Minimal Moralia

Montag, 4. Februar 2013

oder Reflexe aus der schädlichen Lehre.

Du sollst nicht! ist der Appell derer, die das neoliberale Konzept, das darin enthaltene Menschen- und Gesellschaftsbild, für mit warmen Worten reformierbar halten. Vor einigen Wochen forderte der Bundespräsident in theologisch verquaster Manieriertheit die "Zivilisierung der Gier" und einen "aufgeklärten Kapitalismus". In einem durchderegulierten System ist aber mit Anstand nicht zu rechnen. Nun hat kürzlich auch die Arbeitsministerin zu besserem Benehmen aufgerufen und Arbeitgeber wie auch die Gewerkschaften aufgefordert, den allgemeinen Stress an Arbeitsplätzen zu bekämpfen.

Da in den letzten 15 Jahren die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 80 Prozent zugenommen haben, sehe sie nun Handlungsbedarf. Wiewohl sie erklärte, dass Arbeitgeber heute schon dazu verpflichtet seien, Vorbeugung zu betreiben. Wie so eine Vorbeugung in einem Klima aus Leistungs-, Kosten- und Arbeitsplatzdruck aussieht, blieb natürlich offen.

Denn das ist ja die Crux. Da ruft jemand zur Zivilisierung des Stress auf und betreibt munter seit Jahren eine Politik, die Stress verursacht. Hengsbach macht in seinem aktuellen Buch deutlich, wie die Finanzbranche auf die Beschleunigung des Alltages eingewirkt hat und eine Wechselwirkung einging. Beschleunigung meint hier nicht nur zeitlich, sondern auch den inneren Takt eines jeden Menschen, der dem repressiven Klima einer Ökonomie unterworfen wird, in dem er Humankapital, Konsument und Kostenfaktor zu sein hat, in dem er Stress im Beruf, Stress auf dem langen Weg zum Beruf und Stress im Home Office oder beim Einreichen des Antrages auf Aufstockung bei der Behörde erfährt. Einfach mal mit dem Finger schnippen und Entschleunigung und damit Entstressung gerade dort zu verlangen, wo sie als Bestandteil der neoliberalen Ökonomie gar nicht gewollt werden, ist schon ein Meisterstück an moralingetränkter Du sollst nicht!-Mentalität.

Der Stress und die psychische Belastung derjenigen, die keinen Arbeitsplatz haben und finden, ist dabei noch gar nicht erfasst. Sie generieren ja keine Fehltage am Arbeitsplatz, weshalb deren psychische Belastung vermutlich nur als Randnotiz und nutzloser Kostenfaktor eingestuft wird.

Wollte man tatsächlich den Stress aus den Betrieben bannen, so müsste in erster Instanz die Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft und speziell von der Finanzindustrie aufgelöst werden. Sämtliche Deregulierungen am Arbeitsmarkt, die Druck auf Belegschaften ausüben, weil sie Arbeitsplätze unsicher machen, Lohndruck erzeugen und eine Leistungsbereitschaft abverlangen, die auf Dauer nicht durchzuhalten ist, hätten von der Arbeitgeberlastigkeit abzurücken. Man müsste sich einer Ökonomie, die die Bedürfnisse der Menschen befriedigt und nicht Menschenmaterial als ihr Bedürfnis sieht, durch eine Stärkung des Primats der Politik, annähern.

Stattdessen tut die Ministerin eher das Gegenteil. Sie rügt Arbeitslose und spekulierte auch schon darüber, ob Hartz IV nicht zu verschärfen sei und setzt damit auch die Beschäftigten unter Druck. Die immer wieder aufkeimenden Debatten um die weitere Lockerung oder Beseitigung des Kündigungsschutzes kommentiert sie gar nicht. Sie gibt stattdessen warme Empfehlungen, das Handy nach Feierabend auch mal aus zu lassen, um für den Arbeitgeber mal nicht erreichbar zu sein. Eine mögliche gesetzliche Handhabe für Arbeitnehmer, deren Arbeits- und Freizeit aufgrund von Betriebsinteressen zusammengelegt werden, möchte sie aber offensichtlich nicht schaffen. Und zum Mindestlohn, der manche prekäre Existenz entstressen könnte, äußert sie sich gleichfalls nicht. Geringfügige Beschäftigung, Ausbund an Stress aufgrund fehlender sozialer Absicherung und weil Minijobber wegen niedriger Arbeitszeiten vom Betrieb höhere Taktzahlen vorgeschrieben bekommen, wurde unter ihrer Ägide ausgebaut. Kurzum: Die Zusammenhänge einer Beschleunigungswirtschaft und all der daraus erzielten gesellschaftlichen Stressfaktoren, scheinen ihr vermutlich nicht mal bewusst zu sein.

