Nur an Montagen
Freitag, 22. Februar 2013
oder Erfahrungen aus dem sozialistischen Jetset.
Hartz IV bedeutet für die Öffentlichkeit nur bedingt Arbeitslosigkeit und schon gar nicht Armut. Hartz IV ist gleichlautend mit Faulheit. Bezieher des Arbeitslosengeld II sind nicht arbeitslos, sie sind ganz einfach nur faul und bequem. Das Arbeitslosengeld ist letztlich für die öffentliche Wahrnehmung nichts anderes als eine Faulheitsalimente; die Stütze heißt gemäß dieser Lesart nicht Stütze, weil man sich von der Armut ermattet auf sie stützt, weil man sie sich unter den Arm klemmt, um nicht in die Gosse hineinzufallen, sondern weil man sich untätig auf ihr lümmelt.
Für mich war die mir unterstellte Faulheit eine schwere psychische Situation. Mir wurde sie nicht mal direkt nachgesagt, wahrscheinlich nur hinter dem Rücken. Aber medial zum faulen Sack verzerrt zu werden, ständig darüber zu lesen, wie ich in meiner Faulheit Betrugsideen entwerfen würde, wie ich mich vor Arbeit drückte und ganztägig auf dem Sofa verweste, das nahm ich persönlich. Vielleicht zu persönlich.
Möglicherweise auch, weil ich natürlich immer wusste, dass Fleiß nicht mein persönliches Alleinstellungsmerkmal war und ist. Ich bekenne mich durchaus zur Faulheit. Wie so viele andere auch. Wie all jene, die einen Arbeitsplatz hatten und von der Bummelei im kühlen Schatten oder wahlweise unter warmen Bettdecken träumten. Nur die durften ja ihre Faulheit verbal zur Schau tragen, am Arbeitsplatz untereinander ihren Faulheitsphantasmagorien nachhängen. Ich nicht. Ohne Arbeitsplatz gibt es keinen Anspruch darauf, die persönliche Faulheit zu verkündigen. Für die einen ist die Faulheit der verdiente Lohn; für Hartz IV-Bezieher ist es ein unterstellter ekelhafter Charakterzug, der sittliche Untergang des Abendlandes.
Anekdote: Als ich etwa zehn Jahre alt war, plante ich nach meiner Schule, in einer ganz speziellen Werkstatt mit meiner Ausbildung anzufangen. Ich hatte keine Ahnung, was dort gemacht wird, welche Berufe sie ausbilden oder ob sie überhaupt ausbilden. Mehr als dass es sich um eine Werkstatt handelte, um eine Werkstatthalle um genauer zu sein, wusste ich nicht. Bis heute weiß ich nicht mehr darüber. Was mir imponierte war ein Schild, das an der Fassade angebracht war. Auf dem stand Nur Montage. Und ich stellte es mir großartig vor, nur montags am Ausbildungsplatz erscheinen zu müssen. Mein Vater erstickte meine Absichten in Ernüchterung. Woher hätte ich wissen sollen, dass nicht Montage sondern "die Montage" gemeint war - das Montieren also und keine Ein-Tage-Woche.
Die menschliche Faulheit ist kein Makel. Sie durchbricht bereits in archaischen Texten und späteren Erzählungen die Sphäre des Fleißes. Das Paradies, dieser Urzustand, den der Mensch verlassen musste, wird als Hort des Müßiggangs, als anstrengungsloser Topos beschrieben. Das Schlaraffenland begegnet uns bereits in der griechischen Antike, später im Mittelalter und in der Renaissance. Gebratenes Geflügel, das schlicht in offene Münder stürzt, sind das wiederkehrende Motiv menschlicher Sehnsucht, eine historische Konstante. Die Faulheit ist heute geächtet, sie gilt als Ausdruck menschlicher Schlechtigkeit, als Gegenteil von Fortschritt. Dabei ist es ausgerechnet die Faulheit, die Arbeitsschritte effektiver gestaltet, die Anstrengungen tilgt und Fertigungsprozesse von Schweißperlen befreit. Es wäre vermessen zu behaupten, dass die Industrialisierung und die darin enthaltenen Rationalisierungen, der Taylorismus insbesondere, auf Grundlage der menschlichen Faulheit entstanden sind. Aber Arbeitende selbst erleichtern sich den Werktag ja durchaus, treiben den Impuls der Faulheit vor sich her, um etwaige Arbeitsschritte zu simplifizieren oder gar zu vermeiden.
Dass Faulheit zur Humanitas gehört, war mir immer bewusst. Später sollte ich darüber ein Essay schreiben, mich auf Lafargue stützen, diesen, meinen heimlichen Helden der Faulheit. Auch wenn er Faulheit natürlich nicht als Hängematte beschreibt, sondern mit modernen Worten gesagt: als Entschleunigung. Und zur Erklärung, ich definiere Faulheit auch nicht mit Rumhängen, sondern damit, nicht zwanghaft produktiv sein zu müssen.
Der berufstätige Mensch, so bemerkte ich, als ich noch Bescheide im Postkasten fürchtete, weiß genau wie ich, dass Faulheit etwas ist, das in ihm ist. Weil er aber wenig Zeit findet, seine Faulheit auszutoben, hat er vermutlich einen verbal lockereren Umgang mit ihr. Aber diejenigen, die theoretisch Zeit dazu hätten, die werden auf instruierte Gewissensbisse zurückgeworfen. Überdies, wenn die Medien zielgerichtet von der Faulheit eines ganzen Standes berichten und man diesem Stand zugehört.
Gewissen. Mit dem hat man zu tun, wenn man so in den Zeitungen liest, was für ein Kerl man eigentlich ist. Man liest von Faulpelzen mit Regelsatz. Dann Zwiesprache mit dem Gewissen. Bin ich auch einer? Haben die vielleicht doch recht? Das Gewissen. Selbst beim Füttern meiner Katze. Arm sein und Haustier haben. Unverantwortlich! Oder nicht? Vormittags in der Bücherei. Dreist! Die anderen arbeiten. Gewissen, eine Scheißsache ist das. Noch dazu, wenn es sich so unnütz meldet, wenn es laut wird, wo es ruhig leise sein dürfte, wenn es ertönt, weil man es stichelt.
