, in der man sich auf Pump kleidete oder aß, mag die Schuld mitgeschwungen sein. Denn in ihr ist diese Versorgung auch immer die Nichtversorgung anderer. Aber in Tagen der Überproduktion und der Lebensmittelfülle nimmt niemand mehr Schuld auf sich, wenn er sich Geld vorschießen läßt, weil er es zur Abgeltung seiner Körperlichkeit benötigt. Die Verewigung des Daseinskampfes (Marcuse) bewirkt allerdings, dass das Wort Schulden weiterhin nah an der Schuld gebaut sein kann. Dasein zu wollen ist somit immer noch eine ethische Frage, gleichwohl sie es nicht sein müsste.
Wir haben uns überlegt, was Frauen Radikales tun können, ohne Granaten werfen zu müssen - und da haben wir unsere Brüste hervorgeholt, sagte neulich eine gegen Putin gerichtete Feme im Morgenmagazin. Titten als Geschoss? Warzenhöfe als Schrapnell? Geht es hier noch um politische Signale oder ist die Aktion nur noch infantiler Spieltrieb?
Schon vor über vierzig Jahren waren solche "Kundgebungen" peinlich und sinnlos. Damals stürmten zum Beispiel drei Studentinnen barbusig auf Adornos Podium, wollten den Soziologen als Büttel des Staates kennzeichnen, mit ihren Brüsten verdeutlichen, dass er politischer eher rechts steht. Damalige Linke beklatschten diese Sinnlosigkeit freudig. Und sie tun es heute auch. Wenn sich linker Bewegungsdrang innerhalb des neoliberalen Kapitalismus so äußert, dass das Hervorholen von Titten schon applauswürdig ist, dann steht es um die politische Linke schlechter als gedacht.
Was soll als Signal und Motiv hinter Brüsten stecken, die man an die Luft setzt? Egal ob man sie einem Diktator entgegenreckt oder doch nur einem Soziologen: Das Signal ist, dass es keines gibt. Es ist Spaß, den man irgendwie politisch aufgeladen sehen möchte, um die Nichtigkeit zu verwichtigen. Widerstand muss Spaß machen, sagten die Kommunarden Ende der Sechzigerjahre. Die Leute um Dutschke setzten dem entgegen: Spaß machen ja, aber auch Sinn haben, Inhalt vermitteln. Die Feme im Morgenmagazin meinte auch, dass man das aus Gründen der Provokation tat, um auf sich und auf die diktatorische Kultur in Russland aufmerksam zu machen. Welche Inhalte vermitteln Titten denn genau? Was steckt hinter oder in ihnen? Fettgewebe? Bei jungen Müttern Milch? Klar! Aber politische Inhalte? Was soll die entblößte Brust sagen? Dass der Diktator Putin in seiner Heimat die Frauen zur Nacktheit verpflichtet? Nicht mal Philip Roth, der sich ausgiebig mit der Brust auseinandersetzte, kann der Titte politischen Charakter verleihen. Sein Protagonist, der sich in eine Brust verwandelt, skandiert nicht politisch, sondern will nur immer gerieben und gestreichelt werden. Zugegeben eine sehr mannhafte Phantasie, aber als Politikum taugt sie so oder so kaum.
Man muss gar nicht moralisch werden. Hole seine Titten raus wer mag. Politisch aufwerten sollte man diesen seltsamen Feminismus, der Nacktbilder in Magazinen verurteilt, um dann flitzen zu gehen, allerdings auf keinen Fall. Sitzstreiks, stures Ausharren, geschlossene Menschenketten - das sind Aktionen, die etwas deutlich machen, die versinnbildlichen, dass man etwas per se erreichen will. Hier sitzen wir, wir können nicht anders! Nacktes Ringelpiez mit Sicherheitskräften erreicht nur Anfassen oder besser gesagt: Gefasstwerden.
Eine Welt in der das Rausholen von Geschlechtsmerkmalen ausreichte, um politische Akzente zu setzen, wäre aber ehrlicherweise ein netter Entwurf einer friedlichen Welt. Man stelle sich vor, wie die IG Metall Streiks organisiert, bei denen nicht Trillerpfeifen dominieren würden, sondern offene Hosenlätze die Szenerie bestimmten. Zur Sicherung von Arbeitsplätzen und für höhere Löhne einfach mal den Schwanz rausholen.
Fraglich ist indes auch, was gewesen wäre, wenn Putin nur der Ehemann der russischen Präsidentin Putina gewesen wäre, wenn es also die Dame des Hauses wäre, die diktatorische Anwandlungen aufweisen würde, und wenn das einige Machos zum Anlass genommen hätten, mit wedelnden Schwänzen auf die Lage in Russland aufmerksam machen zu wollen. Applaus der Linken? Und wie hätte die Damenwelt reagiert? Hätte man die Justiz gelobt, die diese Erregung öffentlichen Ärgernisses geahndet hätte?
Brüste als Granaten! Ist das Hohn oder einfach nur Verquastheit? Welche Granatsplitter treiben denn Brüste in das Umfeld ihrer Explosion? Wo zieht man den Splint heraus? Und was ist das für eine Waffenkunde? Wehrerziehung für Spaßguerilla oder für Anhänger der Freikörperkultur? Die Nacktheit des Menschen als Waffenarsenal? Ist diese Denkweise nicht puritanisch unterlegt, ist nicht Prüderie deren Fundament?
Natürlich haben die Femen mit dieser Taktik nudistischer Kriegsführung nicht falsch gelegen. Sie wollten auf sich aufmerksam machen. Das ist ihnen gelungen. Ihre Brüste waren in allen Zeitungen. Die einen beklatschten sie, die anderen schüttelten den Kopf und mancher mag sich an diesen jeweils zwei Argumenten aufgegeilt haben. Aber was bleibt außer die Erinnerung an Brüste? Denkt dabei überhaupt noch jemand an Putin? Oder an diese Kanzlerin und den Ex-Kanzler, die mit Putin in Freundschaft Geschäfte abwickeln? Über die Motive schrieb kaum jemand. Diese Aktion Titte gegen Tritte landete im Boulevard. Die politischen Ressorts schoben diese Meldung gleich weiter.
Den Bild-Lesern haben die Femen eine Freude gemacht, sie durften an einem Tag Bild-Girl und einen Femen-Akt bestaunen. So einen Feminismus kann man gut leiden! Früher meinte man ja immer, der Feminismus sei eine intellektuelle Angelegenheit - und heute landet er in der Kultur des mentalen Bullshits, direkt im Boulevard. Für den wirbt Schwarzer und strippt die Feme fatale. Man muss halt mit dem Boulevard zusammengehen, wenn man Aufmerksamkeit will. Endlich ist man mit dem Bullshit versöhnt. So wie mit der Islamophobie und der Religionsfeindlichkeit an sich. Und nebenher wird die soziale Frage ausgeblendet. Hartz IV-Bezieherinnen sollen nicht Titten zeigen, sondern arbeiten gehen.
oder Es gibt für die Medizin nicht die Notwendigkeit, jedem zu helfen.
In Deutschland wird zu viel operiert. Der Gesundheitsminister will daher unnötige Operationen künftig verhindern. Operationen, die nicht medizinisch notwendig seien, müssten demnach auf den Prüfstand. Wer soll aber prüfen, was medizinisch notwendig ist oder nicht? Der MDK vielleicht, der nebenher auch gleich AU-Bescheinigungen von Arbeitslosen auswerten soll.