Aber wenn man sonst schon nichts Substanzielles dagegen tut, bleibt doch miminal die Moralia. Irgendwelche Reflexe einer schädlichen Lehre, die in den Köpfen derer spukt, die Entscheidungsgewalt hätten, wenn man dem Grundgesetz Glauben schenken darf. Doch die ergießen sich lieber in lauwarmen Reden und Empfehlungen, sind eben minimal ein bisschen moralisch, tunken die Verkrämerung des Alltagslebens mit Moralinbäuschen auf. Du sollst nicht! oder wahlweise Du sollst! sind die letzten Affekte einer Politik, die nur noch als eine Art Priesterkaste hinter der profanen Macht der Wirtschaft fungiert, die Legitimationslehren entwirft und jeglichen Handlungsspielraum an andere abkommandiert. In einem deregulierten System zur Einsicht aufzufordern ist nichts weiter als die Rolle einer Form von Lebensberatung eingenommen zu haben.

Minimal Moralia ist letztlich der Leitgedanke hinter postdemokratischer Politik. Als moralische Instanz darf sie wirken - gestalterisch ist sie nur, wenn es der Ökonomie dient - eigene Ziele und Absichten hegt sie nicht. Rahmenbedingungen schaffen! war vor Jahren das passende Schlagwort der Stunde dazu. Rahmenbedingungen schaffen und sonst nichts. Als habe Politik keine eigene Motivation zu haben, sondern nur rechte Hand der Wirtschaft zu sein. Die Arbeitsministerin, die laut Pressemeldungen Handlungsbedarf sieht, handelt jedoch gar nicht. Sie versteht ihre Politik nicht als Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen und zielt nicht auf die Verbesserung des sozialen Miteinanders ab, sondern gibt sich als unverbindliche Beratungsstelle, verteilt Empfehlungen und macht kontemplativ in Moral, wo aktiv Taten nötig wären.



8 Kommentare:

Anonym 4. Februar 2013 um 09:18  

ANMERKER meint:
Sehr richtig Roberto, Du legst den Finger auf die Wunde! Wieder einmal wird deutlich, dass der politische Überbau in unserer Gesellschaft zu nichts anderem da ist und diese Rolle auch perfekt erfüllt, dem Volk mit Zuckerbrot und Peitsche beizubringen, wo der Hammer hängt. Nämlich in den Chefetagen des Kapitals, das den Takt vorgibt und erwartet, dass pariert wird. Leider haben wir relativ zahnlose Gewerkschaften, die sich weder vehement für eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit einsetzen noch für das Recht auf Generalstreik, der doch tatsächlich eine passable Waffe wäre, um dem Kapitalhammer, etwas Substantielles entgegenzusetzen. Stattdessen geben sie sich systemisch, unsere Gewerkschaften, und helfen dabei mit, den arbeitenden Menschen vorzugaukeln, in Deutschland liefe ja alles relativ gut - eine Schimäre! Wir müssen sie alle zwingen, Farbe zu bekennen, damit in unserer Gesellschaft das Bewusstsein für Veränderungen wachsen kann.

MEINT ANMERKER

Eric 4. Februar 2013 um 09:29  

Hallo Roberto,

genau so ist es! Wobei aus meiner Sicht zu ergänzen wäre, dass eine wirkliche Entschleunigung und Entstressung gar nicht wünschswert ist seitens Wirtschaft, Finanzmärkte und den erwähnten Hohepriestern. Es könnten zu viele Menschen plötzlich ein zuviel Mehr an Zeit zum Nachdenken haben.

Ausnahmsweise mal eigene Erfahrung eingebracht: Die Arbeitszeiten in meinem Bereich liegen zwischen 6 Uhr und 23 Uhr. Eigene Dienstanfangszeiten diese Woche: Heute 12 Uhr, Morgen 14 Uhr, Mittwoch 16 Uhr, Donnerstag 13:30, Freitag 10 Uhr, Samstag gnädigerweise frei, Sonntag 9 Uhr.