Hat man den modernen Menschen, der durch die Schule der Industrialisierung und der Arbeitsteilung gegangen ist, schon vor langer Zeit von der in ihm ruhenden Faulheit entfremdet, ihn moralisch zu ihr abgeschottet und ihm erklärt, dass Faulheit immer schon verwerflich war, so ist der moderne Massenmensch ohne ökonomische Teilhabe, der mit seinen moralischen Richtern täglich bei der Zeitungslektüre zu tun hat, noch eklatanter in diese Zerrissenheit geworfen. Denn derjenige, der ökonomisch nicht teilnimmt, der also arbeitslos ist, der trägt die Charakterlosigkeit der Faulheit nicht mehr nur in sich, er wird jetzt zur fleischgewordenen Faulheit, wird zum Makel in corpore, zur Faulheit auf zwei Beinen, die allerdings wiederum nur hochgelegt werden.
Bevor gleich die Historiker auftauchen und sagen, dass die Faulheit auch schon vor dem industriellen Zeitalter etwas war, was nicht geliebt wurde, eine Klarstellung: Ja, das stimmt. Gleichwohl, und Lafargue weist auch darauf hin, gab es im Jahresablauf der Kirche, und die regelte den ganzen Zirkus ja mehr oder minder, eine Unmenge an Feier- und Ruhetagen. Fleiß war etwas für den Werktag, dort war die Faulheit eingeschränkt. An Ruhetagen war sie jedoch die Herrin. Und überhaupt gestalteten sich Jahresabläufe für Menschen, die noch an die Natur und an die Witterung gebunden waren, in einem anderen Takt. Im Winter schmachtete man in der Hütte, war gezwungenermaßen faul. Lafargue greift Weber voraus, wenn er beschreibt, dass erst der Protestantismus diese Flut an Feiertagen aufhob, dem Fleiß ein erdrückendes Übergewicht per annum verlieh.
Von Natur aus, von der conditio humana her faul, geriet dieser Makel für mich zur seelischen Belastung. Ich vermied Anstrengung schon immer gerne. Wenn ich etwas tue, möchte ich es effektiv und kraftsparend erledigen, wenig schwitzen, wenig Zeit dafür aufwenden. Das ist mein Faulheitsanspruch. Jedenfalls bei Dingen, die mich nicht erfreuen. Ich wusste von meiner Faulheit, seitdem ich Kind war, seitdem ich nur an Montagen arbeiten wollte. Und dann kriminalisierten sie die Faulheit einer Gesellschaftsschicht, zu der ich plötzlich gehörte. Hatten sie etwa recht? Bin ich Hartz IV-Bezieher geworden, weil ich immer schon den Impuls zur Faulheit in mir trug? Ist meine Situation eigenes Verschulden? Bin ich zu lahm, zu bequem? Aber als ich Arbeit hatte, war ich ja gar nicht faul in deren Sinne. Entkräftete das deren These? War der Rückzug mit einem Buch in der Hand, was sie faul nennen und ich Bildung, nicht Attribut des Großenganzen meiner sozialen Stellung gewesen? Wer gerne faul ist, das Scheuen von Mühen nicht leugnet, sondern offen zugibt, landet der nicht folgerichtig im Hartz-Vollzug? Oder kriminalisiert man da eine Haltung, die völlig normal ist, die in jedem schlummert? Vulgärpsychoanalytisch gefragt: Ist die Pathologisierung der Faulheit, der man Arbeitslosen aussetzt, nicht der unbewusste Trieb der Werktätigen - und der, die glauben, tätig zu sein -, ihre im Inneren verborgene Faulheit auf Dritte abzuwälzen? Ist es etwa wie beim Penisneid - nur ohne Penis?
Es gab andere Faktoren, als meine innere Faulheit. Die sind aber hier und heute nicht wichtig. Gleichwohl ich das damals wusste, ließ die Demagogie mit der Faulheit mich leiden. Und wenn dann Stimmen zu vernehmen waren, dass sich Arbeitslose, speziell natürlich Langzeitarbeitslose, zu beweisen hätten, dann war ich nicht etwa erleichtert, weil ich das als gegebene Chance ansah, sondern ich wurde bockig. Sich beweisen meinte da Dinge wie Praktika, kostenfrei Arbeitskraft anbieten, von Geschäft zu Geschäft wandern, Pappschild um den Hals, ein Bewerberprofil mit sämtlichen Kontaktdaten im Datensatz des Jobcenters hinterlassen - das übliche Repertoire eines Sozialstaates, der auf Workfare setzt. Die in mir erkannte Faulheit, die nun plötzlich eine Charakterlosigkeit meinerseits, vielleicht sogar eine kriminelle Handlung an der Gesellschaft sein sollte, trieb mich nicht zu solchen Maßnahmen, sondern vertrieb mich von jeglichen guten Willen. Glauben die Initiatoren der Faulheitsstigmata denn, sie würden damit Menschen animieren, sich zu beweisen? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall.
Also bewarb ich mich auf traditionelle Art, Bewerbungsschreiben ohne Floskeln des Überschwangs und Einleitungen wie "Sie suchen einen hervorragenden Mann und so weiter und so weiter - Sie haben in mir den richtigen Mitarbeiter gefunden!" Ich blieb formal, trocken, freundlich und korrekt zwar, aber ohne Ambitionen auf Bewerbungsprostitution. Wer jemals eine dieser Bewerbungen gelesen hat, der musste fast automatisch denken, das sei eine Alibibewerbung und endlich schlussfolgern: Faules Schwein.
Also doch faul? Also doch in dieser Misere, weil ich faul war? Meine Bewerbungsschreiben konnten als Beleg dafür missbraucht werden. Was war zuerst da, das faule Ei oder die Henne? Wer hätte mir abgenommen, dass diese unbeseelten Bewerbungen nur Folge waren, nicht aber Beleg? Ist die augenscheinliche Faulheit, die man unbedingt und händeringend bei Menschen sucht und findet, die keiner Arbeit nachgehen können oder dürfen, nicht auch als Folge dieser faulen Kampagne zu sehen? Löst die Angst davor, als faul gekennzeichnet zu werden, nicht Phlegma aus? Eine schwerfällige Lethargie, die man mit böser Absicht und bar von Empathie mit Faulheit verwechseln könnte?