Natürlich lassen sich immer Fälle aufführen, in denen unnötig operiert wurde. Das Morgenmagazin im Ersten führte beispielsweise einen Mann auf, dessen Knie voreilig durch ein künstliches Gelenk ersetzt wurde. Gleichzeitig ließen sich aber auch Fälle aufzeigen, in denen notwendige Operationen verschleppt oder gar nicht gemacht wurden. Paradebeispiele für Sachverhalte jeglicher Art findet man in der Gesellschaft immer. Damit läßt sich also wenig beweisen. Und Ärzte, die sich zusammen wie viele Köche am Brei verhalten, dürften wohl auch keine überparteiliche und neutrale Instanz sein. Da geht es immer um Profit, Launen und Revierstreitigkeiten gegenüber Kollegen, die vielleicht schon vorher dem Patienten einen Befund ausgestellt hatten.
Irgendwer muss aber doch über Notwendigkeiten befinden und wenn es nicht ein neuer bürokratischer Schlichtungsapparat sein soll, der zwischen Befunden laviert und selbst befindet, dann wird das im Zweifelsfall der Medizinische Dienst der Krankenversicherung anpacken müssen. Ausgerechnet jener Dienst, der im Auftrag der Jobcenter in die klassistische Kriegsführung einbezogen werden soll, um Jagd auf kranke Hartz IV-Leistungsberechtigte zu machen.
Was soll "medizinisch notwendig" heißen? Knie-OP sinnvoll oder nicht? Oder: Knie-OP bei Menschen über achtzig Jahren sinnvoll oder nicht? Resektion beim Krebspatienten mit Aussicht auf Erfolg? Oder: Resektion beim Krebspatienten mit Hartz IV-Anspruch ja oder nein?
Wenn der MDK auf demselben Flur die Büros hat, in denen Jagd auf Kranke gemacht wird, die zufällig auch arbeitslos sind, und jene Büros, in denen über OP-Notwendigkeiten befunden werden soll, wer garantiert denn dann, dass sich da Klassismus und Medizin nicht vermengen? Böse Zungen behaupten, dass es diese Mixtur heute schon gibt. Man muss als Langzeiterwerbsloser nur mal eine Kur beantragen - es gibt keine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für Menschen in Hartz IV. Mit ein Grund dafür, warum der Krankenstand unter Hartz IV-Berechtigten recht hoch liegt.
Muss man Meldungen dieser Tage nicht immer im Kontext lesen? Gehören die Meldung über zu viele unnötige Operationen und jene über Jagd auf arbeitslose Kranke nicht unbedingt zusammen? In einer Gesellschaft, die sich strikt an Effizienzmachung ausrichtet, wahrscheinlich schon. Gesundheitsminister Bahr und sein politischer Kumpel Mißfelder entstammen einer (ökonomisierten) Generation und Kaste. Letzterer ereiferte sich schon vor Jahren, dass künstliche Gelenke für Senioren ab einem bestimmten Alter sich betriebswirtschaftlich nicht mehr rechneten. Ich schrieb über beide und ihre Generation mal: "Es ist eine durch und durch ökonomisierte Generation, die nun an die Pötte treibt. Eine, die sich biologistisch absichert, die erklärt bekam, dass das Abwägen, dass Kosten-Nutzen-Analysen aus der natürlichen Selektion stammen - die Evolution sei nämlich der Fortschritt gemessen an Nutzen und den dazugehörigen Investitionen. Was kostet und nicht nützt, wird abgestoßen. [...]Die Denke hinter Bahr und Mißfelder, etwas was sie aber nie laut sagen würden, ist doch auch, dass wir in einem unnatürlichen Stadium leben. Der Mensch sei biologisch gar nicht für neunzig Erdenjahre gemacht - warum also künstlich, medizinisch aufwerten, was so unnormal ist?"
Ist es da so abwegig, Bahrs Prüfstand für Operationsnotwendigkeiten als Angriff auf Klasse und Alter begreifen zu wollen, als in geübter neoliberaler Seriosität angekündigter Sparplan? Man kann den neoliberalen Charaktermasken zwar abnehmen, dass sie Anstöße für Reformen aus dem wirklichen Leben greifen, so wie der Mann mit seinem unnötig operierten Knie aus dem Morgenmagazin real war. Aber dass sie solche Anstöße benutzen, um ihre klassistische Gesellschaftspolitik durchzuboxen, sollte man dabei nie vergessen. Die medizinische Notwendigkeit, die der evolutionäre Betriebswirtschaftler meint, ist keine wissenschaftliche Frage, sondern eine des Klassenkampfes, den das Vermögen gegen das - aus ihrer Sicht - Unvermögen führt. Medizinische Notwendigkeit meint dabei auch: Es ist für die Medizin nicht notwendig, jedem zu helfen, jeden zu operieren. Nur wer es verdient, weil er verdient, darf hoffen.
Rechtskonservative Kreise bemerkten schon vor Jahren, dass eine besonders perfide Form des Rassismus die Deutschenfeindlichkeit sei. So prügelten ausländische U-Bahn-Schläger Deutsche, dabei Scheiß Deutscher! brüllend und zeigten damit ihren Deutschenhass. Nun hallt es nicht mehr nur unter Tage so, jetzt vernimmt man aus allen Ecken Europas etwas, was man hierzulande vereinfacht Deutschenhass nennt. Diese Simplifizierung ähnelt einer Stimmung von dazumal.
Mit der konstruierten Gemeinschaft, die sich auf der angeblichen Ablehnung aller anderen gründet, die als gemeinschaftlichen Ursprung das Gefühl nährt, man stehe alleine gegen die ganze Welt, hübschen sich Regierungen in Deutschland zuweilen ihre Isolierung auf. Man nennt sich einen beleidigten Lonesome Cowboy und gibt als Erklärung ab, dass das europäische Ausland den alten und so völlig unerklärlichen Hass wieder belebt hat, wieder Scheiß Deutscher! ruft. Über diesen "Rassismus gegen die deutsche Rasse" ist man schockiert, gleichzeitig ein Bestsellerautor kürzlich noch genetische Finten ausstreute, was man allerdings als Wissenschaft bezeichnete.
Wie in den Jahren um 1933 bis 1938/39 zieht man sich zurück auf einen Stolz, der sich aus dem vermeintlichen Wissen nährte, vom Ausland kleingehalten und verarscht worden zu sein, als Deutscher immer Nachsicht üben zu müssen. Carl Gustav Jung meinte in jenen Jahren, dass "die Psyche eines jeden Deutschen entscheidend beeinflusst wird" vom "typisch deutschen Minderwertigkeitskomplex, [des] Komplex des jüngeren Bruders, der immer etwas zu spät zum Gastmahl kommt". Wer dieses Grundgefühl bündelt und kultiviert, der könne in Deutschland seine politische Macht ins Magische sublimieren. Jung sagte damals Hitler nach, dass er eine "echte deutsche Melodie angestimmt" habe, "die den Deutschen einginge". Er betreibe eine Demagogie, die "auf Primitive wirkt" und er gäbe "das Echo seiner eigenen Stammesvergangenheit" ab.
Nun ist die Regierung Merkel nicht die Regierung Hitler. Darum geht es auch gar nicht. Es geht um eine Melodie, die das heutige Deutschland wiederentdeckt hat und beständig pfeift. Was Jung im Rahmen der Sudetenkrise glaubte, trifft heute ähnlich zu.