Und ich kenne immer mehr Leute im Konzern, die einer ähnlichen Verfügbarkeit unterliegen.

Gruß

Eric

maguscarolus 4. Februar 2013 um 09:38  

Konnte man vor zwanzig Jahren noch glauben, dass in Europa nicht alles bis ins Detail Richtung Sklaverei geplant und geebnet ist, so fällt es heute schwer, hinter all dieser perfekten Restauration feudaler gesellschaftlicher Zustände und allmählicher Abschaffung sämtlicher sozialen Errungenschaften bis hin zu solchen, die schon im 19.Jahrhundert erkämpft wurden, keine minutiöse Planung und vollständige Absicht zu sehen.

Die Ohnmacht und die Wut über die Verschrödderung und Vermerktelung unserer Lebensverhältnisse führt in Deutschland einstweilen nur zu Apathie und politischem Desinteresse – unterstützt mehr und mehr auch durch eine geplante oder zumindest hingenommene Verschlechterung der schulischen Allgemeinbildung, durch welche die "Unterschicht-Menschen" erst in die Lage versetzt würden, die Ungeheuerlichkeit der ihnen zugemuteten Einschränkungen zu bewerten und darauf zu reagieren.

So, wie es jetzt läuft, wird die Entwicklung irgendwann zu einer gewaltigen sozialen Entladung führen – womöglich in gar nicht allzu ferner Zukunft – durch welche mehr zerstört werden wird, als die Profiteure des jetzigen Systems glauben, gewonnen zu haben.

Banana Joe 4. Februar 2013 um 11:10  

Roberto bringt es auf den Punkt: "...Die Arbeitsministerin, die laut Pressemeldungen Handlungsbedarf sieht, handelt jedoch gar nicht..."

"Mit gutem Beispiel voran" lächelt Sie in die Kameras - Entschleunigung lautet ihr Motto in eigener Sache - die Arbeitsministerin macht sich hier keinen Stress...

...den bereitet sie durch das Produzieren von heisser Luft und Nichtstun lieber denen, für die sie eigentlich -würde sie ihre Position verantwortlich ausfüllen- zuständig wäre.

Anonym 4. Februar 2013 um 14:22  

"Der Stress und die psychische Belastung derjenigen, die keinen Arbeitsplatz haben und finden, ist dabei noch gar nicht erfasst. Sie generieren ja keine Fehltage am Arbeitsplatz, weshalb deren psychische Belastung vermutlich nur als Randnotiz und nutzloser Kostenfaktor eingestuft wird."

Endlich sagt es mal jemand. Nach 9 Jobs (hauptsächlich in mies bezahlter Zeitarbeit) und über 500 Bewerbungen in den letzten drei Jahren höre ich mir aus dem Freundeskreis an: Du hast ein Burn-Out? Wie das denn?

Goetho Mans 4. Februar 2013 um 15:20  

Wenn ich Leute fragen, was hast du getan, dich nach einem begeisternden Job umzusehen, sind die Anworten oft ernüchternd.
Ich bin Spielplatztester. Kein Stress. Freie Stellen gibt's da eine Menge. Heute ist gerade ein Artikel darüber. Komme zwar nicht auf den im Artikel genannten Tagesverdienst von 750 Euro, aber höher als der Hartz IV-Monatssatz ist der Tagessatz schon.

www.spiegel.de/karriere/berufsleben/spielplatztester-pruefen-schaukeln-rutschen-und-gerueste-a-880919.html