Es ist perfide, was man mit der Dogmatik des Stigmatisierens durch das Nachsagen von Faulheit anrichtet. Man macht nicht nur einen menschlichen Wesenszug zu einem Makel des Charakters oder gar zu einem Anschlag auf gesellschaftliche Werte, sondern man bugsiert betroffene Arbeitslose in ein Dilemma zwischen ihrer völlig normalen menschlichen Regung (besser: Regungslosigkeit) und einer Erwartungshaltung, die jeder Menschlichkeit spottet. Jeder Erwerbstätige kann sich seiner gelegentlichen Faulheit brüsten - ein Arbeitsloser niemals. Jeder Anflug theoretisch denkbarer Faulheit löst den sozialen Ausschluss aus, bringt dumme Sprüche mit sich. Und selbst wenn die nicht kommen, ist die Vorstellung, dass diese Sprüche kommen könnten, schon schlimm genug. Die unterstellte Faulheit, die natürlich in einem gewissen Ausmaß deckungsgleich ist mit jedem Menschen, ist ein soziales Gefängnis, ein Ausgrenzungsmechanismus und ein Stressor.
Richtigstellung zum Ende: Diese Zeilen bestätigen nicht, dass Arbeitslose faul sind. Sie beschreiben nur den Umgang mit einer Faulheit, die in jedem von uns mehr oder minder verkappt ist. Manche Faulheit, die man leicht und locker unterstellt, ist bei genauem Hinsehen nicht weniger als soziale Lähmung. Andere gibt es, die sind faul auch am Arbeitsplatz. Was sagt der soziale Status also über Fleiß oder Nicht-Fleiß aus? Arbeitslose sind nicht fauler oder fleißiger als andere - sie haben nur das Problem, dass man ihre per Humanitas eingespeicherte Faulheit viel genauer beobachtet und prüft. Bei Erwerbstätigen überwacht nur der Arbeitgeber - bei Arbeitslosen tut dies eine ganze Gesellschaft.
Für mich war die mir unterstellte Faulheit eine schwere psychische Situation. Mir wurde sie nicht mal direkt nachgesagt, wahrscheinlich nur hinter dem Rücken. Aber medial zum faulen Sack verzerrt zu werden, ständig darüber zu lesen, wie ich in meiner Faulheit Betrugsideen entwerfen würde, wie ich mich vor Arbeit drückte und ganztägig auf dem Sofa verweste, das nahm ich persönlich. Vielleicht zu persönlich.
Möglicherweise auch, weil ich natürlich immer wusste, dass Fleiß nicht mein persönliches Alleinstellungsmerkmal war und ist. Ich bekenne mich durchaus zur Faulheit. Wie so viele andere auch. Wie all jene, die einen Arbeitsplatz hatten und von der Bummelei im kühlen Schatten oder wahlweise unter warmen Bettdecken träumten. Nur die durften ja ihre Faulheit verbal zur Schau tragen, am Arbeitsplatz untereinander ihren Faulheitsphantasmagorien nachhängen. Ich nicht. Ohne Arbeitsplatz gibt es keinen Anspruch darauf, die persönliche Faulheit zu verkündigen. Für die einen ist die Faulheit der verdiente Lohn; für Hartz IV-Bezieher ist es ein unterstellter ekelhafter Charakterzug, der sittliche Untergang des Abendlandes.
Anekdote: Als ich etwa zehn Jahre alt war, plante ich nach meiner Schule, in einer ganz speziellen Werkstatt mit meiner Ausbildung anzufangen. Ich hatte keine Ahnung, was dort gemacht wird, welche Berufe sie ausbilden oder ob sie überhaupt ausbilden. Mehr als dass es sich um eine Werkstatt handelte, um eine Werkstatthalle um genauer zu sein, wusste ich nicht. Bis heute weiß ich nicht mehr darüber. Was mir imponierte war ein Schild, das an der Fassade angebracht war. Auf dem stand Nur Montage. Und ich stellte es mir großartig vor, nur montags am Ausbildungsplatz erscheinen zu müssen. Mein Vater erstickte meine Absichten in Ernüchterung. Woher hätte ich wissen sollen, dass nicht Montage sondern "die Montage" gemeint war - das Montieren also und keine Ein-Tage-Woche.
Die menschliche Faulheit ist kein Makel. Sie durchbricht bereits in archaischen Texten und späteren Erzählungen die Sphäre des Fleißes. Das Paradies, dieser Urzustand, den der Mensch verlassen musste, wird als Hort des Müßiggangs, als anstrengungsloser Topos beschrieben. Das Schlaraffenland begegnet uns bereits in der griechischen Antike, später im Mittelalter und in der Renaissance. Gebratenes Geflügel, das schlicht in offene Münder stürzt, sind das wiederkehrende Motiv menschlicher Sehnsucht, eine historische Konstante. Die Faulheit ist heute geächtet, sie gilt als Ausdruck menschlicher Schlechtigkeit, als Gegenteil von Fortschritt. Dabei ist es ausgerechnet die Faulheit, die Arbeitsschritte effektiver gestaltet, die Anstrengungen tilgt und Fertigungsprozesse von Schweißperlen befreit. Es wäre vermessen zu behaupten, dass die Industrialisierung und die darin enthaltenen Rationalisierungen, der Taylorismus insbesondere, auf Grundlage der menschlichen Faulheit entstanden sind. Aber Arbeitende selbst erleichtern sich den Werktag ja durchaus, treiben den Impuls der Faulheit vor sich her, um etwaige Arbeitsschritte zu simplifizieren oder gar zu vermeiden.
Dass Faulheit zur Humanitas gehört, war mir immer bewusst. Später sollte ich darüber ein Essay schreiben, mich auf Lafargue stützen, diesen, meinen heimlichen Helden der Faulheit. Auch wenn er Faulheit natürlich nicht als Hängematte beschreibt, sondern mit modernen Worten gesagt: als Entschleunigung. Und zur Erklärung, ich definiere Faulheit auch nicht mit Rumhängen, sondern damit, nicht zwanghaft produktiv sein zu müssen.