Das Deutsche definiert sich eigentlich stets durch Abgrenzung und in Phasen, da man epochal deutsch sein möchte, reichert man diese Abgrenzung mit einer erzeugten Wut an, immer auf unausgegorene Weise missverstanden und schlecht behandelt worden zu sein. Man isoliert sich in Selbstmitleid, kapselt sich durch die geschürte Wut über Deutschenhass von den europäischen Nachbarn ab und steht als Schicksalsgemeinschaft zusammen.
Der historische Isolationismus der Vereinigten Staaten war von wirtschaftlichen und libertären Aspekten gezeichnet. Der Isolationismus auf Grundlage des Scheißdeutschen baut auf Beleidigtsein, auf Wir gegen alle anderen. Die Basis dieser inneren Einigkeit gegen die äußeren Aggressoren ist die Deutschenfeindlichkeit, der Rassismus Europas gegen Deutschland. Der Scheißdeutsche als Schmiede oder Schmelztiegel der Nation ist insofern Agenda, läßt sich instrumentalisieren. Wenn man innerhalb Deutschlands meint, dass alle gegen diesen zentraleuropäischen Menschenschlag stehen, dann rückt man enger zusammen, kennt man keine Parteien mehr und hinterfragt die Maßnahmen der politischen Führer nicht mehr.
In Deutschland pflegt man gerne eine Romantik der Unfehlbarkeit der politischen Richtlinienkompetenz. Der postulierte Deutschenhass, der ja nicht mehr ist als der Hass auf eine deutsche Politik, die ins Neoliberale weist, der ja nicht weniger ist als die Ablehnung von patriotischen Hurra-Deutschen, die diesen Kurs unkritisch mittragen, erzeugt eine Kanzlerin der Unfehlbarkeit. Wo man von Außen angefeindet wird, so glaubt die deutsche Seele traditionell, da bedarf es einer Geschlossenheit im Inneren und tiefer Treue zum Führungspersonal. Von diesem Nimbus auf Grundlage der Scheißdeutschen-Agenda profitierte die politische Unfähigkeit in den Dreißigerjahren und tut es heute wieder.
Der Arbeitslose ist nicht arbeitslos, sondern macht blau. So sieht das wenigstens der politische Boulevard. Den Blaumachern soll es nun an den Kragen gehen. Arbeitslose seien nicht nur häufiger krank als Arbeitnehmer. Sie seien es immer dann, wenn auf dem Plan des Förderns und Forderns letzteres steht.
Dass Bezieher des Arbeitslosengeld II häufiger krank sind, kann systematisch erklärt werden. Als man die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammenlegte, mischte man zwei Gruppen staatlicher Leistungsberechtigter zusammen. Beide hatten nur bedingt einen gemeinsamen Hintergrund aufzuweisen: Da waren die Arbeitsfähigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwer taten. Und diejenigen, die aufgrund begrenzter Arbeitsfähigkeit nicht als Kandidaten für den Arbeitsmarkt taugten. Mit Hartz IV wurde plötzlich so gut wie jede Arbeit für so gut wie jeden Leistungsberechtigten zumutbar. Die Klientel wurde deshalb aber nicht gesünder und damit arbeitsfähiger – im Gegenteil.
Wie gesagt, einige Jahre lebte ich von Hartz IV. Mal beschnitten, weil geringes Salär aufstockend - mal in völliger Reinheit des Regelsatzes, weil wieder mal kein Einkommen vorhanden. Die stets wiederkehrende Arbeitssuche gestaltete sich in dieser Zeit steinig. Erstens weil Arbeitsplätze rar sind und, zweitens, weil Hartz IV deutliche Wirkungen zeigt. Wirkungen bei Personalchefs – auch die lesen Zeitungen, in denen wundersame Geschichten zu Hartz IV-Schmarotzern geschrieben stehen. Aber auch beim Leistungsberechtigten selbst wird die Reform mit dem unseligen Namen wirksam. Die pogromartigen Medienkampagnen gegen Erwerbslose nagen am Selbstwertgefühl - und auch das Sanktionsrepertoire, das den Behörden allerlei Drangsal erlaubt, führt man wie migränen Druck mit sich im Kopf herum, falls man doch mal zu einem Bewerbungsgespräch geladen wird; wie ein Häufchen Minderwertigkeitskomplex sitzt man jemanden gegenüber, der einen einstellen soll – in der Regel hemmt ein solcher Auftritt die Einstellungsbereitschaft immens. Und natürlich definiert das Umfeld des arbeitslosen Bewerbers ein solches Auftreten als klägliches Versagen und führt es endlich als Spiegelbild der individuellen Gesamtsituation an.
Ich kann mich nicht beklagen. Die Leute, die mir bei diversen Vorstellungsgesprächen gegenüber saßen, waren beinahe alle angenehm, jedenfalls war keiner dabei, der Gefallen daran gefunden hätte, mir mit dem Jobcenter seine Offerte schmackhafter zu erpressen. Es gab keinen Druck, keine Drohgebärden, es der Behörde zu melden, weil ich nicht Hurra! schrie bei den mir unterbreiteten Angeboten. Und die waren wirklich oft mehr als mies. Gemeldet haben sie den Gesprächsinhalt in nuce aber stets der Arbeitsvermittlung; denn die wusste immer was los war, wie es lief.
Das SGB II entkräftet die eigentlich von Marktjüngern postulierte Naturgesetzlichkeit, dass Subjekte auf dem Markt als selbstbestimmte Teilnehmer auftreten sollten, die Angebot und Nachfrage in Relationen setzten. Leistungsberechtigte nach SGB II sind hiervon ausgenommen. Zumutbar ist jede Arbeit, das Angebot, das gemacht wird, kennt keine Nachfrage – wer zu viel nachfragt, der wird für arbeitsunwillig erklärt und darf mit Sanktionen rechnen. Dreißig Prozent straffälliger Abschlag vom Regelsatz sind viel Geld von dem wenigen Geld, dass man nicht hat. Diese finanzielle Garotte, die man dem Hartz IV-Empfänger um den Hals windet, macht ihn nicht zum Teilnehmer des freien Arbeitsmarktes, sondern zu dessen Opfer. Der Zwang nicht Nein sagen zu können, macht nicht nur unfrei, sondern verängstigt auch, raubt Selbstbewusstsein und hemmt letztlich den Integrationsprozess des Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt.
Wie erwähnt, ich hatte selten das Gefühl, dass da ein Personalchef seinen Vorteil ausspielen wollte. Gleichwohl stand ich mir selbst im Weg. Vor dem Bewerbungsgespräch saß ich manchmal Stunden mit Durchfall auf dem Klo. Nervosität. Szenarien spielten sich in meinem dröhnenden Kopf ab. Was, wenn ich so ein Exemplar Arschloch vor die Nase gesetzt bekomme, das kaum etwas zahlen will, vielleicht nur ein Praktikum anbietet, das ich ablehnen möchte aus prinzipiellen Gründen, das ich dann aber nicht ablehnen darf ohne finanzielle Konsequenzen erleiden zu müssen? Dieser immense Druck, womöglich einige Tage später einen Bescheid des Jobcenters im Briefkasten zu finden, weil ich zuwiderhandelte, er rieb mich körperlich auf! Ich schlief schlecht, bekam Magenprobleme – meist schon Tage zuvor. Mit dem Gefühl krank zu sein, marschierte ich dann zum potenziellen Arbeitgeber. Das machte meinen Handlungsspielraum noch enger, denn wie sollte ich, nicht im Vollbesitz meiner körperlichen Kräfte, ein gutes Bild von mir abgeben? Ich las in jener Zeit häufig, dass Erwerbslose sich immer dann krank melden, wenn sie Termine beim Amt oder eben Vorstellungsgespräche erhielten. Mich wunderte das gar nicht – ich habe es hin und wieder auch getan, es ging nicht anders. Dieser Tage wird passend hierzu zur Treibjagd auf arbeitsunfähige Arbeitslose geblasen. Was "Krank und Hartz IV", wie Springer heute titelt, miteinander zu tun haben, kann nur verstehen, wer a) die Hartz-Reformen als das versteht was sie sind und b) selbst mal in diese missliche Lage geriet.
