Noch ist die freie Wahl ein Menschenrecht

Donnerstag, 28. Februar 2013

"... Das ist schon die allerletzte Etappe. Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung..."
- Stéphane Hessel, Empört Euch! -

Demokratische Wahlen werden seit geraumer Zeit über den Aktienindex ausgewertet. Die ganzen Hampel, die Sitze ausrechnen und Prozentpunkte in Balkendiagramme umschreiben, die Kuchenschnitten farblich drapieren und Gewinner und Verlierer auswerten und die Wahlbeteiligung nennen, sind nicht mehr der statistische Abschluss einer Wahl, sie sind nur Vorboten für die wirklichen Sitzverteilungen, die sich "auf den Märkten" austarieren.

Es scheint zunehmend so, dass die Eliten und ihre Lohnschreiber ein gravierendes Problem mit freien Wahlen haben. Sie sind ja auch unkalkulierbarer Faktor, sind aufrührerischer Impuls an den Märkten und das in Zeiten, da Aufruhr nicht zu gebrauchen ist. Nichts zeigt so sehr den Niedergang der Demokratie, wie dieses Schielen der Eliten und ihrer in Auftrag gegebenen Kommentarspalter und Kolumnisten auf Wahlresultate, um sie dann mit den Reaktionen an der Börse zu koppeln.

Bei aller Ratlosigkeit, die der wütende Spaßguerilla Grillo zurückläßt; bei allem Widerwillen, den die geliftete Korruption namens Berlusconi erzielt; bei aller Abneigung gegenüber dem Lakai des Technokraten Bersani - alle haben sie etwas, was Monti nie hatte: Eine durch den Souverän erhaltene Legitimation.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist unter Artikel 21 zu lesen: "Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen." Stéphane Hessel wirkte bei der Erarbeitung dieser Erklärung als Mitautor mit.

Die Marktkonformen, die Finanzkapitalisten geben auch eine Erklärung ab, wenn sie sorgenvoll die Aktienkurse erörtern, die Kodizes studieren und die Entscheidung der Wähler in jenen Ländern, in denen man durch Spardiktate Krisenverschärfung betreibt, für einen irrationalen und dummen Akt deklarieren. Sie erklären: Freie demokratische Wahlen sind lästig, können in einer Phase der Krisis verschlimmern und Prozesse aufhalten, können als Unmutskundgebung Wirkungen mit sich bringen, die man in solchen Zeiten nicht haben will. Wie die Römische Republik in Zeiten des Krieges die vorübergehende Akzeptanz eines Diktators und Alleinherrschers kannte, so gab es auch heute schon zögerliche Stimmen, die meinten, man müsse den demokratischen Prozess der Wahl auf Eis legen, um Kontinuität zu ermöglichen. Denn in schwierigen Zeiten bedarf es einer starken Hand und der Planbarkeit.

Was für ein Gleichnis! Einer der letzten Bastler an der Erklärung der Menschenrechte, in der "regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen" thematisiert werden, stirbt just in jenem Augenblick, da eine weitere nationale Wahl für problematisch erklärt wird, da man ein weiteres Votum für suspekt ernennt. Der Mann hatte fast ein Jahrhundert voll gemacht, das ist kein Gleichnis, sondern natürliche Gesetzmäßigkeit, werden manche einwenden. Stimmt auch wieder. Aber der Tod Hessels und der sukzessive roher werdende Umgang mit Demokratie und Menschenrechten, zwei zentrale Themen in Hessels Leben, der nun nach der Wahl in Italien wieder aufbricht, macht deutlich: Das sind keine getrennten Themenblöcke, keine zwei isolierten News, sondern eine Botschaft. Ein Pessimist könnte nun sagen: Hessel steht für das alte Europa, für ein striktes Bekenntnis zu humanistischen Idealen - und dieses alte Europa ist mit Hessel gestorben. Was bleibt sind die Jeremiaden der Marktkonformen, was bleibt ist dieses neue Europa.

Hessel, der Empörer, der den Widerstand aus der Empörung destillierte, mag nun tot sein. Sein Imperativ hoffentlich nicht. Empört Euch! Er wollte eine Empörungswelle gegen den Finanzkapitalismus nicht anführen. Sein Alter war ihm bewusst, er leitete sein Pamphlet ja mit der anfangs zitierten Passage ein. Teilhaben lassen an seiner Erfahrung hatte er sich als Ziel gesetzt. Sein Büchlein war ein Erfolg. Und sein Imperativ? Wird der bestehen? Oder wird Empörung auch so eine heute belächelte Überspanntheit eines Europas sein, das es nicht mehr gibt? Eines Europas, das sich Kriegen bewusst war, weil es zweimal als Schlachtfeld gebeutelt ward; weil es Blutbäder und Völkermorde kannte; weil es die Auswirkungen einer auf Sparsamkeit bedachten Klientelpolitik am eigenen Leib erfuhr.