Der berufstätige Mensch, so bemerkte ich, als ich noch Bescheide im Postkasten fürchtete, weiß genau wie ich, dass Faulheit etwas ist, das in ihm ist. Weil er aber wenig Zeit findet, seine Faulheit auszutoben, hat er vermutlich einen verbal lockereren Umgang mit ihr. Aber diejenigen, die theoretisch Zeit dazu hätten, die werden auf instruierte Gewissensbisse zurückgeworfen. Überdies, wenn die Medien zielgerichtet von der Faulheit eines ganzen Standes berichten und man diesem Stand zugehört.
Gewissen. Mit dem hat man zu tun, wenn man so in den Zeitungen liest, was für ein Kerl man eigentlich ist. Man liest von Faulpelzen mit Regelsatz. Dann Zwiesprache mit dem Gewissen. Bin ich auch einer? Haben die vielleicht doch recht? Das Gewissen. Selbst beim Füttern meiner Katze. Arm sein und Haustier haben. Unverantwortlich! Oder nicht? Vormittags in der Bücherei. Dreist! Die anderen arbeiten. Gewissen, eine Scheißsache ist das. Noch dazu, wenn es sich so unnütz meldet, wenn es laut wird, wo es ruhig leise sein dürfte, wenn es ertönt, weil man es stichelt.
Hat man den modernen Menschen, der durch die Schule der Industrialisierung und der Arbeitsteilung gegangen ist, schon vor langer Zeit von der in ihm ruhenden Faulheit entfremdet, ihn moralisch zu ihr abgeschottet und ihm erklärt, dass Faulheit immer schon verwerflich war, so ist der moderne Massenmensch ohne ökonomische Teilhabe, der mit seinen moralischen Richtern täglich bei der Zeitungslektüre zu tun hat, noch eklatanter in diese Zerrissenheit geworfen. Denn derjenige, der ökonomisch nicht teilnimmt, der also arbeitslos ist, der trägt die Charakterlosigkeit der Faulheit nicht mehr nur in sich, er wird jetzt zur fleischgewordenen Faulheit, wird zum Makel in corpore, zur Faulheit auf zwei Beinen, die allerdings wiederum nur hochgelegt werden.
Bevor gleich die Historiker auftauchen und sagen, dass die Faulheit auch schon vor dem industriellen Zeitalter etwas war, was nicht geliebt wurde, eine Klarstellung: Ja, das stimmt. Gleichwohl, und Lafargue weist auch darauf hin, gab es im Jahresablauf der Kirche, und die regelte den ganzen Zirkus ja mehr oder minder, eine Unmenge an Feier- und Ruhetagen. Fleiß war etwas für den Werktag, dort war die Faulheit eingeschränkt. An Ruhetagen war sie jedoch die Herrin. Und überhaupt gestalteten sich Jahresabläufe für Menschen, die noch an die Natur und an die Witterung gebunden waren, in einem anderen Takt. Im Winter schmachtete man in der Hütte, war gezwungenermaßen faul. Lafargue greift Weber voraus, wenn er beschreibt, dass erst der Protestantismus diese Flut an Feiertagen aufhob, dem Fleiß ein erdrückendes Übergewicht per annum verlieh.
Von Natur aus, von der conditio humana her faul, geriet dieser Makel für mich zur seelischen Belastung. Ich vermied Anstrengung schon immer gerne. Wenn ich etwas tue, möchte ich es effektiv und kraftsparend erledigen, wenig schwitzen, wenig Zeit dafür aufwenden. Das ist mein Faulheitsanspruch. Jedenfalls bei Dingen, die mich nicht erfreuen. Ich wusste von meiner Faulheit, seitdem ich Kind war, seitdem ich nur an Montagen arbeiten wollte. Und dann kriminalisierten sie die Faulheit einer Gesellschaftsschicht, zu der ich plötzlich gehörte. Hatten sie etwa recht? Bin ich Hartz IV-Bezieher geworden, weil ich immer schon den Impuls zur Faulheit in mir trug? Ist meine Situation eigenes Verschulden? Bin ich zu lahm, zu bequem? Aber als ich Arbeit hatte, war ich ja gar nicht faul in deren Sinne. Entkräftete das deren These? War der Rückzug mit einem Buch in der Hand, was sie faul nennen und ich Bildung, nicht Attribut des Großenganzen meiner sozialen Stellung gewesen? Wer gerne faul ist, das Scheuen von Mühen nicht leugnet, sondern offen zugibt, landet der nicht folgerichtig im Hartz-Vollzug? Oder kriminalisiert man da eine Haltung, die völlig normal ist, die in jedem schlummert? Vulgärpsychoanalytisch gefragt: Ist die Pathologisierung der Faulheit, der man Arbeitslosen aussetzt, nicht der unbewusste Trieb der Werktätigen - und der, die glauben, tätig zu sein -, ihre im Inneren verborgene Faulheit auf Dritte abzuwälzen? Ist es etwa wie beim Penisneid - nur ohne Penis?
Es gab andere Faktoren, als meine innere Faulheit. Die sind aber hier und heute nicht wichtig. Gleichwohl ich das damals wusste, ließ die Demagogie mit der Faulheit mich leiden. Und wenn dann Stimmen zu vernehmen waren, dass sich Arbeitslose, speziell natürlich Langzeitarbeitslose, zu beweisen hätten, dann war ich nicht etwa erleichtert, weil ich das als gegebene Chance ansah, sondern ich wurde bockig. Sich beweisen meinte da Dinge wie Praktika, kostenfrei Arbeitskraft anbieten, von Geschäft zu Geschäft wandern, Pappschild um den Hals, ein Bewerberprofil mit sämtlichen Kontaktdaten im Datensatz des Jobcenters hinterlassen - das übliche Repertoire eines Sozialstaates, der auf Workfare setzt. Die in mir erkannte Faulheit, die nun plötzlich eine Charakterlosigkeit meinerseits, vielleicht sogar eine kriminelle Handlung an der Gesellschaft sein sollte, trieb mich nicht zu solchen Maßnahmen, sondern vertrieb mich von jeglichen guten Willen. Glauben die Initiatoren der Faulheitsstigmata denn, sie würden damit Menschen animieren, sich zu beweisen? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall.