Dass die Furcht vor Konsequenzen üblich ist bei der Jobsuche, war für mich bedrückend, aber doch scheinbar eine Tatsache, die völlig normal sei. Bis ich aus dem Leistungsbezug fiel. Aus Gründen, die hier egal sind. Ich suchte jedoch weiterhin Arbeit. Und erst jetzt wurde mir der Unterschied augenfällig. Ohne Druck ging ich zu Gesprächen, konnte auf Augenhöhe plaudern, war freundlich aber bestimmt, nicht devot, ging auch in die Offensive. Kurz: Ich hatte Selbstvertrauen dadurch erhalten, nicht mehr der Willkür eines Fallmanagers und seiner Treue zu Sozialgesetzen ausgeliefert zu sein. Geriet ich an einen Arbeitgeber, der beim Gespräch schon suspekt war, dann sprach ich das auch an. Einer meinte, bei ihm würde man in der Arbeitszeit ordentlich ranklotzen und leiden müssen. Leiden hat er wortwörtlich gesagt. Leiden könne ich nicht, sagte ich ihm - und ihn schon gleich gar nicht. Dergleichen hätte ich früher nicht kontern können. Was wäre denn gewesen, wenn er das als Beleidigung aufgefasst hätte? Hätte meine Sachbearbeiterin im Jobcenter mir wohl geglaubt, dass er mir Leiden androhte? Dass er sprach, wie der Kapo einer Strafkolonne?
Dieses neue Selbstbewusstsein ließ mich anders auftreten. Und ich hatte das Gefühl, dass auch die potenziellen Arbeitgeber anders mit mir umgingen. Eine Mitbewerberin, die mit mir auf ihr Bewerbungsgespräch wartete, trat ganz anders auf. Sie bezog Hartz IV – beim Gespräch ließ der Typ die Türe auf und ich konnte zuhören, wie er mit ihr umsprang. Er war schroff, meiner Ansicht unterschwellig sexistisch und sein Charme bestand daraus, der Bewerberin zu vermitteln, sie sei so ziemlich das Letzte - aber doch sehr gutaussehend. Sie sollte Dank winseln, auch nur von einem Arbeitgeber wie ihm zur Kenntnis genommen worden zu sein. Er bot ihr auch keine Stelle, sondern nur ein Praktikum an. Sie wehrte sich nicht. Als ich an der Reihe war, bat ich bestimmt darum, man möge die Türe schließen. Das tat er widerspruchslos. Danach führte er einen Monolog über seine Lebensleistungen, über seinen Fleiß und seinen Betrieb. Er erzählte mir, wie er einen altbewährten Mitarbeiter feuerte, weil er ihm zu langsam arbeitete – ich unterbrach ihn und meinte, das seien Dinge, die mich gar nichts angingen. Wir trennten uns bald, ich war ehrlich zu ihm und sagte ihm, dass ich nicht bei ihm arbeiten wolle, weil ich ihn für einen Stümper in Sachen Menschenführung halte. Was für ein Gefühl, so ehrlich auf Arbeitssuche gehen zu dürfen!
Später wurde diese Ehrlichkeit und diese Lockerheit bei einem Bewerbungsgesspräch belohnt. Sie kam gut an und wird heute noch geschätzt.
Wer eine Arbeitsmarktpolitik machen möchte, die Menschen in würdige Arbeit bringt, der muss eine Politik betreiben, die den Menschen Freiheiten erlaubt. Die Möglichkeit Nein sagen zu können, stärkt das Auftreten und schärft den Charakter. Sagen zu können, dieser oder jener Job sei nichts für einen, spart unnötige Diskussionen, Sorgen und Kosten. Eine Politik, die Selbstvertrauen als Rohstoff am Arbeitsmarkt beidseitig zulässt, kann zwar keine Wunder vollbringen, dürfte aber weitaus effektiver sein als die, die wir heute haben und die Menschen unwürdig ihres Selbstbewusstseins beraubt. Überhaupt wäre es zweckdienlich, wenn potenzielle Arbeitgeber nicht erfahren würden, ob der Kandidat für einen Arbeitsplatz derzeit noch Transferleistungen erhält oder nicht – letzterer könnte viel freier auftreten, könnte ein Nein auf den Lippen tragen, ohne sich vor finanziellen Konsequenzen fürchten zu müssen, die ihm ein Personalchef vielleicht durch die Blume in Aussicht stellte. Ich sehe mich kurzum bestätigt, dass die Aufhebung der Sanktionspraxis unumgänglich ist, wenn man solide Arbeitsmarktpolitik machen möchte - nur wenn das Existenzminimum unantastbar ist, ist auch die Würde unantastbar. Die Teilhabe am Arbeitsmarkt ist nur mit dem Rohstoff Selbstvertrauen realisierbar. Nicht Sanktionen bringen Menschen in Arbeit – es ist das Bewusstsein der eigenen Würde. Und letzteres ist derzeit nicht Gegenstand des SGB II...
Der Boykottaufruf als Bestätigung des Mantras, wonach der Markt moralisch sei.
Der Hype um Amazons Betriebspraxis ist abgeebbt. So berechtigt die Kritik gewesen ist, so enthüllend war sie gleichzeitig. Denn die Kritiker haben illustriert, dass sie die Handlungen der Akteure des Finanzkapitalismus immer noch als Charakter- nicht als Systementscheidungen betrachten.
Man muss die Betriebspraxis, die bei Amazon offenbar wurde, durchaus als unethisch einordnen. Sie ist es aber nicht ausschließlich und vielleicht am wenigsten von jenem Unternehmen selbst, sondern als Produkt der Möglichkeiten anzusehen, die politisch geschaffen wurden. Ein starkes Niedriglohnsegment, das mit Menschen aufgestockt werden kann, die die Freizügigkeit des vereinten Kontinents genießen dürfen und letztlich aus Not heraus schier zu Leibeigenen herabgewürdigt werden können, kann man nur zum Teil Amazon anlasten. Als Unternehmen, das ist einer deregulierten Marktwirtschaft wirken möchte, wäre es aus betriebswirtschaftlicher Sicht wahrscheinlich unethisch, nicht dergestalt unethisch zu sein.
Im Nachgang läßt sich sagen, dass Boykottaufruf und Shitstorm, Empörung und Zorn zwar nachvollziehbar sind, gleichzeitig aber auf eine Vereinzelung dieses Phänomens abzielen. Man hat Amazons Geschäftsgebaren zu einer Charakterangelegenheit modifiziert, obgleich sie eine Systemangelegenheit ist. Diese Vergröberung des Umstandes spielt einem Theorem wirkungsvoll zu, dass zugleich von den Kritikern solcher unwürdigen Arbeitsgelegenheiten immer wieder als Phantasterei abgetan wird: Der Theorie moralischer Märkte.