Es ist zu befürchten, dass dieses alte, dieses liberale Europa mit Hessel verstorben ist. Was zählt schon der Humanismus in einem Organismus, der mit Menschen nichts mehr zu tun hat, dafür nur noch mit Kursen, mit Graphen nach oben oder unten und Tendenzen?



14 Kommentare:

Martina 28. Februar 2013 um 08:23  

Die Empörung wird kommen und wachsen, so jedenfalls ist es in vielen Ländern Europas schon zu sehen.
Wenn auch nicht unbedingt in den deutschen Medien.
Deutschland wird bis zum Schluss ein Land der Glückseligen bleiben.
Aber auch das wird vergehen - müssen.
Proletatier aller Länder vereinigt euch - so wird es in Zukunft überall rufen.
Und erst dann wird ein vereintes Europa von den Proletariern auch gebraucht und erst dann wird es ein Garant dafür werden können, dass die veralteten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen auf diesem Kontinent ein für alle mal der Geschichte angehören.
Europa wird eine Signalwirkung für die ganze Welt sein.
Soviel zu meinen prophetischen Gedanken ;-)
Ob es wahr werden kann, liegt allein an uns.
Es wird von vielen Opfer verlangen, aber das sollte uns nicht abschrecken.

Schönen Tag Roberto und euch allen hier.

Anonym 28. Februar 2013 um 09:04  

Tja Roberto....

Die bürgerliche Demokratie, die bürgerlichen so genannten freien Wahlen sind halt immer nur so lange gut und frei, wie sie den Besitzenden, den Ausbeutenden nützen, die kleinen ohnmächtigen Leute die richtigen Polit-Ganoven wählen, also die politischen Statthalter von Besitz und Reichtum, die Verwalter und Prokuristen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Siehe nur Chile 1970 - 1973, gerade Venezuela, Bolivien, Iran, Syrien..., dann spielt auf einmal "Volkes Wille" keine Rolle mehr, stehen die "Menschenrechte" auf der Tagesordnung, herbeigeführt, herbeiboykottiert, herbeigebomt, herbeiterrorisiert, herbeigemordet, herbeigefoltert.
Das einfach die Wahrheit dieses abscheulichen weltweiten kap.Systems und seiner Macher.
Und bloße Empörung allein wird dagegen ganz gewiss nichts ausrichten.

Anonym 28. Februar 2013 um 09:17  

Vielen Dank! Wie so oft mal wieder auf den Punkt gebracht. Mich nervt es wenn z.B. schon ein "Domian" in seiner Sendung "schlimmes" für uns alle prophezeit, falls Berlusconi die Wahl gewinnt.
Unfassbar, wenn selbst schon intelligente Menschen nachquatschen was sie den ganzen Tag eingetrichtert bekommen.
DAS nenne ich Propaganda!
Man darf gespannt sein auf den "Wahlkampf" hier demnächst...

Anonym 28. Februar 2013 um 09:54  

Ich fühle mich beim Lesem an "The shock doctrine" erinnert...

Anonym 28. Februar 2013 um 11:32  

Ich bin traurig, einer der großen ist gegangen - mit 95 Jahren.

Ich schließe mich aber hier denen an, die hoffen, dass auch jüngere Menschen wieder ihr Protestpotential entdecken.

Wie heißt es doch so schön "Die Hoffnung stirbt zuletzt"....

...soll heißen so wie die marktkonformen "Demokraten" es wollen geht es nicht (ewig) weiter, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis auch die jüngere Generation - wie oben erwähnt - ihr Protestpotential frei entfaltet.

Was Europa angeht, da tippe ich mal auf Südeuropa, wenn es denn einen Aufstand gegen diese "lupenreinen Marktdemokratien" geben sollte - nicht auf Deutschland, da unsere Einheitsmedien ja fest im Griff dieser neoliberalen Taliban sind, und der dt. Michel/-in immer noch den Untertanengeist atmet, denn ein dt. Schriftsteller bereits vor dem 1. Weltkrieg ahnte....

Spanien oder Portugal z.B. als ehemalige Kolonialmächte, die immer noch bzw. wieder gute Verbindungen zu den (nun) anti-neoliberalen Staaten Lateinamerikas haben......von Venezuela, Ecuador oder Bolivien könnte der Funke ins "alte Europa" - via Spanien bzw. Portugal - überspringen....