Also bewarb ich mich auf traditionelle Art, Bewerbungsschreiben ohne Floskeln des Überschwangs und Einleitungen wie "Sie suchen einen hervorragenden Mann und so weiter und so weiter - Sie haben in mir den richtigen Mitarbeiter gefunden!" Ich blieb formal, trocken, freundlich und korrekt zwar, aber ohne Ambitionen auf Bewerbungsprostitution. Wer jemals eine dieser Bewerbungen gelesen hat, der musste fast automatisch denken, das sei eine Alibibewerbung und endlich schlussfolgern: Faules Schwein.
Also doch faul? Also doch in dieser Misere, weil ich faul war? Meine Bewerbungsschreiben konnten als Beleg dafür missbraucht werden. Was war zuerst da, das faule Ei oder die Henne? Wer hätte mir abgenommen, dass diese unbeseelten Bewerbungen nur Folge waren, nicht aber Beleg? Ist die augenscheinliche Faulheit, die man unbedingt und händeringend bei Menschen sucht und findet, die keiner Arbeit nachgehen können oder dürfen, nicht auch als Folge dieser faulen Kampagne zu sehen? Löst die Angst davor, als faul gekennzeichnet zu werden, nicht Phlegma aus? Eine schwerfällige Lethargie, die man mit böser Absicht und bar von Empathie mit Faulheit verwechseln könnte?
Es ist perfide, was man mit der Dogmatik des Stigmatisierens durch das Nachsagen von Faulheit anrichtet. Man macht nicht nur einen menschlichen Wesenszug zu einem Makel des Charakters oder gar zu einem Anschlag auf gesellschaftliche Werte, sondern man bugsiert betroffene Arbeitslose in ein Dilemma zwischen ihrer völlig normalen menschlichen Regung (besser: Regungslosigkeit) und einer Erwartungshaltung, die jeder Menschlichkeit spottet. Jeder Erwerbstätige kann sich seiner gelegentlichen Faulheit brüsten - ein Arbeitsloser niemals. Jeder Anflug theoretisch denkbarer Faulheit löst den sozialen Ausschluss aus, bringt dumme Sprüche mit sich. Und selbst wenn die nicht kommen, ist die Vorstellung, dass diese Sprüche kommen könnten, schon schlimm genug. Die unterstellte Faulheit, die natürlich in einem gewissen Ausmaß deckungsgleich ist mit jedem Menschen, ist ein soziales Gefängnis, ein Ausgrenzungsmechanismus und ein Stressor.
Richtigstellung zum Ende: Diese Zeilen bestätigen nicht, dass Arbeitslose faul sind. Sie beschreiben nur den Umgang mit einer Faulheit, die in jedem von uns mehr oder minder verkappt ist. Manche Faulheit, die man leicht und locker unterstellt, ist bei genauem Hinsehen nicht weniger als soziale Lähmung. Andere gibt es, die sind faul auch am Arbeitsplatz. Was sagt der soziale Status also über Fleiß oder Nicht-Fleiß aus? Arbeitslose sind nicht fauler oder fleißiger als andere - sie haben nur das Problem, dass man ihre per Humanitas eingespeicherte Faulheit viel genauer beobachtet und prüft. Bei Erwerbstätigen überwacht nur der Arbeitgeber - bei Arbeitslosen tut dies eine ganze Gesellschaft.
25 Kommentare:
Ein feiner und humorvoller Artikel, der meinen Tag wie ein freundliches Lächeln eröffnete.
Durch die Faulheit hat der Mensch u.a. die Schrift, den Buchdruck, die Maschinen und die Computer erfunden....
Nach Art. 24 Abs. 1 der Landesverfassung NRW hat jeder ein Recht auf Arbeit.
Wieso gibt es keinen entsprechenden Artikel für die Faulheit ?
Das einzig brauchbare Wissen aus meinem Lehramtsstudium faßt ein einziger Satz eines Pädagogik-Dozenten zusammen:
Zitat:"Ordnung und Fleiß sind die Engel mit Flammenschwertern, die uns aus dem Paradies vertrieben haben!"
Der gleiche Dozent warnte uns übrigens auch davor, aus Kindern "kognitive Stopfgänse" machen zu wollen!
Sehr guter Artikel, lieber Roberto!
A bientôt
Christine Reichelt
Wenn ich etwas tue, möchte ich es effektiv und kraftsparend erledigen, [...]
Da erkenne ich mich doch glatt wieder. Auch ich versuche immer, verschiedene Arbeiten (oder "Arbeiten") miteinander zu verknüpfen, sofern die eine Arbeit nicht meine volle Aufmerksamkeit benötigt.
Fahre ich z.B. Freunde oder Bekannte besuchen, überlege ich, ob ich auf dem Weg noch etwas anderes erledigen kann. Besuche ich meine Mutter, denke ich darüber nach, ob ich Tierfutter oder Streu aus der Tierhandlung für meinen Chinchilla brauche. Denn diese liegt auf dem Weg zu meiner Mutter.
Auch kurze Wege (ergo: wenig Arbeit) optimiere ich unter diesen Gesichtspunkten. Schaffe ich den Müll runter, schaue ich nach, ob ich noch etwas in den Keller zu bringen habe. Denn ich habe ja auch zwei Hände.
Auch sonst versuche ich, mehrere Dinge parallel zu tun. Koche ich Mittagessen, welches ich regelmäßig umrühren muss, dann wasche ich nebenbei ein paar Dinge ab. So muss ich nicht jedes Mal die andere Beschäftigung unterbrechen und zum Umrühren in die Küche gehen. Ich wasche ein Teil ab, drehe mich um und rühre.
Bislang war ich ja der Meinung, dass dies die Folge meines ökonomischen Denkens ist, welches sich inzwischen auch in meinem konkreten Handeln niedergeschlagen hat. Doch nun weiß ich, dass ich schlichtweg nur faul bin.
