Auch der Lincoln musst' mal pinkeln

Donnerstag, 7. Februar 2013

Als vor einigen Tagen Steven Spielbergs neuer Streifen Lincoln in die deutschen Kinos kam, berichteten die hiesigen Medien von der Bedeutung Lincolns für die Vereinigten Staaten. Sie zitierten Barack Obama, der meinte, ohne Lincoln wäre er nicht an der Stelle, an der er heute stehe. Sie bemühten nicht nur dessen geistige, sondern auch seine politische Nähe zu Abraham Lincoln und erklärten diesen ins Transzendente gesetzten US-Präsidenten der Bürgerkriegszeit zum Sklavenbefreier. Spielbergs Film zeige, so das cineastisch Feuilleton, dass politischer Mut die Weltgeschichte beeinflussen könne. Manche leiteten kühn ab, dass der Film eine Art Appell an Obama sei, ein leuchtendes Beispiel, in eine wackere Führerschaft hineinzuschlüpfen. Daniel Day-Lewis' (mal wieder) imponierende Darstellung brächte zudem die Stärke dieses Präsidenten sagenhaft auf die Leinwand.

Wenn deutsche Medien so berichten, dann greifen sie die Lobeshymnen eines US-amerikanischen Mythos, eines Heiligen der US-Geschichte auf, der den Abgleich mit der historischen Dokumentation nicht standhält. Lincoln war durchaus kein Abolitionist - für die Wiederherstellung der Einheit der Union brachte er den Norden der zuvor zerbrochenen Vereinigten Staaten gegen den abtrünnigen Süden in Stellung. Selbst erklärte er mehrmals, dass er für die Einheit der Union auch die Sklaverei akzeptieren würde. "Könnte ich die Union erhalten, indem ich alle Sklaven befreite, würde ich es tun; und wenn ich sie erhalten könnte, indem ich einige befreite und einige nicht, ich würde es gleichfalls tun. Alles was ich in Bezug auf die Sklaverei und die farbige Rasse unternehme, tue ich, weil ich glaube, es könnte helfen, die Union zu retten", schrieb Lincoln 1862 in einem Brief. Aber der Süden ließ sich nicht heimholen. Und um die europäischen Großmächte, die fast alle mit dem Süden sympathisierten, die dessen Selbstbestimmungsrecht betonten und dessen Baumwolle beanspruchten, für die Sache des Nordens zu gewinnen, erließ Lincoln eine Verordnung, in der es heiß, dass mit Beginn des Jahres 1863 alle Sklaven in den Rebellenstaaten als freie Leute anzusehen seien. Diese Verordnung galt kurioserweise nicht für loyale Sklavenhalterstaaten, die weiterhin der Union treu waren. So sicherte sich Lincoln auch den Zuspruch Europas und machte den Krieg von einer nationalen Separations- zu einer internationalen Gewissensfrage.

Die Legende verklärte diesen Coup. Später glaubte das kollektive Gedächtnis, Lincoln habe den Krieg primär aus Gründen der Sklavenbefreiung betrieben. Hieraus erwuchs ein Lincoln-Kult, der mit der historischen Wahrheit nicht immer in Einklang zu bringen ist.

Lincoln war ein Mensch. Ein Pragmatiker und Zauderer - ein Politiker. Er war zerrissen zwischen Idealismus und Wirklichkeit, zwischen seiner durchaus vorhandenen Abneigung zur Sklaverei und seiner fanatischen Liebe zur Union. Er war nicht, zu wem ihn der Diskurs macht, zu wem Obama und Spielberg ihn erklären möchten: ein Heiliger. Programme wie es nach der Abschaffung der Sklaverei für die Schwarzen weitergehen könne, hat er nicht entworfen. So gesehen hat sein plötzlicher Tod ihm die Blöße erspart, sich profunder mit der Materie auseinanderzusetzen. Er hat ja nicht mehr gesehen, wie die Freiheit der Schwarzen zu einer Form freiheitlicher Knechtschaft wurde. Wer sagt denn, dass er nicht auch pragmatisch gezaudert hätte, wenn es nach der Abschaffung Diskussionen um Schadensersatz und Entschädigung gegeben hätte? Aus Gründen der Einheit und der Friedenswahrung innerhalb der Union hätte er solche Vorhaben vermutlich ausschlagen und unterdrücken müssen.