...ist wohl nur eine Frage der Zeit, ab wann dies der Fall ist.....

Hoffnungsvoller Gruß
Bernie

Hallo 28. Februar 2013 um 11:45  

Das Volk wird durch die an die Märkte gekoppelten Medien manipuliert und wählt also das, was es wählen soll.
Etwas anderes zu glauben oder zu schreiben bedeutet doch, Medienmacht und -wirkung zu vernachlässigen. Ist es das?

Anonym 28. Februar 2013 um 12:20  

Anonym Hallo hat gesagt...

"Das Volk wird durch die an die Märkte gekoppelten Medien manipuliert und wählt also das, was es wählen soll.
Etwas anderes zu glauben oder zu schreiben bedeutet doch, Medienmacht und -wirkung zu vernachlässigen. Ist es das?"

So und nicht anders funktioniert die "liberale Demokratie" der Besitzenden, der Reichen.
Betrug oder Gewalt, dass sind die beiden wichtigsten Herrschaftsmethoden der Bourgeoisie, so von LENIN schon vor langer Zeit trefflichst dargelegt.

MfG Bakunin


Anonym 28. Februar 2013 um 12:58  

Es ist wohl leider so, dass die "Empörung" nicht stark genug ist. Tag für Tag für Tag gibt es Gründe, auf die Straße zu gehen, zu demonstrieren, sich zu empören. In einigen Ländern nutzt es gelegentlich, bringt Nadelstiche bei. Hierzulande ist die Fähigkeit zur Empörung leider durch die Verblödung der Massen erloschen. Dann heißt es: "Es geht uns noch nicht dreckig genug, damit der Deutsche auf die Straße geht". Es geht so vielen Leuten so dreckig, dass sie eigentlich den Alexanderplatz zum Tahrir-Platz machen müssten. Das geschieht aber nicht. Desillusion und Verblödung ist der Grund dafür, dass kaum jemand gegen die Demontage der Demokratie und die Deinstallation der Bürgerrechte aufbegehrt. Und die Lohnschreiber und Programm-Macher sind willfährige Kollaborateure der "Eliten" dass das auch so bleibt.
Der "Wille des Volkes" drückt gelegentlich auch mal eine solche Verblödung aus: Beispiel Berlusconi... Wie viele Drogen muss der "mündige Wähler" nehmen, dass man diesen korrupten Verbrecher immer wieder aufs Tableau holt ? Wie bescheuert ist der Niedersachse, dass man immer wieder auf die Steuersenkungs-Spaßpartei hereinfällt und den gelben Verfassungsfeinden 9,9% Zustimmung schenkt ?
Empörung ? Leider Fehlanzeige !
Anton Chigurh

Anonym 28. Februar 2013 um 14:43  

Anton Chigurh, Ihre Haltung Ihren Mitmenschen gegenüber "Ich weiss, was Euer Heil wäre, aber Ihr seid zu blöd dafür" - genau diese Haltung ist nur ein weiterer Weg, soziales Miteinander zu zerstören.
"Zerstören" deshalb, weil nichts an dieser Haltung gegenseitiges Vertrauen aufbauen könnte.
Es is nur Zerstörung des Sozialen auf eine andere Weise.

Anonym 28. Februar 2013 um 16:12  

@ anonym 14:43
Ja, da haben Sie leider absolut Recht ! Aber leider, leider ist es nun mal so, wie man es immer wieder beobachten kann. Meine Meinung zu Wahlausgängen und sich daraus ergebenden Konsequenzen hierzulande und anderswo ist selbstredend subjektiv und ich hege auch keinerlei Anspruch auf die Richtigkeit. Aber es ist so verdammt, verdammt, verdammt schrecklich, das zu beobachten und die Hoffnung auf ein Besserwerden mit jedem Male weiter zu verlieren. Und daraus resultiert leider auch mein Mangel an Empathie mit einem Großteil des verblödeten Wahlpöbels, der mit offenen Augen und Brett vorm Schädel in den Abgrund spurtet !
Anton Chigurh

IrlandsCall 28. Februar 2013 um 17:53  

Die Empörung wird wachsen"
Ja, aber nicht gegen die Verursacher, sondern gegen die Marionetten und gegen die anderen Menschen die gelitten haben. Teile und herrsche. Die Historie zeigt, dass die realen Hintermänner, die globale Finanzmafia, NOCH NIE dran glauben musste. Stattdessen hat sich das Volk in sinnlosen Kriegen selber gerichtet. Das wird auch bald wieder so sein.