Ein moralingetränkter Aufruf zur Wut suggeriert, dass man mit moralischer Argumentation die Akteure der Wirtschaft überzeugen könnte. Der Markt ist insofern moralisch konditioniert, weil seine Akteure für moralische Appelle offen zu sein scheinen. Negiert wird hierbei, dass es diese Ausbeutungsmöglichkeiten legal gibt - der Beschuldigte soll sich nur freiwillig nicht ihrer bedienen. Insofern werden die wirklichen Verantwortlichen, die die Freifahrtscheine solchen Erwirtschaftens von Profit ausstellen, komplett ausgeblendet.
Man darf nicht so tun, als sei Amazon das falsche Opfer. Der Opferstatus steht Amazon nicht zu. Man zielt jedoch auf den falschen Täter. Denn die allgemeine Wut auf Amazon sagt auch, dass man das Primat der Politik gar nicht mehr für praktibel hält, dass man es mittels strategischer Konsumentscheidung oder -verweigerung vereitelt. Der Gesetzgeber, der sich Gesetze von Kanzleien entwerfen läßt, die wiederum eng mit den jeweilig betroffenen Wirtschaftsbranchen kooperieren, wird als Angriffsfläche völlig ignoriert.
Hat Amazon den Niedriglohnsektor mit all seinen angebotsorientierten Ausrichtungen gesetzlich legalisiert oder einfach nur ausgenutzt? Hat es die arbeitnehmerische Freizügigkeit ohne Mindestlohnverpflichtungen entworfen oder missbraucht? Sicher, Missbrauch! Aber wer hat vor Missbrauch zu schützen? Reicht da Moral? Ist das das Mittel des modernen Rechtsstaates? Wie wäre es mit Gesetzesentwürfen, die Beschränkungen vorschreiben? Wie wäre es mit Kontrollmechanismen, die gesetzlich verankert werden?
Das System ist unmenschlich. Aber es ist von Menschen gemacht und daher durchaus veränderbar, kontrollierbar, regulierbar. Dieses System in mikroskopische Tranchen zu zerlegen, um sie moralisch beackern zu können, macht Veränderung aber tatsächlich nicht wirklich. Mit Charakterschulung von Unternehmen kommt man nicht weit. Moral ist nicht die Sache derer, die mit Gier im System haften - Moral ist die Angelegenheit des Regulierers, ist die Sache der Politik. Schon Marx machte deutlich, dass der Kapitalist nicht böse ist, sondern nur "Werkzeug unparteiischer ökonomischer Kräfte". Sie kann die Gier der Marktteilnehmer zügeln und sie benötigt den erbitterten Druck, der bei Aktionen gegen Amazon, Wiesenhof oder Shell zerstäubt.
Parolen haben manchmal kurze Halbwertszeiten. „Die Mauer muss weg“ hielt fast ein Vierteljahrhundert. Nun soll sie allerdings bleiben. Denn Mauerbekenntnisse passen überhaupt nicht schlecht in diese Zeit. Sie sind ein Lebensgefühl.
Vor nicht einmal zwei Jahrzehnten tanzten Berliner verächtlich auf der Mauer, stemmten Brocken heraus, sorgten dafür, dass Segmente von ihr einbrachen. Zwei Jahrzehnte später sind vielleicht jene, die damals Presslufthammer ansetzten, wieder an der Mauer. An dem, was davon übrig ist. Diesmal wollen sie den Abriss verhindern, diesmal soll die Mauer nicht weg, sie soll bleiben. Ein bisschen Mauer darf schon sein. Keine ganze, keine endlose – nur ein wenig Gemäuer fürs in memoriam.
oder Das Unfreundliche ist die wahre Freundlichkeit.
Vor einiger Zeit meinte Johanna Adorján im Feuilleton der FAZ, dass der "Skandalauftritt" Katja Riemanns nur zeige, "welch stumpfe Freundlichkeit wir inzwischen von Stars im Fernsehen erwarten". Das dürfte nur die verkürzte Sicht der Dinge sein. Stumpfe Freundlichkeit wird nicht nur in Interviews erwartet, sondern durchzieht diese schöne neue Welt als generelles Prinzip. Diese Gesellschaft nimmt für sich in Anspruch, selbst unbequeme Sachverhalte noch freundlich zu präsentieren. Dabei werden Typen immer rarer, Agendamenschen überschwemmen uns auf allen Kanälen.
"Hochgezüchtete Honigkuchenpferde" nennt der Kabarettist Helmut Schleich jene Kreaturen, die mit ihrer zweckorientierten Freundlichkeit auf jedes Gemüt schlagen. Ausdruck dieser Scharlatanerie sind manche Floskeln, behauptet Schleich. Schönen Tag noch! sei zum Beispiel ein wenig beredtes Sputum der Überfreundlichkeit bis ins letzte Loch hinein. Schönen Tag noch! wird mit solcher unaufrichtiger Penetranz gewünscht, wie am Fließband hingeklatscht, dass dabei nur noch ein verballhorntes Schnentanoch! herauskommt. Schleich sagt, diese Redensart habe sich ohne Not eingebürgert, denn es gab vorher schon synonym dazu eine passende Phrase, die da lautet:e Schleich Di!, (bay.); Hau ab!, Geh weg! [ugs.]. Schönen Tag noch! Schönen Tag noch! Tag noch! Tag noch! Man kann eintreten wo man will, überall derselbe Schmu von der Freundlichkeit, die das Mindeste sei, was man sich als Kunde versprechen dürfe. Früher hörte ich oftmals Leute sagen, sie arbeiteten gerne im Handel, der Kontakt mit Menschen würde ihnen entgegenkommen. Wieviel Geselligkeit und Freude am Umgang mit anderen Menschen benötigt man, wenn man an einer Supermarktkasse sitzt, an der die Kommunikation nach Kriterien einer Freundlichkeit arrangiert ist, die nicht Selbstzweck, nicht unbefangen ist, sondern nach Verkaufsstrategie und Absatzchancen aufgestellt? Guten Tag. - Waren Sie mit Ihrem Einkauf zufrieden? - Sammeln Sie Punkte? - Vielen Dank für Ihren Einkauf bei Kaufland. - Auf Wiedersehen. Und weil es immer dieselbe Leier ist, leiert die Kassiererin es auch so runter. Ohne Punkt, ohne Komma, beständig derselbe Schleim. Das nennt sich Freundlichkeit in Zeiten der Warenwelt. Sparen Sie sich den Scheiß!, habe ich schon mal zu einer Kassenkraft gesagt. Sie konnte aber freilich auch nichts dafür, ich wollte sie wie mich nur so von diesem überkandidelten Freundlichkeitsmist erlösen.
Schlimmer ist dieser Terror freundlicher Machart am Telefon. Die pure inhaltslose Freundlichkeit nimmt Bestellungen und Beschwerden entgegen, sagt Kontostände durch und klärt auf. Wobei man schnell feststellt, dass Callcenter nur in Sachen verlogener Freundlichkeit wirklich geschult sind, inhaltliche Kompetenz bekommt man nicht an den Hörer. Ob man bei Unity Media oder der Künstlersozialkasse anruft ist dabei einerlei, diese schmierige Freundlichkeit gibt es an beiden Stellen und Kompetenzlosigkeit auch. Als ich mal bei 1&1 anrief, weil ich dauerhaft Schwierigkeiten mit meinem Internetzugang hatte unterbrach mich der überfreundliche Mensch gegenüber gleich und sagte: Moment, ich prüfe mal Ihre Leitung. Dann war Schweigen. Ich kann Ihnen gratulieren, Ihre Leitung arbeitet einwandfrei. Auf so einen friendly terrorism muss man erstmal kommen, jemanden zu einer Leitung gratulieren zu wollen - und das ganz an den Beanstandungen des Kunden vorbei. Wahrscheinlich zeigt das irgendein Be friendly-Coach diesen Callcenter-Freudianern genau so: Wenn einer was will, blas' mal seine Leitung durch und beglückwünsche ihn, dann vergisst er sein Anliegen glatt. Bei Sky war es ähnlich, als ich vor Zeiten ein Abo abschloss, sagte man mir, nun würde es offiziell. Dann war Pause. Er nahm Luft und sagte: Ich darf Ihnen nun hiermit zu Ihrem Sky-Abo gratulieren. Sie haben sich das beste Programm gesichert, das man haben kann. Die Fanfaren muss ich bei so viel offiziöser Aufmachung überhört haben.
Und dann kam die Riemann ins Studio, war gar nicht unfreundlich, einfach nur normal, nicht geziert übersüsst, sondern zurückhaltend und mit dem Schneid ausgestattet, nicht ins Tralala des Moderators einzustimmen. Und prompt sieht man darin Unfreundlichkeit. Wenn wir nicht beständig grinsen und zustimmen, nicht dauernd abgenudelte Sprüche, die etwas wie Freundlichkeit suggerieren sollen, von uns geben, dann nennen wir das schon unfreundlich.
Diese allgegenwärtige Freundlichkeit ist nicht einfach nur so in der Welt. Sie ist Konzept. Gehört zur Agenda der schönen neuen (Arbeits-)Welt, in der alles, was nicht gleich und unmittelbar als Freundlichkeit ins Auge springt, was also auch irgendwie negativ ausgelegt werden kann, verunglimpft wird. Teil dieses Konzepts ist es etwa nicht, das Brüske in dieser Welt zu lindern, sondern es einfach verdaulicher zu machen, indem man das Unerfreuliche einfach euphemisiert. Ein überteuerter Zugang zu einem Pay-TV-Sender wird gleich annehmbarer, wenn man freundlich gratuliert. Die Hatz durch die Flure des Supermarktes wird gekrönt, wenn am Ende eine Dame sitzt, die nach der Zufriedenheit fragt und einen Dreizeiler herunterkurbelt. Und die Sanktionen, die das Jobcenter seinem Kunden aufbrummt, werden leichter akzeptiert, wenn der Fallmanager freundlich bleibt beim Verhängen. Was ja vorkommen soll, Freundlichkeiten in Behörden. Und was ich selbst schon erlebt habe. Die freundlichen Sachbearbeiter hielt ich immer für verschlagener. Die waren meist so perfide, so undurchschaubar.
In Good Fellas gibt es eine Stelle, in der benennt Ray Liotta (oder Robert De Niro?) das Prinzip der Jovialität als Mittel des Tötens. Fällt ein Mitglied der ehrenwerten Familie in Ungnade und soll aus dem Weg geräumt werden, so schickt man keinen fremden Killer:"Deine Mörder kommen mit einem Lächeln. Sie kommen als deine Freunde, als Leute, die sich dein ganzes Leben lang um dich gekümmert haben." In der intimen Vertraulichkeit, die ein freundliches Gesicht vermittelt, ist der Genickschuss besser zu platzieren und Kampfhandlungen sind so gut wie ausgeschlossen. Die zweckorientierte Freundlichkeit, mit der wir in dieser Gesellschaft um uns werfen, ist nicht Kulturleistung einer friedlich-freundlichen Zeit, sondern eher vergleichbar mit dem freundschaftlichen Killer, der schmunzelt ehe er abdrückt.
Diese Inflation der Freundlichkeit, die gar keine ist, stimmt mich nicht positiv. Das macht eher melancholisch und verärgert. Stewardessen leiden häufig unter depressiven Phasen, las ich vor Jahren, weil sie immer lächeln müssten und dauerhaft Freundlichkeit ausstrahlen sollen. Ein Mensch aber, der eigentlich aus seelischen Gründen die Körperhaltung und Mimik von Müdigkeit oder Traurigkeit einnehmen möchte, sich jedoch gekünstelt Freundlichkeit ins Gesicht stempelt, also auch seinem Gehirn wider der Hormonausschüttung vorgaukelt, es sei alles blendend, gerät in ein Dilemma. Die Lachtherapie, die man schon öfters in innovativen Fernsehsendungen gesehen hat, ist ein fader Hokuspokus, weil sie weismachen will, dass man durch künstliches Lachen dem Körper vormachen könnte, es gehe einem gut, weil man dadurch Glückshormone erzeuge, die nicht auf Glück basieren, sondern Glück erzielen. Die Verkehrung des Prozesses also, Glück auf Basis des Selbstbetruges. Und da jeder Betrug früher oder später aufgedeckt wird, verwundert es nicht, dass der Stewardess Berufsrisiko die Depression ist, verstärkt durch den Zwang, ein ewigjunges Püppchen zu bleiben - und es wundert nicht, dass ich mich von künstlicher Freundlichkeit nicht freundlich anregen lasse, sondern sauer werde.
Ein Lob auf die Unfreundlichkeit anzustimmen mag unsinnig sein. Aber authentische Unfreundlichkeit ist die viel besser Freundlichkeit als jene, die in Marketingkursen und Verkaufscoachings angelernt wird und mit Schönen Tag noch! jedes Kundengespräch beendet. Ein unfreundlicher Gegenüber zeigt wenigstens an, dass er noch ausreichend Charakter in sich hat, diesen ganzen sonnendurchfluteten Verbalscheiß abzulehnen. So gesehen ist der Unfreundliche für mich ein freundlicherer Zeitgenosse, als irgendeine sprachlich auf angepasste Nettigkeit gestylte Verbissenheitslächlerin.
Friedrich Hengsbach prägte schon vor Jahren den Begriff Agendamensch. Aalglatte, hörige, überflexibilisierte, am Zeitgeist horchende, ohne verinnerlichte Bindungen lebende, egoistische, den Regeln des Marktes folgende Zeitgenossen, die sich unkritisch in ein Lebensschema fügen, in dem sie den Status von Knetmasse annehmen. Solche Agendamenschen sind es auch, die dem Zeitgeist seinen freundlichen Anstrich verpassen. Freundlich in Anführungszeichen. Ihre Agenda ist der Zeitgeist. Und der ist nicht freundlich, sondern knallhart ökonomisch. Sie geben dieser Zeit nur ein Gesicht, das sie nicht verdient hat. Und das in allen möglichen Lebens- und natürlichnatürlich Konsumsituationen.
Dieser Moderator, der die Riemann mit seinem Tralala und Hopsasa und Seien Sie doch mal positiv!-Gehampel nervte, war so ein typischer Agendamensch. Bei denen muss einem das Kotzen doch nur so kommen. Und denen dann nur auf den Teppich zu speien und nicht direkt in ihre stumpfe Freundlichkeitsvisage, nenne ich wiederum einen ganz besonders freundlichen Zug.
"Mensch Merkel [...] ... jedes Jahr traf sie dort Oberkellner Cristoforo Iacono (59). Dieses Jahr aber war er nicht mehr da. [...] ... die Kanzlerin hat ein ganz bestimmtes Ziel: das Haus des früheren Hotelmitarbeiters."
- Bildzeitung vom 3. April 2013 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Es menschelt um die Kanzlerin. Sie ist im Urlaub, ist ungeschminkt und ohne BH unter der Bluse. Mensch Merkel eröffnet die Bildzeitung. Hinter der fotomontierten SS-Uniform steckt halt doch ein Mensch. Gerade richtig zur Verhitlerung Merkels an der Peripherie Europas kehrt man die Aktion Mensch hervor, hat man es zum redaktionellen Leitmotiv gemacht, den sterilen Hosenanzug in legere Wäsche zu stecken. Die Urlaubskanzlerin soll die Fotomontagen vergessen machen. Und besonders menschlich scheint die Geschichte von der treuen Urlauberin, die ihren cameriere nachtrauerte.
Der wurde entlassen und Merkel, so will es die Legende der Gebrüder Bild, habe seinen Wohnort ausfindig gemacht und ihn besucht. Spontan und einfach so. Die harte Hand der Kanzlerin, so steht zu lesen, scheint vergessen. Wer denkt dabei nicht an Jack Nicholson, wie er in Besser geht's nichtnach seiner Kellnerin Helen Hunt bestellt, die nicht am Arbeitsplatz erschienen war? Prompt suchte der unter Zwangsneurosen leidende Nicholson sie zuhause auf. Immerhin brauchte der Typ, den Nicholson oscarprämiert darstellte, klare Strukturen, mitgebrachtes Plastikbesteck im Lokal und bei jedem Händewaschen ein neues Stück Kernseife. Hunts Filmsohn war schwer erkrankt und Nicholson tat das, was man nun der Kanzlerin im Hause "ihres" Kellners nachsagt: Er kümmerte sich rührend um die Genesung.
Lassen wir aus Schabernack die Story mal wahr sein. Denken wir uns das PR-gespülte Motiv weg und ordnen den Besuch der alten Dame mal in psychoanalytische Charakterstrukturen ein, machen Merkel zu einem Nicholson, zu einem Zwangscharakter. Darüber liest man Dinge wie: strenge Reinlichkeitserziehung, daraus resultierenden sadistischen Bedürfnisse, die aber relativ kontrollierbar werden können durch Ordnungsmechanismen und Kontrollzwänge. Schimmert also bei dieser Kanzlerin, die selbst im Urlaub noch auf PR-Tour ist, der ihr unterstellte Charakter nicht trotzdem latent hervor?
Diese Deutung ist fürwahr in etwa so lächerlich, wie die verzärtelte Vermenschlichung einer Kanzlerin, die in ganz Europa zunehmend in die Kritik gerät. Der Direktor ihres Hotels auf Ischia meint doch angeblich, sie sei "total normal und ganz einfach". Einer seiner Vorgänger dürfte dasselbe über Mussolini behauptet haben. Was haben solche Erkenntnisse also zu bieten? Noch eine küchenpsychologische Wertung dieser Berichterei gefällig? Mit Zeitzeugenberichten, die Hitler als "total normal und ganz einfach" bezeichneten, hat die Bildzeitung immer gerne Leser angesprochen. Der Mensch hinter dem Verbrecher faszinierte stets. Indem sie nun Merkel vermenscheln, haben sie die in Europa stattfindende Verhitlerung Merkels entgegengesetzt aufgegriffen. Auf ihre Weise reichern sie diese Patrona Finanzmarktae, diese Fidei Defensora um das Faszinosum ihrer stinknormalen Intimsphäre an. Die mit Hakenkreuz fotomontierte Bankenrettungstyrannin wird um die Facette ihrer Privatheit reicher und die diametral entgegenlaufende Verbiesterung forciert. Fazit: Die Verhitlerer haben Eindruck hinterlassen und selbst die Bildzeitung "überzeugt".
Sascha Lobo meinte mal sinngemäß irgendwo, es habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Was früher zunächst privat war, für das öffentliche Auge erst freigegeben werden musste, ist heute durch den unbedarften Gebrauch sozialer Netzwerke erst öffentlich, bis man per Wink verordnet, es möge doch lieber privat bleiben. Die Facebookisierung hat bewirkt, dass das Label Privatsphäre nicht a priori herrscht, sondern erst angebracht werden muss. Alles ist öffentlich, bis es privatisiert wird - wir sprechen hier natürlich ausschließlich vom Normalbürger.
Dieser umgekehrte Umgang mit den jeweiligen Räumen kann als Rückschritt ins Primitive gesehen werden. Die Yanoama-Indianer, die im Orinoco-Gebiet angesiedelt sind, leben beispielsweise in einem Zustand, der das Private nicht kennt - oder besser gesagt: das Private ist dort Allgemeingut und für jeden sichtbar. Die architektonische Ausformung der für alle zugänglichen Privatheit nennt sich Sciapuno. Das sind Mehrfamiliensiedlungen, die kreisförmig angeordnet sind und nur aus Pultdächern bestehen. Es ist eine primitive Siedlungsform, die ähnlich in vielen Weltgegenden üblich war, bis der Fortschritt trennende, verbergende Wände entwarf, hinter denen bestimmte soziale Umgänge für die Betrachter ohne unmittelbaren Bezug zum Geschehen, privatisiert wurden.
Diese Metapher mit den Pultdächern trifft nicht übel ins Schwarze. Soziale Netzwerke werden wie ein Sciapuno verwendet - dafür sind sie gemacht; es ist eine Form öffentlichen Hausens, in dem es Begrenzung neugieriger Blicke nur dann gibt, wenn man sich Wände unter sein Dach zieht. Maurerarbeiten sind die Sache der Nutzer aber eher selten. Sie beschreiten lieber den Weg der Primitivierung - wobei primitiv hier nicht falsch, als Überheblichkeit verstanden werden soll, sondern etymologisch, sich von primarius ableitend, "zu den Ersten gehörend" - wie das Sciapuno primitiv war, so ist der Umgang und die Kultivierung sozialer Netzwerke von einer Primitivität gekennzeichnet, die wie das Einreißen von Wänden wirkt.
Der Unterschied zu den Yanoama ist nicht nur, dass sie höhere Formen der Siedlung kaum kennen - es gibt nämlich Ausnahmen, Sciapunos mit Häuptlingshütten, die den Egalitarismus aufheben und hierarchisch verordnete Privatsphäre monumentalisieren -, der Unterschied ist, dass sie sich gegen Eingriffe und Bespitzelung ihrer Privatheit nicht wehren, weil sie faktisch keine kennen. Sie leben gut sichtbar unter Pultdächern und fristen ihr Leben vor aller Augen - die Pultdächer in der digitalisierten Welt nutzt man ungeniert, mosert aber immer dann, wenn in die persönliche Privatheit eingegriffen wird, wenn man sie beobachtet und ausspioniert. Der Umgang mit sozialen Netzwerken hat primitive Gestalt angenommen, die moderne Denkweise, die etwas wie Datenschutz im Hinterkopf hat, passte sich aber nie an.
Das Dilemma ist, dass archaisches Hausen im Internet für eine Vielzahl von Menschen zur Normalität geworden ist, während sie in ihrer Denkweise modernen Anschaffungen wie dem Datenschutz weiter verhaftet bleiben. Wohngefühl ist Lebensgefühl, insofern hat der Werbeslogan dieses Herstellers frugalen und uncharmanten Mobiliars völlig recht. Wohnt man ohne schützende Wände, so weichen auch Ideen auf, die in dieses Wohnumfeld nicht mehr passen; Datenschutz als Gut hat keine Chance, wenn man selbst unter digitalen Pultdächern haust; wenn man primitiv logiert, ziehen fortschrittliche Standpunkte aus ...