Das sind nur Spekulationen. Keine Spekulation ist aber, dass Lincoln fehlbar war, zerrissen und so pragmatisch, dass er zugunsten eines Zieles das Untragbare erhalten hätte. Kurzum, Lincoln wandelte hienieden, er war menschlich und nicht der schon in seiner Epoche erkennbar große Mann. Memento te hominem esse; Bedenke, dass du ein Mensch bist - das musste ihm keiner zuraunen, das war ihm und seinen Zeitgenossen bewusst. Flapsig seine Profanie auf den Punkt gebracht: Auch Lincoln musst' mal pinkeln - so wie alle mal müssen. Der fast schon metaphysische Charakter seiner historischen Erscheinung, der nun mit Spielbergs Film nochmal gesteigert und zu einer symbolhaften Übertragung auf Obama verklärt wird, hat diesem Lincoln-Kult nochmals Auftrieb gegeben und ihn bis ins deutsche Kulturfeuilleton schwappen lassen.

Zugrunde liegt dem ein großer Irrtum, dem sich die klassische Geschichtsschreibung gerne hingibt. Nämlich dass Geschichte vorzugsweise ein Tummelplatz großer oder größenwahnsinniger Männer und neuerdings auch Frauen sei. Mit diesem Hintergedanken bringt man Obama und Lincoln auf einen Nenner. Er möge halt auch einer wie Lincoln werden - der Lincoln, den man sich vorstellt, den es so aber nie gegeben hat. Die Namen aber, die wir im Geschichtsbuch lesen, wären austauschbar. Geschichte ist nicht Galerie von Namen, sie ist Abbild gesellschaftlicher Denkmuster, von Ideologien auf Massenbasis und populären Einflüssen. "Wer baute das siebentorige Theben? / In Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?", leitet Bertolt Brecht seine Fragen eines lesenden Arbeiters ein und hinterfragt dabei genau die Art von Geschichtsschreibung, die Lincoln zu einer unantastbaren Gestalt, einer Art Heiliger der USA und der Menschenrechte stilisiert.

Vielleicht ist es die tiefe Sehnsucht nach einen Tribunen von Grandezza, den der amerikanische Mythos Lincoln birgt. Eine Sehnsucht, die es nun auch in Filmbesprechungen und cineastische Kommentare schaffte und die zeigt: Ein Film ist halt eben nur ein Film. Ein auf Unterhaltung programmiertes Medium - auch das hat seine Berechtigung. Er ist nie Kopie von dem, was geschah und was er behandelt. Dass man diesem Prinzip aber auch in sich seriös gebenden Medien folgt und aus einem Film einen Auftrag an Obama destillieren will, ihn mit der vermeintlichen Standhaftigkeit einer seiner Vorgänger triezt, zeigt letztlich nur, wie spielend leicht man heute Fiktion und Wirklichkeit vermengt.



8 Kommentare:

Anonym 7. Februar 2013 um 08:20  

"[...]Geschichte ist nicht Galerie von Namen, sie ist Abbild gesellschaftlicher Denkmuster, von Ideologien auf Massenbasis und populären Einflüssen[...]"

Eben, und die neoliberalen Ideolgen schreiben eben derzeit im orwellschen Sinne ja auch Geschichte um, und zwar ganz egal wo die Leben.

Übrigens, es gibt auch schon einen Film über die Säulenheilige des Neoliberalismus - derzeit auf DVD erhältlich - Maggie Thatcher, wo diese als "arme, alte und demenzkranke Frau" beschrieben wird, und ganz unter den Teppich gekehrt wird, dass diese Person es ist, die sich von der Gesellschaft verabschiedet hat, die die kranke Thatcher nun "durchfüttern muss" wie neoliberale Taliban so gerne schreiben, über "Unterschichtsmenschen".....