Niemand, auch ich nicht, hätte etwas davon, wenn ich für dieselben Tätigkeiten nun die doppelte Zeit benötige, weil ich alles einzeln und nacheinander mache. Stattdessen habe ich sogar gedacht, dass effektives Handeln etwas Gutes und Sinnvolles sei. So kann man sich irren.
@ Hartmut NRWVerfassung
Was nützt das Verfasungsrecht, wenn es gar nicht umgesetzt wird - siehe Recht auf Arbeit.
Ich sehe da eher den zwar langwierigen, aber lohnenswerten Weg, die Gewerkschaften davon zu überzeugen , dass die 30Stundenwoche das Gebot der Stunde ist, in den gesellschaftlichen Diskurs gebracht werden muss - wie schon einmal die 35Stundenwoche. Das würde dazu führen, dass alle HatzIVer das bekämen, wonach sie sich eigentlich sehnen: sinnvolle Tätigkeit. Und es könnte auch das Bewusstsein aller ändern, was Ruhe, Muße und Faulheit angeht. Denn wer bei gutem Verdienst, und das ist möglich, wenn der übermäßige Profit der Kapitalisten reduziert wird, genügend Zeit hat, seinem Leben einen Sinn zu geben, kann dann auch eher nachvollziehen, wie schwierig das sowieso ist.
MEINT ANMERKER
Ich fühle mich durch diesen Artikel in meiner Ansicht bestärkt, dass die Menschen, die am heftigsten über "die faulen Hartzies" schimpfen, selbst nur von einem Wunsch beseelt sind: ebenfalls "faul" sein zu dürfen. Da ist in solchen Ansichten auch eine gehörige Portion Neid enthalten, was die Nochbesitzer eines Arbeitsplatzes aber nicht zugeben.
Der Deutsche an sich soll ja fleißig und strebsam sein. Die Zahl der psychischen Erkrankungen in Folge von Arbeit spricht da eine andere Sprache.
Übrigens, solche Bewerbungen schreibe ich auch gerade... ;-)
Wundervoller Text, der mir aus der Seele spricht!
In meiner frühen Jugend dachte ich übrigens, wenn ich arbeiten müsse, dann sicherlich nur noch 25-30h/Woche.
Wegen des technischen Fortschritts, und so.
Ja, so unschuldig/naiv war ich früher!
Ein mit Gewinn zu lesender Artikel!
Ich liebe die Faulheit auch, ich kultiviere sie gar. Nichts mache ich lieber, als faul zu sein. Minutiös gestalte ich sie.
Ich beneide die Tiere, Katzen, Löwen, Kühe wie man sie kennt, die faul in der Sonne liegen, nachdem sie etwas gefressen haben. Den ganzen Tag auch. Was für ein Leben! Frei von einem gesellschaftlichen Triebfeuer, das einem ein Gewissen in den Kopf gebrannt hat, dessen man sich nur schwerlich entledigen kann.
Aber man muß auch beachten, die Faulheit gewährt Gedanken Raum, die einem sonst nicht so kommen. Und das sind nicht nur schöne Gedanken. Die Existenz kann in die Fragestellung kommen, grundlegende Eigenarten unserer Humanoidität erreichen das fragende Bewußtsein, Tod und Endlichkeit, unser Platz in der Natur, vergängliches Glück, man selbst und die anderen, usw., alles Fragen, die keine definitive Antwort finden und denen man ausgetzt ist in der Faulheit. Das beschleunigte Leben rauscht an diesen leise schlummernden Bodenfacetten unversehens vorbei und eilt von einem zum nächsten Seienden, die alle schon den Ratschlag enthalten, um so rascher zum nächst weiteren zu eilen.
Der Winter älterer Zeit, du sagst es, er war für die ländliche Bevölkerung ein ruhiger Zeitraum, das eine und das andere war wohl zu erledigen, aber Tage verstrichen im Rasten, im gemächlichen Reparieren oder gar im nachbarschaftlichen Suff. Warum denn auch nicht? Der Sommer war bewältigt worden, zum Leben ausreichend viel eingefahren worden, gestorben war auch niemand, da ließ man es auch einmal ruhiger angehen und war faul. Man denke an das Hochmittelalter. Eine Zeit der wirtschaftlichen Blüte, Arbeitszeiten um die 25 Stunden, zu den Lebenserhaltungskosten hohe Löhne, geringe Lehensabgaben oder gute Ernten, ein blühendes Handwerk, eine intakte Umwelt. Und eine langsam vergehende Zeit. Zweifellos mitten im Mittelalter, aber im Verhältnis nicht schlecht.
Heute ist der Winter nicht anders als der Sommer. Es ist egal, welche Jahreszeit herrscht. In der Tat ist es eine verbreitete Erfahrung von Faulen, die Jahreszeiten plötzlich wahrzunehmen. En detail aber und nicht bloß als Wetterbericht. Aber was sollte der beschleunigte Mensch mit einer solchen Wahrnehmung in seinem Kopfe tun? Wahrlich fehlt ihm jede Potentialität, die sich an dieser Erfahrung entfalten könnte. Sie ist ihm nichts weiter als eine Notiz, nicht anders als jene, für den nächsten Tag, ein Stück Brot zu kaufen. Gar Einblick in die Wirklichkeit am Wahrnehmen von Landschaften zu gewinnen? Die Ferne zu jedem Sinn einer solchen Idee ist bei weitem unermeßlich.
Mancher Marxist kennt die Unterscheidung von Arbeitszeit, Reproduktionszeit, Freizeit und freier Zeit. In letzterer wird es Platz geben müssen für die Faulheit.
Vorerst muß die Faulheit also Objekt von Neid und Zorn bleiben. Die Versagung, die das Nichtleben der Faulheit bringt, braucht einen Ersatz. Neid und Zorn wird jenen entgegen gebracht, die durch den Faulheitsvollzug daran erinnern, dass man den Faulheitstrieb in sich hat, ihn aber abgewürgt hat vor dem Geschützturm kapitalistischer Geschäftigkeit. Ein schmerzvoller Widerspruch.
Vermutlich wurde die Faulheit auch z.B. bei Fromm unterbewertet. Produktiv leben, welches er natürlich nicht als konform mit der kapitalistischen Produktivität meinte, produktiv leben ist zweifellos etwas, das man nicht verneinen will und jeder wird dessen Vollzug zu schätzen wissen. Aber die Faulheit ist Teil unserer animalischen Abkunft: das Tier in uns ist nicht nur wild, blutrünstig und pervers, nein es ist ja auch so wahnsinnig faul. Die Faulheit ist ein vernunftaffiner Trieb: er zerstört nicht, er läßt Ruhe walten, ja gar Ruhe für das Denken der Vernunft, für ihre Erneuerung und ihre Reflexion. Und bestimmt ist Faulheit ein Weg unter anderen, mystisch zu werden. Er läßt den anderen sein, man kann leicht zusammen faul sein. Zweifellos kann sie uns verführen, anderen aus Faulheit nicht zu helfen oder sie zu vernachlässigen. Das mag schon sein. Aber niemand sagt, man solle sich ihr ganz und dauerhaft hingeben. Nach jeder Faulheit kommt wieder die Aufwallung zum Vollzug einer Handlung ganz von alleine.
So wollen wir hoffen, dass jene, die ihren Faulheitstrieb abgewürgt haben und seine unbewußte Energie in einer Verschiebung bewältigen, den Mut finden, andere zu werden, als sie sind und sich zu jenen gesellen können, die faul sind.
Hallo Hartmut!
Da ich mich mit der Lebengeschichte von Konrad Zuse, dem Erfinder des Computers, näher beschäftigt habe, kann ich sagen: Nein, der Computer wurde ganz sicher nicht durch Faulheit erfunden.
Auch jede Erfindung zur Vereinfachung verschafft damit nicht den Freiraum, generell weniger zu tun, sondern "nur" die Kapazitäten, sich der nächsthöheren Problemklasse zuzuwenden, die sich auftut, sobald man eine Problemklasse gelöst hat.
Roberto, immer wenn Du "effektiv" schreibst, meinst Du "effizient". Du meinst nicht, dass die Arbeit mit noch größerer Auswirkung ("effektiver") erledigt werden soll, sondern auf vereinfachte Weise zur gleichen Wirkung zu kommen ("effizienter").
Ich fülle eben eine Bildungslücke, lese in Mitscherlichs "Vaterloser Gesellschaft". Dort stehen verblüffend aktuelle Diagnosen, z. B., daß dem Angestellten das beruhigte Eigentümergefühl des Bauern oder Handwerkers fehlt und er es durch Statusbewußtsein und Positionssicherheit ersetzen muß. Wenn das nicht gelinge, bleibe eine nagende Frustration, welche die schon vorausliegende der anonym-spurlosen Bruchstückarbeiterei verdoppelt.
Das gelingt doch heute, in der Gesellschaft der McJobs und der entwicklungsfreien Flexibilität ("man lernt täglich Neues, ohne sich zu verbessern"), immer weniger. Also kein Wunder, daß die Frustration dringlicher fühlbar wird. Ein Ventil dann: Herabsetzung anderer, Projektion der eigenen abgelehnten Gefühle und Eigenheiten auf Böcke, die samt Sünde weggejagt werden können. Wenn plötzlich Mitscherlichs Diagnosen vom Anfang der 60er Jahre (zu schweigen von Marx' Diagnosen aus dem 19. Jh.) so zeitgemäß wirken, spricht das vielleicht für deren Lebendigkeit, sehr viel wahrscheinlicher aber dafür, daß wir ein Zeitalter des Rückschritts durchleben.
Und Rentnern will man das Faulsein auch noch verderben. Da gibt es Berichte, wo welche klagen, dass sie nicht damit zurecht kämen, dass sie niemand mehr bräuchte. Das Ehrenamt soll helfen. Da sehe ich eine alte Dame, die alte LVZs archiviert. Hauptsache ich werde noch gebraucht, korrespondiert mit dem Satz: Hauptsache Arbeit. Was bin ich froh, dass ich nicht mehr gebraucht werden, mich nicht mehr in einen fremdbestimmten Tagesablauf quetschen muss. Endlich bin ich frei und kann mir den Tag so einrichten, wie ich will. Das schließt auch ein, erst morgens so gegen 9 Uhr aufzustehen, lange Zeitung (JW) zu lesen, gemütlich einen Kaffee trinken. Endlich frei! Ich lass mir kein schlechtes Gewissen einreden. Ich will niemanden den Broterwerb mit einem Ehrenamt wegnehmen. Ich bin das Flaschenteufelchen ... Ich bin kein Hamster im Rad gefangen, ich nehme mir ein Beispiel an der Tierwelt, deren Vertreter auch nicht "arbeiten" um der Arbeit willen.
PS: Das dass manche wegen Mangels an Geld nicht können, weiß ich.
Hast du denn wirklich mal die Erfahrung gemacht, dass dich Leute faul nannten?
Übergangsphasen zur Neuorientierung sind garantiert nichts, woran jemand grundsätzlich Anstoss nehmen würde.
Bei dir klingt es immer nach extremer Abhängigkeit von dem, was andere Leute denken könnten. Als wüssten nicht viele Leute aus ihrem Umfeld Beispiele der Differenzierung. Als würden alle nur ein perfekt "vorschriftsmäßiges" Leben führen. Das ist doch gar nicht der Fall.
Man liest in deinen Texten dazu immer nur, was du vermutest, was die Leute denken könnten. Immer nur Vermutungen, was in den Köpfen anderer Leute vorgehen könnte, ohne dass es sich in deiner Beschreibung einmal real zeigt.
Was, wenn viele Leute gar nicht so einseitig denken, wie du es ableitest von den gewissen Medien, die letztlich doch nur einen Bruchteil der Menschen erreichen (die BILD-Zeitung nur jeden Sechzehnten)?
...hast Recht...ich arbeite auch lieber mit nem "Faulen" als mit nem "Dummen"....der "Faule" denkt immer nach, wie er die Arbeit leichter machen kann...dem "Dummen" muss ich immer alles erklären und nacharbeiten....