Wir brauchen einen neuen Straftatbestand. Der Völkermord kann nicht mehr nur als unmittelbar verordnete Handlung angesehen werden, sondern seine Begriffsdefinition bedarf dringend der Überarbeitung. Ein Völkermord, der nicht direkt tötet, nicht selbst Hand anlegt oder Order erteilt, sondern im indirekten Vorsatz Leid und Tod über Völker ausschüttet, muss Aufnahme ins genozidale Repertoire finden. Und die Regierung Merkel hat vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu landen.
Wer "Mitgliedern [von] Gruppe[n] schwere körperliche oder seelische Schäden […] zufügt", macht sie des Straftatbestandes des Völkermordes schuldig. So liest man das heute schon in der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. In der steht über die indirekte Vermittlung von Zuständen, die einen genozidalen Charakter annehmen, reichlich wenig. Zwar wird die Unmittelbarkeit des Völkermordes nicht ausdrücklich erwähnt, aber sie läßt sich doch erahnen. Es sind Gruppen oder Regierungen gemeint, die den Genozid verordnen und absegnen, die zwar nicht mittelbar selbst morden, aber im linearen Verwaltungsakt töten lassen bzw. alles dafür arrangieren, dass Strukturen entstehen, die dem Ethnozid gleich noch genozidalen Auswuchs versprechen.
Über die Motive des Völkermordes liest man in der Konvention wenig. Sie sind für eine dann hoffentlich tätig werdende Gerichtsbarkeit nicht von Belang. Aber warum gehen wir fast automatisch davon aus, dass Völkermorde immer das Produkt einer rassistischen Ideologie sein müssen? Weil noch alle von den Vereinten Nationen anerkannten Völkermorde ideologischem Rassismus geschuldet waren? Gute Kriminalisten und Juristen wissen hingegen, dass es Motive für jede Lebenslage gibt.
Ist dieser Kapitalismus, der Sparsamkeit und Enthaltsamkeit predigt und radikal durchsetzt, nicht auch Ideologie und somit Motiv? Nach der steigt die Kinderarmut in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal und Zypern ins Unermessliche. Etwa 50 Prozent aller Griechen sind nicht mehr krankenversichert; und wenn sie es doch sind, haben sie die Möglichkeit Ärzte aufzusuchen, die keine Impfstoffe vorrätig haben oder dürfen Apotheken betreten, die ihnen keine Medikamente mitgeben können. Die Selbstmordraten in den Krisenländern sind seit Beginn des Spardiktats massiv gestiegen. Um weiterhin Sozialhilfe beziehen zu können und nicht völlig ohne finanzielle Mittel dazustehen, infizieren sich viele Griechen absichtlich mit dem HI-Virus. Undundund. Die große europäische Depression füllt immer wieder Berichte mit neuem Schauer.
Ist all das kein Völkermord? Sicher, er wird schön gedeckt, die westlichen Medien schreiben beispielsweise, die Selbstmordrate steige wegen der Wirtschaftskrise an. Wegen der Wirtschaftskrise! Nicht etwa wegen einer Sparpolitik, die alle sozialen Aspekte aufgedröselt hat? All das ist ein Völkermord auf Basis des Schwäbischen Hausfrau-Theorems, wie es Schäuble und Merkel als Allegorie favorisieren. Es ist ein ideologisch motiviertes Inkaufnehmen von genozidalen Ergebnissen, die nicht unmittelbar im deutschen Finanzministerium entworfen und gefordert werden, die man jedoch dagegen eiskalt in Kauf nimmt.
Der durch finanzielles Halseisen tolerierte Völkermord, der auf Umwegen entsteht und hingenommen, der dann auch noch forciert wird durch weitere Maßnahmen ähnlicher Gesinnung, gehört als indirekter Völkermord auf die Agenda, muss als Straftatbestand anerkannt werden. Das große Verrecken an Europas Peripherie, das langsame durch Vegetieren ebenso wie das schnelle durch Erhängen, ist keine Schicksalsfrage ohne Initiator, kein natürlicher Prozess ohne Schuldigen. Es ist ein genozidaler Ethnozid, der mit der Hilfe von europäischen Organisationen umgesetzt wird und ideologisch an der herrschenden Ökonomie festgesaugt ist. Der Völkermord ist fürwahr nicht das Ziel dieser Politik, aber auch kein Grund, diese "alternativlose Politik" abzulösen und Linderung zu verschaffen.
So alternativlos diese Politik des indirekten Völkermordes an Europas Grenzen ist, so alternativlos war noch jeder Völkermord aus Sicht der Mörder. Merkel und ihre Entourage brauchen keinen Friedensnobelpreis, kein Lob für starke europäische Integrationspolitik oder den Karlspreis (den Merkel und Schäuble schon haben), sondern einen ihnen vorgesetzten Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Wir leben in einer losen Aneinanderreihung zusammengehöriger Aprilscherze. Aktuell ist es die europäische Finanzkriegserklärung an eine kleine Insel im Mittelmeer, die im Überbau des Sparsamkeitskapitalismus aufgeht. Über oktroyierten Demokratieabbau, defizitär gehaltenen Sozialstaat und die Aushebelung nationaler Selbstbestimmung hätten andere Generationen innerhalb der Epoche der europäischen Integration nur fade gelächelt und mit April, April! den Ulk entlüftet. So ein April, April! gibt es aktuell nicht mehr. Der Aprilscherz scheint Agenda geworden.
Der heutige Tag kann nicht mehr für Aprilscherze genügen. Aus diesem Tag, da man seinen Mitmenschen neckte, falsche Fährten legte, Irrsinnsbehauptungen aufstellte, ist eine ganzjährige Disziplin entstanden. Daher sollte der erste Tag im April nicht mehr zu scherzen belieben, sondern als Erinnerungstag gebraucht werden. Um daran zu erinnern, dass es auch mal anders war, dass diese Form von Scherz mal auf einen einzigen Tag gelegt wurde und nicht auf ein gesamtes Jahr.
Welchen Scherz könnte man an diesem ersten Tag des April auch machen, der das toppt, was sonst so im Raum steht? Die Eurokrise und die Mittel der Krisenbewältigung, der Mummenschanz der Mutter Blamage und der gollumisierte Blick des Finanzministers sind so überspitzt und so unglaublich überdreht, dass kein Scherz die Wirklichkeit auch nur einholen könnte. Politische Zoten über die überholte Demokratie? Davon lesen wir doch ohnehin täglich. Die autoritäre Demokratie ist doch in der erklärten Alternativlosigkeit beinhaltet. Wir sind über das Scherzen lange hinaus.
April, April! sollte nichts mehr auflösen, sondern als Aufmunterungssentenz dienen, um sich aus diesem Gewirr an seriös gemeinten Scherzen zu entwinden. Als Hört, hört! wenn einer mal etwas spricht, was nicht von der Aprilscherzerei der ökonomisierten Eliten stammt.
Das Wesen des Aprilscherzes hat sich jedenfalls gründlich überlebt. Als es noch singuläres Jahresereignis war, konnte man es ja als netten Brauch segnen. Die Finanzkrise und ihre Heilungsratschläge sind aber gleichzeitig eine Krise des politischen (April-)Scherzes. Er kann nicht mehr überdauern in einem Milieu, indem er kontinentale Politik geworden ist; er ersäuft in den Wogen seiner inflationären Existenz, wird unsichtbar unter seinesgleichen.