Gruß
Bernie

Anonym 7. Februar 2013 um 08:32  

Die Vermengung von Fiktion und Wirklichkeit geht in beide Richtungen: Die real inszenierte Grandezza moderner Wagner-Parteitage bedarf der Illusion, es handele sich um mehr als von denselben Profis zweckrational geplante und durchgeführte inhaltsleere Pop-Events.

Anonym 7. Februar 2013 um 09:26  

ANMERKER meint:
Lieber Roberto, es ist gut, dass Du den Finger auf Du Wunde fehlerhafter Geschichtsverfilmung und - schreibung legst. Wahr ist auch, dass Lincoln in diesem Film tatsächlich als Säulenheiliger dargestellt wird. Unwahrscheinlich scheint mir dennoch nicht, dass Spielberg mit diesem Epos Obama, auch in mancher Hinsicht ein Zuaderer, zum Weiterverfolgen, z.B. sozialer Reformen bewegen will, zum nicht kapitulieren vor den inneren Gegnern. Allerdings ist heutzutage die Macht eines Präsidenten der USA nicht mehr so absolut wie zu Lincolns Zeiten; hier transportiert der Film eine gefährliche Schieflage in die Köpfe und Herzen der Menschen: Wir brauchen nur einen guten Diktator und dann klappts schon - für die kleinen Leute. Bullshit! Gar nichts klappt, wenn man auf allein einen setzt oder, wie von unseren Mainstreammedien immer wieder verkauft, auf die gute MUTTI. Manchmal kann allerdinge ein Gesetz ein Türöffner sein für, wenn auch lang andauernde Emanzipationsprozesse. Wenn die Köche, frei nach Brecht, dann die Löffel schwingen statt nur brav weiterzurühren, kann eine neue Qualität in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung die Folge sein.

MEINT ANMERKER

ulli 7. Februar 2013 um 09:30  

"Lincoln war ein ...Pragmatiker und Zauderer - ein Politiker. Er war zerrissen zwischen Idealismus und Wirklichkeit.." Das ist vollkommen richtig! Nur: Wenn du dich dagegen wendest, kannst du dich gleich dafür einsetzen, dass in Zukunft das Wasser bergauf fließen soll. Das hätte dann aber nicht viel mit Politk, doch eine Menge mit dem berühmten Kampf gegen die Windmühlen zu tun.

Natürlich ist Obama kein Heilsbringer. Aber er hat eine Art allgemeiner Krankenversicherung eingeführt, die USA vor einer großen Depression bewahrt und wenn er nun noch die illegalen Einwanderer legalisiert, dann ist das doch was. Man sollte ihn mal mit seinen Vorgängern vergleichen: G.W.Bush - eine einzige Katastrophe. Clinton - hat die seit Roosevelt bestehende Trennung von Investment- und Geschäftsbanking aufgehoben. Der alte Bush - war wenigstens schlau genug, nicht gleich in den Irak einzumarschieren. Wer regierte davor? Ronald Reagan? Oh Gott! Jimmy Carter, davor Nixon, und immer so weiter. Das ist eine Ahnenreihe wie aus der Geisterbahn. Vermutlich funktioniert die Wirklichkeit tatsächlich nach der Maxime: Unter den Blinden ist der Einäugige König.

Lazarus09 7. Februar 2013 um 14:09  

Geschichtsklitterung ...the honest abe war wie schon gesagt, der Einäugige unter den Blinden..zur rechten Zeit am rechten Ort bis an dem Tag an dem er zum Mythos wurde, von einem verblendeten fanatischen Sympathisanten als Teil einer größeren Verschwörung der Südstaatler erschossen ...die Hintergründe Kapital und Machterhalt ..ähnlich wie später Kennedy der ja die Macht des FED beschneiden wollte ..jaja VT ...
alle anderen/weiteren US Präsidenten haben brav für das Kapital funktioniert ..