flavo 4. Februar 2013 um 16:23  

Entlastungsgespräche. So kann man dies betrachten. Nach Jahren der Verzähung und Verstressung durch die konische Zurichtung der Welt auf die Opportunitäten der Marktkrämer, allesamt druchgesetzt mit geltendem Recht, fällt so nun die Belastungsanerkennung aus: das ideal der ordoliberalen Steuerungsidee wird vollzogen: Staat, steuere gerade so viel, dass der Markt funktioniert. Der Staat tritt vor dem Volke als der Anerkenner von Leid und Pein auf, schuldet er ein Quäntchen davon ja seinen Legitimatoren. Ich, der Staat anerkenne euer Leid und eure Pein. Ich reagiere daher in Form in der mir möglichen Form: dem Ratschlag an den sich selbst regulierenden Markt. Dies ist der Staat heutzutage auf der Seite zu seinen Legitimatoren hin. Hier präsentiert er sich in seiner perfekten Einbettung in die Wirtschaft und gemäß seinem ord- und neoliberalen Ideal. Er ist Nachtwächter. Er wacht über das Rauschen der Märkte. Klingt machtekstatisch
Die Moral dieser liegt vielleicht auch dort, dass es auch bekräftigende Effekte hat. Wer in der Ideologie schwach geworden ist, bekommt hier ein Heftpflaster aufgeklebt. Hier kann man wohl auch eine pragmatische Seite verorten: es ist ein Bekenntnis, das gut ankommt und nichts kostet. Weit verbreitet ist der Glaube an Übermächte aus der Finanzwelt und vor diesen zeigt die Regierung ihren guten Willen und ihren Stand auf der Seite des kleinen Mannes. Derweilen werden die Daumenschrauben zum Anziehen vorbereitet, ganz gewiß. Wenn Kommission und Merkel den deutschen Merkelismus zur ersten gemeinsamen EU-Sozial- und Lohnpolitik erheben, dann leben wir wie unter dem Feuer von Drohnen. Die Daumenschrauben werden dann in den Gängen Brüssels aus der demokratischen Ferne an- oder losegedreht.
Was tun gegen Stress? Altbekannt und jeder Beratungserfahrene wird sie kennen: Copingstrategien. Klappt es nicht von alleine, gibt es gerne therapeutische Unterstützung. Ab auf die Tuningcouch. Zweifellos wird dies dort alles in wesentlich abgeklärterer Sprache durchgekaut, jenseits aller weltlichen Verstrickungen. Man ist erhaben über solche Querelen, die es nun mal gibt. Zunächst arbeitet man sich mal an sich ab. Die gestählte Seele schreitet sodann in den Betrieb und sticht hervor durch eine neue Härte und Zähe in der Sachlichkeit am Arbeitstisch. All der kleinen Neurosen entledigt, deucht sie sich agiler und kann den frei gewordenen Seelenraum der Lohnarbeit schenken und allenfalls nach erfolgreicher Psychoedukation selbstsorgend die Freizeit mit Pilates, einem ruhigem Spaziergang und autogenem Training verbringen. Die Mitmenschen, nun, sie fallen zurück ob der neuen Arbeitspotenz des Entneurotisierten. Zunächst kränker durch den Stress, dann durch das Säurebad der Therapie zur Remodulierung und Verschlankung der eigenen Existenzgefilde und wir preschen wie Phönix aus der Asche empor und hinab in den ritterlichen Kampf um Anerkennung der Arbeitsmarkttauglichkeit. Nun, so mag es meistens nicht sein, aber das Leitbild ist es allemal.
So scheint es also, dass wir am Arbeitsmarkt genesen. In eine Bereinigungsepoche treten wir ein. Ein kollektives Säurebad, eine Unterwerfungssequenz mit dem Geschmacke eines großraumseelischen Entrumpelungsspektakels. Schau, ich hab mich schon meiner ganzen Vergangenheit entledigt. Oh, du Wilder, ich bändige aber meine ganze Lebensenergie seit Wochen schon auf den Gegenwartsmoment des Arbeitsaktes. Vergangenheit, pfff, und Zukunft, ha, das ich nicht lache. Ich arbeite hochmeditativ und energetisch zugespitzt. Wenn ich nicht arbeite, schlafe ich oder mache Mentaltraining. Ich entleere mich des Abends, falle in einen leeren Schlaf und am morgen fülle ich mich bis zum Rand mit Arbeit. Derart erfüllen wir unsere gesundete Pflicht.


Darbei 4. Februar 2013 um 16:48  

flavo, "Ich entleere mich des Abends, falle in einen leeren Schlaf und am morgen fülle ich mich bis zum Rand mit Arbeit. Derart erfüllen wir unsere gesundete Pflicht."

So läuft es seit Anbeginn des Homo Sapiens... Zum Auslgeich wohnen wir nicht mehr auf den Bäumen.

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