Anonym 28. Februar 2013 um 22:10  

Anton Chigurh, ich bin andererseits froh, dass nicht irgendwelche System-Experimentalisten, die Wahlen gewinnen, die nichts zu verlieren haben und der Gesellschaft genau diese Haltung auch pauschal als die "richtige" für den Neustart nahelegen ("nach allem, was war")....
Es ist schon verzwickt...

Anonym 2. März 2013 um 11:07  

Anonym hat gesagt...

"Anton Chigurh, ich bin andererseits froh, dass nicht irgendwelche System-Experimentalisten, die Wahlen gewinnen, die nichts zu verlieren haben .."

Aha, da haben wir also mal endlich wieder einen, der in dieser kapitalistischen Gesellschaft noch "was zu verlieren" hat und deshalb tief im Herzen nach jeder Wahl (nun schon seit über 60 Jahren und hoffentlich noch 60 000 Jahre weiter so?) froh und glücklich darüber ist, dass trotz allen "Wählens" alles so bleibt wie es war und ist und hoffentlich auf Ewigkeit.
Ganz recht so, wirkliche, d.h. ernsthafte Politik hatte noch nie etwas mit Moral zu tun, sondern immer mit sehr banalen, sehr konkreten Interessen, wusste schon der alte Krautjunker und erste Reichskanzler von Bismark!
Im kapitalistischen Weltsystem, inerhalb dessen Deutschland einen ökonomisch beachtlichen, noch äußerst kompfortablen Platz einnimmt(siehe die exrem günstigen deutschen Staatsanleihen!), geht es abgesehen von der ohnehin extrem reichen Oligarchie und einer breiten saturierten Mittelschicht selbst Teilen des Proletariats noch einigermaßen passabel, und selbst das "bildungsferne" wie auch das inzwischen zahlenmäßig nicht gerade geringfügige zu jeder Zeit aufstiegs-hoffnungsvolle "akademische" Lumpenproletariat kann mit Hartz 4 oder Grundsicherung, Sozialgeld noch ruhig und still gehalten werden.
Noch zählen hier bei "uns" nur wenige zu den inzwischen schon über 2 Milliarden von Hungernden und oft sogar Wasserlosen dieses kapitalistischen Weltsystems, zu den alljährlich Millionen von Verhungernden dieses total-globalen "Marktwirtschaftssystems", seiner "Effizienz" in imperialistischen geostrategischen und Rohstoffkriegen - und daher schließlich auch unserer fülligen bunten Supermärkte.(Schaffte so E.Honecker bekanntlich niemals, dieser Lump und Unterdrücker des freien weltweiten Konsums und "freier Marktwirtschaft"!)
Sie zählen auch noch nicht zu den Millionen von Toten, Verstümmelten, Gefolterten, heimatlos gemachten Opfern aller dieser endlosen geostrategischen und Rohstoffkriege, den zu diesen Zwecken immer wieder und überall angestifteten, angeheizten Bürgerkriegen und "regime change".
Ja, es lebt sich noch relativ gut hier, selbst schon im Vergleich zu Süd - oder Osteuropa.
Daher hoffen wir, das wirklich alles so bleibt wie es ist, für uns und unsere Kinder und Enkelkinder und Urenkelkinder, denn "wir" haben es und doch "verdient", nicht wahr?
Würden die anderen auch so "hart arbeiten" wie "wir", es ginge allen weltweit so gut wie "uns".
Ja, die "Marktwirtschaft" hat uns viel Gutes angetan, tut sie heute noch - Ehre wem Ehre gebührt! - erteilen wir daher allen Wirrköpfen und "System-Experimantalisten" eine gebührende Abfuhr, unser Wohstand ist uns heilig! Amen!

Marktwirtschaftlich-glückselige entzückte Grüße von

Bakunin

DWR 4. März 2013 um 23:32  

"Noch zählen hier bei "uns" nur wenige zu den inzwischen schon über 2 Milliarden von Hungernden und oft sogar Wasserlosen dieses kapitalistischen Weltsystems, zu den alljährlich Millionen von Verhungernden dieses total-globalen "Marktwirtschaftssystems", seiner "Effizienz" in imperialistischen geostrategischen und Rohstoffkriegen"

Statt es sich auf Grundlage dieser Tatsache als Ruhekissen einzurichten und zu beten, dass es so bleibe, nutzen die wenigen vernunft- und mutbegabten Menschen unserer Gleichstromgesellscahft ihre technischen und ökonomischen Zufallsprivilegien zumindest, um Überzeugungsarbeit zu leisten - auch wenn sie wissen, dass die gerade momentan sehr schwer ist, heißt doch 'überzeugen' hier nichts anderes als 'Trost und Ruhe rauben'.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP