De dicto

Dienstag, 5. Februar 2013

"Deutsche Richter haben für vieles Verständnis:
Für Kinderschänder, die selbst angeblich eine schwere Kindheit hatten.
Oder für U-Bahn-Schläger, die im Vollrausch Menschen ins Koma geprügelt haben.
Rentner Heinz F. (85) aus Baden-Württemberg hoffte vergeblich auf Milde. Er muss 30 Monate ins Gefängnis.
Sein Verbrechen? Nach 58 Jahren Ehe tötete er seine schwer demenzkranke Ehefrau (84), weil sie ihn darum gebeten hatte.
[...]
Warum gibt es bei Gerichten volles Verständnis für Vollrausch – aber kein Verständnis für Liebe?"
- Christian Stenzel, BILD-Zeitung vom 1. Februar 2013 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Was man hier zu lesen vorgesetzt bekommt, ist der übliche Sermon des Konservatismus, wonach die Rechtssprechung in dieser dem Linksruck unterworfenen Demokratie zuweilen zu lasch sei. Er suggeriert, dass in diesem Land der nachsichtigen Richter der sexuelle Missbrauch an Kindern geduldet und schwere Körperverletzung entschuldigt würde - und findet nebenher, dass zweieinhalb Jahre Gefängnis eine sehr schwere Strafe für die Tötung eines Menschen sei, wenn man denn aus Zuneigung tötete. Die U-Bahn-Schläger, auf die Stenzel anspielt, hatten jedoch vor mehr als einem Jahr Haftstrafen zwischen vier und sechs Jahren erhalten - eine höheres Strafmaß als der Rentner, ohne je getötet zu haben. Verfolgt man die Berichte in den Medien, so stellt man Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren für Sexualstraftäter fest, die sich an Kindern oder Jugendlichen vergriffen haben. Tötet ein solcher Täter seine Opfer zudem, ist die Sicherheitsverwahrung nach lebenslänglicher Haftdauer der Regelfall. Auch hier kann sicherlich nicht von zu viel Rücksichtnahme gesprochen werden.

Natürlich spricht Stenzel da ein dumpfes Grollen innerhalb der bürgerlichen Sphäre an. Til Schweiger wollte Sexualstraftätern mal die Bürgerrechte entzogen sehen, Frau Guttenberg verschwisterte sich mit einem Leib- und Brüstesender, um durch Verführung zur Straftat Tätern habhaft zu werden - und um hernach die Rechtssprechung zu schelten, die diese Art von Beweisführung gerichtlich nicht verwenden wollte. Zwölf Jahre Haft für den sexuellen Missbrauch eines Kindes ist für diese Leute nicht genug. Zwischen lebenslänglicher Kerkerhaft und Todesstrafe liegen die Forderungen üblicherweise. Für diese Leute ist wie für Stenzel auch, die Rechtssprechung in diesem Lande eine geradezu lauschige Veranstaltung, die Institution einer Täterschutzgesellschaft. Dieser Unsinn dient dazu, die Stimmen nach einer harten Hand, nach erbarmungsloser Ahndung zu fördern und die Abschaffung resozialisierenden Gedankenguts zu postulieren.

Dafür ist kein Mittel zu blöd. Jetzt ist es das verwirrende Beispiel eines Rentners, der seine demente Frau tötete und dafür viel zu hart bestraft wurde. Ist denn die Tötung, selbst wenn sie auf Wunsch erfolgte, keine Straftat mehr? Hat die Tat Freispruch verdient? Und Ungereimtheiten: Wie war es der "schwer demenzkranken Ehefrau" möglich, ihren Tod zu erbitten? Hat sie das vorher schon mal als Bitte geäußert? Und was zählt ein solcher Wunsch von gestern im Heute? Stenzel fragt verlogen: "Sein Verbrechen?" - und nennt dann die Tat. Soll diese rhetorische Frage suggerieren, dass das Verbrechen gar kein Verbrechen sei? Dass Sterbehilfe plötzlich moralisch legal ist? Wie sähe denn eine Gesellschaft aus, in der jeder nach Gutdünken, ohne notarielle und ärztliche Aufsicht, sterbehelfen dürfte? Und dann die Liebe, die er als Motiv bemüht. Natürlich kann es Zuneigung und Mitleid gewesen sein. Spielt bei so einer Entscheidung aber nicht stets auch ein egoistischer Impuls mit, die Befreiung von Sorge und Pflege? Und die Leere natürlich. Keine Kraft mehr zu haben, ausgebrannt zu sein, desillusioniert - auch das wären noch weitere Motive. Und überhaupt scheint Stenzel ein Lebensgefühl anzusprechen, das kein Problem damit zu haben scheint, lästiges und zeitraubendes Leben vorzeitig dem Tode zu übergeben - hier tickt eine Ökonomie der Nützlichkeit.

Stenzel macht es sich da schon ganz einfach - aber so einfach muss es wohl sein, wenn man belegen will, dass in diesem Staat das Verbrechen wohlgelitten ist, während die Tötung aus mitmenschlicher Güte heraus, gnadenlos bestraft würde, dass also immer die Falschen bestraft würden, während die Richtigen davonkämen. Zu dem Zwecke eine rigide Haltung und gnadenlose Bestrafung in die Rechtssprechung zu diktieren, ist jedes Mittel recht und billig. Auch die dreiste Lüge, dass in diesen Gefilden die reine Nächstenliebe den Straftäter in seine Arme schließt. Aber wer natürlich Lebenslänglich noch für zu kurz hält, der glaubt diesen Unsinn vermutlich wirklich.



11 Kommentare:

ninjaturkey 5. Februar 2013 um 07:44  

Aus Liebe also. Ich kenne ältere Herrschaften, von denen sich einer nach einem Schlaganfall nicht mehr selbst den Hintern wischen kann und es nun nach 60 Jahre Ehe erstmalig der Partner machen muss. Beide kommen aus einer Generation, in der jede Form der Behinderung schamhaft versteckt wird. Hier ist es eine unglaubliche Scham und die dauernde Konzentration auf das "Unglück", die das Leben beider nicht mehr lebenswert macht. Töten?
Wie sehr leidet der Demente? Schwer zu sagen. Töten?
Wie erfüllt ist das Leben eines schwer geistig Behinderten (nicht die Vorzeige-Behinderten der Aktion Mensch). Töten?
Unheilbar krebskrank mit Aussicht auf langes Siechtum. Töten?

Was das Leben lebenswert macht, kann jeder nur und auch das nur sehr bedingt, für sich selbst sagen. Ich kenne Phasen der Depression in denen sich diese Wertung erstaunlich schnell wandelt - ohne äußere Grund. Eine Entscheidung für andere zu treffen halte ich da schön fast für unmöglich.
Hätte der Rentner zunächst seine Frau und dann sich selbst getötet, wäre das vielleicht eher der Hinweis auf eine große Liebe gewesen?
Der Richter hat wohl mit Weitsicht geurteilt.
BTW - muss er alte Mann die Haftstrafe eigentlich noch voll absitzen oder überhaupt antreten?

endless.good.news 5. Februar 2013 um 08:07  

Ein sehr schöner Artikel. Es ist ja nicht das erste mal, dass die Konservativen und/oder die Bild Zeitung zwei verschiedene Maßstäbe ansetzen.

Hartmut 5. Februar 2013 um 09:30  

Dieser Artikel, sehr schön geschrieben, hat mich sehr berührt.

Hierfür, Roberto, einen großen Dank.

Es ist ein Musterbeispiel negativster Art und ganz typisch für Bild...
Der versteckte Ruf, hinterhältig, arglistig auch ungeschrieben ist eindeutig der Ruf nach dem Töten, bzw. der Todesstrafe. Dies wird immer wieder gezielt aber verhüllt in diesem Schundblatt mit schleimigen Worten hingeschmiert.

Viele Antworten hierzu gibt es in dem Buch: Tödliches Mitleid von Klaus Dörner

landbewohner 5. Februar 2013 um 10:20  

da jede straftat, auch wenn das delikt das gleiche ist, unter berücksichtigung aller umstände zu sehen ist, halte ich schon das vergleichen von 2 taten bzw der strafen für problematisch. ansonsten könnte man da ja den richter, der alle tatumstände berichtigen soll, auch durch einen strafzumessungs-computer ersetzen. für ungerechter halte ich da schon das hierzulande geltende klassenstrafrecht, welches bei der strafzumessung in der regel auch den "sozialen" stand des angeklagten in die urteilsfindung einfliessen läßt oder sonderstrafen für "eliten" erlaubt oder die ungleich härtere bestrafung von delikten wie entwendung oder beschädigung von sachen (incl geld - steuerhinterziehung mal ausgenommen)gegenüber straftaten, die menschen zu schaden bringen.