Achso, ich vermute - aber wenn Du vermutest, dass die Leute so gar nicht denken, dann vermutest Du nicht.
@ anonym 11:51 Uhr: Ich meine, was ich meine.
(Wieder einmal) kluge Worte aus der Hängematte, Roberto! ;-)
Nee, aber ernsthaft: diese protestantische Arbeitsethik ist für Heuchler, Hetzer und Demagogen doch unverzichtbar. Ohne dieselbe würden wohl die Wahlergebnisse konservativer Parteien ebenso in den Keller gehen wie die Auflagen von SpringerBertelsmann&Konsorten.
Schreibe diese Zeilen nebenher an meinem Arbeitsplatz. Nach ca. 15 Jahren Hetze, Druck und Verarsche seitens AA/Arge/Jobcenter und Arbeitgeber habe ich mir für die letzten Jahre vor der Rente das verordnet, was ich mal bei der Bundeswehr zwangsläufig lernte: täuschen, tarnen und verpissen.
Möge die kreative Faulheit weiterhin mit uns "Volksschädlingen" sein! ;-)
Lieber Eric,
ich freue mich, dass ich während Deines Camouflage von Dir gelesen werde und wünsche Dir allzeit gute Täuschung.
http://www.youtube.com/watch?v=AhtFr6P1LGs
Georg Kreisler - Wenn alle das täten
@anonym 16:31
Danke für das Link - ein fantastischer Text !
@anonym 11:51
Ich meinte nicht, der Computer wurde durch Faulheit erfunden, sondern im Hinblick darauf, dem Bedürfnis nach Faulheit besser nachzukommenen.
Anerkannt, als Fleiß, wird auch nur Arbeit die sichtbar ist.
Ein Mensch der seit 10 Jahren vom Staat lebt, aber in diesen Jahren zB jeden Tag 8 Stunden meditiert, hat vielleicht die härteste mögliche Arbeit getan. Die Arbeit am Selbst.
Ich war schon immer faul, habe unnötige Arbeit gehasst und deswegen effektiv gearbeitet.
Lob und Anerkennung waren die Folge. Dann hat man meine Effektivität der Vermeidung unnützer Arbeit ausgebeutet. Das führte zu noch mehr Effektivität meinerseits. Kein Schritt zurück bitte, immer nur vorwärts. Du kannst aus dir noch mehr rausholen, wenn du nur willst. Habe ich getan, immer effektiv. Dann konnte ich nicht mehr. Zusammenbruch. Burn Out. Egal. Ich bin raus und der nächste kommt. Ausschuss! Hartz IV!
Und die Bundesagentur für Arbeit schaut zu | altonabloggt
Sehr geehrte Bundesagentur für Arbeit
Wie viele Tote, Geschädigte und geschändete Hartz IV-Bezieher wollen Sie noch auf Ihr Konto laden? Wie viele Dauerkranke, frustrierte und von subtiler Gehirnwäsche geprägte Mitarbeiter wollen Sie in Ihrem Konstrukt Jobcentermaschine durchschleusen?
Fragen, die mich als Jobcenter-Mitarbeiterin bewegen.
Quelle:
http://altonabloggt.wordpress.com/2013/02/19/und-die-bundesagentur-fur-arbeit-schaut-zu/
Meine Eltern pflegten damals meine schlechten schulischen Leistungen mit dem Satz " Der Junge ist nicht dumm, der ist nur faul!" nachfragenden Mitmenschen zu erklären. In einer Betonung mahnender Hoffnung und dem Sanktionen drohenden Zeigefinger in meine Richtung. Tja... hat nix genützt.
Irgendwann las ich Hesse`s "Kunst des Müßiggangs" und wurde in meinem (nicht)Tun bestätigt.
Übrigens: In Bremen gibt es neben der Faulenstraße, einen nach ihnen benannten Brunnen und sogar das "Haus der sieben Faulen".
http://www.bremen-freizeit.de/bremen/stadt/anekdoten/cnd102-sieben-faulen.php
Falls mich jemand als faul bezeichnet oder gar beschimpft, lächle ich ihn an und verweise gerne auf diese historische Anekdote.
Zum Thema Bewerbung schreiben auf mir sinnlos oder ausbeuterisch erscheinende Stellen, die mir vom JC "angeboten" (inkl. Sanktionsdrohung bei nicht befolgen), stelle ich gerne meinen Standarttext zur Verfügung:
Sehr geehrte/r...,
das Jobcenter hat durch eine Profilanalyse zu meiner Person herausgefunden, dass ich geeignet sein soll, mich um die von ihnen ausgeschriebene Stelle als .... zu bewerben.
Mit freundlichen Grüßen
...
Meistens blieben Reaktionen aus. Aber einmal habe ich damit sogar die Stelle bekommen. Als Inventurzähler auf Midi-Job Basis. Aber das ist ne andere lustige Geschichte...
Bei meiner recht schicksalhaften Suche nach meiner Berufung halte ich es gerne wie Vaclav Havel zum Thema Hoffnung. Er sagt:
"Hoffnung ist nicht die Überzeugung dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht."
Was bleibt ist die Erkenntnis, und da stimme ich mit dir lieber Roberto überein. Die Faulheit ist in jeder Kreatur vorhanden und soll gelebt und genossen werden, ganz nach jeweiligem Gusto.
Ein schönes Wochenende allen Beteilgten
Sehr gut beschrieben!
Ja, ja - Schon der "Müßiggang ist aller Laster Anfang" - wusste man bereits im 13. Jh.
Wundere mich, warum von unseren politischen Vordenkern nicht schon mit Cicero kamen.
Denn schon er "wußte":
"Faulheit ist die Furcht vor bevorstehender Arbeit".
Die Möglichkeit in der Faulheit das Rebellisch-Unproduktive oder kreatives Verlagern eigener Prioritäten ist in gewünschten Denschablonene natürlich nihct vorgesehen.
Danke Roberto, danke und nochmals danke. guter Artikel
Das Süddeutsche-Magazin hat letztens einen Interview mit Gerhart Polt geführt. Man muss den unbedingt für seine gediegene Leistungsverweigerung lieben.
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/36659
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