God's country home of the free, land of the brave! *wuerg*

Anonym 7. Februar 2013 um 15:00  

Die Welt war schon immer fest im Griff der Blutsauger, der Vordermänner der Wirtschaft. Heute sind das Leute wie Bill Gates, Steve Jobs (ehemals) - und in diese Gilde gehört eben auch der Film-Magnat Steven Spielberg.
Alles Leute, die zur Profitsteigerung ALLES in KAUF nehmen.

flavo 7. Februar 2013 um 15:39  

Ganz recht, große Popanze sind das Verderben der Menschen seit Jahr und Tag. Die Ausfaltung solcher Popanze samt der identifikatorischen Massenbindungen kann als bislang verlässlichstes Kriterium genommen werden für Herrschaft. Freiheit von Identifikationspopanzen ist der Beginn des Selbstdenkens und Selbstlebens. Man braucht nicht lange hin und her zu denken, der Superstar wie der Sportstar oder der Politikstar, oder smarter, der CEO, Manager oder Leiter, gar noch der Intellektuelle, vormals Kaiser, Könige, Grafen und Fürsten, heute noch Präsidenten und Führer, über all diesselbe Anordnung. Sie ist unser herrschaftliches Basalkorsett. Ohne es schiene das herrschaftliche Rückgrad zusammen zu brechen und bis in weite Teile des gesellschaftlichen Leben entfielen Beherrschungsprozesse. Bislang brachten es wohl nur wenige Ansätze überhaupt zu Stande sich von dieser Formation abzusetzen, auch nur in der Theorie wenigstens. Und der Marxismus war da in vielen Schulen blind auf beiden Augen.
Selbstredend gehörte auf die Agenda einer jeden Bewegung, die sich Freiheit, materielle Sicherheit und Solidarität auf die Fahnen geschrieben hat, ein Popanzverbot. Die damit zusammen hängenden psychosozialen Prozesse gehören gemieden und explizit abgelehnt und abgearbeitet. Das Denken fällt dann leicht ins Leere, ins Nichts. Wie tun dann? Schwindel kehrt ein. Nun dies wäre die fortdauernde Aufgabe und Frage: wie zusammen sich bewegen ohne Identifikationsanordung. Auch nicht aus pragmatischen Gründen ist sie zu wählen. Sie ist kein bloßes Mittel, sie ist schon der Zweck selbst, nämlich der Herrschaft.

Garfield 8. Februar 2013 um 03:16  

@ulli

ob Obama in den USA eine Krankenversicherung einführt oder nicht, ändert für die Opfer seiner Drohnenangriffe ziemlich wenig.

Auch nicht für die pakistanischen Taliban... die profitieren dafür umso mehr von den ständigen Souveränitäts-Verletzungen durch den "Verbündeten", dank denen die Zentralregierung auch noch das letzte Ansehen im Volk verliert.

..."unter den Blinden ist der Einäugige König" – Bush war auch kein Guter, klar... sind Obamas Opfer deshalb nur halb-tot, oder doch schon zu 80% ...?

Bush hat verbal ziemlich auf die Kacke gehauen, da hat Obama schon ein "eloquenteres" Auftreten... davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen.

Der eine hat 2 offene Kriege geführt, der andere hat sich dafür auf "Black-Op's" verlegt... die dafür aber von Lybien bis Syrien kaum ein Land im ganzen Nahen/Mittleren Osten auslassen.

Auch die Verfügung, die Opfer seiner Kriegshandlungen ganz automatisch als "Kombattanten" in der Statistik zu verzeichnen, sobald männlich + ab 18, stammt nicht von Bush.

Obama da noch als "Einäugigen" zu bezeichnen, ist ungefähr so heuchlerisch, wie Lincoln als Sklavenbefreier zu feiern.

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