Anonym 5. Februar 2013 um 10:38  

Ich denke, das relativ geringe Strafmaß zeugt auch mittlerweile von der Angst des Staates vor alten Leuten in Gefängnissen. Was, wenn der alte Mann selbst ein Pflegefall wird? Gefängnisse haben in der Regel zwar eine Krankenstation, aber meist keine Pflegeabteilungen.Muss dann der Wärter auch noch füttern, baden, Windeln wechseln? Was kostet so ein Umbau eines "normalen" Gefängnisses in eines mit Pflegeabteilung? Und dann noch das Personal? Alte Leute sind in Gefängnissen einfach auch ein Kostenfaktor.Die Tage geisterte auch eine Meldung durch die Medien, in dem gar die Forderung nach einem Seniorenstrafrecht laut wurde: http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2013/02/02/neuer-trend-deutsche-rentner-werden-kriminell/ Gut, das war im Kontext mit der Altersarmut. Dennoch sehe ich hier die Angst, dass man die Senioren in den Gefängnissen eventuell gar nicht verpflegen kann. Da muss Opi oder Omi aber kriminell ganz schön ranklotzen: "Wie, sie haben gerade ihre Nachbarin ausgeraubt und getötet? So schnell kommen Sie hier aber nicht rein! Wär ja noch schöner, andere Senioren müssen ihre Ersparnisse für Pflegedienste aufbrauchen! Lassen Sie sich schön noch was einfallen, unter 3 Kapitalverbrechen läuft hier nix für Sie...." ;)

Anonym 5. Februar 2013 um 20:18  

Anonym von 10:38 hat es schon auf den Punkt gebracht. Die Nützlichkeitsökonomie ist es, die Rentnern bzw. alten Menschen ein geringeres Strafmaß ermöglicht, da sie ein (zu) hoher Kostenfaktor im Gefängnis sind.
Einsperren ist teuer - es lohnt sich oft nicht.

Art Vanderley 5. Februar 2013 um 21:02  

Diesen Sprücheklopfern im Namen des Rechts sind Opfer in Wahrheit scheißegal , zu einem wahrscheinlich sogar überdurchschnittlichen Teil dürften sie selber Täter sein , brav , in den eigenen vier Wänden , versteht sich .

Denen geht es um die uralte Projektion ihres kleinbürgerlichen Frusts auf irgendeine Gruppe ,die sich gerade anzubieten scheint , gleichgültig welche .

Hexenjagd ist die Motivation , wie so häufig getarnt im Kleid des anständigen Bürgers.

Trojanerin 5. Februar 2013 um 22:55  

sehr guter, berührender Text,

Der Bild-Journalist hätte lieber die Hintergründe benennen sollen, eben ob die Ehefrau zuvor den Wunsch geäußert hat, sterben zu wollen und wie die Tat geschehen ist.
Unabhängig davon wie die Tat begangen wurde halte ich die Fragen, ob es sich um ein Verbrechen handelt und die Aussage, dass es kein Verständnis für Liebe bei Gerichten in diesem Zusammenhang gibt für skandalös und gefährlich dumm.
Als würde und müsste es bei Gericht um Verständnis für Liebe gehen. Das Gericht muss in diesem Fall bewerten, ob der Angeklagte sich eines Tötungsdeliktes schuldig gemacht hat, oder nicht, nicht mehr aber auch nicht weniger. Das Gericht muss auch die Umstände berücksichtigen, die der Tat zugrunde liegen.
Ich kann die Tatumstände nicht bewerten. Ich finde es aber gefährlich, dass angesichts der Familientragödie des betroffenen Paares schwadroniert wird von Töten und Liebe und nicht gefragt wird, ob und welche Umstände die Tat ermöglicht haben. Der „Journalist“ hätte fragen können, wie die Situation von Angehörigen ist, die sich um an Demenz erkrankte Personen kümmern und ob angesichts der Demontage des Sozialstaates alle Hilfesuchenden auch ausreichend Hilfe erhalten.
Der Artikel passt auch sehr schön zum Artikel „Quantitätsjournalismus“ vom Vortag.

Toddi 6. Februar 2013 um 00:27  

Jetzt spart man sogar schon das Geld, das alte Menschen im Knast kosten... Unglaublich.

Anonym 7. Februar 2013 um 11:24  

Ja, die angeblich verweichlichten Gerichte... Das ist nur einer von vielen national konservativen Mythen. Fakt ist, nie in der Geschichte dieser Republik war der Justizapparat repressiver, sieht man einmal von der Unglaublichkeit ab, dass man so mir nichts dir nichts die Todesstrafe abgeschafft hat. Das hatte aber dann doch eher weniger mit den Linken zu tun...

Sexualstraftaten werden sehr rigide gehandhabt, Sicherungsverwahrungen schon für mehrfachen Diebstahl ausgesprochen und Linke gehtzt wie zu besten Weimarer Zeiten.

Spartaner 7. Februar 2013 um 12:20  

Wieder mal ein sehr interessanter Bericht, lieber Roberto.
Am interessantesten finde ich aber den Kommentar mit Pflegefall in den Gefängnissen. Das führt ja doch eigentlich früher oder später unweigerlich auf nur eine Lösung hinaus. Diese hatten wir schon mal im Faschismus. Gezielte industrielle Massentötungen. Oder?

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